Читать книгу Dr. Norden Bestseller Paket 5 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 30
ОглавлениеDas junge Mädchen, das noch kurz nach siebzehn Uhr Dr. Nordens Praxis betrat, machte keinen kranken Eindruck. Olivia Klausner war auch nicht krank. Zierlich und bildhübsch stand sie vor Loni.
»Hat der Chef viel zu tun, Loni?«, fragte sie. »Ich wollte ihn nur mal kurz wegen meiner Eltern fragen.«
»Das ist schon zu machen, Olivia. Gehen Sie ins Labor. Ein paar Minuten kann er schon abknapsen, bevor die Berufstätigen kommen.«
»Ich komm grad von der Uni, aber nun haben wir Semesterferien«, erklärte Olivia.
Zwanzig Jahre jung war sie und genauso intelligent wie sie hübsch war. Auch Loni hatte Freude an diesem reizenden Geschöpf, das sie nun bereits sechs Jahre kannte.
Auch Dr. Daniel Norden freute sich über diesen Besuch, da er wusste, dass sich Olivia auch jetzt noch um ihre Eltern sorgte, obgleich sich diese durch gutes Zureden von allen Seiten zu einer längeren Kur auf der Insel der Hoffnung entschlossen hatten.
»Ich bin so froh, dass alles perfekt ist«, sagte Olivia, »und ich wollte Ihnen noch ein herzliches Dankeschön sagen, bevor ich morgen zu meiner Freundin nach Holland starte. Ich mache mir immer noch Sorgen um Mami, Dr. Norden. Sie ist so durchsichtig.«
»Eine Totaloperation bringt manche Veränderung mit sich, Olivia, aber Sie werden sehen, wie gut sie sich erholen wird.«
»Und Papsi tut es auch gut, wenn er mal richtig ausspannt. Aber wenn etwas sein sollte, benachrichtigen Sie mich bitte gleich.«
»Wird gemacht, Olivia, aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Genießen Sie auch unbeschwerte Wochen mit Mandy. Freuen Sie sich, dass Sie eine so liebe Freundin haben.«
»Sie kommt dann mit zu uns und wird Sie bestimmt auch besuchen. Schließlich haben Sie Mandy von dem Heuschnupfen geheilt.«
»Man braucht wirklich nur das richtige Mittel zu wissen und den Patienten zu sagen, wovor sie sich in Acht nehmen müssen, Olivia. Eine schöne Zeit wünsch ich Ihnen, und kommen Sie gesund und munter zurück.«
»Ganz bestimmt. Die Terborgs werden mich sehr verwöhnen, und ich werde aufgehen wie eine Dampfnudel.«
»Das doch nicht«, lachte Dr. Norden. Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Ein bissel eitel bin ich schon, wenn ich auch gar zu gern esse«, erwiderte sie, und dann schwebte sie leicht und graziös davon, wahrhaftig eine Augenweide.
»Schreiben Sie mir mal eine Karte, Olivia«, sagte Loni.
»Ist doch klar«, erwiderte das Mädchen. Und sie warf Loni noch eine Kusshand zu, bevor sie entschwand.
Auch auf der Straße blickte man ihr nach. Der bunte Rock schwang um die schlanken Beine, und obgleich diese in ganz flachen Schuhen steckten, sahen sie wie gedrechselt aus. Auch begehrliche Blicke aus Männeraugen folgten ihr, aber Olivia kümmerte das überhaupt nicht.
Sie war mit ihrem Leben, wie es war, völlig zufrieden, und wenn sie Wünsche hatte, dann nur diese, dass ihre heißgeliebten Eltern noch lange gesund bleiben sollten. Und dabei war Olivia ein adoptiertes Kind, und sie wusste es, aber es änderte nichts, dass ihre Eltern die wichtigsten, geliebtesten Menschen für sie waren.
Reginald und Winnie Klausner hatten Olivia die Wahrheit gesagt, als sie mündig wurde. Mit aller Behutsamkeit hatten sie es getan, aber Olivia hatte nur eine Frage gestellt: »Wie könnt ihr mich dann so lieb haben?«
»Weil du für uns unser Kind bist«, hatte Winnie erwidert. »Wir haben dich schon vom ersten Tag an bei uns gehabt.« Und bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, erklärte Olivia, dass sie sonst nichts wissen wolle.
»Ihr seid meine Eltern, ich liebe euch und ich könnte niemand sonst lieben«, hatte sie gesagt. »Es sei denn, ihr wollt, dass ich mehr erfahre.«
Aber das hatten Reginald, kurz von seiner Frau Rex genannt, und Winnie auch nicht gewollt. Genau, wie es für Olivia größtes Glück bedeutete, diese Eltern zu haben, so war es für sie unendliches Glück, sie als ihre Tochter betrachten zu dürfen. Wie elend Olivias Mutter gestorben war, hätten sie ihr ohnehin nicht erzählt.
*
Ein zärtliches Leuchten war in Winnie Klausners Augen, als Olivia kam und ihr viele kleine Küsse auf die Wangen drückte.
»Da bist du ja, mein Liebling«, sagte sie. »Ist ziemlich spät geworden heute.«
»Es war der letzte Tag, Mamilein, und da war ich schnell noch mal bei Dr. Norden.«
»Fehlt dir etwas?«, erkundigte sich Winnie sofort besorgt.
»I wo, ich will nur nicht, dass es euch an etwas fehlen soll.«
»Wir sind ja gut aufgehoben, pass du nur auf dich auf.«
»Das werden die Terborgs auch tun, Mami. Brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich fahre ja nicht per Anhalter.«
»Und du wirst auf dem Flug sogar Begleitung haben. Dr. Werden muss auch nach Amsterdam fliegen.«
Der Schalk saß in Olivias wunderschönen braunen Samtaugen.
»Hat das Papi so arrangiert, damit ich ja unter Aufsicht stehe?«
»Es hat sich so ergeben, und es ist für uns beruhigend.«
»Ich werde wohl immer euer kleines Mädchen bleiben, auch wenn ich eine alte Jungfer werde«, lachte Olivia unbeschwert.
»Du sollst keine alte Jungfer werden, das darfst du nicht denken, Kleines«, sagte Winnie erschrocken. »Wir wollen nur, dass du glücklich bist.«
»Ich bin es, wenn wir beisammen sind, Mami. Ich will euch nie missen. Die sechs Wochen werden auch vergehen. Aber ihr habt ja darauf bestanden, dass ich sie mit Mandy verbringe.«
»Es ist gut, wenn man so eine Freundin hat, Liebes«, sagte Winnie. »Und wir freuen uns schon darauf, wenn Mandy dann bei uns ist. Es ist selten, dass eine Kinderfreundschaft so lange hält, noch dazu, wenn man sich jedes Jahr nur in den Ferien sieht.«
Vor fünfzehn Jahren hatten sie sich in Scheveningen kennengelernt, als die Klausners dort mit der kleinen Olivia den Sommerurlaub verbrachten und Reginald Klausners Geschäftspartner Willem Terborg seine Tochter Mandy im gegenseitigen Einverständnis bei ihnen ließ, weil die beiden kleinen Mädchen sich so gut verstanden und Marieke Terborg kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes stand. Immer fünf Jahre war bei ihnen Pause. Benedikt, der Sohn, war zehn gewesen, und weil er sich mit seiner kleinen Schwester Mandy nicht vertragen wollte, war er in ein Internat gekommen. Ihn hatte Olivia nur ganz flüchtig kennengelernt. Seine Eltern nannten ihn Dick, Mandy nannte ihn Bock, und bockig war er erst recht geworden, als sich noch ein kleiner Bruder Willem eingestellt hatte.
Von ihren Brüdern berichtete Mandy nicht viel, aber sie hatte Olivia am Telefon versichert, dass sie mit den beiden auch nicht konfrontiert werden würde, da sie die Ferien in Zandvoort verbringen würden.
Am Abend wurde noch einmal alles durchgesprochen. »Also, Schätzlein«, sagte Reginald Klausner. »Dr. Werden fliegt mit dir, Mami hat dir das ja schon gesagt. Wir bringen dich zum Flughafen, und dann fahren wir weiter zur Insel. Du rufst uns gleich an, wenn ihr angekommen seid. Ich habe mit den Terborgs nochmals telefoniert, sie sind bestimmt am Flughafen.«
»Unterwegs können sie mich nicht wegfangen, Papsi«, sagte Olivia lachend. »Ein Baby bin ich doch nicht mehr.«
»Aber viel zu hübsch, als dass man dich allein reisen lassen möchte«, sagte er. »Werden ist zuverlässig.«
»Aber immerhin Junggeselle«, sagte Olivia schelmisch.
»Und was für einer«, sagte Reginald. »Dem kann ich jedes Wertpaket anvertrauen, auch meine Tochter.«
»Und wenn es euch eine Beruhigung ist, sage ich, dass ich viel zu gern eure Tochter bin, um mir einen Mann anzulachen«, sagte Olivia.
»Gebe Gott, dass sie sich nicht mal blindlings verliebt, Winnie, dass es ihr nicht so ergeht wie Celia.«
»Celia hatte keine Eltern, bei denen sie sich geborgen fühlen konnte.«
»Aber sie hatte auch eine Freundin, mein Liebes.«
»Olivia würde immer zuerst zu uns kommen, Rex. Ich weiß es. Aber wir dürfen nicht zu egoistisch sein. Sie hat ein Recht auf ein eigenes Leben. Sie hockt immer nur zu Hause. Eines Tages werden wir nicht mehr sein, und es wäre schrecklich, wenn sie dann ganz allein wäre.«
Er nahm sie in die Arme. »Seit der Operation hängst du oft trüben Gedanken nach, Winnie. Ich muss dir wohl wieder einmal sagen, dass du für mich genauso wichtig bist wie das Kind. Ich brauche dich und deine Liebe.«
»Ich weiß es, Rex, und es hilft mir sehr, aber Olivia ist kein Kind mehr, das dürfen wir auch nicht vergessen. Es wäre doch ganz natürlich, wenn ihr Herz auch einem Mann entgegenschlägt.«
»Aber ich werde wachsam sein, Winnie. Niemand darf ihr wehtun. Wir könnten ein eigenes Kind nicht mehr lieben als sie.«
»Ich hätte dir keines schenken können, Rex«, sagte Winnie leise.
»Du hast mir doch eines geschenkt, Liebste, unsere Olivia. Du braucht jetzt nicht zu sagen, dass ich erst dagegen war. Ich bin schnell bekehrt worden.«
*
Olivia schlief schon dem neuen Tag entgegen, als ihre Eltern noch so sprachen, aber dieser Schlaf war von wirren Träumen bewegt. Sie war aufgeregt.
Die Trennung von ihren Eltern fiel ihr schwer. Sie durchlebte im Traum noch einmal die Ängste, die sie quälten, als ihre Mami operiert wurde.
Da hatte sie Trost und Zuspruch bei Dr. Norden gesucht, weil sie wusste, wie sehr auch Rex litt, wie viel Angst auch er hatte.
Auch Dr. Norden erschien ihr im Traum, und neben ihm stand ein Mann, der so groß war wie er, aber blond. Der wandte sich dann ab und ging auf ein anderes Mädchen zu. Es war Mandy. Und dann trat auf sie ein Mann zu, der auch blond war, der noch helleres Haar hatte. Mandy stritt mit ihm.
Der Traum war so deutlich, dass Olivia beim Erwachen meinte, das eben erlebt zu haben, aber sie lachte dann in ihr Spiegelbild. Träume sind Schäume, dachte sie in ihrem Optimismus. Sie duschte und kleidete sich für die Reise an, nachdem sie lange aus dem Fenster geschaut hatte, was denn wohl für Wetter werden würde.
Der hellbeige Hosenanzug schien ihr angemessen. Dazu ein leichter hellroter Pulli. Rot stand ihr besonders gut zu dem dunklen Haar und den dunklen Augen. Das wusste sie schon. Winnie sorgte aber auch dafür, dass sie immer die schicksten Sachen bekam.
Am Frühstückstisch herrschte dann allerdings eine recht gedrückte Stimmung. Rex gab Olivia noch ein Ledertäschchen mit Reiseschecks und Bargeld. »Und ruf jeden Tag an, mein Kind«, sagte er fast feierlich.
»Ist doch versprochen, Papsi«, sagte sie. »Denkt bloß nicht immer an mich, sondern daran, dass ihr euch gut erholt.«
Am Flughafen wurden sie bereits von Dr. Ulf Werden erwartet. Der schlanke blonde Mann wirkte überaus seriös im tadellosen, feingestreiften Maßanzug. Er war erst seit einem Jahr für Reginald Klausners Unternehmen tätig, aber nach dessen Worten ein Topmanager. An seinen Umgangsformen gab es nichts auszusetzen. Auch Winnie brachte ihm Sympathie entgegen.
Olivia sagte nichts. Sie war blass, und der Abschiedsschmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Und da es Winnie ebenso erging, wurde es ganz kurz gemacht. Dr. Werden gab das Gepäck auf. Als VIP-Passagiere genossen sie alle Vorzüge, aber Olivia war das eher peinlich. Als sie sogar mit Madame angeredet wurde, lachte sie leise.
Ulf Werden war sehr zurückhaltend, aber während des Fluges kam dann doch eine recht rege Unterhaltung zustande, die Olivia verriet, dass dieser an sich so nüchtern wirkende Mann vielseitige Interessen hatte.
»Sie sind sehr viel unterwegs, macht Ihnen das eigentlich Spaß?«, fragte sie.
»Es gehört nun mal zu meinem Beruf«, erwiderte er gleichmütig. »Reisen Sie nicht gern?«
»Nein, ich bin lieber zu Hause.«
»Warum studieren Sie Jura?«, fragte er.
»Weil es mich interessiert, und ich will auch mal bei Paps einsteigen.«
Ulf hatte Olivia bisher nur ein paarmal flüchtig bei festlichen Anlässen getroffen, und er hatte nur die bildhübsche, verwöhnte Tochter seines Chefs in ihr gesehen. Jetzt machte er die erstaunliche Erfahrung, dass sie klug und zielstrebig war, und trotz der Anhänglichkeit an ihre Eltern über eine gute Portion Selbstbewusstsein verfügte. Dass da ein paar sehr prominente Leute mit ihnen flogen, schien sie überhaupt nicht zu interessieren, dass ein sehr bekannter und sehr gut aussehender Filmschauspieler ihr bewundernde Blicke zuwarf, übersah sie geflissentlich, noch deutlicher gesagt, schien sie diese gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Der Flug verging schnell, auch bei der Zollabfertigung wurden sie nicht lange aufgehalten, und dann kam ihnen schon Mandy entgegengestürmt. Olivia wurde von ihr fast umgerissen, aber auch Ulf blieb nicht unbeachtet.
Mandy war größer als Olivia, hatte eine blonde Löwenmähne und violette Augen, und ihre Sonnenbräune verriet, dass sie sich viel an der frischen Luft aufhielt.
Marieke Terborg hatte in der Halle gewartet. Eine mollige, hübsche Frau war sie, und mütterlich schloss sie Olivia in die Arme. »Wir haben uns ja so auf dich gefreut, Darling«, sagte sie, und dann wurde Dr. Werden wohlgefällig gemustert.
Er wollte sich gleich verabschieden, aber das war nicht im Sinne der gastfreundlichen Terborgs. Einen Imbiss müsse er schon bei ihnen nehmen, meinte Marieke, und Mandy strahlte ihn so an, dass Olivia sprachlos war. Marieke schien allerdings anzunehmen, dass zwischen ihm und Olivia sich etwas angesponnen hätte.
Im Stadthaus der Terborgs, das einen gesunden Wohlstand präsentierte, wartete ein wohlgedeckter Tisch. Marieke erzählte munter, dass ihr Mann und die beiden Söhne derzeit in England weilten. Willem, der Jüngste, solle dort seine Sprachkenntnisse während der Ferien vervollkommnen.
»Dort sind sie strenger«, sagte sie lächelnd, »er ist ein fauler Bursche.«
Als sie Dr. Werden fragte, ob er nicht ein paar Tage bleiben wolle, erklärte er, dass er noch nach Antwerpen und Brüssel müsse und dann schleunigst zurück, da der Boss ja zur Kur wäre.
»Schade«, sagte Mandy enttäuscht. Und als Ulf sich dann bald verabschiedet hatte, sagte sie mit einem tiefen Seufzer: »So ein dufter Mann. Schade, dass er nicht bleibt, dann hätten wir wenigstens einen Kavalier, mit dem wir ausgehen könnten.«
»Er gefällt dir?«, fragte Olivia überrascht.
»Dir etwa nicht?«, fragte Mandy.
»Er ist sehr nett und tüchtig. Paps hat ihn mir wohl nur als Babysitter mitgegeben.«
»Nun, was nicht ist, kann ja noch werden«, sagte Marieke schmunzelnd. Und sie äußerte sich sehr wohlwollend über ihn.
»Keine heimliche Liebe?«, fragte Mandy stockend, als die beiden Mädchen dann allein waren.
»Unsinn«, widersprach Olivia. »Wieso bist du beeindruckt, Mandy?«
»Solche Männer gibt es doch selten. Ist er schon gebunden?«
Olivia lachte auf. »Über sein Privatleben weiß ich nichts. Verheiratet ist er jedenfalls nicht. Paps hält sehr viel von ihm, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihn auch als Heiratskandidaten für mich in Betracht zieht.«
Darin allerdings irrte sie sich, wenngleich Reginald Klausner ein solcher Gedanke auch erst an diesem Tag gekommen war, da Winnie sich wohlwollend über Ulf Werden geäußert hatte.
»Zu so einem Schwiegersohn würde ich nicht nein sagen, Winnie. Er hat Format.«
»Er ist sehr sympathisch, aber so weit sollten wir nicht denken, Rex. Nein, ein paar Jahre möchte ich Olivia schon noch behalten.«
»Wir brauchen sie doch nicht zu verlieren, Winnie. Für mich wäre der Gedanke schon sehr beruhigend, sie einem so zuverlässigen Mann anvertrauen zu können. Und Werden könnte ich dann auch noch fester an das Unternehmen binden.«
Winnie lächelte nachsichtig. »Wenn Olivia dich hören würde, bekämest du die Leviten gelesen, mein Lieber. Jetzt könnte sie eigentlich anrufen.«
Es musste Gedankenübertragung gewesen sein, denn Anne Cornelius kam schon aus dem Büro.
»Der erwartete Anruf von Ihrer Tochter«, sagte sie lächelnd. »Wollen Sie gleich von hier aus telefonieren?«
Da waren sie beide ganz schnell, und auch Anne Cornelius konnte ahnen, wie innig das Verhältnis zwischen Eltern und Tochter war.
*
Zwei Tage später fuhren die Terborgs mit Olivia nach Zandvoort. Am Tag zuvor war Willem Terborg, ein paar Tage früher als erwartet, aus England zurückgekehrt.
Er wirkte müde und zugleich nervös, und das stimmte Frau Terborg besorgt, denn das war man bei ihm nicht gewohnt.
Dass ihr Mann sich Sorgen um seinen Jüngsten machte, erfuhr sie nebenbei.
»Hoffentlich reißt Wilm nicht aus«, meinte er. »Er hat sehr viel an dem Internat auszusetzen. Dabei wird sehr viel geboten.«
Mit herzlicher Freude hatte er dann aber festgestellt, dass Olivia von Jahr zu Jahr hübscher wurde.
»Da werden sich die Männer die Köpfe verdrehen«, meinte er.
»Sollen sie doch«, erwiderte Olivia lachend. »Mich kümmert es nicht.«
»Dass sie auch mir nachschauen könnten, daran denkt Papa nicht«, sagte Mandy spöttisch.
»Legst du Wert darauf?«, fragte Olivia.
»Na, so ein klein bisschen Spaß könnte man doch haben.«
»Könntest du den hier nicht auch haben?«
»Diese kaputten Typen«, meinte Mandy wegwerfend. »Die netten Männer sind doch alle schon in festen Händen. Ich will keine alte Jungfer werden, Olivia.«
»Wir sind so jung. Wir haben doch noch nichts verpasst, Mandy«, sagte Olivia vernünftig.
»Bei euch ist es eben anders. Ich habe zwei Brüder, und die Tochter möchte man doch möglichst schnell und möglichst gut verheiraten. Und wer weiß, was Bock mal für ein Weib angeschleppt bringt. Da möchte ich dann lieber weit vom Schuss sein.«
»Verstehst du dich immer noch nicht mit Benedikt?«, fragte Olivia bestürzt.
»Doch, wir kommen ganz gut miteinander aus. Wir sehen uns ja selten. Für Papa ist er das, was Dr. Werden wohl für deinen Vater ist, aber es handelt sich ja leider um meinen Bruder.«
Olivia machte es zu schaffen, dass Mandy immer wieder von Ulf Werden sprach. Offen wie sie war, fragte sie dann ganz direkt, ob Mandy sich in Ulf verliebt hätte.
»Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann, aber tatsächlich ist er der erste Mann, der mir auf Anhieb imponiert hat«, erwiderte Mandy. »Ach was, vergiss es, wir wollen die Ferien genießen. Sei mir nicht böse, wenn ich manchmal dummes Zeug rede, aber bei uns sieht es nicht immer so rosig aus, wie es den Anschein hat. Wilm machte Papa viel zu schaffen. Er ist so richtig im Flegelalter, obgleich er mit fünfzehn darüber doch langsam hinaus sein sollte. Aber so ist es, Olivia, mit dem Kleinen war man immer nachsichtig, und von Benedikt waren sie doch eben sehr verwöhnt, weil er Schule und Studium spielend bewältigt hat. Ich bin so froh, dass du da bist, dass ich auch wieder mal mit jemandem reden kann.«
*
In Zandvoort herrschte reger Ferienbetrieb, aber das Ferienhaus der Terborgs, eher als Villa zu bezeichnen, lag außerhalb des Ortes und hatte auch einen eigenen Strand. Das Wetter konnte nicht schöner sein, und Marieke sagte, dass die Mädchen die Tage ganz ungezwungen genießen sollten. Im Haus war auch genügend Platz, sodass jeder seinen Neigungen nachgehen konnte, aber Mandy und Olivia verbrachten ohnehin die meiste Zeit am Strand, nahmen sich Obst und Sandwiches mit oder nahmen in einem Restaurant einen kleinen Imbiss ein.
An Gelegenheiten, Bekanntschaften zu schließen, hätte es ihnen gewiss nicht gemangelt, aber auch Mandy schien dazu wirklich überhaupt keine Neigung zu haben.
Es war wie in früheren Jahren. Die beiden Freundinnen langweilten sich nicht. Willem Terborg hatte sich ein paar Tage erholt und widmete sich nun wieder seinen Geschäften. Marieke war geblieben. Sie traf sich hier immer mit ein paar Freundinnen, die den Sommer auch hier verbrachten, denen Mandy aber gern aus dem Wege ging, weil die Gespräche sich meist um Gesellschaftsklatsch und Mode drehten.
Aber die beiden Mädchen bummelten auch gern mal durch die Geschäftsstraßen und fanden da auch so manches, was ihnen gefiel, und eine Portion Eis zogen sie sich dann auch zu Gemüte. Um die Figur brauchten beide nicht bange zu sein, und beim abendlichen Tennis hielten sie sich in Form.
Im Clubhaus kam es eines Abends zu einer Begegnung, die Olivia in beträchtliche Verwirrung stürzen sollte. Es war allerdings kein Mann, sondern eine Dame mittleren Alters, eine imposante Erscheinung, ein »irrer Typ«, wie Mandy sagte, da sie zuerst überlegt hatte, ob es ein Mann oder eine Frau sei, da sie mit grauer Hose, lässigem Pulli bekleidet war, kurz geschnittenes graues Haar hatte und eine strenge goldgeränderte Brille trug.
Aber dann vernahmen die beiden Mädchen, wie sie mit »Mylady« angesprochen wurde.
Verwirrt wurde Olivia allerdings dadurch, dass diese Lady sie unverwandt und mit einem nahezu hypnotischen Blick musterte.
»Komm, wir gehen lieber«, sagte Mandy leise, »die schaut dich an, als ob sie dich verschlingen wollte.«
»So leicht bin ich nicht zu erschrecken«, sagte Olivia lächelnd, aber dann ging sie doch mit Mandy.
Es sollte jedoch nicht die letzte Begegnung mit dieser Frau gewesen sein. Anderntags sah Olivia diese am Strand sitzen, vor einer Staffelei, als sie ging, um Brötchen zu holen. Darin wechselte sie sich mit Mandy ab.
Als sie dann nach einem ausgiebigen Frühstück zum Strand gingen, saß die Lady immer noch dort.
»Du, die verfolgt dich«, sagte Mandy besorgt.
»Ach was, sie sitzt da und malt«, sagte Olivia. »Vielleicht ist sie auch ein bisschen schrullig, aber doch nicht gefährlich. Ja, wenn es ein Mann wäre, würde ich mich jetzt auch verziehen.«
Sie schwammen ins Meer hinaus und ließen sich von den Wellen zurücktreiben. Beide waren sie eine Augenweide, als sie sich abtrockneten und im Schutz ihres Zeltes in trockene Bikinis schlüpften.
»Wenn die uns beobachtet, können wir nicht oben ohne sonnen«, sagte Mandy.
»Damit du beruhigt bist, schlage ich einen Strandbummel vor«, sagte Olivia.
»Sollten wir ihr nicht sagen, dass das ein Privatstrand ist?«, meinte Mandy gereizt.
»Es steht doch deutlich da, Mandy, aber Mylady genießt wohl Sonderprivilegien. Lass sie doch malen. Sie schaut jetzt gar nicht.«
Da rief Marieke ziemlich aufgeregt vom Haus her nach Mandy.
»Bitte, Mandy, kommt doch schnell einmal!«
»Da ist was los«, sagte Mandy. »Bringst du die Sachen, Olivia?«
Sie lief voraus. Olivia raffte alles zusammen. Aber da war die Lady aufgestanden und kam auf sie zu.
»Bitte, excuse me, sprechen Sie englisch?«
»Ja, ganz gut«, erwiderte Olivia.
»Ich würde Sie gern fragen, ob Sie mir gestatten, Sie zu malen.«
»Aber warum?«, entfuhr es Olivia.
»Weil Sie sehr schön sind«, erwiderte die Lady. »Mein Name ist Clarissa Horby. Ihr Gesicht fasziniert mich.«
Da war ein Ausdruck in ihrem strengen Gesicht, der ihm einen ganz besonderen Reiz verlieh, einen Charme, der Olivia den Atem stocken ließ.
»Ich muss jetzt zurück«, sagte sie leise.
»Ich komme morgen wieder, um die gleiche Zeit. Bitte, geben Sie mir Gelegenheit zu einem Gespräch, Miss Klausner.«
Es machte Olivia sprachlos, dass die Fremde ihren Namen wusste.
»Ja, morgen dann«, erwiderte sie jedoch wie unter einem Zwang. Mit langen, federnden Schritten lief sie dann zum Haus. Dort herrschte Aufregung. Marieke hatte die Nachricht bekommen, dass Wilm aus dem Internat ausgerückt war.
»Willem hat schon einen Wagen geschickt, der mich abholen soll. Ich kann ihn jetzt nicht alleinlassen.«
»Wir kommen mit, Tante Marieke«, sagte Olivia ohne zu überlegen.
»Ach was, ihr könnt doch nichts ausrichten. Wilm wird nach Hause kommen. Ich kenne den Jungen. Papa regt sich nur immer gleich so auf. Ihr seid doch erwachsen, ihr kommt ein paar Tage allein zurecht.«
»Du bist aber auch aufgeregt, Mama«, sagte Mandy.
»Zuerst schon, aber jetzt habe ich mich wieder beruhigt. Ich muss zu Hause sein, wenn der Junge kommt, und er kommt bestimmt. Willem soll ihn nur nicht zu hart strafen.«
Und bald kam der Wagen. »Ich verlasse mich auf euch«, sagte Marieke. »Aber das brauche ich ja nicht extra zu sagen. Ich rufe dann an.«
»Dieser Bengel!«, sagte Mandy. »Hoffentlich kommt er wirklich heim!«
»Ich hätte auch nicht in ein Internat gewollt«, sagte Olivia leise. »Und noch dazu in den Ferien.«
»Vielleicht war das falsch«, sagte Mandy nachdenklich. »Er wollte in so ein Ferienlager in der Bretagne, aber das hat Papa nicht erlaubt. Das kommt davon, wenn einem erst alles erlaubt wird, und dann, wenn man sich wirklich mal brennend was wünscht, nein gesagt wird. Tut mir leid, dass du das mitbekommst, Olivia.«
»Ich hoffe nur, dass Wilm heimkommt«, sagte sie. Dann ging sie in die Küche und mixte einen Gin Fizz.
»Das muntert auf«, sagte sie, als sie sich zu Mandy auf die Terrasse setzte, da diese nun trübsinnig vor sich hin starrte.
»Jetzt wird es mir erst richtig bewusst, Olivia«, murmelte Mandy.
»Was wird dir bewusst?«
»Was es bedeutet, zwei Brüder zu haben. Der eine fünf Jahre älter und jetzt schon Juniorchef, der andere fünf Jahre jünger und ein Lausebengel, und ich dazwischen als Mädchen, das eine gute Partie machen soll.«
»Red nicht solchen Unsinn, Mandy, du hast liebe Eltern.«
»Die aber auf dem Standpunkt stehen, dass ihre Tochter keinen Beruf braucht. Zum Studieren bin ich nicht gescheit genug. Die ganze Intelligenz hat Benedikt mitbekommen, dieser Bock. Aber eigentlich ist er gar kein Bock. Er wusste nur immer ganz genau, was er wollte, und er wollte sich nicht mit seiner kleinen Schwester befassen. Jetzt tut es ihm wohl doch manchmal leid. Er redet mir ja auch zu, einen Beruf zu erlernen. Aber was soll ich denn werden? In Amsterdam würden sie doch sagen, ob die Tochter von Terborg das nötig hat. Das ginge wirklich gegen Papas Ehre. Kochen habe ich von Mama gelernt und kann es doch recht gut.«
»Sehr gut«, bestätigte Olivia. »Da kann ich nicht mit. Aber jetzt lass den Kopf nicht hängen. Du kommst ja mit nach München, und bis dahin kannst du dir alles überlegen, Mandy. Vielleicht erlaubt dein Vater, dass du bei uns volontierst. Unsere Väter verstehen sich doch prima, und geschäftlich sind sie auch in Verbindung.«
»Wenn bloß Wilm keine Dummheiten, keine noch größeren Dummheiten macht«, sagte Mandy nun ganz leise.
Wie viel heutzutage passierte, daran wollte Olivia jetzt gar nicht denken. Aber am späten Nachmittag kam dann schon der erlösende Anruf.
»Wilm sitzt heulend in London«, erzählte Marieke zwischen Lachen und Weinen. »Sie haben ihm sein Geld gestohlen. Dick ist schon bei ihm und bringt ihn nach Hause. Ich habe ja gewusst, dass er nach Hause wollte, und Papa ist jetzt auch beruhigt. Macht es euch nur gemütlich.«
Und das taten sie dann auch, machten sich ein gutes Essen und tranken Wein. Da erzählte Olivia dann auch von Lady Horby.
»Malen will sie dich? Du, da bin ich misstrauisch. Es gibt auch ältere Damen, die schmutzige Gedanken haben«, sagte Mandy. »Vielleicht ist sie gar keine Lady und hat herausbekommen, dass du die Tochter eines reichen Mannes bist.«
»Sie hatte einen Ausdruck, ich kann es nicht beschreiben, Mandy, aber sie hat bestimmt keine schmutzigen Gedanken.«
»Ich rufe lieber mal im Tennisclub an, ob sie dort bekannt ist.« Sie ließ den Worten dann auch gleich die Tat folgen, obgleich Olivia eigentlich widersprochen hatte.
Aber dann kam Mandy konsterniert zurück. »Eine ganz berühmte Malerin ist sie und sogar steinreich. Wohnt im feudalsten Hotel und hat riesige Besitzungen in Schottland.«
»Sie weiß meinen Namen«, sagte Olivia nachdenklich.
»Sie wird sich bei Charly erkundigt haben, wie ich auch, aber er ist wirklich diskret. Er gibt Auskunft, aber sagt das nicht weiter. Sie soll übrigens noch immer ganz phantastisch Tennis spielen, hat sehr viele Pokale gesammelt. Und dich will sie malen. Da wirst du ja vielleicht noch so berühmt wie die Mona Lisa.«
»Halt ein! Gott bewahre mich, aber es könnte doch wirklich ein schönes Mitbringsel für Mami und Paps sein. Sie wollten mich doch schon immer mal malen lassen.«
»Du willst das machen?«, fragte Mandy.
»Ich werde sie morgen treffen, unten am Strand. Du kannst ja mal lange schlafen.«
»Ich werde mich hüten. Ich lasse dich nicht aus den Augen«, erklärte Mandy. »Glauben ist gut, überzeugen ist besser.«
*
Bei den Nordens war an diesem Vormittag der erste Kartengruß von Olivia eingetroffen, auch Loni hatte einen bekommen.
»Ein reizendes Mädchen ist sie«, sagte Fee. »In dieser Zeit eine Rarität.«
»Und man möchte nicht glauben, dass sie ein Adoptivkind ist, mit solcher Liebe hängt sie an ihren Eltern.«
»Sie aber auch an ihr. Nun, mit Mario haben wir ja auch Glück gehabt. Anne hat mir erzählt, dass die Klausners sich viel mit ihm beschäftigen.«
»Er hat wieder Gelegenheit, die Chronik der Insel zu erzählen. Man möchte fast meinen, dass er in einem früheren Leben schon einmal dort gewesen ist, so genau weiß er über alles Bescheid.«
»Für ihn ist die Chronik halt faszinierend. Jedenfalls ist das besser, als wenn er ein Lausbub geworden wäre, der lieber herumzigeunert. Heute steht in der Zeitung, dass vergangenen Monat allein in München einhundertsiebzig Personen vermisst gemeldet wurden, darunter dreißig Kinder und fünfzig Jugendliche.«
»Dann bleiben noch neunzig Erwachsene«, sagte Daniel. »Man sollte auch erfahren, wie viele davon schnell wieder zurückgekehrt sind.«
»Aber wie viel Mädchen sind in letzter Zeit wieder umgebracht worden«, sagte Fee beklommen. »Und immer wieder fahren sie per Anhalter.«
»Es sind nicht nur Anhalterinnen. Ich überlege auch, warum sich die Gewalttaten so häufen. Das ist fast wie eine Epidemie. Man sollte es nicht gar so breittreten. Da mögen allerdings auch diese schlimmen Sexfilme und die brutalen Krimis Einfluss nehmen. Wenden wir uns freundlicheren Dingen zu, Fee, und hoffen wir, dass wir unsere Kinder weitgehendst bewahren können. Aber manchmal nützt ja alle vernünftige Aufklärung nichts.«
Aber nun wandten sie sich angenehmeren Dingen zu. Sie beschäftigten sich mit ihren Zwillingen, die die Abendmahlzeit bekommen mussten. Daniel fütterte Désirée, Fee Christian. Während die Kleine immer wieder mit ihrem Papi schmuste, konnte es Christian nicht eilig genug haben, den Brei zu futtern. Bei den Mahlzeiten war er nicht zum Scherzen aufgelegt, dafür aber hinterher. Der Abend war ausgefüllt, denn die anderen drei wollten auch noch etwas von ihren Eltern haben. Selten genug war es, dass sie nicht gestört wurden.
*
Olivias Nachtruhe wurde durch einen aufkommenden Sturm gestört. Mandy ließ sich nicht stören. Sie schlief tief, obgleich auch ihre Fenster klapperten. Sie erwachte auch nicht, als Olivia diese schloss. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück und blieb am Fenster stehen. Der Sturm trieb den Sand in die Höhe und peitschte die Wellen über den Strand. Es war ein gigantischer Anblick, aber Olivia dachte, dass Lady Horby wohl morgen nicht kommen würde, und sie empfand dabei ein unerklärliches Bedauern.
Aber so schnell wie der Sturm gekommen war, so schnell legte er sich wieder, und Olivia schlief dann auch wieder ein. Schlief sogar länger als gewöhnlich. Diesmal war Mandy früher auf den Beinen, aber sie war vom Läuten des Telefons geweckt worden.
Ihre Mutter wollte wissen, ob alles in Ordnung sei.
»Freilich, alles bestens«, erwiderte Mandy.
»Es war doch ein schlimmer Sturm«, sagte Marieke.
»Nichts davon gemerkt. Um uns brauchst du dich wirklich nicht zu sorgen, Mama, wir sind liebe, brave Kinder.«
Erstaunt war sie dann aber doch, als Olivia von dem Sturm sprach. »Du hast geschlafen wie ein Murmeltier«, meinte sie. »Hast nicht mal gehört, wie ich die Fenster geschlossen habe.«
»Ich habe wunderschön geträumt«, sagte Mandy mit verklärter Miene. »Um nichts in der Welt hätte ich mich da wecken lassen. Aber schau hinaus. Die Sonne scheint schon wieder, und was seh ich denn da? Die geheimnisvolle Lady erscheint auch schon wieder! Sie kann es gar nicht erwarten, dich endlich zu malen. Aber bitte kein Aktbild, Olivia. Sonst darfst du mich nie wieder besuchen.«
»Du wolltest doch aufpassen«, meinte Olivia neckend.
»Ich schaue lieber aus der Ferne zu. Kann ja auch sein, dass Mama jede Stunde anruft.«
Mit nackten Füßen lief Olivia über den nassen Sand. Für die Frau, die da unten stand, war es, als schwebe sie, und wieder lag jener seltsame, faszinierende Ausdruck auf ihrem Gesicht, zu dem jetzt aber noch ein bezwingendes Lächeln kam, als sie Olivia eine schmale Hand entgegenstreckte.
»Schön, dass Sie kommen«, sagte sie. »Es ist kühl nach diesem nächtlichen Sturm.«
»Erfrischend«, sagte Olivia leise.
»Aber das Meer ist aufgewühlt.«
»Sie wollen dennoch malen?«, fragte Olivia beklommen.
»Mir macht es nichts aus.« Sie deutete auf die Staffelei. »Ich habe schon eine Skizze aus dem Gedächtnis gemacht. Möchten Sie sehen?«
Es war wohl mehr als eine Skizze. Schon jetzt konnte Olivia sich sehen, und nun verursachte es ihr Beklemmung, dass diese Frau sie so intensiv erfasst hatte.
»Würden Sie mir das Bild dann verkaufen?«, fragte sie stockend. »Für meine Eltern.«
»Verkaufen nicht, schenken vielleicht, ja, vielleicht«, sagte Lady Horby gedankenverloren. »Ihre Eltern sind nicht hier?«
»Nein, sie sind zur Kur. Meine Mami musste kürzlich operiert werden. Ich bin bei meiner Freundin.«
»Ja, ich weiß. Sie lieben Ihre Eltern?«
»Ja, sehr, unendlich«, erwiderte Olivia, und Sehnsucht schwang in ihrer Stimme. Träumerisch wanderten ihre Augen über das noch aufgewühlte Meer, und sie merkte gar nicht, dass Clarissa Horby schon zum Pinsel gegriffen hatte. »Bleiben Sie so«, sagte sie, als Olivia sich nun bewegte, »bitte, bleiben Sie so, oder ist es Ihnen zu kühl?«
»Nein, gar nicht.«
»Wo wohnen Sie?«, fragte die Lady.
»In München.«
»Gehen Sie noch zur Schule?«
»Aber nein, ich studiere.«
»Was studieren Sie?«
»Jura.«
Warum sage ich das alles so bereitwillig?, dachte Olivia. Und warum will sie das alles wissen?
»Halten Sie mich bitte nicht für neugierig«, sagte Clarissa nun, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Sie interessieren mich. Ich wollte nicht glauben, dass es dies zweimal gibt.« Doch dann hielt sie erschrocken inne, als Olivia rasch wiederholte: »Zweimal?«
»Ich werde Ihnen später vielleicht davon erzählen.« Noch einmal sagte sie: »Vielleicht.«
Dann herrschte Schweigen, und Lady Horby malte wie in Trance, und auch Olivia war so eingefangen von dieser spannungsgeladenen Atmosphäre, dass sie sich kaum regte.
Als dann wieder dunkle Wolken aufzogen, packte Clarissa ihre Malutensilien zusammen.
»Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mich am Nachmittag besuchen würden, Olivia«, sagte sie und kostete es aus, diesen Namen mit ganz besonderem Ausdruck zu sagen. »Ich möchte das Bild unter einer anderen Beleuchtung fertigstellen.«
»Ich weiß nicht, ob ich weg kann. Die Familie meiner Freundin kommt vielleicht heute schon zurück.«
»Dann vielleicht morgen?« Sie reichte Olivia eine Karte. »Sie werden mich dort in meiner Wohnung antreffen, und Sie können mich auch telefonisch direkt erreichen unter der angegebenen Nummer. Bitte!«
»Ja, ich werde kommen«, erwiderte Olivia.
*
Mandy war weder ironisch noch aggressiv. »Die Lady ist ja wie besessen«, stellte sie nachdenklich fest, »wirklich faszinierend. Wie wird das Bild?«
»Ich habe es jetzt nicht gesehen. Sie hat mich gebeten, am Nachmittag zu ihr zu kommen. Sie will es in einer anderen Beleuchtung weitermalen.«
»Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt«, sagte Mandy. »Du wirst doch hingehen?«
Erstaunt blickte Olivia die Freundin an. »Du willst es mir nicht ausreden?«
»Nein, ich bin jetzt schrecklich neugierig, wie das weitergeht. Mama hat angerufen. Dick und Wilm werden erst am Abend eintreffen. Sie kommen dann morgen hierher. Hoffentlich macht es dir nichts aus, wenn du mit meinen schwierigen Brüdern konfrontiert wirst.«
»Wenn es ihnen nichts ausmacht, dass ich hier bin?«
»Ich habe mir alles ein bisschen anders vorgestellt, aber je erwachsener man wird, desto größer werden wohl die Probleme«, sagte Mandy seufzend.
»Wenn es für dich solche Probleme sind, können wir auch früher nach München fahren, Mandy. Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen. Emi ist ja im Hause.«
»Das würde meinen Eltern aber sehr peinlich sein.«
»Ach was, dramatisiere das nicht. Alles hat zwei Seiten, eine gute und eine schlechte, sagt Paps. Vielleicht dämpft es die Spannungen, wenn ich hier bin.«
»Du warst schon immer klüger als ich«, meinte Mandy. »Ich bewundere dich ja so sehr.«
»Nun lass mal diese Übertreibungen. Wir sind Freundinnen, und ich habe keine Brüder, mit denen ich im Clinch liege.«
Mandy wanderte im Zimmer hin und her. »Nehmen wir einmal an, Dr. Werden würde um deine Hand bitten, würdest du ihn dann heiraten, Olivia?«
»Fängst du schon wieder mit Werden an?«, lachte Olivia auf. »Ich kenne ihn doch kaum. Ich mache mir solche Gedanken nicht.«
»Aber wenn deine Eltern es nun wünschen würden?«
»Ich glaube nicht, dass sie mir da Vorschriften machen. Du bist doch ziemlich naiv, Mandy. Ich habe nicht das geringste Anzeichen verspürt, dass er ein persönliches Interesse an mir hätte. Und falls du dich in ihn verliebt haben solltest, kann ich dich nur mahnen, dich nicht zu sehr hineinzusteigern.«
»Ich kann doch nichts dafür«, sagte Mandy. »Es würde mir verdammt wehtun, wenn du ausgerechnet ihn heiraten würdest.«
»Ich habe nicht die Absicht, Mandy«, erwiderte Olivia beruhigend. »Aber es könnte doch sein, dass es bereits eine Frau in seinem Leben gibt. Man muss das ganz realistisch betrachten.«
»Und wenn du dich nun in einen Mann verlieben würdest, der eigentlich schon gebunden ist?«, fragte Mandy.
»Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht, aber damit muss man sich doch abfinden. Kismet. Vielleicht sollte es so sein. Nun lass den Kopf nicht hängen. Du kommst mit nach München und wirst Dr. Werden sicher öfter sehen. Ich werde das schon arrangieren. Warum solltest du nicht eine Chance haben? Ich denke, du bist eher sein Typ als ich.«
»Wieso denkst du das?«
»Einmal schon deshalb, weil du sehr lieb und sehr hübsch bist, und zweitens, weil du nicht die Tochter seines Chefs bist.«
»Das sagst du nur, um mich zu trösten«, flüsterte Mandy.
»Es gibt auch noch andere Männer«, sagte Olivia.
»Aber keinen, der mir so gut gefällt.«
Na, da hat uns Paps was Schönes eingebrockt, dachte Olivia. Hätte er mich nur allein fliegen lassen.
*
Sie ging am Nachmittag zu Lady Horby. Sie kannte solche Hotels, in denen betuchte Leute Zimmerfluchten ihr eigen nennen konnten, aber es irritierte sie doch, wie devot sie zum Lift begleitet wurde. Lady Horby bewohnte die Dachterrasse, und noch nie in ihrem jungen Leben hatte Olivia eine solche Wohnung gesehen, die so voller Kostbarkeiten war, ohne überladen zu wirken.
»Ich freue mich sehr, dass Sie kommen«, sagte Clarissa. »Was darf ich Ihnen anbieten?«
Olivias Blick fiel auf einen wunderschönen Samowar. »Tee trinke ich sehr gern«, sagte sie.
»Ist er bei Ihnen auch so beliebt?«, fragte Clarissa beiläufig.
»Nicht jeden Tag, aber wenn es kalt wird, schon. Meine Mutter hat einige Jahre in England gelebt.« Sie wollte nicht zu viel sagen, nicht in welcher Position ihr Großvater nach England entsandt worden war. Aber es wunderte sie, dass Lady Clarissa keine Fragen stellte.
Dass sie es mit einer ganz außergewöhnlichen Frau zu tun hatte, war Olivia längst bewusst. Aber sie schien auch rätselhaft und undurchschaubar.
Der Tee war köstlich und ebenso das Gebäck, dem Olivia auch nicht widerstehen konnte, aber dann war Clarissa mit ihren Gedanken wohl gleich wieder bei dem Bild.
Sie führte Olivia in ihr Atelier, das sehr einfach eingerichtet war und nur seiner Bestimmung dienen sollte. Eine große Fensterfront gab den Blick frei auf das Meer. Indirekte Beleuchtung vermittelte nun den Eindruck, als scheine die Sonne herein, obwohl der Himmel jetzt wieder ganz bewölkt war.
Da stand die Staffelei, aber kein anderes Bild war zu sehen, nur ein blassgrauer Vorhang, vor dem ein Sessel stand.
Clarissa bat Olivia, dort Platz zu nehmen, und das tat sie auch ganz mechanisch, wieder dem zwingenden Blick der Älteren ausgeliefert.
Clarissa malte, und Olivia hatte manchmal den Eindruck, dass ihr Blick mehr ins Ungewisse gehe als zu ihr.
Und wieder verging die Zeit schnell. Olivia war ganz in Gedanken versunken gewesen, da diese Frau mit ihrem geheimnisvollen Wesen sie unentwegt beschäftigte. Clarissa sprang plötzlich auf, ging zu dem Vorhang und zog ihn zurück.
»Sehen Sie sich dieses Bild an, Olivia«, sagte sie heiser.
Das Mädchen hatte sich erhoben und drehte sich um. Olivia meinte, in einen Spiegel zu blicken.
»Das gibt es doch nicht«, flüsterte sie, »das bin ich, Sie haben das Bild schon vollendet!«
»Nein, Olivia, das ist Ihre Mutter«, sagte Clarissa. »Die Frau, die Sie geboren hat. Ich habe gesagt, ich werde Ihnen vielleicht etwas erzählen, jetzt werde ich es tun.«
Olivia erstarrte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Es vergingen nur Sekunden, aber dann brach es aus ihr heraus: »Ich will es aber nicht hören, nein, ich will es nicht hören. Ich liebe meine Eltern über alles, meine Mami. Ich habe keine anderen Eltern gekannt und will auch nichts anderes wissen. Ich kann nichts anderes sagen als adieu.«
Und dann lief sie hinaus aus der Wohnung und die Treppe hinunter, weil der Lift nicht gleich kam. Viele Stufen, die sie nicht zählte, und atemlos lief sie hinaus ins Freie, blindlings zum Strand, und ohne die leichten Schuhe abzustreifen, durch das Wasser. Die Wellen schlugen bis zu ihren Hüften, aber sie merkte es nicht. Tränen rannen über ihr Gesicht, und sie wäre an dem Haus der Terborgs vorbeigelaufen, wenn nicht plötzlich schattenhaft eine Gestalt vor ihr aufgetaucht wäre und zwei starke Arme sie aufgefangen hätten.
Sie wollte sich aus dieser Umklammerung befreien, wehrte sich. »Wer sind Sie, lassen Sie mich los!«, stieß sie hervor.
»Was ist los«, sagte eine dunkle Männerstimme. »Wohin willst du, Olivia? Du bist doch Olivia?«
Sie blickte auf und in Benedikt Terborgs helle Augen. Sie kannte nur Fotos von ihm, aber sie wusste, wer da so dicht vor ihr stand und sie immer noch in den Armen hielt.
»Ihr solltet doch erst morgen kommen«, flüsterte sie.
»Aber wir sind schon da, und weil da oben Heulen und Zähneklappern herrscht, wollte ich frische Luft schöpfen.«
»Ist was mit Wilm?«, fragte sie ängstlich.
»Er ist völlig konfus, deshalb habe ich ihn zuerst hierhergebracht. Vor einer halben Stunde sind die Eltern gekommen. Aber nun sag schon, was mit dir los ist.«
»Nichts«, erwiderte Olivia, »ich hatte plötzlich nur Heimweh.«
»Kein Wunder, wenn hier so eine Stimmung herrscht und das Wetter auch noch mies wird.«
»Bis jetzt war es sehr schön, und ihr sollt auch nicht denken, dass ich nur für gute Tage zu haben bin.« Sie quälte sich ein Lächeln ab. »Jetzt bin ich schon wieder okay.«
Er hatte sie freigegeben, und sie war sogleich zwei Schritte zurückgewichen. Er betrachtete sie forschend.
Er war so hochgewachsen, dass sie zu ihm hätte aufblicken müssen, aber sie blickte an ihm vorbei zum Haus.
»Was war nun eigentlich mit Wilm?«, fragte sie stockend.
»Ihm hat es nicht gefallen, und er hat die Flucht ergriffen. Auf dem Bahnhof in London haben sie ihm dann seine ganze Habe geklaut. Er ist ja noch so naiv, und die Burschen, die sich an ihn herangemacht hatten, hatten leichtes Spiel. Nun, vielleicht ist dadurch noch Schlimmeres verhindert worden, denn er wollte in die Bretagne in dieses Ferienlager.«
»Warum wurde ihm das eigentlich nicht erlaubt?«, fragte Olivia.
»Ich weiß, wie es da zugeht«, erwiderte Benedikt. »Ich habe das auch mal mitgemacht, aber ich bin nicht so beeinflussbar wie Wilm. Da steckt einer den anderen an mit irgendwelchen Dummheiten. Allerdings scheint sich auch in so einem Internat allerhand zu tun, was Wilm dann erschreckt hat.«
»Wie hast du ihn gefunden?«, fragte Olivia.
»Er wusste ja, wo ich mich aufhalte. Ich war seine letzte Rettung, da er kein Geld mehr hatte.« Dann wechselte Benedikt abrupt das Thema. »Nun lerne ich dich endlich persönlich kennen, Olivia, und ich wünschte, es wäre unter erfreulicheren Umständen. Mandy hat mich ja wohl immer als Buhmann hingestellt.«
»Nein, das stimmt nicht. Es war wohl nicht ganz einfach, zwischen zwei Brüdern zu stehen.«
»Zwischen Geschwistern sollte kein so sehr großer Altersunterschied bestehen«, stellte er ganz ruhig fest. »Als sie dann endlich so weit war, dass ich mit ihr etwas anfangen konnte, musste ich leider aufs College und Mama hatte das Baby. Aber dafür hatte Mandy dann eine Freundin, die ihr viel mehr bedeutete als ihre Brüder.«
»Wir haben uns so selten gesehen«, sagte Olivia nachdenklich.
»Das ist vielleicht besser, als wenn man tagtäglich beisammen ist. Es kommt dann leicht zu Spannungen. War es heute zwischen euch so?«
»Aber nein«, widersprach Olivia bestürzt, »wie kommst du denn darauf?«
»Weil du allein weggegangen bist, und Mandy hat nicht gesagt, wo du bist. Hattest du ein Rendezvous?«
»Ja, aber nicht mit einem Mann, wenn du das denkst. Mit einer älteren Dame, die mich gemalt hat.«
Benedikt hielt die Luft an. Dann fasste er nach Olivias Arm. »Lady Horby etwa?«, fragte er hastig.
»Du kennst sie?«
»Flüchtig, aber ich kenne ihre Bilder. Sie ist drüben sehr bekannt.«
»Und wie findest du ihre Bilder?«
»Großartig.«
»Was weißt du noch von ihr?«
»Nicht viel. Sie war mit einem Schotten verheiratet, eben jenem Lord Horby, der aber schon lange nicht mehr lebt. Man sagt ihr nach, dass sie einige Marotten hat, auch die, dass sie ihre Bilder nicht verkauft.«
»Hat sie Kinder?«
»Das weiß ich nicht, aber ich kann mich ja mal erkundigen, wenn es dich interessiert.«
»Nein, so sehr wieder nicht«, sagte Olivia, aber da kam Mandy.
»Da bist du ja wieder, Olivia«, sagte sie erleichtert. »Ihr habt euch getroffen?«
»Am Strand«, erwiderte Benedikt, »ich habe Olivia natürlich gleich erkannt. Hat sich die Aufregung gelegt?«
»Wilm schläft, Papa ergeht sich in Selbstvorwürfen, aber Mama hat sich schon wieder gefangen. Wirst du auch bleiben, Dick?«
»Wenn ihr nichts dagegen habt?«
Mandy sah Olivia an. »Was meinst du?«, fragte sie zögernd.
Olivia lächelte flüchtig. »Es ist doch nett, dass ich deine Brüder auch mal kennenlerne«, erwiderte sie. Auch sie hatte sich wieder gefangen, obgleich sie das, was Lady Horby gesagt hatte, nicht aus ihren Gedanken verbannen konnte. Aber sie wollte es vergessen. Sie wehrte sich verzweifelt dagegen, dass noch jemand Bescheid wusste über den Anfang ihres Erdendaseins. Und sie war fest dazu entschlossen, ihren Eltern nichts davon zu erzählen.
*
Lady Clarissa kämpfte mit schweren Gewissensbissen. Sie betrachtete das Bild, das sie hinter dem Vorhang versteckt hatte und führte Selbstgespräche.
Wie konnte ich das Kind so erschrecken? Warum konnte ich mich nicht besser beherrschen? Wie kann ich das jetzt wiedergutmachen?
Aber sie hatte es gesagt, und was gesagt war, konnte nicht mehr weggeredet werden. Olivia wusste, dass sie ein adoptiertes Kind war, aber sie wollte keine anderen Eltern akzeptieren. Diese flammende, zornige Abwehr hatte Clarissa zutiefst erschreckt und getroffen.
Immer wieder wanderte ihr Blick von dem Gemälde an der Wand zu dem noch unvollendeten auf der Staffelei, und dann setzte sie sich vor diese und gab Olivias jungem Antlitz die letzte Vollendung.
Dann schrieb sie einen kurzen Brief. Mitternacht war längst vorbei, als sie erschöpft auf ihr Bett sank, und ein paar Stunden schlief sie tief und traumlos.
Auch Olivia hatte in dieser Nacht, als alle anderen sich schon zur Ruhe begeben hatten, ein paar Zeilen geschrieben.
Lady Horby, unsere Wege haben sich wohl schicksalhaft gekreuzt, aber vielleicht auch von Ihnen gewollt. Ich bin verwirrt und traurig und möchte Sie bitten, diese Begegnung zu vergessen und auch das, was gesagt wurde. Ich habe die liebevollsten Eltern, die sich ein Kind wünschen kann und betrachte diese allein als meine wirklichen Eltern. Ich weiß nicht, welche Rolle Sie in der Vergangenheit spielten, und ich will es auch nicht wissen. In dem Glauben, dass Sie so viel menschliche Größe besitzen, dies zu akzeptieren, sage ich nochmals adieu.
Olivia Klausner
Auch Olivia schlief dann ein, aber ihr Schlaf war von wirren Träumen bewegt, und sie war früh am Morgen wieder munter, als die ersten Sonnenstrahlen in ihr Zimmer fielen. Im Haus war es still. Auf Zehenspitzen schlich sie im Badeanzug hinaus, lief schnell zum Meer und stürzte sich in das kühle Wasser. Momentan raubte es ihr fast den Atem, aber dann fühlte sie sich frei und unbeschwert. Sie ließ sich treiben, sah nur den Himmel über sich, der wolkenlos und tiefblau war.
Aber dann war sie plötzlich nicht mehr allein. Eine Hand griff nach ihrem Arm. »Es ist genug, Olivia«, sagte eine raue Stimme. »Es ist gefährlich, so weit hinauszuschwimmen. Und es ist auch viel zu kalt.«
Und Benedikt ließ sie nicht los, zog sie zurück, zwang sie zur Umkehr. Da merkte sie erst, wie weit sie vom Strand schon entfernt war.
»Was fällt dir eigentlich ein?«, herrschte er sie an, als sie dann erschöpft in den nassen Sand sank. Er riss sie empor und hüllte sie in seinen Bademantel. Dann hob er sie empor und trug sie zum Haus, und sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren.
»Ich hätte dich für klüger gehalten«, sagte er atemlos, »oder wolltest du dich umbringen?«
»Ich kann sehr gut schwimmen«, flüsterte sie.
»Das habe ich bemerkt, aber man muss auch abschätzen können, ob man zurückkommt. Jetzt nimmst du ein warmes Bad, und ich brühe Tee auf. Es fehlte noch, dass du krank wirst.«
Mandy stand mit schreckensweiten Augen auf der Terrasse. »Psst, weck nicht alle auf«, sagte Benedikt leise, bevor sie einen Laut über die Lippen brachte. »Lass warmes Wasser ein und sorg dafür, dass Olivia dann im Bett bleibt. Ich bereite Tee.«
»Olivia, Darling, was ist denn mit dir los?«, fragte Mandy bebend, als sie allein im Bad waren.
»Gar nichts«, erwiderte Olivia trotzig. »Ich bin ein bisschen weit hinausgeschwommen, und dein Bruder wollte sich wohl als Lebensretter aufspielen.«
»Du warst aber sehr weit draußen«, sagte Mandy leise.
»Das war mir nicht bewusst.Vergiss, was ich eben gesagt habe. Benedikt hat es doch sicher nur gut gemeint.«
»Ich hätte dich nicht retten können«, sagte Mandy bebend. »Was ist dir bloß eingefallen? Was ist gestern passiert, Olivia? Ich habe doch gemerkt, dass du verändert bist.«
»Es tut mir leid, dass ich euch einen Schrecken eingejagt habe. Daran dachte ich nicht. Es war herrlich im Wasser. Die Wellen haben mich getragen. Ich habe nicht gemerkt, wie weit hinaus. Benedikt ist ein sehr guter Schwimmer.«
»Er ist eine Sportkanone. Ihm gelingt überhaupt alles, was er anfängt. Nun weißt du, warum eine jüngere Schwester da überhaupt keine Chancen hat.«
»Du darfst das nicht so sehen, Mandy. Ich glaube, das würde Benedikt gar nicht gefallen«, sagte Olivia nachdenklich. »Er hat mir schon gestern einiges gesagt, was mich sehr beschäftigt hat. Sei froh, dass du einen großen Bruder hast, auf den du dich bestimmt immer verlassen kannst.«
»Wenn er gerade mal da ist«, sagte Mandy.
»Du könntest es ihn auch wissen lassen, wenn du ihn mal brauchst.«
»Wieso hast du plötzlich eine so gute Meinung von ihm?«
»Ich hatte überhaupt keine Meinung. Ich kannte ihn ja nicht, nur das, was du immer erzählt hast. Jetzt glaube ich, dass ich es ohne seine Hilfe nicht geschafft hätte, zurückzukommen, und dafür schulde ich ihm doch Dank. Man darf sich nicht einfach treiben lassen, und man darf auch seine eigenen Kräfte nicht überschätzen. Ich habe wieder etwas dazugelernt.«
»Ich wage nicht zu denken, wie wir es hätten deinen Eltern erklären sollen, wenn du ertrunken wärst«, schluchzte Mandy auf.
»Ich habe nicht daran gedacht, nicht an so was, glaub es mir, Mandy«, erwiderte Olivia mit erstickter Stimme. »Es tut mir schrecklich leid.«
»Diese Frau hat dich verhext, diese Lady Horby«, stieß Mandy hervor. »Sag mir, was gestern geschehen ist!«
»Es ist nichts geschehen, Mandy. Nichts, außer, dass ich wohl eine ziemliche Ähnlichkeit mit einem Mädchen haben muss, das sie früher einmal kannte. Es ist nicht gut, wenn man Erinnerungen nachhängt. Ich werde ihr nicht mehr Modell sitzen. Und jetzt frag nichts mehr.«
Nun lag sie im Bett. Benedikt hatte dampfenden Tee gebracht, den sie in kleinen Schlucken getrunken hatte. Und dann war sie eingeschlafen.
»Kein Wort zu den Eltern, Mandy«, sagte Benedikt. »Wir beide passen auf sie auf. Es scheint da etwas zu geben, das sie allein nicht verkraften kann.«
»Ich habe ja gesagt, dass diese Lady sie verhext hat. Aber Olivia war ja so von ihr fasziniert.«
Benedikt nahm Mandys Hand, und das hatte sie noch nie erlebt. »Erzähl mir alles«, sagte er bittend.
Aber da hielt ein Wagen vor dem Haus. Ein Bote brachte ein Paket.
»Für Miss Klausner«, sagte er. »Ich soll das abgeben.«
Und bevor sie noch etwas fragen konnten, fuhr er schon wieder davon.
Benedikt und Mandy schauten sich an, betrachteten das Paket.
»Das könnte ein Bild sein«, sagte Mandy leise. »Mir ist bange, Dick.«
»Man kann vor Tatsachen nicht die Augen verschließen, Mandy. Wenn es da Probleme gibt, können wir nur versuchen, Olivia zu helfen. Du bist ihre Freundin, und auf mich kannst du dich auch verlassen.«
Sie sah ihn staunend an. »Du magst sie, Dick«, sagte sie leise.
Er wandte sich ab und ging zum Fenster. »Mich hat es erwischt, Mandy«, erwiderte er leise, »aber das bleibt unter uns.«
Mandy ging auf ihn zu und legte ihre Hände auf seine breiten Schultern. »Ich sage nie mehr Bock zu dir, Benedikt, und wenn du mich brauchst, kannst du dich auch auf mich verlassen, großer Bruder.«
*
Es wurde neun Uhr, bis sich die Familie am Frühstückstisch einstellte, den Mandy und Benedikt gemeinsam gedeckt hatten.
»Guten Morgen allerseits«, sagte Willem Terborg. »Ihr seid früh auf.«
»Wo ist denn Olivia?«, fragte Marieke. »Sie ist doch sonst die Frühaufsteherin.«
»Sie ist heute morgen schon sehr lange geschwommen und dann wieder eingeschlafen«, erwiderte Mandy.
»Bei dieser Kälte? Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet«, sagte Marieke besorgt. »Ich habe gar nichts mitgekriegt.«
Gott sei Dank, dachten Mandy und Benedikt. Sie tauschten einen verständnisinnigen Blick.
»Wilm schläft ja auch noch«, sagte Mandy.
»Er hat es auch nötig«, meinte Marieke. »Aber langsam wird er auch Hunger bekommen.«
Und da kam er schon angeschlichen, ganz kleinlaut. »Ich habe Hunger«, sagte er.
»Dann lang nur zu«, sagte sein Vater.
»Seid ihr auch nicht mehr böse?«, fragte er.
»Hör jetzt mit dem Quatsch auf«, sagte Benedikt. »Mach in Zukunft nicht mehr solche Dummheiten, sondern rede vernünftig mit den Eltern!«
Wilm blieb stehen und verschränkte die Hände auf dem Rücken.
»Ist Olivia meinetwegen weg?«, fragte er leise.
»Sie ist nicht weg, sie schläft«, sagte Mandy, »und ich schaue jetzt mal nach ihr.«
»Du bist aber böse mit mir, Mandy«, murmelte Wilm.
»Ich habe sogar eine richtige Mordswut auf dich, weil du dich so dämlich benommen hast«, ereiferte sie sich. »Wir haben schließlich Eltern, die sich um ihre Kinder sorgen. Schreib dir das hinter die Ohren!«
Und dann entschwand sie. Wilm sah seinen großen Bruder an. »Nun setz dich schon und iss«, sagte Benedikt, »aber erwarte nicht, dass wir dich mit Samthandschuhen anfassen. Mandy hat recht. Denk in Zukunft mehr an die Eltern. Oder willst du etwa, dass Papa deinetwegen einen Herzinfarkt kriegt?«
»Ich habe doch gleich gesagt, dass ich lieber wieder nach Hause will«, begehrte Wilm auf.
»Aber türmen wolltest du in die Bretagne«, warf Benedikt ein. »Jetzt wird mal deutlich geredet, mein kleiner Bruder. Keiner von uns ist so verhätschelt worden wie du. Jetzt setzt du dich mal auf die Hosen, sonst stecken wir dich in eine Lehre, wenn du das Klassenziel zum zweiten Mal wieder nicht erreichst.«
»Das wäre mir auch hundertmal lieber als die blöde Penne«, sagte Wilm.
»Da hast du es«, sagte Marieke, und Willem löffelte seelenruhig sein Ei.
»Wird wohl das Beste sein«, brummte Willem Terborg. »Aber von der Pike an, damit du ja nicht denkst, dass dir was geschenkt wird.«
»Er weißt doch nicht mal, was er werden will«, sagte Marieke entsagungsvoll.
»Kapitän will ich werden«, sagte Wilm.
»Vor vier Wochen hast du noch gesagt, dass du Astronaut werden willst«, murmelte Marieke.
»Jetzt mach ich erst mal eine Lehre, dann reden wir weiter«, sagte Wilm.
»Aber die Verantwortung übernimmt Dick«, sagte Willem Terborg. »Nach all den Aufregungen brauche ich auch mal eine Kur. Du rufst mal die Klausners an, ob für uns auch noch ein Platz ist auf der Insel der Hoffnung, Marieke!«
»Ich?«, fragte sie konsterniert. »Das mach du mal lieber. Ich habe bisher zu allem immer ja und amen sagen müssen.«
»Da sieht man es mal wieder«, brummte Willem. »Erst beklagen sich die Frauen, dass sie nichts zu sagen haben, und wenn man ihnen die Entscheidung überlässt, kapitulieren sie.«
»Es kommt immer darauf an, wie man es anfängt, Papa«, sagte Benedikt.
»Du kannst sicher besser mit den Damen umgehen«, meinte Willem ironisch.
»Vor Dick kuschen sie doch sowieso«, warf Wilm ein.
»Sei nicht so vorlaut«, pfiff ihn Benedikt an.
Aber dann kamen Mandy und Olivia, und er erwies sich ganz als Kavalier, erhob sich sofort und rückte Olivia den Stuhl zurecht.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie verlegen. »Ich bin noch einmal fest eingeschlafen.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Marieke nachsichtig. »Du sollst die Ferien genießen, und ich hoffe, dass dieses Zwischenspiel dich nicht verschreckt hat.«
»Tut mir sehr leid, Olivia«, sagte Wilm entschuldigend. »Es war blöde von mir.«
»Hauptsache, du bist okay«, sagte sie.
Es war Ruhe eingekehrt, und Olivia dachte vorerst nicht mehr an Clarissa Horby. Von dem Paket wusste sie noch nichts. Davon wollten Mandy und Benedikt auch nichts vor den Eltern erwähnen.
Allein Willem Terborgs Plan, zur Insel der Hoffnung zu fahren, stimmte Olivia jetzt skeptisch. Da würde dann doch wieder von Geschäften geredet werden zwischen den beiden Männern, und Mariekes Lieblingsthema waren die Kinder. Aber bei aller Freundschaft wusste Olivia doch, dass ihre Eltern auch einmal ganz für sich sein wollten, ohne jeden Zwang, nicht mit der Verpflichtung, lange Gespräche führen zu müssen.
»Ich fürchte, jetzt wird die Insel ausgebucht sein«, sagte Olivia vorsichtig.
»Es wäre wohl auch zu überstürzt«, meinte Marieke, und zu ihrem Mann gewandt: »Wir können doch nicht erwarten, dass sich die Mädchen um Wilm kümmern. Was sollten Olivias Eltern auch denken, wenn wir sie allein im Haus lassen.«
Nein, Marieke hatte keine Neigung, jetzt auf Reisen zu gehen, und sie war froh, dass Olivia mit ihren Eltern telefonierte und dann Bescheid gab, dass augenblicklich kein einziges Appartement frei sei.
Anne Cornelius hatte zwar gemeint, dass man es möglich machen könnte, aber das hatte Olivia so diplomatisch abgebogen, dass man dort richtig geschaltet hatte.
So fasste Willem einen anderen Entschluss, der bei allen Anklang fand. Er wollte mit Wilm ein paar Tage in die Bretagne fahren und sich bei dieser Gelegenheit mal das Ferienlager anschauen.
Auch Benedikt erhob keinen Widerspruch, weil er schon ahnte, dass Wilms Begeisterung dafür auch schnell erlöschen würde, denn im Grunde war er doch ein verwöhnter Junge.
Weniger behagte es Benedikt, dass er indessen die Geschäfte in Amsterdam leiten sollte.
»Ein paar Tage Urlaub wären mir wohl auch zu gönnen«, meinte er unwillig. »Wenn etwas wichtig ist, bin ich telefonisch zu erreichen.«
Willem Terborg zeigte sich nachgiebig. »Es wird ja nicht gleich alles zusammenbrechen«, meinte er.
Er fuhr mit Marieke in die Stadt, um noch einige Besorgungen zu machen. Wilm ging an den Strand. Mandy hatte Olivia vorgeschlagen, sich lieber noch auf der Terrasse zu sonnen, denn sie wollte nun auch Gelegenheit haben, ihr das Paket zu geben.
Olivia wurde blass und sah Mandy entsetzt an. »Ich will es nicht«, stieß sie hervor.
»Warum nicht?«, fragte Mandy bestürzt. »Was ist denn gestern geschehen? Wollte sie dich etwa nackt malen?«
»Nein, nein, bitte, frag mich nicht, Mandy. Es ist etwas aus der Vergangenheit, womit sie mich erschreckt hat.«
»Mir kannst du es doch sagen, Olivia«, bat Mandy.
Olivia suchte nach einer Erklärung. »Sie hat früher, vor vielen Jahren, mal eine Frau gemalt, der ich sehr ähnlich bin.«
»So was soll es geben«, meinte Mandy. »Wenn man auch noch so einmalig erscheinen mag, passiert das öfter. Es braucht dich doch nicht aufzuregen, oder meinst du etwa, es könnte eine Verwandte gewesen sein?«
»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Olivia abweisend. »Aber vielleicht bildet sie es sich ein. Denk jetzt bitte nicht, dass sie zwielichtig ist, aber sie ist doch sehr eigenartig.«
»Immerhin könntest du den Brief lesen«, sagte Mandy. »Ich bin nicht neugierig. Ich lasse dich jetzt allein, du kannst es dir überlegen. Aber wenn das dein Bild ist, würde ich es schon gern sehen.«
Olivia war allein. Sie starrte den Umschlag an, dann das Paket. Wieso weiß sie alles?, ging es ihr durch den Sinn. Erklärt sie es mir in diesem Brief?
Und dann hatte sie diesen geöffnet. Klar und großzügig war die Handschrift, und irgendwie wirkte das beruhigend auf Olivia.
Ich werde Zandvoort verlassen, Olivia. Sie brauchen nicht mehr vor mir davonzulaufen. Es tut mir leid, dass ich meine Zunge nicht im Zaum halten konnte, aber vielleicht bringen Sie eines Tages doch mehr Verständnis für mich auf. Ich hatte Sie sehr lieb gewonnen und ich bitte Sie herzlich, das Bild von mir anzunehmen. Denken Sie nicht schlecht von mir. Ich habe viel Vergangenes, unwiederbringlich Verlorenes bewältigen müssen. Es ist gut, dass Sie Ihre Eltern so sehr lieben, dass Sie keine liebeleere Kindheit verbringen mussten, wie Celia, die Sie zur Welt brachte. Ich bitte Sie zu bedenken, dass sie ihre beste Freundin glücklich machte, als sie ihr das Kind schenkte. Sie ist eines guten Gedankens wert, und ich wäre sehr glücklich, wenn Sie mir eines Tages mitteilen, dass Sie mir verzeihen.
Clarissa Horby
Wenn sie so viel schreibt, warum dann nicht alles?, dachte Olivia. Aber dann begann sie das Paket zu enthüllen und erschrak wiederum, denn es war nicht das Bild, das Clarissa von ihr gemalt hatte, sondern jenes, das sie an der Wand gesehen hatte, und über den kostbaren Rahmen war eine lange Goldkette gehängt, deren goldenes Medaillon genau auf der Stelle mit einem schmalen Klebestreifen befestigt war, auf der es auch im Bild festgehalten war, und jetzt erkannte Olivia, dass ein C eingraviert war.
Es wurde ihr heiß und kalt. Schnell hüllte sie das Bild wieder in das Leinentuch und stellte es in den Wandschrank. Ihr Herz schlug wie ein Hammer, und sie verharrte dann regungslos, ihre Finger an die Schläfen drückend, hinter denen das Blut pulsierte. Schleier wallten vor ihren Augen, und es dauerte Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte.
Sie ging hinunter und griff zum Telefon. Sie wählte die Nummer, die ihr im Gedächtnis haften geblieben war, aber es meldete sich niemand. Dann wählte sie die Nummer des Hotels und fragte nach Lady Horby. Man sagte ihr aber höflich, dass die Lady bereits abgereist war.
Der spontane Gedanke, ihr das Bild sofort zurückzubringen, war damit überflüssig geworden. Was sollte sie nun damit tun?
Sie eilte in ihr Zimmer zurück, froh, dass ihr niemand in den Weg kam. Ihre Hände bebten, als sie das Bild wieder herausnahm und das Medaillon behutsam löste. Wenigstens das sollte niemand sehen. Sie hüllte es in ein Taschentuch und legte es in ihre Schmuckschatulle. Dann ging sie ins Bad, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und betrachtete es im Spiegel. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Und dann schien plötzlich Clarissas Gesicht sie anzuschauen mit diesem seltsamen Ausdruck, mit bittenden Augen, und da war diese faszinierende Frau so gegenwärtig, als würde sie vor ihr stehen. So zerrissen sie war in ihrem Innersten, nun konnte sie doch wieder klar denken.
Sie nahm ein kleines Bild von der Wand und prüfte den Haken. Dann hängte sie das Gemälde auf und betrachtete es lange aus gemessener Entfernung.
Celia, es war ein Name, und es war ihr Gesicht. Als es an der Tür klopfte, schrak sie leicht zusammen, aber schnell gefasst sagte sie: »Komm nur herein.«
Aber es war nicht Mandy, sondern Benedikt. Er war blass. »Ich wollte nur mal nach dir sehen«, sagte er besorgt, doch dann fiel schon sein Blick auf das Bild.
Er hielt den Atem an, seine Augenbrauen schoben sich leicht zusammen.
»Es ist sehr schön«, sagte er leise, »aber die lebendige Olivia gefällt mir besser, viel besser. Ich sehe dich mit anderen Augen.«
Olivia wurde es ganz eigenartig zumute. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und wieder begann ihr Herz zu klopfen, diesmal aber nicht angstvoll und quälend.
Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte: »Mal sehen, was Mandy sagt.« Und dann rief sie nach ihr. Mandy war schnell zur Stelle, und auch in ihrem Gesicht spiegelte sich Erregung.
Mit weit geöffneten Augen starrte sie das Bild an. »Sehr eindrucksvoll«, sagte sie heiser, »aber ganz erfasst hat sie dich nicht. Ich verstehe ja nicht viel von Malerei, aber Lady Horby scheint es zu verstehen, ihre Bilder auf alt zu trimmen.«
Sie brach den Bann, ahnungslos und arglos, aber ein Lächeln glitt nun über Olivias Gesicht.
»Auch das ist eine Kunst«, sagte sie leichthin. »So, nun habt ihr es gesehen, nun können wir es wegstellen.«
»Warum denn?«, fragte Benedikt, »so können wir doch Vergleiche ziehen und sagen, dass uns die lebende Olivia lieber ist.«
»Die Eltern müssen es doch auch sehen«, sagte Mandy. »Mir ist es ehrlich gesagt schleierhaft, wie man das an einem einzigen Tag malen kann, aber sie war ja wirklich wie besessen. Was hat sie denn geschrieben, Olivia?«
»Sie hat sich verabschiedet, weil sie Zandvoort verlassen hat«, antwortete Olivia geistesabwesend.
»Wahrscheinlich flüchtet sie vor dem Autorennen und hat deshalb so schnell gemalt«, meinte Benedikt. »Aber du besitzt nun das Bild einer berühmten Malerin. Darauf kannst du dir wirklich etwas einbilden. Dafür würden manche bestimmt immense Summen zahlen.«
»Ich bilde mir nichts darauf ein«, erwiderte Olivia leise.
»Was für eine Kette hat sie dir da um den Hals gelegt?«, fragte Mandy neugierig.
»Die hat sie da wohl hineingezaubert«, erwiderte Olivia. »Ein schmuckloser Hals scheint ihr nicht zu gefallen.«
»Ein O ist das aber nicht«, sagte Mandy.
Unwillkürlich blickte Olivia Benedikt an und bemerkte den gedankenverlorenen Ausdruck in seinen Augen.
»Ist doch ganz egal«, sagte sie hastig. »Gehen wir an den Strand.«
Wilm, der schon ein paar Stunden in der Sonne geschmort hatte, kam krebsrot zurück, und gleich darauf kamen Willem und Marieke.
»Ich habe das Essen bei Constantin bestellt. Seid ihr bereit?«, fragte Willem.
Da gab es kein Nein, denn ein Essen bei Constantin war eine Verlockung.
*
Das Bild wurde von Marieke und Willem erst am Nachmittag betrachtet. Wilm warf nur einen kurzen Blick darauf.
»In Jeans und T-Shirt gefällst du mir besser«, brummte er.
»Wunderschön, wie eine Prinzessin schaust du aus, Olivia«, sagte Marieke bewundernd.
»Wie eine traurige Prinzessin«, brummte Willem.
»Du hast es erfasst, Papa«, stellte Benedikt fest.
»So ein Rahmen kostet einen Haufen Geld«, sagte Willem nachdenklich.
»Was meinst du, wie viel man für ein Gemälde von Lady Horby zahlen würde?«, fragte Benedikt.
»Die weiß doch mit ihrem Geld sowieso nichts anzufangen. Möchte wissen, wer das mal erbt.«
»Dass du immer in Zahlen denken musst«, sagte Marieke leicht empört.
»Das Essen war jedenfalls seinen Preis wert«, meinte er genussvoll.
»Mal sehen, ob wir in Frankreich auch so was geboten bekommen, Wilm.«
Wilm schien gar nicht mehr so arg glücklich zu sein, mit seinem Vater diese Reise zu machen, aber Benedikt meinte dann hintergründig, dass es mal ganz gut wäre, wenn die beiden allein miteinander auskommen müssten.
*
Am nächsten Morgen starteten Vater und Sohn. Benedikt schlug den Mädchen eine Segeltour vor, und dazu waren sie auch gleich bereit.
Als sie am frühen Nachmittag zurückkamen, wartete Marieke mit einer Überraschung auf.
»Dr. Werden hat angerufen. Er ist in Amsterdam. Er hätte etwas mit Papa zu besprechen, sagte er. Ich habe ihm gesagt, dass du jetzt zuständig bist, Dick.«
»Soll ich jetzt etwa nach Amsterdam fahren?«, fragte Benedikt ungehalten. »Wir wollten heute Abend zur Reunion gehen.«
»Ich habe Dr. Werden gebeten herzukommen. Er wird wohl bald eintreffen«, sagte Marieke gelassen.
»Immer diese Geschäfte«, sagte Olivia.
»Vielleicht fehlst du ihm«, bemerkte Mandy anzüglich. Benedikts Kopf ruckte empor.
»Seid ihr befreundet?«, fragte er rau.
»Unsinn, er ist Papis Manager. Er reist nur in Geschäften.«
Sie warf Mandy einen schelmischen Blick zu. »Aber vielleicht geht er mit zur Reunion«, fuhr sie fort. »Zwei Kavaliere sind besser als einer.«
»Denk ja nicht, dass ich bloß mit meiner Schwester tanze«, brummte Benedikt.
»Oh, lá, lá!«, murmelte Mandy, aber mehr sagte sie diesmal nicht. Erst, als sie ihren Bruder allein erwischen konnte.
»Das eine sage ich dir, Dick, einen Flirt mit Olivia gibt es nicht«, raunte sie ihm zu.
»Denkst du etwa, ich lasse sie mir von einem anderen wegschnappen?«, fragte er gereizt. »Ein bisschen netter könntest du schon zu deinem Bruder sein.«
»Guter Gott, könnte ich mir was Besseres wünschen«, flüsterte sie. »Du kannst ja auch ein bisschen nett zu deiner Schwester sein. Mir gefällt Dr. Werden nämlich sehr gut.«
»Oh, lá, lá!«, sagte jetzt er. Und dann blinzelte er verschmitzt.
Mandy erging sich in vornehmer Zurückhaltung, als Dr. Werden kam. Allerdings hatte sie ihr hübschestes Kleid angezogen, und sie gab sich dazu ganz damenhaft.
Benedikt konnte ein anzügliches Lächeln nicht unterdrücken, aber Olivia freute sich, dass Ulf Mandy kurz, aber mit einem wohlgefälligen Blick musterte.
Die Männer zogen sich zu einer kurzen Kontaktaufnahme und zu einem Begrüßungsschluck zurück, erschienen aber bald wieder.
»Ich habe Dr. Werden überzeugen können, dass wir unser geschäftliches Gespräch morgen fortsetzen, und ihn auch überredet, heute Abend ein bisschen locker mit uns zu feiern.«
Mandys Augen leuchteten auf, Olivia und Benedikt lächelten hintergründig. Marieke strahlte.
Leckere Häppchen hatte sie schon vorbereitet, und das konnte sie einmalig gut. Ein Glas Champagner genehmigte sich auch jeder, bevor sie aufbrachen. Marieke setzte sich vor den Fernseher. Sie war sehr zufrieden. Der Krimi konnte sie nicht fesseln. Sie gab sich schönen Träumen hin und schlief dabei auch bald ein.
Als die beiden Paare endlich den Ballsaal betraten, wurde manches Oh, lá, lá! gewispert. Und manches Bedauern bei den anwesenden Herren, wie auch bei den Damen, die solo erschienen waren, war auch zu vermerken.
Benedikt hatte einen Tisch reservieren lassen, der nicht dem Gedränge ausgesetzt war, und sie wurden auf das Zuvorkommendste bedient.
So kühl und nüchtern wirkte auch Ulf Werden gar nicht mehr, und Mandy war darüber ebenso erstaunt wie über ihren Bruder, der Olivia schon beim ersten Tanz auf das Parkett führte.
»Eigentlich tanzt Dick gar nicht so gern«, sagte sie gedankenvoll.
»Ich auch nicht«, sagte Ulf, »aber wenn Ihnen Ihre Füße nicht gar zu leidtun, können wir es später ja auch mal wagen.«
Mandy war es ganz recht, dass sie sich erst ein bisschen unterhalten konnten, und welcher Mann hätte diesen strahlenden Augen widerstehen können!
»Es freut mich sehr, dass wir uns sobald wiedersehen«, sagte Ulf. »Manchmal ist es schon von Vorteil, wenn die Bosse auf Reisen gehen. Da wird man auch mit angenehmen Aufgaben betraut. Und ich kann meinem Boss zudem noch mitteilen, dass es seiner Tochter an nichts fehlt, wirklich an nichts. Ihr Bruder scheint Feuer gefangen zu haben.«
»Stört Sie das?«, fragte Mandy stockend.
»Ob mich das stört? Wieso?«
»Sehen Sie denn nicht, wie die Männer Olivia mit ihren Blicken verschlingen?«
Ulf lächelte flüchtig. »Dafür scheint sie keine Augen zu haben, und ich denke, dass auch Sie genügend Aufmerksamkeit finden, Mandy.«
Ihr stockte der Atem, als er sie mit ihrem Vornamen ansprach.
»Mich stört das nicht«, sagte sie.
»Aber mich. Bevor ein anderer Sie jetzt zum Tanzen auffordert, werde ich lieber doch einen Versuch wagen.«
In ihren Augen blitzte der Schalk. »Ich könnte einem anderen auch einen Korb geben, falls Sie einen längeren Anlauf brauchen«, meinte sie mit leisem Lachen.
»Was ich außerordentlich begrüßen würde«, gab er schlagfertig zurück. »Ich muss mich erst informieren lassen, was man zu dieser Musik tanzt.«
»Man wird ja mehr geschoben«, sagte sie schelmisch.
»Ihr Bruder und Olivia tanzen aber sehr gut«, stellte er fest.
»Vielleicht kommt es da ein bisschen auf die Partnerin an«, fuhr sie neckend fort.
Das hatte auch Benedikt gemeint, als Olivia ihm sagte, dass sie es nicht glauben könne, dass er selten tanze.
»Ich kann dich jetzt wieder im Arm halten«, sagte er. »Du bist viel schöner als das Bild, Olivia.«
»Was gefällt dir daran nicht?«, fragte sie errötend.
»Es ist mir fremd. Nein, das bist nicht du, wie ich dich sehe, und dabei habe ich dich doch traurig gesehen an diesem Nachmittag. Aber als ich dich da in meinen Armen hielt, wusste ich, dass es für mich keine andere Frau gibt und nie geben wird, Olivia.«
»Man sagt das so schnell«, murmelte sie.
»Ich habe das noch nie gesagt und werde es auch bestimmt zu keiner anderen sagen. Und ich werde dich nie einem anderen gönnen.«
»Es gibt doch keinen anderen, Benedikt«, erwiderte sie leise. Sie blickte zu ihm empor, und ihre Blicke versanken ineinander.
»Und jetzt müsste das Licht ausgehen«, sagte Mandy da träumerisch.
»Warum?«, fragte Ulf verblüfft.
»Wie sie sich anschauen. Als wären sie allein auf der Welt. Mir wird ganz anders«, flüsterte Mandy.
»Keine schlechte Verbindung, Klausner-Terborg«, stellte Ulf nüchtern fest.
Da begannen Mandys Augen zu funkeln. »Da hört das Geschäft aber auf!«, sagte sie empört.
»Jemine, so war es doch nicht gemeint«, sagte Ulf. »Kommen Sie, tanzen wir auch, Mandy.«
»Jetzt ist Pause«, sagte sie, »und heute Abend wird nicht vom Geschäft geredet, das möchte ich mir ausbitten.«
»Krallen hat sie auch«, sagte Ulf trocken. »Interessant.«
»Ich bin auch keine Marktware«, zischte sie.
»Es wird ja wirklich immer besser«, lächelte er. Aber da kamen Benedikt und Olivia schon an den Tisch zurück.
»Trinken wir doch auf einen schönen Abend«, sagte Benedikt, »und für Sie auf ein gutes Gelingen, Ulf.«
Sie schienen sich prächtig zu verstehen, diese beiden äußerlich so ungleichen Männer.
»Für welches Gelingen?«, fragte Mandy elektrisiert.
»Ulf muss für zwei Wochen nach Australien«, erwiderte Benedikt.
»Und wer vertritt Sie zu Hause?«, fragte Olivia bestürzt.
»Wir haben doch genug gute Leute, ich bin nicht unersetzlich«, erwiderte Ulf. »Meine Aufgabe ist es, unseren Geschäftspartner zu überzeugen, dass wir mehr zu bieten haben als andere. Übrigens hätte ich jetzt fast vergessen, Ihnen Grüße von Dr. Norden auszurichten.«
»Wie kommen Sie zu Dr. Norden?«, fragte Olivia überrascht.
»Ich musste mich einer Untersuchung unterziehen, und einige Impfungen waren nötig. Der Boss verwies mich an Dr. Norden, und der baute meine Aversion gegen Ärzte ab.«
»Warum hatten Sie Aversionen?«, fragte Olivia.
»Weil meine Mutter falsch behandelt wurde. Dadurch verlor ich sie früh, aber das wollen wir nicht zum Thema machen.«
»Warum Impfungen?«, fragte Mandy. »Und warum so weit weg?«
»Ja, das ist nun mal so in meinem Beruf«, erwiderte Ulf.
»Und vierzehn Tage«, Mandy schluchzte fast.
Da begann die Musik wieder zu spielen, und diesmal stand Ulf sofort auf und zog Mandy auf die Tanzfläche.
»Vorhang auf, der zweite Akt beginnt«, scherzte Benedikt.
»Du Spötter«, sagte Olivia verweisend.
»Jetzt können wir beobachten«, sagte er.
»Will ich aber nicht.«
»Ich ja auch nicht. Ich schaue lieber dich an«, sagte er zärtlich. »Ich muss jedenfalls nicht nach Australien. Ich werde bald nach München kommen, wenn Papa zurück ist.«
»In Geschäften?«, spottete sie, obgleich ihr nach Spott jetzt gar nicht zumute war.
»Auch das, aber vor allem in Familienangelegenheiten. Ich werde vorfühlen, ob ich als Schwiegersohn willkommen sein werde, Olivia.«
»Kann ich bitte noch ein Glas haben?«, fragte Olivia beklommen.
Er schickte den Ober, der schon startbereit war, als Olivia ihr Glas in die Hand nahm, mit einer Handbewegung fort und schenkte ihr selbst ein.
»Einen Korb nehme ich nicht an, Olivia. Ich lasse nicht locker, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt habe.«
»Ich weiß. Mandy hat mir genug erzählt.«
»Mandy kennt mich überhaupt nicht. Sonst hätten wir uns viel besser verstanden.«
»Ich habe gerade erst ein Semester studiert.«
»Und ich bin ein toleranter Mann. Meinetwegen kannst du dein Studium vollenden, wenn es dir so viel bedeutet. Ich habe Geduld, Olivia, aber mich wirst du nicht mehr los.«
»Ich könnte es nicht ertragen, lange von meinen Eltern getrennt zu sein, Benedikt«, flüsterte sie.
»Dann werde ich Willem Terborg überzeugen müssen, dass er sich einen Ersatz für mich sucht. Ich bin zu allen Zugeständnissen bereit, Olivia.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie fassungslos.
»Warum nicht?«
»Mandy hat immer gesagt, dass du deinen Kopf durchsetzt, deswegen hat sie dich doch Bock genannt.«
»Es kommt immer darauf an, worum es geht.« Er legte seinen Arm um sie und blickte ihr tief in die Augen. »Ich liebe dich, Olivia. Ich habe es gewusst, als ich dich am Strand auffing. Und ich möchte nie mehr sehen, dass du traurig bist.«
»Jetzt küsst er sie sogar«, sagte Mandy zu Ulf.
»Warum schauen Sie immer dorthin, Mandy?«, fragte Ulf. »Warum schauen Sie nicht auch mal mich an?«
»Sie gehen nach Australien, so weit weg«, erwiderte sie trotzig.
»Ich komme doch wieder. Zwei Wochen sind doch keine Zeit, da ein Leben nur ein Hauch in der Ewigkeit ist.«
»Mein Gott, Ihre Gescheitheit!«, brauste sie auf. »Ein Leben kann doch lang und schön sein. Ich hasse Australien!«
»Warum?«, fragte er weich.
»Es muss ein grässliches Land sein, und es ist so schrecklich weit«, flüsterte sie. »Und außerdem mussten Sie sich auch impfen lassen. Ich darf gegen nichts geimpft werden.«
»Du lieber Himmel, Mandy«, sagte er erschrocken, als Tränen über ihre Wangen purzelten. »Kommen Sie, wir gehen hinaus. Mit dem Tanzen habe ich es wirklich nicht.«
Das bemerkten Benedikt und Olivia nicht. Sie waren ganz in sich versunken, wie es eben bei zwei jungen Menschen war, die zum ersten Mal die Liebe entdeckten und die ihre Gefühle nicht mehr voreinander verbergen konnten.
Ulf war immerhin noch nüchterner Überlegung fähig. Mandy war zwar nicht die Tochter seines Chefs, aber immerhin die Tochter von Willem Terborg.
»Warum weinen Sie denn, Mandy?«, fragte er stockend.
»Ich habe solche Angst, dass Ihnen etwas passiert. Da fliegt man doch irrsinnig lange, und jeden Tag liest man in den Zeitungen von neuen Unglücken.«
Er tupfte ihr mit dem Taschentuch die Tränen von den Wangen.
»Seinem Schicksal kann man nicht davonlaufen, Mandy, nicht im Bösen, nicht im Guten, aber wollen wir jetzt nicht lieber an das Gute denken? Ich habe mich darauf gefreut, Sie wiederzusehen, wirklich, und wir werden uns bestimmt noch oft sehen. Ich habe eine lange Lebenslinie, wenn Sie das irgendwie beruhigt.«
»Glauben Sie an so was?«, fragte Mandy tonlos.
Er glaubte nicht so direkt daran, aber jetzt bejahte er es.
»Ich hatte solche Angst, dass Sie in Olivia verliebt sind«, flüsterte sie. Aber dann fuhr sie sich über die Augen. »Nun schäme ich mich, dass ich all das gesagt habe.«
»Ich finde das lieb«, sagte Ulf. »Ich fand Sie gleich lieb, als Sie Olivia so spontan, so herzlich begrüßten. Ja, ich habe mir gewünscht, dass ich auch einmal so voller Freude irgendwo empfangen werden würde. Ja, ich würde mich unendlich freuen, wenn Sie mich so empfangen würden, wenn ich in München gelandet bin. Und bis dahin haben Sie noch Zeit, darüber nachzudenken, ob Sie das wirklich wollen. Bleiben wir dabei, Mandy?«
»Warum zweifeln Sie?«, fragte sie leise.
»Weil vierzehn Tage im Leben eines Menschen viele Veränderungen bringen können.«
»Sie haben schon einmal solche Erfahrungen gemacht?«, fragte sie bebend.
»Ja, ich habe sie schon gemacht. Und ich möchte es Ihnen auch sagen, warum ich zweifle. Ich war einmal mit einem sehr hübschen Mädchen verlobt. Die Hochzeit war schon geplant, da erkrankte meine Mutter schwer.
Die Hochzeit sollte verschoben werden, aber damit war das Mädchen nicht einverstanden. Nein, sie verstand nicht, dass ich um meine Mutter bangte, und ich begriff, dass es nicht die richtige Frau war. Aber es kann auch anderes passieren, Mandy. Man kann sich schnell verlieben, aber Liebe schließt mehr ein, nicht nur die guten Tage.«
»Ich würde dich nie enttäuschen, Ulf, niemals«, sagte Mandy mit erstickter Stimme.
»Gott gebe es«, sagte er leise. »Ich wäre sehr glücklich, kleines Mädchen.« Er streichelte ihre Wange und küsste sie auf die Stirn.
»Darf ich dir einen Kuss geben?«, fragte sie scheu. »Ich denke doch immer nur an dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
»Heb ihn dir auf für den Empfang in München, Mandy. Ich würde mich freuen, so empfangen zu werden.«
»Gut, ich werde dir schon beweisen, dass du dich auf mich verlassen kannst«, sagte sie tapfer.
»Die beiden bleiben aber lange aus«, stellte Olivia fest. »Die Musik hat doch längst Pause.«
»Vielleicht haben sie sich auch manches zu sagen. Denn Mandy ist doch wirklich bis über beide Ohren verliebt.«
»Hoffentlich missversteht er es nicht, wenn sie diesen Empfindungen Ausdruck gibt«, sagte Olivia nachdenklich.
»Ich denke doch, dass meine Schwester stolz genug ist, eine Abfuhr hinzunehmen«, sagte Benedikt.
»Werden ist ein Diplomat. Er wird sie nicht verletzen. Aber er wäre auch nicht mit ihr verschwunden, wenn er nichts für sie übrig hätte.«
»Kennst du ihn so gut?«, fragte Benedikt.
»Ich kann ihn nur gut einschätzen. Das habe ich von Paps gelernt. Instinkt ist gut, Verstand entscheidet.«
»Dann erklär mir mal, was dein Instinkt sagt und was dein Verstand entscheidet, Olivia.«
Sie fühlte sich von einer unendlichen Zärtlichkeit eingehüllt, die sie jeder nüchternen Überlegung beraubte.
»Ich möchte sagen, dass der Verstand momentan ausgeschaltet ist, Benedikt«, sagte sie gedankenverloren. »Für Instinkt möchte ich Gefühl setzen. Genügt dir das?«
»Nicht ganz. Was sagt das Gefühl?«
»Du bist überhaupt nicht bockig«, erwiderte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Mich stört bloß, dass du so groß bist, dass ich immer zu dir aufblicken muss.«
»Möchtest du lieber auf mich herabblicken?«, scherzte er.
»Liebe Güte, dann wärst du ja ein Zwerg«, lachte sie übermütig, und sie hatte alles vergessen, was sie beschwerte. »Du bist so anders als ich dachte nach Mandys Schilderungen.«
»Sie ist meine Schwester und ein bisschen sehr naiv«, sagte er nachsichtig. »Du bist das Mädchen,
das ich liebe, das ist der Unterschied.«
»Rede Mandy doch keine Minderwertigkeitskomplexe ein, die hat sie doch sowieso schon, weil sie zwischen zwei Brüdern steht und denkt, dass ihre Eltern sie nur baldmöglichst gut verheiraten wollen.«
»Hat sie das gesagt? Herr im Himmel, für so naiv habe ich sie wirklich nicht gehalten. Auf ein Mädchen muss man doch aufpassen. Ein Mann kann sich immer herauslavieren, aber wenn ein Mädchen Pech hat, bleibt es mit einem Kind sitzen und verpfuscht sein ganzes Leben.«
Olivias Gesicht überschattete sich. »Ein Kind kann doch sehr glücklich machen«, sagte sie gedankenvoll. »Man muss nur zu allen Konsequenzen bereit sein.«
Sie dachte an jene Celia, diese Frau, die ihre Mutter gewesen war. Sie hegte jetzt keinen Zweifel mehr. Aber warum hatte sie ihr Kind weggegeben?
Deine Mutter ist gestorben, kurz nach deiner Geburt, hatte ihr Winnie erzählt. Winnie, die sie als ihre Mutter betrachtete, und der sie keiner anderen Frau neben sich einen Platz einräumen wollte.
Ich war ihre beste Freundin, Olivia, hatte Winnie gesagt. Wenn du mehr davon erfahren willst, werde ich es dir gern sagen.
Nein, ich will davon nichts wissen, du bist meine Mami, ich liebe dich über alles, hatte Olivia erwidert.
»Was denkst du?«, fragte Benedikt in diese Gedanken hinein, aber da kamen Ulf und Mandy.
»Wir haben ein bisschen frische Luft geschöpft. Das Tanzen bekommt mir nicht«, erklärte Ulf. »Warum tanzt ihr nicht?«
»So wild bin ich auch nicht darauf«, erwiderte Benedikt. »Es ist ein bisschen zu heiß.«
Einen langsamen Walzer tanzten sie dann doch noch, und dazu war auch Ulf zu bewegen, da es ihn plötzlich drängte, Mandy fest in den Arm zu nehmen.
Und als sie mit einem zauberhaft zärtlichen Lächeln zu ihm aufblickte, überkam ihn das unstillbare Verlangen, sie doch zu küssen. Denn auch ihn hatte es erwischt.
Es war eine romantische Nacht, ein sternenklarer Himmel, und der fast volle Mond verhieß weiterhin gutes Wetter, da er keinen Hof hatte.
Sie waren jung, sie waren glücklich. Sie konnten sich freuen, und Olivia hatte ihren Kummer vergessen. Sie konnte sich vor allem deshalb freuen, weil Mandys Wunschtraum sich erfüllte und die Angst vorbei war, dass Ulf sein Herz Olivia schenken könnte. Es hatten sich die gefunden, die füreinander bestimmt waren. Und es war ihnen anzusehen. Marieke schwebte wie auf Wolken mit verklärtem Gesicht, und war doch so diskret, dass sie keine Fragen stellte, nicht die leiseste Andeutung machte und anderntags nur damit beschäftigt war, ihre besten Kochkünste zu zeigen, da sie meinte, dass Ulf in Australien nur Hammelfleisch vorgesetzt bekäme.
Allein der Gedanke, dass er nun diese Reise antreten musste, trübte Mandys Stimmung. Was die Geschäfte anbetraf, waren sich Ulf und Benedikt sehr rasch einig. Ja, sie stimmten so überein, dass Ulf bemerkte, wie gefährlich es wäre, wenn sie Konkurrenzfirmen vertreten würden.
»Da würde es hart auf hart gehen«, sagte Benedikt, »aber das wird nun bestimmt nie mehr zu fürchten sein.«
*
Olivia hatte ein langes Telefongespräch mit ihren Eltern geführt, aber doch nicht zu viel von ihren Gefühlen für Benedikt verraten. Allerdings war Winnie sehr hellhörig und nach diesem Gespräch nachdenklich.
»Unser Kind lobt Benedikt über den grünen Klee, Rex«, sagte sie sinnend. »Und er würde sich so gut mit Ulf verstehen. Und Ulf wiederum mit Mandy. Das lässt tief blicken.«
»Blick nicht zu tief, Winnie«, meinte er gleichmütig. »Nach den Ferien kommt der Alltag. Ist doch nett, wenn sie sich gut verstehen und ein paar Tage genießen. Dann ist Ulf in Australien, und wenn er zurückkommt, geht es wieder hoch her. Im Herbst kommen wir kaum zum Schnaufen. Da ist der Sommerzauber schnell vorbei.«
»Diese Männer«, sagte Winnie später seufzend zu Anne Cornelius. »Ganz abschalten können sie nie.«
»Aber uns würde es auch nicht gefallen, wenn sie nur munter in den Tag hineinleben würden«, meinte Anne lächelnd.
*
Mandy war einigermaßen tapfer gewesen, als sie Ulf zum Flugplatz brachten, aber als sich das Flugzeug dann langsam in die Lüfte hob, brach sie in Tränen aus.
»Er kommt doch wieder«, sagte Olivia tröstend.
»Stell dich nicht so an, er wird noch öfter ohne dich reisen müssen«, sagte Benedikt rau. »Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Ich muss morgen auch wieder ins Büro.«
»Du bist in Amsterdam«, sagte Mandy. »So weit ist das nicht.«
»Und ihr seid bald in München, dann ist Ulf auch dort, und ich bin weit weg von Olivia«, sagte Benedikt mit einem ganz tiefen Seufzer. »Das fällt auch schwer.«
»Dann sind die Ferien vorbei und der Alltag hat uns wieder«, sagte Olivia. »Im Leben gibt es nicht nur unbeschwerte Tage.«
»Ich komme mir neben dir so jämmerlich vor«, sagte Mandy leise, »so kindisch.«
»Du wirst auch noch erwachsen werden«, sagte Benedikt nachsichtig. »Jetzt ist aber Schluss mit den Tränen, Mandy. Du wirst Olivia und mir doch noch diesen einen Tag gönnen, ohne uns dauernd was vorzuheulen.«
Der Tag sollte ihnen vergönnt sein. Mandy zog sich zurück und gab sich weiterhin dem Abschiedsschmerz hin. Und wem das Herz so voll ist, dem fließt dann manchmal auch die Feder über. Und so schrieb sie einen fünf Seiten langen Brief an Ulf, der ihn in Australien ganz sicher nicht erreichen würde, aber später wollte sie ihm diesen einmal geben.
*
Willem Terborg und sein Sohn Wilm kamen nach ein paar Tagen zurück, und wie es schien, recht ausgehungert und nicht übermäßig begeistert. Das Ferienlager hatte Wilm keineswegs reizen können, als er dort gesehen hatte, was die jungen Leute essen mussten. Er war mehr für Constantins Küche, und da wurde dann auch alles nachgeholt, was ihnen nicht geboten worden war. Außerdem war auch das Wetter schlecht gewesen, aber Willem meinte, man müsse auch solche Erfahrungen machen, und er hätte sich, von allen Misslichkeiten abgesehen, blendend mit Wilm verstanden.
Marieke konnte auch diesbezüglich zufrieden sein, und als kluge Ehefrau erzählte sie auch nicht gleich, was sich hier getan hatte. Das tat sie erst, als ihr Mann erklärte, dass er sich nun wieder in die Arbeit stürzen würde, damit Benedikt zu ein paar Urlaubstagen käme.
»Das wird gut sein«, sagte sie schmunzelnd. »Die Mädchen fliegen ja nun bald nach München, und ich denke, dass Benedikt gern noch ein paar Tage mit Olivia genießen will.«
Da riss der gute Willem die Augen auf. »Hat sich da irgendetwas angebahnt?«, fragte er spannungsgeladen.
»Ich denke schon«, erwiderte sie mit gespielter Gelassenheit, »und Mandy hat sich mit Dr. Werden angefreundet. Er ist jetzt in Australien.«
»Ach, dieses Geschäft, ich hatte es ganz vergessen«, sagte Willem. »Ich habe mich mit unserem Kleinen wirklich gut verstanden. Er ist viel vernünftiger als ich dachte, Marieke.«
»Was mich sehr freut, mein Guter, aber von Wilm abgesehen haben wir noch zwei Kinder, in deren Leben sich etwas geändert hat. Wenn Mandy Dr. Werden heiratet, dann wird sie wohl mit nach München gehen.«
»Muss denn gleich vom Heiraten gesprochen werden? Dick jedenfalls wird noch lange nicht daran denken.«
»Täusch dich nicht, da kommt es wohl bloß auf Olivia an.«
»Kaum hat man ein Problem bewältigt, schon kommen andere«, stöhnte er. »Ich war doch nur ein paar Tage weg.«
»Da kann sich eben viel tun. Gegen Liebe ist kein Kraut gewachsen.«
»Werden ist doch ein eiskalter Bursche«, brummte er, »in den verliebt man sich doch nicht!«
»Ich habe mich auch einmal in dich verliebt«, erklärte Marieke, »und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie oft ich gefragt wurde, was ich denn ausgerechnet an dir finde, da du ja auch nur auf deine berufliche Karriere bedacht warst.«
»Das hast du mir nie gesagt!«
»Dann sage ich es dir jetzt. Jetzt sind wir jedenfalls fast dreißig Jahre verheiratet und noch immer ganz zufrieden. Jedenfalls kann ich das von mir sagen. Bist du anderer Meinung?«
»Mein Riekchen«, sagte er weich, »es hat für mich nie eine andere gegeben, zumindest nicht, seit du meine Frau bist.«
Sie lachte vergnügt. »Ich weiß ja zum Glück, dass dein Vorleben auch nicht gerade schockierend war«, sagte sie.
»Benedikt und Olivia«, sagte er gedankenverloren, nachdem er sie abgebusserlt hatte, was ihr immer noch sehr gefiel. »Aus dem Jungen soll man klug werden.«
»Jedenfalls hat er einen sehr guten Geschmack, und Olivia kann auch zufrieden sein.«
»Und was sagt Rex?«
»Das wird sich herausstellen. Gegen unseren Dick ist doch nichts einzuwenden.«
»Nicht aus unserer Sicht, meine Liebe, aber Rex ist vernarrt in seine Tochter. Er wird sie nicht leichten Herzens hergeben. Sie würde dann eine Terborg.«
»Ist das etwa nichts? Warten wir doch ab, wie sich alles entwickelt.«
*
Wie schnell vergingen doch die Tage, wenigstens für Olivia, während Mandy sehnsüchtig das Wiedersehen mit Ulf herbeiwünschte. Sie konnte es gar nicht erwarten, nach München zu kommen. Ihr einziger Trost war, dass Ulf zweimal angerufen hatte, dass sie wusste, er war gut gelandet und hatte auch nichts zu klagen. Doch nun fieberte sie nur der Stunde entgegen, dass er auch in München wieder gut landen würde. Olivia hätte nie gedacht, dass Mandy so völlig durcheinandergeraten könnte. Man musste ihr alles dreimal oder noch öfter sagen, bis sie sich angesprochen fühlte. Sie war mit ihren Gedanken immer in der Ferne, immer bei Ulf.
Hatten die beiden Freundinnen auch fast zur gleichen Zeit den Mann gefunden, der ihnen alles bedeutete, denn das war auch bei Olivia der Fall, aber sie verlor den Boden nicht unter den Füßen, während Mandy Meter über diesem zu schweben schien.
Allerdings hatte Olivia nun auch Tag für Tag das Bild vor Augen, das Clarissa ihr geschenkt hatte. Mehrmals war sie schon entschlossen gewesen, es wieder in den Schrank zu verbannen, aber sie hatte es nicht fertiggebracht, und ebenso nicht, mit Benedikt darüber zu sprechen, so aufrichtig sie auch sonst mit ihm sprach. Aber am Abend, an dem sie Abschied von ihm nehmen musste, machte sie doch einen Versuch, sich ihm zu offenbaren.
»Weißt du eigentlich, dass ich ein adoptiertes Kind bin, Benedikt?«, fragte sie.
Er war völlig überrascht. »Stimmt das, Olivia? Von uns weiß das niemand. Es wäre bestimmt erwähnt worden«, sagte er.
»Ich sage es auch nur dir, Benedikt. Behalte es für dich, aber ich denke, dass zwischen uns alles klar sein sollte.«
Er nahm sie in die Arme. »Meinst du, es könnte mich abschrecken?«, fragte er zärtlich. »Ich will ja nicht Reginald Klausners Tochter heiraten, sondern meine Olivia, die ich über alles liebe, und daran könnte sich nichts ändern.«
»Würdest du nicht wissen wollen, wer meine Eltern waren, wenigstens meine Mutter?«, fragte sie nachdenklich.
»Nein, es ist doch völlig bedeutungslos.«
»Ist es wirklich bedeutungslos?«, fragte sie.
»Du liebst deine Eltern, und sie lieben dich, und du bist ein wundervolles Mädchen, Olivia.« Er legte seine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf empor. »Und wenn deine Eltern sagen würden, dass sie nicht einverstanden sind, dass du einen Terborg heiraten willst, müsstest du entscheiden, wem du eigentlich mehr gehörst.«
»Meine Eltern wollen nur mein Glück, das weiß ich. Ich habe auch nie andere Eltern haben wollen, beziehungsweise daran denken wollen, dass ich andere hatte. Nein, ich wollte es nie wissen, wer sie waren, wie sie waren, warum ich adoptiert wurde, bis Clarissa Horby mir sagte, dass sie meine Eltern kannte.«
»Und was hat sie dir noch gesagt?«, fragte Benedikt heiser.
»Ich bin davongelaufen, ich wollte nichts hören. Und ich bin direkt in deine Arme gelaufen an jenem Tag.«
Er presste seine Lippen an ihre Schläfe.
»Und das war gut, mein Liebstes«, flüsterte er. »Diese Arme halten dich fest. Für alle Zeit. Und deswegen sollst du nie mehr weinen, Olivia.«
»Meinst du nicht, dass ich nun doch alles über diese beiden Menschen erfahren muss?«
»Es kommt darauf an, wie wichtig es dir ist. Für mich ist es nicht wichtig. Ich habe nur von Anfang an gewusst, dass Clarissa Horby nicht die Olivia gemalt hat, die ich liebe.«
Sie presste ihre Stirn an sein Kinn. »Und ich habe nie gedacht, dass ich einen Mann so lieben könnte wie dich, Benedikt.«
»Dann werde ich wohl doch nicht allzu lange warten müssen, bis du meine Frau wirst«, sagte er leise, und bevor sie etwas erwidern konnte, lagen seine Lippen auf ihrem Mund.
*
Alle hatten Olivia und Mandy zum Flughafen begleitet. Willem und Marieke und auch Wilm, aber Olivia hatte nur Augen für Benedikt, während Mandy viele elterliche Ermahnungen über sich ergehen lassen musste.
»Ich rufe dich jeden Abend an«, sagte Benedikt verhalten, »und ganz bestimmt werde ich bald kommen.«
Und dann war sie es diesmal, der die Tränen über die Wangen liefen, als sie im Flugzeug saßen.
»Jetzt weißt du, wie weh der Abschied tun kann«, sagte Mandy mitfühlend, »aber für euch gibt es auch bald ein Wiedersehen. Ich bin ja so glücklich, dass meine Freundin, meine einzige Freundin, nun auch meine Schwägerin wird.«
»Wann wird denn Hochzeit sein?«, fragte Willem indessen seinen Sohn mit einem hintergründigen Lächeln.
»Am liebsten gestern«, erwiderte Benedikt, »aber geredet wird jetzt nicht darüber, Papa.«
Es war von Olivia geplant gewesen, ein paar Tage vor den Eltern zu Hause zu sein. Sie wollte alles für einen festlichen Empfang vorbereiten, aber da wurden sie doch schon am Flughafen empfangen.
Glücklich schlossen Reginald und Winnie die beiden Mädchen in die Arme.
»Woher wisst ihr, dass wir heute schon kommen?«, fragte Olivia atemlos.
»Wir haben heute Morgen angerufen in Amsterdam«, erwiderte Reginald mit breitem Lächeln. »Meine liebe Winnie hatte Ahnungen, und ich erfuhr, dass die Familie Terborg die beiden jungen Damen zum Flughafen gebracht haben. Da sind wir natürlich gleich gestartet und auch noch zur rechten Zeit angekommen.«
Die Wiedersehensfreude war groß, und daheim hatte Emi für einen festlichen Empfang vorgesorgt. Es gab viel zu erzählen, aber Clarissa Horby wurde nicht erwähnt. Das Bild hatte Olivia in Zandvoort gelassen. Benedikt sollte es mitbringen, wenn er kam.
Ein bisschen verlegen waren die jungen Damen schon, als Benedikt und Ulf erwähnt wurden, und das machte Winnie erst recht hellhörig.
»Gut erholt sind wir alle, das ist die Hauptsache«, sagte Reginald. »Dr. Werden kommt übermorgen zurück, das stimmt doch?«, fragte er mit einem listigen Blick.
»Ja, wenn nichts dazwischenkommt«, erwiderte Olivia hastig.
»Das wollen wir doch nicht annehmen. Ich brauche ihn dringend. Ich habe einen guten Kontakt zu einem Schweizer Unternehmen angeknüpft, den soll er ausbauen.«
»Muss er denn gleich wieder weg?«, entfuhr es Mandy, und maßlose Enttäuschung zeichnete sich auf ihrem Gesicht.
»Nicht gleich. Ein paar Ruhetage will ich ihm schon gönnen, und außerdem hat er am Dienstag Geburtstag.«
»Das hat er uns noch nicht verraten«, sagte Mandy ganz hektisch.
»Wir werden ihn mit einer netten Fete überraschen«, warf Winnie ein, »aber kein Wort darüber.«
»Es wäre schön, wenn Benedikt auch kommen könnte«, sagte Olivia.
»Warum nicht?«, meinte Reginald. »Wir werden unsere geschäftlichen Beziehungen sowieso ausbauen.«
»Du bist ein wahrer Schatz«, sagte Winnie zu ihrem Mann, als die Mädchen ihre Koffer auspackten.
»Wir müssen uns diesen jungen Mann noch mal genau ansehen«, meinte er. »Und eingefädelt hast es doch du mit weiblicher Schläue. Ohne dein Dazutun komme ich doch gar nicht auf solche Gedanken.«
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. »Wärest du auch so entgegenkommend, wenn es sich nicht um Benedikt Terborg handeln würde?«, fragte sie.
»Vorerst handelt es sich doch wohl um Mandy Terborg und Dr. Werden«, erwiderte er lachend. »Wetten wir, dass sie gleich heute losrennt, um ein Geburtstagsgeschenk für ihn zu kaufen?«
Da brauchte Winnie keine Wette einzugehen, denn schon bei Tisch erklärte Olivia, dass sie nachmittags mit Mandy in die Stadt fahren wolle.
»Ich rufe dann in Amsterdam an, dass mir der gute Willem am Dienstag seinen Sohn schickt«, sagte Reginald hintergründig.
*
Zielstrebig hatte Mandy ein Juweliergeschäft angesteuert. »Du überlässt es aber bitte ihm, die Verlobungsringe zu kaufen«, meinte Olivia neckend.
»Also, für so geschmacklos brauchst du mich nicht zu halten«, erwiderte Mandy. »Ich dachte an eine schöne Taschenuhr, das passt doch zu ihm. Er ist ein richtiger Gentleman«, fügte sie mit verklärtem Blick hinzu.
»Er ist in erster Linie ein Mann, liebe Mandy, der sehr viel für dich übrig hat.«
»Du ahnst ja nicht, wie glücklich ich darüber bin«, sagte Mandy.
»Doch, ich weiß es!«
Mandy hatte sich für eine sehr schöne Uhr entschieden, und teuer war sie auch, aber Olivia redete ihr nicht drein.
»Können Sie bis Montag noch etwas in den Innendeckel gravieren?«, fragte Mandy.
Bei einem so wertvollen Geschenk war man selbstverständlich dazu bereit.
»Was wünschen Sie, gnädige Frau?«, fragte der Juwelier, und Mandy errötete glühend bei dieser Anrede.
»Gott schütze dich, deine Mandy«, erwiderte sie stockend.
Olivia war tief gerührt, und sie hatten überhört, dass noch jemand das Geschäft betreten hatte. Es war Fee Norden. Sie wollte ihre Uhr abholen, die sie zur Reparatur gegeben hatte. Und sie hatte gehört, welchen Wunsch Mandy geäußert hatte.
Olivia hatte sich umgedreht und Fee mit einem strahlenden Lächeln begrüßt.
»Wieder im Lande und so brutzelbraun!«, sagte Fee. »Herzlichen Dank für Ihre Kartengrüße, Olivia. Wir haben uns sehr gefreut.«
»Das ist meine Freundin Mandy Terborg«, stellte Olivia vor. »Sie bleibt jetzt ein paar Wochen bei uns.«
Sie unterhielten sich, während Mandy dem Juwelier ihre Kreditkarte gab und nochmals sagte, dass sie die Uhr am Montag unbedingt haben müsse.
»Schauen Sie doch mal bei uns herein«, sagte Fee. »Ich würde mich freuen.«
»In die Praxis wollten wir eigentlich auch noch«, sagte Olivia. »Ist es nicht schon zu spät?«
»Jetzt vielleicht gerade günstig«, erwiderte Fee, aber sie war ein bisschen erstaunt, denn die beiden Mädchen sahen wirklich aus wie das blühende Leben.
*
»Das ist ja eine tolle Frau«, stellte Mandy fest, als sie draußen waren.
»Jetzt wirst du auch ihren tollen Mann kennenlernen«, meinte Olivia lächelnd. »Und den besten Arzt, den es weit und breit gibt. Es wäre doch gelacht, wenn er nicht herausfinden würde, warum du keinen Impfstoff verträgst.«
Bei Loni war die Freude auch groß, als diese beiden Mädchen, die herzerfreuend gesund wirkten, die Praxis betraten.
»Das nächste Mal werde ich auch an die Nordsee fahren«, sagte sie. »Da kann man sich anscheinend noch richtig erholen.«
»Schön ist es«, sagte Olivia.
»Dieses Jahr hatten wir aber besonders gutes Wetter«, räumte Mandy ein.
»Man sieht es«, sagte Loni. »Da kann es doch eigentlich an nichts fehlen.«
»Es geht um Impfungen«, erklärte Olivia.
»Wollen Sie schon wieder weg? Bloß nicht in den Süden. Ich habe ganz schlechte Erfahrungen gemacht.«
Und da tat sich die Tür zum Sprechzimmer auf. Dr. Norden verabschiedete einen Patienten.
»Hallo, wen haben wir denn da?«, sagte er freudig. »Zwei kleine Negerlein treten bei mir ein.«
Zum Scherzen war er immer aufgelegt, wenn er es nicht mit wirklich schmerzgeplagten Patienten zu tun hatte. Aber als Olivia ihm ihr Anliegen vortrug, wurde seine Miene nachdenklich.
»Hatten Sie schon mal starke Reaktionen und auf welche Impfungen, Fräulein Terborg?«, fragte er. Bei so viel Jugendfrische konnte er das nun gebräuchliche Frau einfach nicht anwenden.
»Den Keuchhusten bekam ich trotz der Impfung schlimmer als nicht geimpfte Kinder. Jedenfalls hat mir das meine Mutter erzählt. Und bei der Pockenimpfung war es noch schlimmer.«
»Dafür sind Sie jetzt wahrscheinlich immun«, sagte er trocken. »Andere Impfungen wurden nicht durchgeführt?«
»Nur gegen Kinderlähmung. Und da hatte ich auch ein paar Tage hohes Fieber. Ich kann mich daran ja gar nicht mehr erinnern, aber es wurde immer wieder erzählt. Meine Brüder haben alles sehr gut überstanden, aber unser Arzt hat zu Mama gesagt, dass bei mir größte Vorsicht geboten sei. Das war, als Papa mit uns nach Indonesien fliegen wollte. Er hat dann bloß Benedikt mitgenommen.«
»Aber es drängt Sie in ferne Länder«, sagte Dr. Norden.
»Nicht so direkt«, erwiderte Mandy verlegen.
»Sie würde gern ihren zukünftigen Mann begleiten, wenn er solche Länder besuchen muss«, erklärte Olivia entschlossen. »Sie kennen Dr. Werden, Herr Dr. Norden.«
Ganz weit wurden Daniel Nordens Augen. »Jemine«, entfuhr es ihm.
Olivia sah ihn erschrocken an, und sofort entschuldigte er sich für seinen Ausruf. »Dr. Werden sollte lieber auch nicht so viele Auslandsreisen unternehmen«, sagte er.
»Er ist doch nicht krank«, flüsterte Mandy erregt.
»Nein, das nicht. Aber es gibt sehr viele Menschen, die auf Medikamente gewisser Zusammensetzung, und so auch auf Impfstoffe, allergisch reagieren. Dazu gehört auch Dr. Werden. So viel darf ich dazu sagen.«
Das war auch genug, denn Mandy brach in Tränen aus. »Wenn er nur erst wieder hier ist«, schluchzte sie. »Ich habe ja nicht umsonst solche Angst.«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Dr. Norden, »so schlimm ist das nicht. Es sollte nur ein Hinweis auf die Zukunft sein, damit Sie nichts herausfordern, was auch Ihnen schaden könnte.« Er seufzte. »Manchmal sitzt man als Arzt in einer ganz schönen Klemme, und Dr. Werden könnte es mir sehr verübeln, dass ich das gesagt habe.«
»Wir werden es für uns behalten, Dr. Norden«, sagte Olivia. »Es ist doch immer gut, so etwas zu wissen. Dr. Werden hat ja uns gegenüber auch erwähnt, dass er bei Ihnen war wegen der Impfungen.« Sie tauschte mit ihm einen vielsagenden Blick.
»Auf jeden Fall können wir bei dieser besorgten jungen Dame einen Bluttest machen, und vielleicht stellt sich dabei sogar heraus, dass sie die gleiche Blutgruppe wie Dr. Werden hat.«
»Ich habe AB«, sagte Mandy sofort. »Und welche hat Ulf?«
»Das lassen Sie sich lieber von ihm selbst sagen, da ich schon ein bisschen zu viel verraten habe. Darf ich Ihnen jetzt ein bisschen Blut abzapfen?«
»Ich habe nichts dagegen.« Sie hielt ihm ihren Arm hin. »Da gibt es doch so einen Rhesusfaktor, der Kindern schaden kann«, sagte sie beklommen.
»Darüber brauchen Sie sich ganz gewiss keine Sorgen zu machen«, erwiderte Dr. Norden lächelnd. »So viel kann ich Ihnen sagen.«
»Aber froh kann ich erst sein, wenn Ulf wieder gelandet ist«, erklärte sie eigensinnig.
Nun wusste auch Dr. Norden Bescheid, und es war für ihn keine Überraschung mehr, als Fee ihm von dem Zusammentreffen mit Olivia und Mandy erzählte. Er konnte ihr sogar sagen, wer derjenige war, für den Mandy »Gott schütze dich« in die Uhr eingravieren ließ.
»Und ich habe doch tatsächlich gedacht, dass Klausner sich da einen Nachfolger sichern wollte«, sagte Fee.
»Ja, mein lieber Schatz, so kann man sich irren«, sagte Daniel. »Aber sie passt gut zu ihm. Sie ist ein ganz reizendes Mädchen.«
»Das konnte ich auch feststellen«, erklärte Fee. »Aber so hübsch wie Olivia ist sie nicht. Da bleibt einem buchstäblich die Luft weg.«
»Welch ein Kompliment, wenn das eine so schöne Frau sagt.« Er nahm Fee in die Arme und küsste sie.
»Aber ich bin nicht mehr so jung«, lächelte Fee.
»Abwarten, ob Olivia als Mutter von fünf Kindern auch noch so schön sein wird wie du.«
»Darauf können wir aber noch lange warten«, lachte Fee herzlich. »Noch scheint ein Mann nicht mal in Sicht zu sein, und außerdem ist sie bestimmt sehr wählerisch.«
»Bei Werden und der reizenden Mandy stimmt zumindest die Blutgruppe und eine gewisse Allergie überein, von wichtigeren Reaktionen abgesehen«, sagte Daniel anzüglich.
»Kann sich das nicht auf künftigen Nachwuchs auswirken?«, fragte Fee, die ja auch Ärztin war, besorgt.
»Zumindest werden die wichtigeren Reaktionen erst mal für Nachwuchs sorgen.«
»Aber, Herr Doktor!«, scherzte Fee.
*
Mandy fieberte der Ankunft des Flugzeugs entgegen. Zwei Nächte hatte sie unruhig geschlafen, und tagsüber war sie sehr schweigsam und geistesabwesend gewesen.
Lange vor Ankunft der Maschine waren sie schon am Flughafen, aber Olivia hatte ihrem ständigen Drängen nachgegeben, nur pünktlich zu sein.
Nun war die Minute eigentlich gekommen, aber dann wurde Verspätung gemeldet. Mandy begann zu zittern. »Wenn nur nichts passiert ist«, murmelte sie, und sie weinte beinahe dabei.
»Das passiert doch schon mal bei einem so langen Flug«, sagte Olivia beruhigend.
Aber sie mussten noch fast vierzig Minuten warten, und die wurden zur Ewigkeit. Mandy schien immer mehr zusammenzuschrumpfen. Andere Wartende wurden aber auch aufgeregt.
Würde es mir anders ergehen, wenn ich auf Benedikt warten würde, fragte sich Olivia, aber da wurde endlich die Landung angekündigt.
Allerdings hieß es nochmals warten, denn die Passagiere mussten durch den Zoll. Und als Ulf dann kam, erschrak Olivia, denn sein sonst so schmales Gesicht war rot und verschwollen, obgleich es teilweise von einer großen Sonnenbrille verdeckt war. Doch Mandy schien das gar nicht zu bemerken. Sie stürzte auf ihn zu, warf ihre Arme um seinen Hals und stammelte immer wieder: »Du bist wieder da, endlich bist du wieder da!«
»Komm mir nicht zu nahe«, sagte er leise, als sie ihn küssen wollte. »Siehst du nicht, wie ich aussehe?«
»Was hast du?«, fragte sie ängstlich, »einen Sonnenbrand?«
»Eine Allergie, aber vielleicht ist es auch etwas anderes.«
»Tut es weh? Seit wann?«, fragte sie bebend.
»Seit gestern. Ja, mein kleines Mädchen, ich sehe nicht gut aus.«
»Meinst du, das würde mir etwas ausmachen? Wir bringen dich gleich zu Dr. Norden.«
Olivia hatte sich zurückgehalten, aber nun war sie da. »Hallo, Ulf«, begrüßte sie ihn, »sind das etwa auch Impffolgen?«
»Schreckt es euch nicht?«, fragte er rau.
»Ach was, so schlimm siehst du nun auch wieder nicht aus«, sagte Olivia aufmunternd.
»Und mich kann nichts schrecken, wenn du nur wieder da bist«, flüsterte Mandy wieder.
»Ich habe das Gefühl, als würde mein Kopf platzen«, sagte Ulf.
»Vielleicht hilft eine Calciumspritze«, sagte Olivia. »Sonst alles okay?«
»Ziemlich schlapp, aber ihr seht gut aus.«
»Ich habe mich schon mal besser gefühlt«, gestand Mandy ein. »Warum auch noch diese Verspätung?«
»Wir mussten umsteigen. Unsere Maschine hatte einen Getriebeschaden und musste umkehren.«
»Guter Gott, und das sagst du so ruhig?«, stieß Mandy beklommen hervor.
»Du siehst, dass ich hier bin, also brauchst du dich nicht aufzuregen, und da du nicht gleich vor mir davongelaufen bist, fühle ich mich auch schon wieder wohler. Ist alles reine Nervensache, Mandy.«
»Du hast wirklich Nerven. Was ich für Angst um dich ausgestanden habe, steckt mir noch in den Gliedern.«
»Jetzt redet nicht mehr lange, wir müssen schauen, dass wir noch rechtzeitig zu Dr. Norden kommen«, mahnte Olivia.
Und dort bekam Loni auch erst mal einen Schock. Ulf musste bleiben, und Mandy blieb natürlich auch.
»Fahr du nach Hause, Olivia, und sag Bescheid. Wir können dann ja ein Taxi nehmen«, meinte sie.
Dass sie sich daheim auch Gedanken machen würden, war Olivia klar. Aber sie meinte, dass ein Anruf genügen würde.
*
»Zum Glück ist wenigstens nicht mehr passiert«, sagte Reginald zu Winnie, als er mit Olivia telefoniert hatte.
»Es ist einfach zu viel Stress, auch für ihn«, sagte Winnie. »Muss das wirklich sein, Rex?«
»Einen besseren Mann finde ich nicht mehr«, bekam sie zur Antwort. »Er soll sich mal auf der Insel behandeln lassen, da werden sie ihm auch helfen können. Es wäre jetzt allerdings fatal, wenn die Verhandlungen in der Schweiz aufgeschoben werden müssten.«
»Vielleicht könnte das Benedikt übernehmen«, meinte Winnie. »Als unser zukünftiger Schwiegersohn ...«
»Halt ein«, fiel ihr Reginald ins Wort, »noch ist es nicht so weit, und es könnte ja sein, dass es Krach zwischen den beiden gibt und wir zu Konkurrenten würden.«
»Guter Gott, das wollen wir doch nicht denken.«
»Man soll Geschäft und Gefühle trennen, liebste Winnie. Schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Ich werde ihn auf Herz und Nieren prüfen.«
*
Dank Dr. Nordens Hilfe sah Ulf am nächsten Tag schon wieder einigermaßen normal aus, oder so, als hätte er gerade einen Sonnenbrand überstanden.
Dr. Norden hatte ihm auch gesagt, dass da einige Faktoren mitspielen könnten, und tatsächlich auch die intensive Sonnenbestrahlung.
Sicher war es aber auch Mandys inniges Mitgefühl, das beruhigend auf Ulf wirkte. Er ließ sich dann doch von den beiden Mädchen überreden, mit zu den Klausners zu kommen.
Man gönnte ihm eine Ruhestunde, damit er die Salbe auftragen konnte, die kühlend wirkte und den Juckreiz linderte. Auch das Gefühl, dass er in diesem Haus wohlgelitten war, bewirkte eine rasche Beruhigung. Als sie sich zum Abendessen niederließen, konnte Ulf schon wieder ein bisschen lächeln.
Mandy wäre es ganz egal gewesen, wie er ausschaute, für sie war es die Hauptsache, dass er wieder da war, und das konnte man ihr ansehen. Im Übrigen nahm sie sich zusammen, um ihre Gefühle nicht allzu deutlich zu zeigen, doch man wusste ja nun schon Bescheid.
Das geschäftliche Gespräch wurde kurz gehalten. Ulf hatte seine Reise zu Reginalds vollster Zufriedenheit, wie man es von ihm gewohnt war, zu Ende gebracht. Jetzt bedauerte es der Boss doch, dass Ulf sich für Mandy entschieden hatte und nicht für Olivia. Aber er hütete sich, dies Winnie zu sagen.
Ulf zeigte sich dann maßlos überrascht, als er zum Dienstagabend eingeladen wurde.
»Sie müssen es uns schon gestatten, dass wir anlässlich Ihres Geburtstages ein kleines Essen geben«, sagte Reginald.
»Du lieber Himmel, an meinen Geburtstag habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte Ulf fassungslos.
»Aber ich«, erklärte Reginald lächelnd. »Und eine Ausrede wird nicht angenommen, sonst setze ich eine Konferenz an.«
»Ich finde es sehr nett von Ihnen«, sagte Ulf verlegen, »und ich bedanke mich herzlich.«
»Na, dann wäre so weit alles in Ordnung. Über das Schweizer Geschäft reden wir noch.«
*
Benedikt hatte nicht sagen können, mit welcher Maschine er kommen würde, da er noch mit wichtigen Auslandskunden Besprechungen hatte. Aber er wollte abends auf jeden Fall da sein.
Dann brachte ihn aber ein Taxi doch schon am späten Nachmittag, weil er eine günstige Verbindung über Frankfurt erwischt hatte.
Die beiden Mädchen waren noch mitten dabei, Winnie und Emi bei den Vorbereitungen für den Abend zu helfen. Aber Olivias Freude war so groß, dass sie Benedikt ganz spontan um den Hals fiel, und als Winnie das sah, dieses Glück, das aus dieser Umarmung und den Mienen der beiden jungen Menschen sprach, ging ihr das Herz auf.
Mit mütterlicher Herzlichkeit begrüßte sie Benedikt.
Er hatte das Bild mitgebracht, aber das nahm Winnie nicht gleich zur Kenntnis. Sie dachte auch, dass es ein Geschenk für Ulf sein könnte, als ihr Blick dann auf das Paket fiel.
Mandy begrüßte ihren Bruder auch herzlich, aber nur kurz, da sie gerade dabei war, Salate zuzubereiten, und Winnie hatte schon davon Kenntnis genommen, dass sie das beherrschte.
»Kümmere du dich um Benedikt«, sagte Winnie mit einem weichen Lächeln zu Olivia, »wir werden in der Küche schon allein fertig.«
Olivia ließ sich das nicht zweimal sagen, und Benedikt war aus einem besonderen Grunde dankbar, allein mit ihr sprechen zu können.
»Ich habe das Bild mitgebracht«, sagte er.
»Schon bemerkt, es wird vorerst verbannt«, erwiderte Olivia rasch.
»Und ein Brief ist für dich gekommen, den habe ich auch mitgebracht«, erklärte er.
Olivia starrte den Brief an, der mit spanischen Marken frankiert war.
»Etwa von Lady Horby?«, fragte sie.
»Wie soll ich das denn wissen? Ein Absender ist nicht angegeben. Wäre er verlorengegangen, hätte der Schreiber davon wahrscheinlich überhaupt nichts erfahren.«
Olivia meinte Eifersucht aus seiner Stimme entnehmen zu können.
»Du wirst doch nicht denken, dass mir ein Mann schreibt?«, fragte sie spöttisch.
»Es wird sich ja herausstellen«, sagte Benedikt rau.
»Ihr Männer!«, seufzte sie, und dann riss sie den Brief auf, aber sie wurde blass, und er entglitt ihren Händen, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte.
»Was ist, Liebling?«, fragte Benedikt, sie sofort in den Arm nehmend.
Sie sah ihn aus schreckensvollen Augen an. »Das kann sie doch nicht gewollt haben, Benedikt«, flüsterte sie.
Er war so verwirrt und besorgt, aber als sie auf den Brief deutete, hob er ihn auf, drängte Olivia sanft zu einem Sessel und setzte sich auf die Lehne.
»Du willst, dass ich das lese?«, fragte er rau.
Sie nickte und lehnte sich schutzsuchend an ihn.
»Dann werden wir es gemeinsam lesen, Olivia. Bitte, sei ganz ruhig, mein Liebes.«
Der Brief hatte keine Anrede.
Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll, begann er, aber ich muss diesen Brief schreiben, nachdem ich Clarissa gesprochen habe. Clarissa Horby ist meine Schwester, und ich, Percy Tilbury, bin Dein Vater. Ich nehme mir das Recht, meiner Tochter zu erklären, warum sie bei fremden Menschen aufwachsen musste.
Als Benedik diese Zeilen gelesen hatte, legte er seine Hand über Olivias Augen. »Ganz schön arrogant«, sagte er heiser, »aber was hat Lady Horby veranlasst, mit ihm über dich zu sprechen? Man kann das nicht einfach in den Papierkorb werfen, Olivia, auch wenn wir es momentan beide wünschen. Wir müssen es als eine Tatsache betrachten, die bewältigt werden muss. Für mich ändert sich dabei gar nichts, was dich betrifft, was uns betrifft. Aber ich möchte jetzt herausfinden, was Lady Horby für Absichten hatte.«
Olivia blickte zu ihm auf. »Lesen wir also weiter«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Bitte, lies es mir vor, Benedikt. Wenn ich es nicht selber lesen muss, wenn ich deine Stimme höre, kann es mich nicht so treffen.«
Seine Lippen streichelten ihre Stirn und Wangen, und ganz fest legte sich sein Arm um ihre Schulter, als er fortfuhr:
Als ich Deine Mutter, als ich Celia kennenlernte, waren wir beide sehr jung, und meine Schwester Clarissa war acht Jahre älter als ich und meinte, mein Leben bestimmen zu können, weil wir keine Eltern mehr hatten. Sie war mit Lord Horby verlobt. Sie wusste immer, was sie wollte. Celias Eltern waren gegen mich, aber wir wollten dennoch heiraten. Ich hatte ein Angebot, eine sehr gute Stellung in Schweden zu bekommen und wollte Celia mitnehmen, aber da erkrankte ihre Mutter, und Celia hatte plötzlich Gewissensbisse, ihre Eltern zu verlassen. Auf meine Briefe, die ich ihr dann schrieb, bekam ich keine Antwort, und so erfuhr ich dann auch nichts von Deiner Existenz. Erst später sagte mir Clarissa, dass Celia gestorben sei, erst Jahre später, als Lord Horby bereits das Zeitliche gesegnet hatte und meine Schwester sich ihres reichen Erbes erfreuen konnte. Dass Celia eine Tochter geboren hatte, erfuhr ich allerdings erst kürzlich. Ich war indessen mit einer anderen Frau verheiratet. Die Ehe war nicht glücklich, aber ich besitze hier in Gran Canaria ein sehr schönes Hotel, und ich meine doch, ein Recht zu haben, meine Tochter kennenzulernen, wenn sie, zu ihrem Glück, wie ich heute weiß, auch in besten Verhältnissen aufwachsen konnte. Es ist mir jetzt ein unerträglicher Gedanke, Du könntest glauben, dass ich Deine Mutter im Stich gelassen habe. Ich möchte Dich sehen und Dir alles erklären, Olivia. Bitte, gib mir die Gelegenheit. Ich gönne dir alles Glück, das Du genießen kannst, aber ich bin Dein Vater, Percy Tilbury, der Deine Mutter über alles geliebt hat.
Benedikts Stimme war immer leiser, immer rauer geworden. Er ließ den Brief sinken.
»Und wenn ich das beurteilen müsste, würde ich sagen, er will etwas erreichen, aber was?«, sagte er tonlos.
Eine Weile herrschte Schweigen. »Nicht etwa Lady Horby?«, fragte Olivia. »Will sie nicht etwas erreichen? Warum hat sie ihm von mir erzählt, wenn er doch nichts wusste?«
»Ich sehe das anders, Olivia«, sagte Benedikt nach sekundenlangem Überlegen. »Man muss immer den Dingen auf den Grund gehen, bevor man eine Entscheidung fällt. Aber das werden wir gemeinsam durchdenken und bewältigen. Wir beide«, fügte er voller Zärtlichkeit hinzu, und dann küsste er sie.
»Ich blicke da nicht durch«, sagte sie später. »Lady Horby hat Celia gemalt und so gemalt, als würde sie dabei Schmerz empfinden. Und sie hat das Medaillon dem Bild zugefügt.«
»Welches Medaillon?«, fragte Benedikt.
»Ich zeige es dir«, sagte sie leise. »Aber du darfst es niemandem verraten.«
Es lag in ihrer Schmuckkassette, wie sie es hineingelegt hatte, immer noch von dem Spitzentaschentuch umhüllt.
Nun konnte er es betrachten. Er sah den Buchstaben C, die kleinen Brillanten funkelten. Aber er öffnete es mit einem leichten Fingerdruck.
Kein Bild war darin enthalten, aber eine Gravur. »Clarissa Tilbury«. Nichts weiter.
»Was soll das bedeuten?«, fragte Olivia.
»Ich weiß es nicht, ich kann es nur vermuten«, sagte Benedikt.
»Was vermutest du?«, fragte Olivia.
»Beide Namen beginnen mit einem C, mein Liebes. Vielleicht hatte Clarissa es ihr geschenkt oder wollte es ihr schenken. Ist dir eigentlich bewusst, dass sie deine Tante ist?«
Ein Zucken lief über Olivias Gesicht. »Ob sie deshalb mit ihm gesprochen hat?«, flüsterte sie bebend. »Sie hat mich sehr beeindruckt, Benedikt. Sie wollte mir auch alles erzählen, aber ich bin weggelaufen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte es von ihr erfahren. Dieser Brief stößt mich ab. Diese Bemerkung, dass Lord Horby das Zeitliche gesegnet hat und sich Clarissa ihres reichen Erbes erfreuen konnte, klingt so gehässig.«
»Vielleicht hat sie ihn tatsächlich wegen seines Reichtums geheiratet, aber das geht uns nichts an.«
»Ich habe jedenfalls nicht das Bedürfnis, diesen Mann kennenzulernen«, sagte Olivia abweisend, »aber mit Clarissa würde ich gern noch einmal sprechen. Ich möchte von ihr erfahren, warum sie ihren Bruder veranlasst hat, mir zu schreiben.«
»Vielleicht hat sie das gar nicht«, sagte Benedikt. »Willst du jetzt mit deinen Eltern sprechen, Liebes?«
»Nein, heute nicht. Ulfs Geburtstagsfeier soll nicht getrübt werden, dann wäre Mandy traurig.«
»Du bist ein wundervolles Mädchen, Olivia.«
»Ich bin so froh, dass du da bist, Benedikt, und dass du so lieb bist.«
»Wie könnte ich anders sein? Du bedeutest mir alles. Ich hätte nie gedacht, dass ich so lieben könnte.«
»Ich habe so viel Glück, und Celia war so unglücklich«, sagte Olivia leise. »Dennoch kann ich nur denken, dass ich meine Eltern über alles liebe, dass ich glücklich bin, sie zu haben, und dankbar, dass ich bei ihnen aufwachsen durfte. Es hätte für mich alles sehr schlimm kommen können.«
»Denk nicht daran.«
»Muss ich doch. Mandy wäre dann nicht meine Freundin, und ich hätte dich nie kennengelernt. Aber heute Abend wollen wir keinen Gedanken an die Vergangenheit verschwenden.«
Es gelang ihr dann auch, ein fröhliches Gesicht zu zeigen und sich ganz unbeschwert zu geben. Es wurde ein schöner Abend. Mandy gab Ulf die Uhr erst, als sie ein paar Minuten allein sein konnten. Er war eine ganze Weile sprachlos, dann brachte er endlich ein paar Worte über die Lippen.
»Wie kannst du nur so viel Geld ausgeben, Mandy?«
»Denk doch nicht an Geld, ich wollte dir etwas schenken, was seinen Wert behält und dich immer an mich erinnert«, erwiderte sie leise.
Ganz behutsam nahm er sie in seine Arme. »Ich werde dich doch nie vergessen können, da du immer bei mir sein wirst«, sagte er innig.
»Aber wenn ich dich nicht auf deinen Reisen begleiten kann, soll dich wenigstens die Uhr begleiten.«
»Ich glaube, dass der Boss mit sich reden lässt. Schließlich hat man als Ehemann ja auch Verantwortung für die Familie. Ach, beinahe hätte ich was vergessen …«
»Ich weiß schon, dass du bald wieder wegfahren musst«, fiel sie ihm ins Wort.
»Nicht so hastig, mein Kleines«, sagte er, »es ist etwas anderes.« Er griff in seine Jackentasche und nahm ein kleines Etui heraus. »Das gehört wohl dazu, wenn man jemanden für immer an sich binden will.«
Und dann steckte er ihr einen schmalen Brillantring an den linken Ringfinger. »Passt sogar«, sagte er in seiner trockenen Art, aber in seinen Augen war ein Leuchten, das seine Gefühle verriet.
Für die anderen war es schon keine Überraschung mehr, als dann über eine baldige Hochzeit gesprochen wurde. »Natürlich werde ich erst in aller Form um Mandys Hand anhalten«, sagte Ulf.
»Ist das immer noch üblich?«, fragte Benedikt.
Reginald lachte leise. »Nun, man kann auch vor vollendete Tatsachen gestellt werden«, sagte er mit einem kleinen Lächeln.
»Olivia will ja leider erst ihr Studium abschließen«, erklärte Benedikt stockend. »Aber ich wäre sehr dankbar, wenn ich auch als zukünftiger Schwiegersohn akzeptiert würde.«
»Wieso auch?«, fragte Winnie, »können wir sicher sein, dass Dr. Werden akzeptiert wird?«
»Ganz sicher«, sagte Mandy sofort.
Aber bald sagten sie alle du zueinander, und Reginald hatte eigenhändig seinen besten Champagner aus dem Keller geholt.
»Wollt ihr nicht zu Hause anrufen?«, fragte Winnie.
»Besser nicht, sonst bringt es Mama fertig und kommt gleich morgen angeflogen«, sagte Benedikt.
»Warum soll sie nicht kommen«, warf Olivia ein. »Dann kann sie Wilm gleich mitbringen, und er kann seine Lehre unter Papis Aufsicht absolvieren.«
»Habt ihr schon darüber gesprochen?«, fragte Benedikt erstaunt.
»Haben wir«, erwiderte Reginald, »aber geschenkt wird ihm nichts.«
»Aber wohnen wird er bei uns«, sagte Winnie energisch.
Dann wurde lange telefoniert, und ein paar Minuten herrschte Rührung auf beiden Seiten des Drahtes, aber dann wurde fröhlich weitergefeiert und nicht mehr über geschäftliche Dinge gesprochen.
Das wurde für den nächsten Tag aufgehoben, und daran nahm dann auch Willem Terborg teil, denn er hatte es sich nicht nehmen lassen, seine Frau und seinen Jüngsten nach München zu begleiten. Schon mittags waren sie eingetroffen.
Da herrschte genug Trubel, und Olivia wartete auf eine ruhige Stunde, um mit ihrer Mutter über Clarissa und Celia zu sprechen, aber Marieke gab dann in aller Unbefangenheit und Arglosigkeit den Anstoß dazu, als sie fragte, was denn Winnie und Rex zu dem Bild gesagt hätten.
»Was für ein Bild?«, fragte Winnie.
Mandy warf ihrer Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu, den Marieke aber nicht deuten konnte.
Die Damen waren unter sich, aber jetzt vermisste Olivia Benedikt ganz besonders.
»Es war noch keine Gelegenheit, darüber zu sprechen, Mami«, sagte sie leise. »Benedikt findet es auch gar nicht so gut.«
»Wir finden auch, dass Olivia in Wirklichkeit viel schöner ist«, sagte Marieke.
»Wer hat dich gemalt?«, fragte Winnie.
»Lady Horby, sie ist eine berühmte Malerin«, erwiderte Olivia, und sie war überrascht, dass Winnies Gesicht keine andere Regung zeigte als nur Erstaunen.
»Warum hast du uns denn davon gar nichts erzählt, Olivia?«, fragte sie verwundert.
»Mir ist das bisher nicht so wichtig gewesen, Mami. Benedikt hat das Bild ja auch jetzt erst mitgebracht.«
Jetzt schaltete Marieke doch. »Es tut mir leid, dass ich geplaudert habe, da es anscheinend eine Überraschung für euch sein sollte«, sagte sie betrübt. »Ich bitte um Entschuldigung.«
»Mami hat doch erst nächsten Monat Geburtstag«, erklärte Olivia nun geistesgegenwärtig.
»Nun habe ich die Überraschung verdorben«, sagte Marieke unglücklich.
»Ist ja nicht so arg, solange ich es noch nicht zu Gesicht bekommen habe«, meinte Winnie. »Immerhin bin ich jetzt schon gespannt.«
Olivia war froh, dass vorerst alles abgebogen war. Sie konnte Marieke auch nicht böse sein. Sie trug nun mal das Herz auf der Zunge. Und als dann die Männer heimkamen, wurde über den kleinen Disput Schweigen bewahrt.
Wilm war begeistert, dass er hier seine Lehre absolvieren konnte.
»Es ist nämlich viel besser, wenn nicht dauernd der Vater hinter einem her ist«, sagte er ohne Hemmungen. »Ich weiß ja, dass ich viel lernen muss.«
»Aber ich werde auch nicht nachsichtig sein, Wilm«, sagte Reginald.
»Sie sind ja der Boss und nicht der Vater«, erwiderte Wilm. »Außerdem ist hier alles doch noch viel moderner.«
Willem Terborg schluckte es. »Das geht bei uns jetzt auch los«, sagte er. »Wir haben beschlossen, dass Ulf nach Amsterdam kommt und Benedikt dafür hierbleibt.«
Winnie und Marieke hielten den Atem an, Olivia und Mandy strahlten.
»Und wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen, werden wir noch enger zusammenarbeiten«, sagte Reginald. »Da nun die Familienbande geknüpft sind …«
Er kam nicht weiter, denn Olivia fiel ihm um den Hals und busserlte ihn ab.
Benedikt hatte Winnies Hand ergriffen und küsste diese. »Danke für die Fürsprache«, sagte er leise.
»Die war doch nicht nötig, Benedikt. Rex ist unbestechlich.«
Aber auch Marieke konnte sich nicht beklagen. Mandy und Ulf waren jetzt bei ihr und nahmen sie in die Mitte.
Aber dann wanderten die Gedanken in eine glückliche Vergangenheit, als Willem Terborg sagte: »Denkt ihr noch an Scheveningen? Da waren die beiden Mädchen noch so klein!«
Er zeigte eine winzige Größe, und Reginald lachte. »Ein bisschen größer waren sie schon«, sagte er.
»Fünf Jahre waren sie damals«, sagte Winnie gedankenverloren, »und sie haben sich gleich so gut verstanden. Da gab es nie Streit.«
»Den wird es bestimmt auch nie geben«, sagte Mandy.
»Und sie haben uns diese Freundschaft gebracht«, sagte Marieke gerührt. »Das hätten wir damals nicht geahnt.«
»Unsere Männer haben sich ja anfangs auch ganz schön belauert, als sie merkten, dass sie ungefähr in der gleichen Branche waren«, lachte Winnie herzhaft.
»Aber wir haben uns schnell verstanden, das musst du zugeben, Winnie«, warf Willem ein.
»Und wie oft hat er gesagt, dass ich mir ein Beispiel an dir nehmen soll, Winnie«, meinte Marieke seufzend. »Aber so rank und schlank wie du war ich ja nie.«
»Du hast drei Kinder«, sagte Winnie leise, »und du bist eine wundervolle Mutter.«
»Dass Olivia unsere Schwiegertochter wird, ist mein größtes Glück«, sagte Marieke.
»Wie oft hat sie mir gesagt, dass ich mir ein Beispiel an Olivia nehmen soll, wenn es in der Schule nicht so geklappt hat bei mir«, sagte Mandy anzüglich. »Aber dann bekam ich auch zu hören, dass ich mir wenigstens einen gescheiten Mann suchen solle. Hoffentlich seid ihr jetzt zufrieden.«
Rundherum waren sie zufrieden, wenn auch bei Marieke leise Wehmut mitschwang, weil sie sich von ihrem Jüngsten trennen sollte. Aber Wilm sagte so überzeugend, dass ihm das nur gut bekommen könne, dass sie auch darüber zufrieden war.
*
So sehr verschieden Ulf und Benedikt äußerlich waren, so ähnlich waren sie in ihrer Lebensauffassung.
Am nächsten Tag flogen Willem und Marieke mit Wilm zurück nach Amsterdam. Wilm wäre zwar am liebsten gleich in München geblieben, aber das konnte er seiner Mutter doch nicht antun. Zwei Wochen wollte sie ihn schon noch bei sich haben, und für seine Lehrzeit ausstatten wollten seine Eltern ihn auch noch. Aber er war so voller Freude, dass er nicht mehr die Schulbank zu drücken brauchte, dass er sich auch damit einverstanden erklärte.
Benedikt war ebenso schnell damit einverstanden gewesen, den Kontakt zu der Schweizer Gesellschaft auszubauen. Olivia trug die Trennung mit größerer Gelassenheit, als Mandy eine von Ulf ertragen hätte, und der war durchaus nicht böse, dass Benedikt ihm diese Arbeit abnahm.
Doch für Olivia war nun der Zeitpunkt gekommen, mit ihren Eltern Klarheit über Clarissa, Celia und jenen Mann zu schaffen, den Olivia nie im Leben als Vater bezeichnen wollte. Aber Olivia wollte ihre so sehr geliebte Mami auch nicht mehr in dem Glauben lassen, dass jenes Gemälde für sie eine Geburtstagsüberraschung sein solle, denn dafür hatte sie sich eine ganz andere ausgedacht, die keinen Schatten auf die Vergangenheit werfen sollte.
Ihr war es sehr willkommen, als Ulf einen Vortrag über Zukunftsforschung besuchen und Mandy ihn begleiten wollte, obgleich sie davon nicht die geringste Ahnung hatte. Aber ihr war alles recht, wenn sie nur mit Ulf zusammen sein konnte.
Es war der erste Abend, den Olivia ganz allein mit ihren Eltern verbringen konnte, seit Mandy bei ihnen zu Gast war.
Sie musste einen langen Anlauf nehmen, um ihren Eltern klarzumachen, worüber sie mit ihnen sprechen wollte.
Sie begann von Clarissa zu erzählen.
»Übrigens hieß sie Clarissa Tilbury, bevor sie Lord Horby geheiratet hat. Sagt euch das nichts?«, fragte sie.
»Was sollte uns das sagen?«, fragte Reginald. »Sie mag ja berühmt sein, aber wir haben noch kein Bild von ihr gesehen.«
»Ich werde es jetzt holen«, sagte Olivia.
»Sollte es nicht ein Geburtstagsgeschenk für mich sein?«, fragte Winnie erstaunt.
»Nein, das war nur eine Ausrede, Mami. Ich weiß wirklich nicht mehr weiter, und irgendwie muss ich zu einem Ergebnis kommen.«
Dann brachte sie das Bild, und Winnie stieß einen leisen Schrei aus, als sie es sah.
»Das ist doch Celia«, flüsterte sie.
»Ja, es ist Celia. Wieso hast du es gleich erkannt, Mami?«, fragte Olivia.
Winnie legte die Hände über ihr Gesicht. »Woher weißt du es, Olivia?«, fragte sie tonlos.
Olivia legte nun das Medaillon auf den Tisch. »Clarissa Horby kannte die Wahrheit«, sagte sie leise. »Und nun lest bitte diesen Brief. Ich gehe indessen in den Garten. Ich möchte euch vorher nur sagen, dass ich immer nur euch als meine Eltern lieben werde. Ich wollte die Wahrheit nicht von dir wissen, Mami, und auch nicht von Clarissa. Benedikt kennt sie, und wir wissen, dass man Tatsachen nicht aus der Welt schaffen kann, aber sie brauchen nichts zu ändern. Für mich wäre alles schlimmer gewesen, wenn ich nicht mit Benedikt darüber hätte sprechen können.«
Sie küsste Winnie auf die Stirn. »Für mich bist du meine Mami«, sagte sie, und dann ging sie zu Reginald. »Und du bist mein Vater, niemand sonst.«
Dann ging sie schnell hinaus. Winnie wollte ihr nach, aber Reginald hielt sie fest.
»Jetzt müssen wir genauso tapfer sein wie unser Kind, Winnie«, sagte er heiser. Und dann nahm er den Brief auf.
*
Olivia saß auf der Schaukel, als Reginald viel später in den Garten kam. Es war schon spät, aber der volle Mond warf sein kaltes Licht herab. Reginald kam auf sie zu, streckte die Arme nach ihr aus und hob sie herab, wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind war.
»Komm, mein Kleines, es ist kühl«, sagte er sanft. Dann saßen sie auf dem Sofa, Olivia zwischen den Eltern und in inniger Umarmung.
»Was willst du nun tun, mein Liebling?«, fragte Winnie.
»Jetzt möchte ich dich bitten, von Celia zu erzählen, Mami«, sagte Olivia leise.
Das Bild stand in ihrem Blickfeld, aber plötzlich war es, als verströme es Ruhe und keine Traurigkeit mehr.
»Wir lernten uns im Pensionat kennen«, begann Winnie leise. »Es gehörte damals zum guten Ton, dass junge Mädchen zumindest ein Jahr auf ihre häuslichen und gesellschaftlichen Pflichten vorbereitet wurden. Es war eine ganz lustige Zeit. Mit Celia habe ich mich gleich sehr gut verstanden. Wir teilten auch ein Zimmer. Sie stammte aus einer sehr vornehmen Familie und war überaus konservativ erzogen. Sie sagte später einmal, dass die Pensionszeit die schönste Zeit ihres Lebens gewesen sei. Sie war sehr traurig, als wir uns dann trennen mussten, aber wir schrieben uns fleißig. Dann starb ihre Mutter, und ihr Vater heiratete bald eine jüngere Frau. Für sie hatte ihr Vater auch schon einen Mann parat, aber sie wollte nicht und ergriff die Flucht. Ich war inzwischen schon mit meinem lieben Rex verheiratet. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und mein einziger Kummer war, dass uns Kindersegen versagt bleiben sollte. Celia hatte uns einmal besucht. Sie hatte eine Stellung als Kinderbetreuerin angenommen, da sie von ihrem Vater keinen Cent mehr bekommen hatte.« Winnie geriet ins Stocken und griff nach dem Brief. »Den Namen dieses Mannes hat sie nie erwähnt«, fuhr sie dann stockend fort.
»Auch nicht den Namen Clarissa Horby«, warf Reginald ein.
»Eines Tages erreichte mich ein Hilferuf von ihr«, sagte Winnie verhalten. »Sie hatte ja niemanden sonst, der ihr helfen konnte. Sie war mit ihrem letzten Geld bis Hamburg gekommen, schon hochschwanger. Dort hatte man sie in ein Krankenhaus gebracht. Ich war sehr bestürzt, denn von dieser Schwangerschaft hatte sie mir nichts geschrieben, und sie wollte auch nicht über den Vater ihres Kindes sprechen. Sie war schon so schwach und gar nicht mehr ganz auf dieser Welt. Sie wollte mich nur bitten, dafür zu sorgen, dass das Baby von guten Menschen aufgenommen würde, wenn es am Leben bleiben sollte. Ich habe Rex angerufen, und er kam sofort. Ich werde ihm das nie vergessen. Wir sorgten dafür, dass sie gut untergebracht und betreut wurde. Das Baby kam zwei Tage später zur Welt, und ich konnte Celia noch sagen, dass wir es als unser Kind behalten würden.«
Winnie schluchzte trocken auf und flüsterte: »Sie lächelte verklärt und schlummerte für immer ein. Und du warst von der ersten Stunde an unser Kind. Die Adoption bereitete keine Schwierigkeiten. Mehr kann ich dir nicht sagen. Sie hat auch nichts Schriftliches hinterlassen.«
»Sie hat nur gesagt, dass es gut ist, wenn er nie etwas von dem Kind erfährt«, sagte Reginald. »Sie war liebenswert. Was muss das für ein Mann sein!«
»Ich will ihn nie sehen«, stieß Olivia hervor.
»Ich schon«, sagte Reginald mit fester Stimme, und Winnie sah ihn erschrocken an. »Ihr glaubt doch nicht, dass ich jedes Wort dieses Briefes glaube. Der will etwas von uns.«
»Wäre ich doch Clarissa nie begegnet«, sagte Olivia bebend. »Aber jetzt muss ich mit ihr sprechen. Sie kennt das andere Kapitel dieser Geschichte.«
»Weißt du, wo sie zu erreichen ist?«
»Ich werde es schon herausfinden. Sie hat ja in dem Hotel in Zandvoort eine Wohnung. Benedikt kann mir da sicher behilflich sein. Außerdem hat sie in Schottland große Besitzungen.« Ihre Stimme klang jetzt ruhiger.
»Ich bin froh, dass wir nun darüber gesprochen haben.«
»Und ich bin sehr froh, dass man sich auf Benedikt verlassen kann«, sagte Reginald.
*
Das konnte man in jeder Beziehung. Er hatte nicht nur die Geschäfte in der Schweiz abgewickelt, er hatte auch bereits Erkundigungen über Percy Tilbury einziehen lassen und erfahren, dass er tatsächlich ein Hotel auf Gran Canaria besaß, allerdings ein drittrangiges. Vorerst war das alles, denn die Zeit war zu kurz gewesen.
Als er nach München zurückkehrte, hatte sich Mandy bei Dr. Norden noch einigen Tests unterzogen. Es war gar nicht so einfach, irgendetwas bei einem Menschen zu finden, der organisch so gesund war wie Mandy, und dazu hatte es noch eines ziemlich langen Telefongesprächs mit ihrer Mutter bedurft, die sich dann doch daran erinnerte, dass Mandy als Sechsjährige eine Mandelentzündung gehabt hat, die mit Penicillin behandelt worden war.
Da konnte Dr. Norden endlich einhaken und auch feststellen, dass bei Mandy eine Penicillinallergie bestand.
»Und was ist, wenn ich noch einmal krank werde und mit Penicillin behandelt werden muss?«, fragte Mandy.
»Mittlerweile gibt es andere Kombinationen, die dafür angewandt werden können«, erklärte ihr Dr. Norden beruhigend. »Wenn man über einen Patienten genau Bescheid weiß, können Komplikationen von vornherein ausgeschaltet werden. Allerdings müssen Sie dann auf Reisen immer den Impfpass bei sich haben, in dem auch vermerkt wird, welche Medikamente nicht angewandt werden dürfen.«
»Hat Ulf auch so einen Pass?«
»Freilich. Aber bei ihm müssen Sie auch aufpassen, dass er nicht zu viel eiweißhaltige Nahrung zu sich nimmt. Auf der letzten Reise scheint er diesbezüglich etwas zu viel bekommen zu haben. Wir können uns bei Gelegenheit darüber noch eingehend unterhalten. Möglicherweise bestehen da auch Übereinstimmungen mit Ihnen.«
»Ich möchte vor allem wissen, wie sich solche Übereinstimmungen auf Kinder auswirken können«, sagte Mandy.
»Machen Sie sich darüber noch keine Gedanken. Wir sind diesbezüglich doch schon so weit, Risikofaktoren einiges entgegensetzen zu können.«
Während Benedikt mit Reginald und Ulf die Ergebnisse seiner Gespräche durchdiskutierte, hatte Olivia wieder mal Gelegenheit, mit ihrer Mami allein zu sprechen. Sie stellte jetzt die Frage, die ihr so lange am Herzen lag, wenngleich es sie auch Überwindung kostete.
»Darf ich dich fragen, Mami, warum du keine Kinder bekommen konntest?«
»Weil ich den Rhesusfaktor negativ habe, mein Kleines. Es stellte sich heraus, als ich eine Fehlgeburt hatte. Damals war man noch nicht so genau mit den Voruntersuchungen, und die werdenden Mütter wussten auch nicht so genau Bescheid. Jedenfalls wurden wir dann aufgeklärt, und wir wollten kein behindertes Kind haben.«
»Aber man hätte doch einen Blutaustausch vornehmen können. Ich habe darüber gelesen«, sagte Olivia.
»Ja, später habe ich mich darüber auch informiert, aber da hatten wir dich. Rex ist glücklicherweise nicht so ein Mann, der unbedingt einen Sohn haben will, und außerdem wollte er mich in keinster Weise gefährdet wissen. Aber jetzt brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Wir bekommen ja einen Schwiegersohn, der ganz unseren Vorstellungen entspricht.«
Olivia lächelte glücklich. »Ich bin so froh darüber, Mami. Und es ist wunderschön, wenn man Eltern hat, die sich so lieben.« Sie machte eine kleine Pause. »Meinst du, dass Celia mich auch dann weggegeben hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre?«
Winnie hielt den Atem an. Darüber hatte sie sich nie Gedanken gemacht. Ihre Gedanken überstürzten sich, aber dann sagte sie: »Es ist überflüssig, darüber nachzudenken, Olivia. Ich möchte auch nicht darüber nachdenken, wie unser Leben ohne dich verlaufen wäre. Es bleibt nur die dankbare Erinnerung an Celia, die du ihr auch bewahren kannst.«
»Ich habe keine Erinnerung«, sagte Olivia. »Es gibt ein Bild von ihr, sonst nichts. Du bist meine Mami. Ich empfinde nur Mitleid für sie …, doch auch Dankbarkeit, dass sie mich euch geschenkt hat, und dass ihr mir so viel Liebe schenkt.«
»Weißt du, was Rex mir sagte, wenn wir darüber nachdachten, dass du auch mal enttäuscht werden könntest? Unsere Olivia hat Eltern, die sie nicht im Stich lassen.«
»Und sie hatte das Glück, eine Freundin zu haben, die sie nicht im Stich ließ«, sagte Olivia leise.
»Ja, das hat Rex auch gesagt, mein Liebes.«
»Ich liebe Paps so sehr. Ich liebe Benedikt, weil er ihm ähnlich ist, so zuverlässig und auch so konsequent.«
Ja, nun wussten sie es auch, dass Olivia den richtigen Partner gefunden hatte. Dazu hatte sie auch eine Freundin, auf die sie sich verlassen konnte, aber bei den beiden war es ja so, dass immer Mandy sich ein Beispiel an Olivia genommen hatte. Sie war überglücklich, dass alles so gekommen war.
Es war geklärt, was auch geschäftlich beschlossen werden musste, und schon bald traten Ulf und Mandy ihre erste gemeinsame Reise an, diesmal im Auto, und das Ziel war Amsterdam, wo Ulf nun an die Arbeit gehen sollte.
»Halt die Ohren steif«, sagte Benedikt beim Abschied zu ihm. »Als Boss kann Vater auch manchmal ungenießbar sein.«
»Ich will ihn ja nicht verspeisen«, erwiderte Ulf lachend. »Dein Boss ist übrigens auch sehr clever.«
»Ich mache dir keine Schande«, sagte Benedikt. »Ich will mich doch nicht mit meinem Schwager anlegen, geschweige denn mit meinem Schwiegervater. Und du gibst mir sofort Bescheid, sollte Lady Horby in Zandvoort sein«, raunte er ihm zu.
Doch darauf brauchte er nicht zu warten. Da hatte Reginald Klausner schon alle seine Verbindungen spielen lassen und sehr viel über die Horby herausgebracht, nur ihr derzeitiger Aufenthaltsort war nicht in Erfahrung zu bringen.
Zu aller Überraschung schien Olivia nicht nachhaltig von Tilburys Brief beeindruckt zu sein. Da sie sich nun mit ihren Eltern ausgesprochen hatte, genügte ihr das, was sie wusste, vollkommen. Tilbury war ein Fremder für sie und sollte es bleiben, und Einfluss auf ihr Leben konnte er ohnehin nicht nehmen.
*
In München ging, wie auch in Amsterdam, alles seinen Gang. Wilm war nun schon zwei Wochen in der Ausbildung, und weder Reginald noch Benedikt hatten etwas an ihm auszusetzen.
Benedikt war genauso eingespannt wie Ulf. Sein Boss schenkte ihm wirklich nichts, aber sie verstanden sich dennoch sehr gut. Olivia ließ sich von Winnie und Emi in die Kunst des Kochens einführen. Wenigstens Benedikts Leibgerichte wollte sie doch perfekt zubereiten können.
»Wenn ihr erst nach Beendigung deines Studiums heiraten wollt, hast du ja noch viel Zeit«, meinte Winnie neckend, da sie schon ahnte, dass sie so lange nicht mehr auf die Hochzeit zu warten brauchten.
In Amsterdam wurden jedoch schon Vorbereitungen für die andere Hochzeit getroffen. Ulf hatte nichts dagegen einzuwenden. Er hatte in Mandy das richtige Pendant gefunden, daran konnte nicht der leiseste Zweifel bestehen. Ihr natürliches Wesen, ihre Offenheit und Gefühlswärme hatten ihn bezaubert. Wenn er mit ihr beisammen war, konnte man ihn gewiss nicht mehr als kühl und nüchtern bezeichnen.
Willem und Marieke Terborg waren überzeugt, mit diesem Schwiegersohn das große Los gezogen zu haben.
Fee Norden hatte Olivia einige Male beim Einkauf getroffen, und sie hatten sich dann auch Zeit für einen kurzen Plausch genommen. So wussten auch die Nordens Bescheid über die glückliche Entwicklung. Ärztliche Hilfe wurde in diesen Wochen nicht beansprucht.
Doch dann geschah etwas, was neue Aufregung verursachte. Clarissa Horby rief Olivia an. Ihre Stimme klang matt. Sie hielt sich in einem Hotel in München auf und bat Olivia inständig um ihren Besuch.
»Ich hatte auch den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen«, sagte Olivia beklommen, »aber ich wusste nicht, wo Sie zu erreichen sind.«
»Ich bin schon einige Tage hier, aber es geht mir nicht gut«, erklärte Clarissa heiser.
Und Olivia machte sich sofort bereit. Winnie war besorgt. Sie wollte Olivia begleiten, aber das lehnte sie ab.
»Es könnte doch den Eindruck erwecken, dass ich ihr nicht traue.«
»Aber du hegst doch gewisse Zweifel, Kind«, sagte Winnie.
Aber der Gedanke, dass auch Percy Tilbury in dem Hotel warten könnte, kam Winnie erst, als Olivia schon weggefahren war.
Winnie rief ihren Mann an. Er war augenblicklich nicht zu erreichen, aber mit Benedikt konnte sie sprechen. Und der wartete dann nicht eine Minute, sondern machte sich sofort auf den Weg zum Hotel. Er hinterließ für Reginald nur eine kurze Notiz.
Clarissa war allein in ihrem Appartement, als Olivia kam. Sie war angekleidet, saß aber matt in einem Sessel. Olivia erschrak, wie hinfällig sie wirkte.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Olivia«, flüsterte sie. »Ich bitte um Nachsicht, dass ich …« Ein Hustenanfall quälte sie.
»Ich bin gern gekommen«, sagte Olivia hastig. »Kann ich etwas für Sie tun?«
Sekunden vergingen, bis Clarissa wieder sprechen konnte. »Ich bin immer allein fertiggeworden. Ich habe nie einen Arzt gebraucht«, sagte sie schleppend. »Ich muss Ihnen so viel sagen, aber ich fürchte, dass ich nicht die Kraft dazu habe. Percy, mein Bruder …« Wieder konnte sie nicht weitersprechen, aber nun atmete sie schwer und keuchend.
»Er hat mir geschrieben«, sagte Olivia. »Ich weiß alles.«
Sie erschrak zutiefst, als Clarissa sie entsetzt anstarrte.
»Nicht alles«, murmelte sie, dann sank sie in sich zusammen.
Olivia war wie gelähmt, aber ganz mechanisch griff sie zum Telefon, um Hilfe herbeizurufen. Doch im gleichen Moment vernahm sie draußen erregte Stimmen, und sie erkannte die von Benedikt. Sie stürzte zur Tür, da stand er schon vor ihr, neben ihm ein anderer Mann, dem sie aber keine Beachtung schenkte.
»Schnell, einen Arzt«, stieß Olivia hervor, »Clarissa ist ohnmächtig.«
Der andere Mann war der Empfangschef, und der rief sofort nach dem Notarzt. Um Himmels willen nur kein Aufsehen, das war die Devise dieses vornehmen Hotels, und Lady Horby sah ja schon aus, als wäre kein Leben mehr in ihr.
Dann ging alles rasend schnell, und wie ein Spuk zog es an Olivia vorbei, aber sie bestand darauf, sofort zu der Klinik zu fahren, in die Clarissa gebracht wurde.
»Wieso bist du gekommen, Benedikt?«, fragte sie auf dem Wege dorthin.
»Winnie hat mich angerufen. Sie dachte, Tilbury wäre hier.«
»Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, erwiderte Olivia leise. »Ich habe ihr gesagt, dass er mir geschrieben hat, dass ich alles weiß, und da verlor sie das Bewusstsein. ›Nicht alles‹, murmelte sie noch. Ich habe sie erschreckt, Benedikt.«
»Mach dir jetzt keine Vorwürfe, Liebes.«
»Aber wenn sie stirbt, werde ich nie erfahren, was sie mir sagen wollte. Sie hat mich so flehend angeschaut. Ich will nicht, dass sie stirbt. Ich habe sie gern.«
Eine beruhigende Auskunft bekamen sie nicht, da sie sich nicht als Verwandte ausweisen konnten. Hier ging alles streng nach Vorschriften. Damit aber wollte sich Olivia nicht zufriedengeben. Sie fuhr zu Dr. Norden, und in diesem ganz besonderen Fall war er sofort dazu bereit, zu einer kleinen List zu greifen.
Er wusste, wie bürokratisch alles in diesen Kliniken gehandhabt wurde, wie besorgt man war, dass auch die Kosten gedeckt wurden.
Clarissa war wieder bei Bewusstsein, aber nicht ansprechbar, doch als man Dr. Norden zu ihr ließ und er ihr sagte, dass er von Olivia geschickt sei, war sie zu allem bereit, was er unternehmen wollte. Und so gelang es ihm, sie in die Behnisch-Klinik verlegen zu lassen. Mit Dieter und Jenny Behnisch gab es da keine Probleme.
Clarissa litt an einem Lungenemphysem, das durch Asthma hervorgerufen war, aber sie bewies, wie zäh sie war.
Als Olivia sie besuchen durfte, war ihr Geist schon wieder rege, wenngleich sie sonst immer noch sehr matt war.
»Du kommst«, sagte sie leise, »du grollst mir nicht.«
»Du sollst gesund werden«, sagte Olivia. Sie streichelte die blassen Hände. »Es tut mir leid, dass ich damals weggelaufen bin.«
»Ich bin froh, dass du mich verstehst. Mein Deutsch ist nicht gut«, sagte Clarissa. »Ich hoffe, du wirst alles verstehen.«
»Ich weiß jetzt, dass uns etwas verbindet«, erwiderte Olivia.
»Mehr, als du denkst, my dear. Celias Mutter, deine Großmutter, war die Schwester von John Horby. Ich lernte Celia erst kennen, als sie erwachsen war. Ich war erst kurz mit John verheiratet. Er war älter als ich und ein Geizkragen, aber ich hatte sowieso nicht viel übrig für Männer. Es schockiert dich hoffentlich nicht, wenn ich das so offen sage. Ich hatte genügend Kummer mit Percy gehabt. Aber als er Celia bei uns kennenlernte, glaubte er wohl, sich in ein gemachtes Nest setzen zu können. Er hat sie umgarnt, darauf verstand er sich. Er hat sie verführt, was ich aber erst später erfuhr. Aber als John ihn nach einer ganz schrecklichen Auseinandersetzung aus dem Hause wies, verschwand Percy. John war wirklich sehr streng und wie ich auch schon sagte, sehr geizig, doch in diesem Fall wollte er Celia nur schützen. Dann aber verschwand auch Celia, und wir dachten, sie wäre mit Percy durchgebrannt.«
Clarissa schwieg erschöpft. »Du musst jetzt ruhen«, sagte Olivia besorgt, doch Clarissa griff nach ihrer Hand. »Ich will alles sagen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt«, flüsterte sie. »Bitte, bleib, Olivia.«
Gehen wollte Olivia nicht, sie wollte Clarissa nur Ruhe gönnen. Dr. Jenny Behnisch kam mit einer Infusion, und diese wirkte belebend auf Clarissa.
»Sie geben sich alle Mühe, mich am Leben zu erhalten«, sagte Clarissa.
»Es wird ihnen schon gelingen«, sagte Olivia. »Du wirst doch nicht aufgeben? Das darfst du nicht.«
»Seltsam, dass du es wünschst«, sagte Clarissa leise. »Immerhin bin ich seine Schwester, und ich verachte ihn und wünsche ihn zum Teufel.«
»Und ich habe Eltern, die ich sehr liebe«, sagte Olivia, »und dich habe ich auch sehr gern, Clarissa. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Celia hat die Namen Tilbury und Horby meinen Eltern gegenüber nie erwähnt. Sie hat mich ihrer besten Freundin geschenkt. Ich hatte vom ersten Lebenstag an Eltern.«
»Mir hat sie von ihrer Freundin Winnie erzählt«, sagte Clarissa gedankenverloren. »Und als Percy nach Monaten kam und Geld von mir haben wollte, als er fragte, wo Celia abgeblieben sei, wusste ich nur, dass sie nicht mit ihm gegangen war. Mehr nicht, Olivia. Aber ich habe nach ihr geforscht und brachte in Erfahrung, dass sie nicht mehr am Leben war. Aber Reginald und Winnie Klausner hatten ein Kind adoptiert. Auch das konnte ich in Erfahrung bringen. Davon habe ich niemandem etwas gesagt. John nicht und auch Percy nicht, aber er hatte ja schon wieder andere Affären hinter sich. Als er dann in Gran Canaria diese andere Frau geheiratet hatte, hörte ich nichts mehr von ihm. Und dann starb John, und ich war plötzlich frei und unabhängig und sehr reich, aber mein Gewissen ließ mir keine Ruhe. Ich fragte mich immer wieder, warum Celia zu mir nicht das Vertrauen hatte wie zu Winnie Klausner. Ich wollte keine Unruhe in dein Leben bringen, aber ich wollte etwas gutmachen. Ich brachte in Erfahrung, dass du mit Mandy Terborg befreundet bist, und dann endlich konnte ich dich auch kennenlernen.«
»Du hast meinen Lebensweg verfolgt, Clarissa?«, fragte Olivia beklommen.
»Intensiv erst seit Johns Tod. Und ich musste vorsichtig sein, denn Percy war immer hinter mir her. Seine Ehe war schiefgelaufen, er hatte ständig Geldsorgen. Wir hatten keine Kinder, und er hoffte wohl, mich beerben zu können, als John dann gestorben war. Und dann beging ich den größten Fehler meines Lebens, den du mir nicht verzeihen wirst, Olivia. Als ich von Zandvoort wegging und dir das Bild geschickt hatte, zog ich mich nach Schottland zurück, und da erschien er wieder. Bei mir muss etwas ausgehakt haben. Ich schrie ihm meine ganze Verachtung ins Gesicht und sagte ihm, dass er nicht zu hoffen brauche, auch nur einen Cent von mir zu bekommen, dass alles du bekommen würdest. Ich hatte mein Testament schon gemacht.« Sie rang wieder nach Atem.
»Ich will doch gar nichts, Clarissa«, flüsterte Olivia erschüttert.
»Nein, er bekommt nichts, schwöre es mir«, stöhnte Clarissa. »Was hat er dir geschrieben? Du hast von einem Brief gesprochen, das habe ich nicht nur geträumt.«
»Ich bringe dir den Brief«, sagte Olivia beruhigend. »Du darfst dich nicht aufregen.«
»Du musst mich verstehen, Olivia. Mein Leben wäre anders verlaufen, wenn ich diesen Bruder nicht gehabt hätte. Ich hatte Celia lieb. Ich hätte ihr einen anderen Mann gewünscht. Ich habe immer nach Erfüllung gesucht, und sie nie gefunden. Und nun habe ich nur Unruhe in dein Leben gebracht.«
»Nein, so ist es nicht, Clarissa«, sagte Olivia. »Du hast mir bewusst gemacht, dass man vor Tatsachen nicht den Kopf in den Sand stecken darf. Ich konnte mit Mami über Celia sprechen. Ich weiß jetzt, was du empfunden und gelitten hast.«
»Und wenn er kommt? Wenn er dir auch keine Ruhe lässt?«, fragte Clarissa mit erstickter Stimme.
»Er kann nicht den geringsten Beweis erbringen, dass er mein Vater ist«, erwiderte Olivia. »Ich studiere Jura, zwar noch nicht lange, aber so viel weiß ich schon.«
Clarissa schloss die Augen. »Wenn du so denkst, kann ich dir ja sagen, was ich Percy sagte«, flüsterte sie. »Du bist nicht ihr Vater, habe ich gesagt. Reginald Klausner ist ihr richtiger Vater. Verzeiht mir diese Lüge, bitte, verzeiht mir.«
Olivia kniete an ihrem Bett nieder, und ihre Tränen tropften auf Clarissas Hände.
»Ich wollte dich nur vor ihm bewahren, my dear, da ich Celia nicht helfen konnte. Ich wollte nur gutmachen, was ich versäumt habe.«
»Es ist ja alles gut, Clarissa«, flüsterte Olivia. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich wünsche nur, dass du wieder gesund wirst.«
Die letzten Worte hatte Clarissa nicht mehr vernommen. Sie war eingeschlafen.
*
Olivia war heimgefahren. Unter Tränen hatte sie ihrer Mutter alles erzählt und sich gründlich ausgeweint.
Winnie hielt sie tröstend umfangen. »Wenn es wirklich dazu kommen sollte, dass er kommt, ob er das abnimmt?«, fragte sie stockend.
»Was wird Papi sagen und tun?«, fragte Olivia.
»Da ist mir weniger bange. Wir wissen ja, wie es war, und wir brauchen nicht aneinander zu zweifeln. Ich kenne meinen Rex. Wenn ich ihn um etwas bitte, ist er mit allem einverstanden, erst recht, wenn es um dich geht.«
»Es geht um Clarissa. Er darf ihr keine Vorwürfe machen. Sie hat genug gelitten«, sagte Olivia.
Und sie hatte ausgelitten. Sie erwachte nicht mehr aus dem tiefen Schlummer. Aber ihr Gesicht hatte einen gelösten Ausdruck, als sie aufgebahrt wurde, und Olivia mit Winnie, Reginald und Benedikt für immer Abschied von ihr nahmen.
Doch dann kam der Tag, an dem sie, Clarissa Horby, an der Seite ihres Mannes in einer düsteren Gruft in Schottland beigesetzt wurde, und auch da waren sie zugegen. Aber auch Percy Tilbury war gekommen, wenn auch nicht zur Beisetzung, doch zu der Testamentseröffnung, die danach stattfand.
Er entschuldigte sich, dass sein Flugzeug Verspätung gehabt hätte. Aber dann ging er gleich auf Olivia zu. Reginald und Benedikt standen sprungbereit zum Eingreifen.
»Ruhe bewahren«, raunte ihnen Winnie zu. »Überlasst das Olivia.«
»Du hast meinen Brief hoffentlich bekommen, Olivia«, sagte Percy Tilbury.
So zwingend blickte Olivia in dieses faltige, verlebte Gesicht, dass er ihrem Blick nicht standhalten konnte.
»Ich bekam einen Brief, in dem Sie sich als mein Vater bezeichneten«, sagte Olivia mit klirrender Stimme, »aber Sie sind nicht mein Vater.«
»Wer sonst?«, fragte er erregt. »Ich schwöre es dir, Olivia.«
»Sie haben keine Beweise, und ich glaube Ihnen nicht. Mein Vater heißt Reginald Klausner.«
Und dann sagte er nur noch, dass sie die Testamentseröffnung abwarten solle.
Da fiel ihm dann aber sein Gesicht noch mehr zusammen, denn in diesem hatte Clarissa ihn nicht erwähnt. Als einzige direkte Nachkommin von Lord Horbys Schwester war deren Enkeltochter Olivia Klausner als Haupterbin bedacht. Einige großzügige Legate gingen an die Bediensteten. »Ich habe mich an die Bestimmungen meines verstorbenen Mannes, Lord Horby, gehalten«, hatte Clarissa hinzugefügt. »Hätte seine Nichte Celia Percy Tilbury geheiratet, wäre sie enterbt worden. Da diese Heirat nicht zustandekam, wäre sie jetzt Haupterbin. Durch ihren frühen Tod fällt der gesamte Nachlass an direkte Nachkommen, da uns selbst Kinder versagt blieben.«
Das Testament sei unanfechtbar, wurde Percy Tilbury dann auch noch gesagt.
»Aber ich bin dein Vater, Olivia«, stieß er hervor. »Ich weiß es.«
»Ich weiß es besser«, sagte Olivia, »und Clarissa hat es Ihnen gesagt.«
»Sie hat gelogen«, begehrte er auf, »und Sie alle wissen es!«
»Ich weiß nur, zu wem ich gehöre«, sagte Olivia. »Sie sind für mich ein Fremder, der mich benutzen wollte, um zu einem großen Erbe zu kommen. Clarissa hat mir viel erzählt. Aber es gibt nichts daran zu rütteln, dass Celia die Nichte von Lord Horby war, und alles andere wissen wir ja aus dem Testament. Wir haben uns nichts mehr zu sagen!«
»Du bist wie deine Mutter!«, stieß er hervor. »Genau die gleichen Worte!«
Aber dann musste ihm wohl doch bewusst geworden sein, was er da gesagt hatte. Schwankend verließ er den Raum.
Benedikt nahm Olivia in die Arme. »Auch das werden wir vergessen«, sagte er leise.
Sie blickte ihn an. »Ein Fremder ging«, sagte sie. »Was könnte er mir bedeuten. Wir hätten uns nie etwas zu sagen gehabt. Aber ich hätte gewünscht, Clarissa länger zu kennen.«
Für sie alle war das Schönste, was Clarissa hinterlassen hatte, das Bild von Olivia. Es lebte. Es drückte alles aus, was Clarissa empfunden hatte, als sie es malte. Und ein kleiner Zettel war an die Rückseite geheftet, auf dem zu lesen war: Schenk es Deinen Eltern, Olivia, die Du so sehr liebst und die Dich lieben. Du werde glücklich.
»Ich bin glücklich, Clarissa«, sagte Olivia, »und ich werde dich nie vergessen.«
*
Für Olivia sollte in Erfüllung gehen, wonach Clarissa vergeblich gesucht, wonach sich wohl auch Celia gesehnt hatte.
Als die Hochzeit von Ulf und Mandy gefeiert wurde, fragte Marieke rundheraus, wann wohl die nächste stattfinden würde. Sie war nun mal so offenherzig, und niemand konnte es ihr übelnehmen.
»Allzu viel Vorsprung werdet ihr uns ja hoffentlich nicht lassen«, meinte auch Mandy, die auf den Wolken des Glückes schwebte.
»Ich wage jetzt gar nichts mehr zu sagen«, meinte Benedikt. »Olivia ist viel zu reich für mich.«
»Na, warte nur, bis alle Erbschaftssteuern bezahlt sind und wir wissen, was überhaupt übrig bleibt«, sagte Olivia. »Und das, was übrig bleibt …, ach was, machen wir uns doch jetzt noch keine Gedanken darüber. Clarissa hat Geld nie etwas bedeutet, das weiß ich jetzt, nachdem ich schon einen Überblick gewonnen habe. Ihre Bilder werden wir jedenfalls behalten.«
»Und sonst nichts?«, fragte Mandy.
»Da Benedikt keine reiche Frau will, werden wir schon alles gut verteilen«, meinte Olivia. »Ihr habt ja gehört, was er gesagt hat.«
»Du hast gesagt, dass du erst heiraten willst, wenn du das Studium abgeschlossen hast«, sagte Benedikt.
»Man kann ja seine Meinung auch mal ändern«, sagte Olivia schelmisch. »Ich will schließlich nicht riskieren, dass du von einer anderen eingefangen wirst.«
Das brauchte sie gewiss nicht zu fürchten, aber die beiden anderen verheiratet zu sehen, machte doch wohl Appetit.
Außerdem, so meinte Reginald, würden ihre juristischen Kenntnisse ausreichen, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, denn das bewies sie schon jetzt.
Für die schottischen Besitzungen gab es schon Interessenten. Diese konnten beweisen, dass Clarissa schon früher mit ihnen verhandelt hatte. Der Aufwand an Personal, der Unterhalt für die alten Bauten wäre auch zu hoch gewesen. Und wer hätte sich darum kümmern sollen? Es lagen auch riesige Hypotheken darauf. Die Wohnung in Zandvoort wollten sie jedoch behalten, denn ganz bestimmt würden sie dort noch oft Urlaub machen. Es blieb dann freilich noch vieles übrig, aber sie dachten vor allem daran, dass Clarissas Seele Frieden finden konnte. Von Percy Tilbury hörten sie nichts mehr. Erst Jahre später erfuhren sie durch Zufall, dass er bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Kinder hinterließ er nicht. Für Olivia war er der Fremde gewesen und geblieben. Für Rex und Winnie Klausner war es das größte Glück, dass sie sich an ihrem dreißigsten Hochzeitstag, der ganz groß gefeiert wurde, da es für Benedikt und Olivia zugleich der fünfte war, schon an zwei reizenden Enkelkindern erfreuen konnten, die die Namen Constantin und Clarissa bekommen hatten, die sich mit Henrik und Oliver Werden genauso gut verstanden, wie ihre Eltern und Großeltern. Wilm war ein tüchtiger junger Mann geworden, dem so manches Mädchen zublinzelte, aber wenn man eine Schwester wie Mandy hatte und eine Schwägerin wie Olivia, konnte man sich nicht so leicht verlieben. Marieke war es nur recht, dass er so wählerisch war, und sehr froh, wie stolz sein Vater nun auf ihn sein konnte.
Wenn Olivia und Benedikt mit ihren Kindern in Zandvoort waren, wurde viel von Clarissa gesprochen, aber sie dachten auch immer an jene Minuten zurück, als Benedikt Olivia zum ersten Mal in seinen Armen auffing, und dies sollte sich noch oft an der gleichen Stelle wiederholen. Es war eine Reminiszenz an jenen Tag, an dem ihre Liebe schon begann, aber da gab es keine Tränen, wenn Benedikt seine Olivia umarmte, da war nur Glück.
Dann kamen ihre Kinder auf sie zugesprungen, und Clarissa sagte: »Jetzt habt ihr geschmust, jetzt dürfen wir stören.«
»Mal sehen, ob es euch passt, wenn ihr groß seid und schmust, und wir stören«, sagte Benedikt.
»Sind noch lange nicht groß«, brummte Constantin, »sind gern eure Kinder.«
Grad schön war es, wenn sie hier alle zusammenkamen und dann von früheren Zeiten gesprochen wurde.
»Ja, wer hätte das gedacht, als wir uns damals in Scheveningen kennenlernten«, sagte Winnie gedankenverloren.
»Gut, dass wir hier das Haus noch nicht hatten, sonst wären wir nicht nach Scheveningen gefahren«, meinte Willem Terborg.
»Denk so was lieber nicht«, meinte Marieke. »Ist ja nicht auszudenken, was uns versagt geblieben wäre.«
Olivia und Mandy tauschten einen langen Blick. Eine Kinderfreundschaft war zum Schicksal geworden für sie beide, für zwei Familien, und Celias Bildnis hatte wieder dort seinen Platz gefunden, wo Olivia es zum ersten Mal gesehen hatte. Von Clarissa gab es kein Bild, aber in der Erinnerung blieb sie lebendig.