Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 24

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Thomas schloss genießerisch die Augen. Eine leichte, warme Brise fächelte über seine Haut, brachte den Duft von Jasmin und Zitronenblüten mit sich und bewegte die Tamariske neben dem Pool sacht. Goldenes Sonnengeglitzer schimmerte hinter seinen geschlossenen Lidern, das Konzert der Grillen wurde von leisem Vogelgezwitscher untermalt. Es war die perfekte Idylle.

»Liebling, willst du den ganzen Tag im Schatten liegen und schlafen? Wir wollten doch noch mal in die Stadt, heute ist Lichterfest.« Die Stimme seiner Frau Ilka riss den jungen Lehrer aus seiner Lethargie. Er öffnete die Augen, schaute in ihr hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen, den Grübchen in den Wangen und dem sinnlichen Mund und lächelte zufrieden.

»Das wird auch ohne uns gefeiert, mein Herz. Komm her!«

Sie lachte. »Auf keinen Fall, ich kenne dich …«

»Eben.«

Er zog sie auf seinen Schoß und küsste sie innig.

Ilka schmiegte sich in seine Arme und seufzte leise.

»Ich würde so gerne zum Fest gehen«, bekannte sie.

»Lieber als hier mit deinem frisch angetrauten Göttergatten im Schatten zu träumen?« Thomas hob die Augenbrauen. »Ich bin entrüstet, mein Schatz.«

Sie lachte übermütig und machte sich von ihm frei. »Viel lieber«, neckte sie ihn. »Wir können doch nicht die ganzen Flitterwochen über nur faulenzen. Was sollen wir unseren Freunden erzählen, wenn wir heimkommen? Und den Kollegen in der Schule?«

Thomas grinste jungenhaft. »Dass wir gefaulenzt haben …«

»Ach du!« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist unmöglich, Thomas Sander. Und wenn du mich nicht begleitest, dann gehe ich eben allein, das hast du nun davon. Bestimmt finde ich einen netten Papagallo, der mit mir tanzt und …«

»Kein und! Ich komme!« Er sprang von der Liege auf und betrat gleich darauf den kleinen Ferienbungalow. Es war Ilkas Idee gewesen, die Flitterwochen am Lago Maggiore zu verbringen. Sie liebte diese Gegend, die ihr aus unzähligen Urlauben mit ihren Eltern so vertraut war wie ein zweites Daheim. Und auch Thomas fühlte sich in der lieblichen Landschaft mehr als wohl, was aber hauptsächlich an seiner Frau lag.

Ilka und er kannten sich schon eine ganze Weile, hatten zusammen studiert und arbeiteten nun als Junglehrer am Münchner Albertinen-Gymnasium. Thomas unterrichtete Deutsch, seine Frau war Naturwissenschaftlerin.

Dass sie sich liebten und ein Leben lang zusammen bleiben wollten, war von Anfang an klar für sie beide gewesen. Und als Ilka schwanger geworden war, hatte Thomas ihr den goldenen Ring an den Finger gesteckt.

Zwischen ihnen herrschte eine Harmonie, die durch nichts zu erschüttern war. Sie stritten nie, waren fast immer einer Meinung und verstanden sich oft auch ohne ­Worte. Ilkas beste Freundin, die Kunsterzieherin Sandra Buchmann, nannte diesen Zustand »ebenso unnormal wie Neid erregend«. Und manchmal war es selbst Thomas ein wenig unheimlich, wie sehr er und Ilka verbunden waren. Fast so, als seien sie eine Person, oder doch zwei Teile eines Ganzen. Yin und Yang in Perfektion.

Das große Glück, das man nur einmal finden konnte, wenn überhaupt. Ilka war die Liebe seines Lebens.

»Liebes, wo hast du mein Hemd hingelegt, ich …« Thomas stutzte und schaute sich irritiert um. Dies war nicht der Bungalow, in dem Ilka und er ihre Flitterwochen verbrachten. Er stand am Ende eines langen Ganges, zu beiden Seiten reihten sich Türen aneinander in düsterer Unendlichkeit. Neben jeder Tür eine Nummer, farblich eingerahmt, um die Station zu markieren. Die Station? Ein Ort wie dieser gehörte in eine Klinik, nicht in die Realität eines Sommerabends am Lago … Realität – oder war es nur ein Traum? Bei diesem Gedanken krampfte sich etwas in seinem tiefsten Inneren zusammen. Etwas wie eine Erinnerung oder eine Gewissheit. Etwas, das er fürchtete, dem er ausweichen wollte und es doch nicht konnte, denn es war ja längst geschehen.

Dunkelheit fiel über die Welt, alle Bilder verwischten. Thomas hatte das Gefühl, in einem Wirbel zu stecken, losgelöst von Zeit und Raum, gefangen in Bewegung, auf die er keinen Einfluss hatte. Preisgegeben dem, was nun kommen würde, kommen musste, auch wenn er versuchte, ihm mit aller Kraft zu entgehen. Denn er wusste nun, was es war, und dass es einmal mehr mit der Wucht eines Abbruchhammers gegen die morsche Wand aus Selbstschutz und Verdrängung prallen würde, um diese endgültig zum Einsturz zu bringen. Dahinter gähnte der Abgrund, tiefe Dunkelheit, der Geruch von Treibhausblumen, die im Herbstregen verfaulten. Kränze, die den Hügel frisch ausgeworfener Erde bedeckten. Ein Name auf Holz, mit dem alles angefangen und geendet hatte …

Thomas Sander schreckte aus wirren Träumen, als der Wecker klingelte. Der junge Lehrer schnappte nach Luft, während seine Rechte dem Störenfried den Garaus machte. In der Stille seines Schlafzimmers lag er dann noch ein paar Minuten, ebenfalls still, versuchte, des hämmernden Schlags seines Herzens Herr zu werden, zitternd und in Schweiß gebadet.

»Ilka …« Seine Stimme war hauchdünn, ebenso wie die Krusten, die sich nur zögernd und widerwillig auf den tiefen Wunden seiner Seele bildeten. Ein Jahr. Was hieß es, Witwer zu sein?

Früher hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht. Witwer waren alte Männer mit weißem Haar und zwei Eheringen am Finger, mit Stock und Hörgerät spazierten sie durch die vielen Parkanlagen Münchens, in Erinnerung an Goldhochzeit und Konfirmation der Enkelkinder. Männer, die ihre Frau vor der Zeit verloren, aber doch ein Leben geteilt hatten, und die nur einen Schritt hinter ihren Frauen zurück geblieben waren.

Thomas Sander war siebenunddreißig und seit einem Jahr verwitwet. Zwölf Jahre waren Ilka und er verheiratet gewesen.

Zwölf glückliche Jahre, Harmonie, Liebe und Zufriedenheit. Zwölf Jahre in der Gewissheit auf viele, viele mehr. Am weiten Horizont der gemeinsame Ruhestand, Hannes erwachsen, Enkelkinder vielleicht. Doch es war alles nur Illusion gewesen, warmweiche Sicherheit, die es nicht gab. Nicht wirklich. Als der Krebs seine kalte Hand nach Ilka ausgestreckt hatte, waren sie beide verzweifelt gewesen, verzweifelt, aber noch voller Hoffnung, Kraft und dem Willen zu kämpfen. Monate in einem Schwebezustand zwischen Rückschlägen und Fortschritten. Und schließlich das absolute Aus, die Leere, der Schmerz, der nicht enden wollte.

Das hieß es für Thomas, Witwer zu sein. Er hatte sein Leben weiter gelebt, allein Hannes zuliebe, der erst elf war und seinen Vater mehr denn je brauchte. Er ging in seinem Beruf auf, war der beliebteste Lehrer der Schule, seine Kurse zu Beginn des neuen Schuljahres waren immer zuerst ausgebucht. Viele seiner Oberstufenschüler hielten auch nach dem Abi Kontakt zu ihm, viele Schreibtalente hatte er gefördert und begleitet.

Sein Leben lief weiter, es schnurrte wie ein Uhrwerk. Und doch hatte er nie wieder das Gefühl gehabt, vollständig zu sein, nicht mehr, seit er sich mit einer Handvoll Erde von Ilka hatte verabschieden müssen.

Es klopfte kurz gegen die Tür. »Papa, bist du wach?«

»Ja, ich komme gleich«, antwortete er automatisch. Gleich darauf fing das Radio an zu dudeln, Hannes redete mit Susi, ihrem schokobraunen Labrador, den der Bub sich zum zehnten Geburtstag gewünscht – und natürlich bekommen hatte. War es nicht das Vorrecht eines Halbwaisen, sich zumindest ein klein wenig verwöhnen zu lassen?

Thomas hörte, wie die Kroketten für den Hund in die runde Schüssel aus Edelstahl kullerten, die in der Diele neben seinem Schlafkorb stand. Es wurde Zeit. Ein neuer Tag, das Leben nahm Fahrt auf, der Alltag, der aus jedem Heute das altbekannte Gestern macht, wollte angenommen werden. Mit all seinen unbedeutenden Nebensächlichkeiten, mit all seiner lauwarmen Sicherheit, die aber letztendlich alles war, was man hatte.

Thomas ging unter die Dusche, zog sich an und saß wenig später bei seinem Sohn am Frühstückstisch. Die Maisonne erhellte den großzügig bemessenen Raum mit goldenem Licht.

Die Altbauwohnung, in die die Sanders nach ihrer Heirat gezogen waren, bot eine Menge Platz, schließlich hatten sie sich noch mehr Kinder gewünscht, Hannes hatte nicht allein bleiben sollen. Nun waren die hohen Räume mit dem Stuck und dem knarrenden Parkett fast zu groß für sie beide. Sie bemühten sich, diese mit Leben zu erfüllen. Hannes mit seinen Freunden, Thomas mit all den Primanern, die auch nach Schulschluss noch nicht genug von Goethe und Schiller, Tankred Dorst und der Mann-Familie hatten.

Manchmal gelang es ihnen, doch oft legte sich die Stille schwer wie alter Samt auf Thomas zerfledderte Seele.

»Gehen wir am Samstag an die Isar?«, fragte Hannes seinen Vater. Er war ein schmales Kind mit blonden Locken und tiefblauen Augen und sah seiner Mutter so ähnlich, dass es Thomas manchmal wehtat.

»Am Sonntag. Samstag wollen wir doch grillen.«

»Kommen wieder deine Streber zu Besuch?«, frotzelte Hannes.

Thomas musste schmunzeln. »Freilich. Es gibt Würstchen und Kartoffelsalat und Sandra wird auch dabei sein.«

Bei der Erwähnung der Kunsterzieherin, die nach wie vor mit Thomas befreundet war, blitzte es freudig in Hannes’ Augen auf. »Dann esse ich auch ein Würstchen«, beschloss er.

»Wunderbar. Aber denk daran, dich warm genug anzuziehen. Wir werden bis abends zusammen sitzen«, mahnte Thomas automatisch.

»Bin doch kein Baby«, brummte Hannes. Er hatte erst kürzlich eine Grippe überstanden, litt an leichtem Bronchialasthma und sollte sich deshalb bei kühler Witterung nicht übermäßig anstrengen. Dass sein Vater sich Sorgen um ihn machte, war okay, doch Hannes meinte, schon alles zu wissen, was er ihm ständig aufs Neue unter die Nase rieb …

»Leider nicht mehr«, murmelte Thomas und erhob sich. »Die Zeit vergeht. Apropos: Wir müssen los.«

Gleich darauf verließen Vater, Sohn und Hund das gediegene Mehrparteienhaus im Münchner Stadtteil Haidhausen. Sie hatten den gleichen Weg, denn Hannes ging seit letztem Jahr aufs Gymnasium. Und Susi verbrachte ihre Zeit abwechselnd beim Hausmeister der Schule oder im Lehrerzimmer. Sie war eben ein typischer Labi, alle mochten sie. Und sie verlieh mit ihrer Anwesenheit der altehrwürdigen Bildungsanstalt eine freundliche Note, was auch die Schüler zu schätzen wussten.

*

Sandra Buchmann betrachtete den gebrannten Tonklumpen von allen Seiten und fragte sich, was er wohl vorstellen sollte. Die Aufgabe für ihre Achtklässler hatte ›Geometrische Formen, räumlich gesehen‹ gelautet. Die Meisten hatten sich deshalb auf Kugeln und Würfel beschränkt und bei der farblichen Gestaltung zumindest ein wenig Kreativität gezeigt. Doch der unförmige Klumpen tanzte aus der Reihe. Und während die junge Kunsterzieherin mit den kupferroten Locken und den klaren, grünen Augen noch überlegte, ob dies nun Talent oder nur Faulheit war, was ihr Schüler abgeliefert hatte, klopfte Thomas Sander gegen die offen stehende Tür zum Werkraum und sagte: »Pause, es hat eben geklingelt. Essen wir zusammen eine Semmel?«

Sandra lächelte ihm zu. »Klar, ich habe schon vorgesorgt. Setz dich.« Sie legte den Klumpen vor ihn auf die Bank. »Was meinst du? Hat der Schüler sich was dabei gedacht oder nicht?«

Sandra verschwand kurz im Nebenraum, holte die belegten Semmeln, ihre Thermoskanne und die beiden Keramikbecher, mit denen sie häufig die Pause verbrachten, und kehrte dann zu Thomas zurück. In der Tür blieb die schlanke Mittdreißigerin kurz stehen und betrachtete den Mann, dem ihr Herz gehörte.

Sandra kannte Thomas schon lange. Sie war an der Uni mit Ilka befreundet gewesen, noch ehe diese sich in Thomas verliebt und ihn später geheiratet hatte. Damals hatte sie den hoch gewachsenen, blonden Studenten mit den verträumten Augen nur gern gemocht. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, an mehr zu denken. Zwischen Ilka und Thomas, das war die große Liebe gewesen. Sandra war gerne mit beiden befreundet und hatte später öfter mal auf Hannes aufgepasst, wenn die ewig Verliebten allein etwas unternehmen wollten. Für Sandra war es eine schöne und wichtige Freundschaft gewesen. Wie wichtig sie für Thomas werden sollte – überlebenswichtig – hatte sie damals noch nicht geahnt.

Nach Ilkas Tod war von dem sensiblen, klugen Mann nicht mehr als ein Häuflein Elend übrig geblieben. Ilka war überzeugt, dass Thomas ihr gefolgt wäre – so oder so –, hätte es nicht Hannes gegeben. Für seinen Sohn hatte er weiter gelebt. Die Freundschaft mit Sandra hatte ihm geholfen, dieses Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch sie machte sich nichts vor; Thomas hatte Ilkas Tod längst nicht verwunden. Er trauerte noch immer. Daran würde sich womöglich nie etwas ändern, dessen war sie sich durchaus bewusst.

Doch irgendwo auf dem langen Weg von Verzweiflung, Schmerz und Trauer zurück ins Leben hatte sie sich in Thomas verliebt, daran ließ sich ebenso wenig ändern. Ihr Herz gehörte ihm. Und wenn es nicht mehr als Freundschaft war, was er von ihr wollte, würde sie sich damit begnügen.

Allein seine Nähe machte sie glücklich.

»Na, was denkst du?«, fragte sie, füllte Kaffee in die Becher und setzte sich zu ihm. »Talent oder Faulheit?«

Thomas lachte. »Schwer zu sagen. Mit plastischer Kunst stehe ich auf Kriegsfuß. Gib es mir in Worten, dann kann ich es bewerten. Aber das? Hm, sieht ein bisschen wie Martin Pauls aus, vor allem um die Nase, findest du nicht?«

Sandra stimmte in sein Lachen ein. »Unverkennbar!«

Dr. Martin Pauls war im Kollegium alles andere als beliebt. Der verknöcherte Althumanist quälte seine Klassen nicht nur bis zum Abwinken mit Latein und Griechisch, er gab auch Deutschkurse und machte kein Hehl daraus, dass er die unkonventionellen Methoden seines Kollegen Sander überhaupt nicht schätzte.

»Gestern hat er wieder gegen dich gestänkert«, erzählte Sandra Thomas nachdenklich. »Ich kam zufällig dazu, als er dem Direx ein Ohr voll sülzte von wegen Verderber der Jugend und Unterhöhlung der Arbeitsmoral. Zum Glück kann Dr. Bayer ihn ebenso wenig leiden wie alle anderen und hat ihn knapp abgefertigt.«

»Das kann auch daran liegen, dass du ins Zimmer gekommen bist. Schließlich ist allgemein bekannt, dass du wie eine Löwin für mich kämpfen kannst, wenn es darauf ankommt.«

Sandra verzog den Mund. »Mach dich nur über mich lustig, dann musst du Samstag auf den Erdäpfelsalat verzichten.«

»Nur das nicht, ich habe Hannes schon damit gelockt.«

»Wollte er etwa nicht mitgrillen?«

»Es lag weniger am Grill als an meinem Kursus. Er nennt sie nur ›Die Streber‹ und geht ihnen lieber aus dem Weg.«

Die junge Kunsterzieherin musste schmunzeln. »In dem Alter ist alles interessanter als Schule, das kennen wir doch. Später trennt sich dann die Spreu vom Weizen. Warte nur ab, Hannes wird irgendwann auch in der Oberstufe sein und Talente entwickeln.«

»Hoffentlich. Ich meine, dass er wenigstens ein bisschen was aus meiner Erbmasse übernommen hat. Sonst kommt er einfach in fast allem nach Ilka.«

Sandra lächelte schmal. »Das ist doch schön.«

»O ja, aber es tut auch weh.« Er hob die Schultern. »Eine lebende Erinnerung …«

Sie drückte ihm sacht den Arm und schenkte ihm ein Lächeln, das nur in ihren Augen stattfand und Verständnis wie Trost barg. Thomas war ihr dankbar. Sandra war immer da, wenn er sie brauchte, und sie verstand ihn aus tiefstem Herzen. Wäre sein Herz nicht gebrochen und seine Liebe mit Ilka gestorben …

Es klingelte zum Ende der Pause. Thomas küsste Sandra sacht auf die Wange und sagte: »Dann bis morgen, gegen sieben, okay?«

»Okay.« Sie blickte ihm versonnen hinterher, eh sie sich wieder dem Tonklumpen widmete, der ihr nach wie vor suspekt war.

Thomas steuerte derweil das Klassenzimmer seiner Zwölfer an, als ihm Dr. Pauls auf dem gebohnerten Flur entgegenkam, wie stets in Tweedjackett, Fliege, Cordhosen und Budapestern. Sein schmaler Mund unter dem angegrauten Bärtchen verzog sich bei Thomas’ Anblick nach unten, und die hellgrau­en­ Augen hinter den Brillengläsern mit schmalem Goldgestell schienen noch ein wenig kälter und abschätziger zu schauen als gewöhnlich.

Thomas nickte ihm zu und sagte knapp: »Herr Kollege …«

»Sander, Sie scheinen sich einzubilden, dies hier wäre kein Gymnasium, sondern Ihre private Spielwiese. Aber täuschen Sie sich nicht. Es gibt auch noch Eltern, die Ihre seltsamen Methoden ablehnen und in Ihnen das sehen, was Sie sind: Ein eingebildeter Selbstdarsteller ohne Tiefgang. Nur gut, dass es hier auch noch echte Pädagogen gibt!«

Thomas seufzte und erwiderte mit leiser Ironie: »Sollte Ihnen einer begegnen, lassen Sie es mich wissen. Einen schönen Tag noch.« Er verschwand im Klassenzimmer, ohne Dr. Pauls weiter zu beachten. Der kochte mal wieder vor Wut auf den verhassten Kollegen. Ganz blass wurde er, und in seinen hellen Augen brannte ein kaltes Licht. Warum nur mochten die Schüler diesen Heini? Dass sie seine eigenen Methoden nicht zu schätzen wussten, war selbstverständlich. Schüler lernten nie gern, man musste sie beherrschen, bei Gelegenheit in Angst und Schrecken versetzen und stets daran denken, genügend Abstand zu ihnen zu wahren. Das waren die goldenen Regeln, nach denen Dr. Pauls lebte und die Thomas Sander nicht einmal zu kennen schien.

Doch dieser Schönwetterlehrer würde sich noch wundern. Eines Tages, da war Dr. Pauls sicher, brachen ihm seine eigenen Methoden das Genick. Und dann würde er da sein, um einzuhaken. Denn es wurde höchste Zeit, dieses Subjekt nicht nur vom Albertinen-Gymnasium zu entfernen, sondern aus dem gesamten Schuldienst. Das würde ihm eine wahre Lust und Freude sein!

*

Der Samstag war ein Schönwettertag, wie er im Buche stand.

Am frühen Nachmittag füllte sich Thomas Sanders Altbauwohnung allmählich mit jungen Leuten, die gute Laune und einiges an Diskussionsbedarf mitbrachten. Sandra Buchmann übernahm die Verpflegung, Thomas bediente den Grill, und Susi wurde einmal mehr zum Schmuseobjekt für viele kraulende Hände. Auch Hannes hielt sich eine Weile bei den ›Großen‹ auf, suchte dann aber Sandras Nähe. Im vergangenen Jahr war sie eine Art Ersatzmutter für den Buben geworden. Er kam mit allen Sorgen und Kümmerchen zu ihr, fand stets ein offenes Ohr und eine helfende Hand. Und er schmiegte sich in letzter Zeit öfter in ihre Arme, um mit geschlossenen Augen einer Erinnerung an Mutterliebe nachzuträumen. Sandra mochte den Buben sehr und tat alles, damit es ihm gut ging, er sich wohl fühlte.

Am Sonntag fuhren sie dann zusammen zur Isar. Über Nacht hatte das Wetter umgeschlagen, die Eisheiligen brachten noch ein letztes Mal frostige Nächte, bevor der Frühsommer endgültig die Oberhand gewann. Hannes tobte mit Susi am Flussufer entlang und warf Stöckchen, die der Hund begeistert apportierte.

»Was ist los?«, fragte Sandra Thomas, der seinen Sohn die ganze Zeit mit ernster Miene genau im Auge behielt. »Stimmt was nicht mit Hannes?«

Der junge Lehrer wandte ihr den Blick zu und lächelte angedeutet. »Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Ich bin wohl nur ein bisschen übervorsichtig.«

»Er hat sich gut erholt, finde ich.«

»Schon, aber die Grippe war schwer, Hannes hatte einige Tage hohes Fieber. Und du weißt ja, er soll sich nicht anstrengen, wenn die Luft kalt ist.«

»In der Sonne ist es angenehm warm. Keine Sorge, dein Sohn weiß schon, was gut für ihn ist. Und Susi passt auf ihn auf.«

»Ja, Susi … Ein Wachhund ist sie nicht, eher ein …« Thomas stutzte, ließ seinen Blick schweifen. Kurz hatte er Hannes aus den Augen gelassen, nun konnte er ihn nirgendwo entdecken. »Wo sind die beiden denn? Siehst du sie?«

Sandra reckte den Hals, ließ den Blick am flachen, steinigen Flussufer entlang gleiten. »Nein, ich …« Sie erhob sich, ging ein paar Schritte auf und ab, konnte aber weder Hannes noch den Hund erspähen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie.

Thomas kam ebenfalls auf die Beine, eilte an ihr vorbei, rannte zuerst in die eine, dann in die entgegengesetzte Richtung am Wasser entlang, rief nach seinem Sohn, pfiff nach dem Hund.

Es dauerte nur ein paar Augenblicke, dann hörte man entferntes Bellen. Sandra schloss zu Thomas auf, sie tauschten einen unbehaglichen Blick.

»Susi!« Thomas pfiff noch einmal. Dann kam Susi. Sie rannte, wedelte dabei mit dem Schwanz und bellte aufgeregt.

»Da ist was passiert«, murmelte der junge Mann. »Susi, Hannes!« Der Labrador verstand, was sein Herrchen wollte, drehte sich um und rannte dorthin zurück, wo er hergekommen war.

Sandra und Thomas folgten ihm atemlos. Susi führte sie zu einer seichten Stelle am Fluss. Hier gab es eine Sandbank, auf der hartes Gras wuchs. Und dort lag Hannes reglos auf dem Boden. Er hielt noch das Stöckchen in der Hand, das er hatte werfen wollen. Thomas erstarrte mitten in der Bewegung. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, er war unfähig, nur noch einen Schritt zu tun, brachte kein Wort heraus. Der Schreck lähmte ihn.

Sandra beugte sich über Hannes, schob behutsam einen Arm unter ihn und drehte ihn zu sich um. Der Junge war erschreckend blass, schien bewusstlos zu sein.

Sie stellte fest, dass er atmete, doch sein Puls erschien ihr viel zu langsam.

»Hannes, was …« Thomas ging neben ihr in die Knie, strich mit zitternden Fingern über die blonden Locken. »Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Wir brauchen sofort einen Notarzt.« Sandra starrte den jungen Mann zwingend an. »Thomas, ruf an!«

Da endlich erwachte er aus seiner Starre, erhob sich, griff nach seinem Handy und verständigte die Notrufzentrale. Dabei hatte er das seltsame Gefühl, neben sich zu stehen. Unglaube und tiefe Angst erfüllten sein Herz. Und zugleich die bange Frage, was Hannes fehlte. Das war keine Atemnot, wie er sie kannte. Das war etwas anderes, etwas Ernstes …

»Er kommt zu sich«, hörte er Sandra sagen.

Hannes blinzelte, und als sein Vater sich über ihn beugte, fragte er leise: »Was ist passiert? Bin ich gefallen?«

»Wir wissen es nicht. Kannst du dich nicht erinnern?«

Er schüttelte den Kopf, dann schloss er wieder die Augen.

Als der Notarzt eintraf, war Hannes erneut ohne Bewusstsein.

Dr. Fred Steinbach, Rettungsarzt in der Behnisch-Klinik, stellte Thomas viele Fragen, während er Hannes untersuchte und dann stabilisierte. Er wies den begleitenden Rettungsassistenten Jens Wiener an, eine Trage zu holen und wandte sich dann wieder an Thomas: »Wir nehmen ihn mit in die Behnisch-Klinik. Er muss gründlich untersucht werden, um den Grund der Bewusstlosigkeit feststellen zu können. Ich kann das hier nicht leisten. Wenn Sie möchten, können Sie uns begleiten, Herr Sander.«

Thomas wechselte einen kurzen Blick mit Sandra, die anbot: »Ich bringe Susi heim und warte da auf euch, einverstanden?«

Er nickte und schaute sie dankbar an, dann schlossen sich bereits die Türen des Rettungswagens hinter ihm.

*

»Monitor anschließen, ich brauche als Erstes ein EKG.«

Dr. Erik Berger, Leiter der Notfallambulanz in der Behnisch-Klinik, untersuchte Hannes Sander, während er Schwester Inga anfuhr: »In die Puschen, meine Gute, ich brauche Werte!«

Die Krankenschwester verzog den Mund, schwieg sich aber aus. Sie wusste aus Erfahrung, dass es keinen Sinn hatte, sich über die ungehobelten Umgangsformen ihres Chefs zu beschweren. Er änderte sich doch nicht. Und sie hätte nur kostbare Zeit verschwendet, die der kleine Patient nicht hatte. Sein Zustand war ernst, das sah die erfahrene Kraft gleich.

Dr. Berger wandte sich nun dem Geräteturm neben der Untersuchungsliege zu und studierte die Vitalwerte. Dann warf er einen Blick auf die Eintragungen, die Dr. Steinbach im Protokoll der Erstbehandlung gemacht hatte, und setzte gleich darauf eine Spritze. Nachdem er eine Infusion gelegt hatte, besserten sich die Werte des kleinen Patienten langsam.

»Behalten Sie ihn im Auge«, wies er Schwester Inga knapp an, griff zum Telefon und informierte die Innere. »Ich habe hier eine Cardio, kürzlich genesene Influenza mit mehr als drei Fiebertagen. Sieht nach Myokarditis aus, aber da scheint noch mehr im Busch zu sein. Nehmt ihn euch vor. Ich schicke ihn hoch, sobald er stabil ist.«

Schwester Inga deutete auf das EKG. »Er stabilisiert sich.«

»Gut, warten Sie, bis die Parameter über fünfzig Prozent normal liegen, dann verlegen Sie ihn auf die Innere, die wissen dort bereits Bescheid. Ist jemand bei ihm gewesen?«

»Sein Vater, er wartete draußen.«

Dr. Berger nickte. Er nahm sich die Zeit, einmal tief durchzuatmen, bevor er auf den Klinikflur trat. Gespräche mit Angehörigen waren nicht sein Ding, die hohe Kunst der Diplomatie sagte ihm etwa so viel wie Spitzenklöppeln. Auf seinem Gebiet war er ein Ass, fachlich nicht zu schlagen. Dr. Daniel Norden, der Klinikchef, hielt große Stücke auf ihn. Doch das Menschliche lag Erik Berger einfach nicht. Nichtsdestoweniger gehörte es aber auch zu seinem Beruf und ließ sich nicht immer umgehen. Leider.

»Herr Sander?« Er drückte Thomas knapp die Hand.

Noch ehe Dr. Berger etwas sagen konnte, fragte der junge Mann ihn: »Was hat mein Sohn? Was fehlt ihm? Es war keine Atemnot, das kenne ich. Die Grippe hat er doch auskuriert, was … was kann es nur sonst sein, bitte …«

Dr. Berger wartete kurz, dann erklärte er ohne den für ihn sonst üblichen Zynismus: »Es sieht nach einer Herzerkrankung aus. Etwas Genaueres kann ich Ihnen noch nicht sagen …«

»Herz? Aber Hannes ist doch nicht herzkrank!«

»Ihr Sohn hatte eine schwere Grippe, nicht wahr?«

»Ja, schon, aber was …«

»Grippeviren neigen dazu zu wandern. Manchmal lösen sie eine Entzündung im Herzen aus, das ist nicht mal so selten.«

»Aber das … ist doch nicht möglich!« Thomas starrte den Arzt mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verzweiflung an, die selbst den Berufszyniker rührte. Spontan legte er eine Hand auf die Schulter des Lehrers und bat: »Beruhigen Sie sich, Herr Sander. Ihr Sohn wird gründlich untersucht, dann erfahren Sie Genaueres. Ich schicke Ihnen eine Schwester, die Sie zur Inneren begleitet.« Er zögerte. »Nur Mut, es wird schon!«

Als Dr. Berger sich umdrehte, sah er sich Schwester Anna gegenüber, die ihn entgeistert anstarrte. Er räusperte sich ungehalten und wies sie an: »Begleiten Sie Herrn Sander zur Inneren.« Und eine Spur leiser fügte er noch hinzu: »Und wehe, Sie plaudern das aus …«

Schwester Anna lächelte still in sich hinein, dann kümmerte sie sich um Thomas Sander, der noch immer völlig verstört war.

»Kommen Sie, Herr Sander, ich bringe Sie zur Inneren.«

Während er im Lift neben der Krankenschwester stand, hatte Thomas das eigentümliche Gefühl, nur zu träumen. Zugleich befiel ihn ein Déjà-vu wie ein dunkler Schatten. Er sah sich noch einmal auf dem langen Klinikflur, an dessen Ende Ilkas Zimmer gewesen war, das Zimmer, in dem sie …

Der Lift hielt, und der junge Lehrer bemerkte erleichtert, dass es eine andere Station war, nicht die, die er bereits kannte. Trotzdem blieb der kalte Druck, der sich um sein Herz gelegt hatte und es ihm schwer machte durchzuatmen. Die Angst um Hannes war alles bestimmend.

»Warten Sie bitte hier, Herr Sander«, bat Schwester Anna ihn freundlich. »Sie bekommen Bescheid, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist.« Sie wechselte ein paar Worte mit der Stationsschwester und kehrte dann noch einmal zu Thomas zurück, der hilflos im Wartebereich stand und keine Anstalten machte, sich zumindest zu setzen.

»Es wird ein wenig dauern. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«, bot Schwester Anna ihm an.

»Nein, danke.« Er wandte sich ab, wollte allein sein. Obwohl er die freundliche Art der Pflegerin zu schätzen wusste, war Thomas nun einfach nicht in der Lage, darauf einzugehen. Die dunkle Wolke, die plötzlich über seinem Leben lag und alles zu erdrücken drohte, würde erst weichen, wenn er Gewissheit hatte. Die Gewissheit, dass es Hannes gut ging, dass alles ganz harmlos war. Denn jede andere Möglichkeit erschien ihm ausgeschlossen. Undenkbar. Hieß es denn nicht, dass jeder nur soviel tragen musste, wie er konnte? War sein Maß nicht voll, übervoll?

Während Thomas Sander in einem Zustand wachsender Verzweiflung darauf wartete, dass jemand kam und ihn beruhigte, betrat der Internist Dr. Alexander Schön das Büro des Chefarztes Dr. Norden. Dessen Frau Fee, die Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik, war ebenfalls anwesend.

»Ich habe hier einen ziemlich verzwickten Fall, Chef«, erklärte er und legte Dr. Norden ein Tablet mit den Ergebnissen von Hannes Sanders Untersuchung vor. Daniel Norden studierte die Werte und schloss daraus: »Eine Myokarditis.« Er reichte seiner Frau das Tablet. »Der Junge gehört auf deine Station.«

Fee nickte. »Haben Sie schon mit den Eltern geredet, Herr Kollege?«, fragte die hübsche Blondine mit den erstaunlich blauen Augen den Internisten. Dieser schüttelte den Kopf.

»Der Junge hat nur einen Vater, seine Mutter ist letztes Jahr verstorben. Der Vater wartet auf meiner Station. Die Entzündung des Herzmuskels ist in diesem Fall allerdings nicht das einzige Problem. Ich habe zur Sicherheit eine CT anfertigen lassen. Und dabei ist dies hier zum Vorschein gekommen.« Er wischte weiter, bis die Schwarzweißaufnahme des Herzens sichtbar wurde.

Die Nordens beugten sich über das Bild, Dr. Schön deutete mit der Spitze eines Kulis auf einen kleinen, weißen Strich.

Daniel Norden stutzte, dann stellte er fest: »Das sieht nach einer überflüssigen Gefäßbrücke aus.«

»Es ist ein offener Ductus Botalli«, bestätigte der Internist. »Bislang offenbar unentdeckt, weil er keine Beschwerden gemacht hat. Zumindest wurden die Beschwerden nicht also solche erkannt. Der Junge leidet angeblich an einer leichten Form von Bronchialasthma. Der Hausarzt hat ein Aerosol verordnet und dem Vater eingeschärft, dass er sich bei Kälte draußen nicht anstrengen darf. Allerdings sind Lunge und Bronchien sauber.«

»Eine Fehldiagnose also«, schloss Dr. Norden.

»Offenbar. Die Entzündung des Herzmuskels hat nun den Zusammenbruch ausgelöst. Der DB muss operativ geschlossen werden, was allerdings erst möglich wird, wenn der Herzmuskel ausgeheilt ist. Und da liegt das Problem.«

»Die Entzündung lässt sich heilen, es fragt sich nur, ob die Zeit dazu ausreicht«, brachte der Chefarzt es auf den Punkt.

»Wir müssen mit dem Vater reden«, mahnte Fee Norden. »Er sollte die Wahrheit erfahren.«

Dr. Schön nickte, dabei drückte seine Miene deutlich die Erleichterung aus, die er empfand. Denn um diese Aufgabe beneidete er die Nordens ganz gewiss nicht.

*

»Ich verstehe kein Wort!« Thomas Sander griff sich mit einer hilflosen Geste an die Stirn. »Hannes hat Asthma, er ist doch nicht herzkrank. Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«

»Bitte, beruhigen Sie sich, Herr Sander«, bat Fee Norden. »Die Diagnose Ihres Hausarztes hat zu kurz gegriffen. Um die wahre Ursache für die Kurzatmigkeit Ihres Sohnes zu ermitteln, wäre eine Untersuchung in einer Klinik nötig gewesen. Die krankhafte Verbindung in den herznahen Gefäßen lässt sich nur auf dem Röntgenbild erkennen.«

»Wie ist so etwas möglich? Hannes’ Lunge ist demnach in Ordnung, er hat kein Asthma?«

»Nein, in dem Bereich ist Ihr Sohn gesund. Seine Beschwerden rühren von der Gefäßbrücke zwischen der Hauptschlagader und den Lungenarterien her. Dadurch mischen sich sauerstoffreiches Blut und sauerstoffarmes, venöses Blut, und das löst die Atemnot aus.«

»Und woher kommt so etwas?«

»Es ist ein angeborener Herzfehler. Wenn er stärker ausgeprägt ist, wird er früher entdeckt und oft schon im Säuglingsalter korrigiert. Ihr Sohn hatte nur leichte Atemnot, was den Hausarzt auf Asthma schließen ließ. Erst durch die Entzündung des Herzmuskels hat sich sein Zustand so weit verschlechtert, dass die Gefäßbrücke entdeckt wurde.«

»Und was passiert nun? Wie werden Sie Hannes behandeln?«

»Zunächst medikamentös. Die Entzündung muss heilen, bevor der Ductus Botalli operativ geschlossen werden kann.«

»Operativ?« Thomas wurde blass. »Eine Herzoperation?«

»Ein mikrochirurgischer Eingriff am geschlossenen Herzen. Das ist keine große Sache und es garantiert eine vollständige Heilung.«

»Wenn Sie das sagen, klingt es ganz einfach. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das nicht ist.«

»Der Zustand Ihres Sohnes ist ernst, Herr Sander«, gab Daniel Norden zu. »Wir verlegen ihn auf die Kinderstation, bis er operiert werden kann. Doch die Zeit bis dahin wird kein Spaziergang. Sie müssen sich darauf einstellen, dass es Hannes noch sehr viel schlechter gehen wird, bis eine Besserung einsetzen kann.«

»Wir tun alles, um Ihrem Sohn zu helfen«, versicherte Fee tröstend. »Darauf können Sie sich verlassen.«

»Wollen Sie mir durch die Blume sagen, dass Hannes sterben könnte?« Thomas starrte die Ärzte fassungslos an. »Ist es das?«

»Nein, das lag nicht in unserer Absicht. Wir wollten Sie nur genau über alles informieren«, stellte der Chefarzt der Behnisch-Klinik klar.

»Kann ich meinen Sohn sehen?«, fragte Thomas matt.

»Natürlich, ich begleite Sie«, sagte Fee verständnisvoll.

»Das alles erscheint mir ganz unfassbar«, murmelte der junge Lehrer im Lift. »Eben noch tobt Hannes mit unserem Hund, und dann … dann …« Er verstummte, seine Stimme brach. Nach einer Weile fuhr er leise fort: »Meine Frau ist letztes Jahr in dieser Klinik gestorben. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich das noch einmal durchmachen muss, mit Hannes …«

»Davon kann keine Rede sein, Herr Sander. Ihr Sohn ist krank, aber seine Heilungschancen stehen gut.« Fee Norden schaute ihn aufmerksam an. »Wenn Sie ihn jetzt sehen, benehmen Sie sich so normal wie möglich. Kinder haben feine Antennen …«

Er nickte wortlos und folgte der Ärztin in ein Doppelzimmer, in dem nur ein Bett belegt war. Hannes lag blass, aber munter in dem Bett und rief: »Ich war schon auf drei Stationen. Und Michi hat gesagt, wenn es mir schlechter geht, komme ich vielleicht auch noch auf Intensiv.«

»Michi?«

»Ja, der Pfleger, der mich hierher gebracht hat. Es ist gar nicht so übel hier, findest du nicht auch, Papa?«

»Ja, für ein Krankenzimmer …«

Fee Norden zog sich dezent zurück. Als sie die Tür von außen zuzog, setzte Thomas sich auf die Bettkante und fragte seinen Sohn: »Wie geht es dir? Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut. Besser als eben. Bist du mir böse?«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«, wunderte Thomas sich.

»Weil ich dir Sorgen mache. Seit Mama fort ist, geht es dir doch nicht gut. Und jetzt bin ich schuld daran, wenn es dir wieder schlechter geht.«

Thomas schaute den Jungen betroffen an. In seiner Trauer, seinem Schmerz hatte er nie daran gedacht, wie er auf seinen Sohn wirken musste. Er hatte geglaubt, es genüge, weiterhin präsent zu sein. Für Hannes weiter zu leben, wie er das im Stillen genannt hatte. Aber es genügte eben doch nicht. Hannes war ein aufgewecktes Kind, er bekam viel mehr mit, als Thomas wusste. Und er fühlte sich nun schuldig, dachte er an die Tage, Wochen und Monate, in denen er sich hatte gehenlassen, hilflos der Verzweiflung nachgegeben hatte.

»Als wir deine Mutter verloren haben, ging es uns beiden sehr schlecht, nicht wahr? Aber wir haben zusammengehalten, haben uns gegenseitig Halt gegeben. Das tun wir auch jetzt, einverstanden? Ich werde dir beistehen, bis du wieder gesund bist. Und du machst dir bitte keine Sorgen darüber, wie es mir geht. Du konzentrierst dich nur darauf, gesund zu werden. Willst du mir das versprechen?«

Hannes hatte seinem Vater aufmerksam zugehört, nun lächelte er ein wenig und nickte. »Stimmt es, dass ich operiert werde?«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Die nette Ärztin. Ich mag sie. Sie sagt, wenn mein Herzmuskel nicht mehr entzündet ist, werden sie so ein kleines Ding hineinschieben. Und danach bin ich dann ganz gesund. Stell dir vor, Papa, dann habe ich auch kein Asthma mehr.«

»Das ist erstaunlich.«

»Ja, nicht wahr? Ich glaube, es wird hier ganz okay sein. Nur blöd, dass ich jetzt in der Schule fehle.«

»Das kriegen wir schon hin. Ich komme jeden Tag her, dann gehen wir zusammen den Stoff durch, den du versäumst.«

»Ehrlich? Prima!«

Thomas wunderte sich über den Enthusiasmus seines Sohnes, fragte sich aber zugleich, ob Hannes ihm nur etwas vorspielte. Gab er sich so tapfer, damit sein Vater sich keine Sorgen machte? Oder überspielte er so seine Ängste?

Obwohl er sich Mühe gab, gelang es dem jungen Mann nicht, das herauszufinden. Hannes verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihm und schien sich ganz wohl zu fühlen. Im Gegensatz zu seinem Vater, dessen Fühlen und Denken einmal mehr von der Sorge um seinen Sohn vollständig beherrscht wurden.

*

Sandra atmete auf, als Thomas heimkam. Dass er allein war, schien allerdings nichts Gutes zu bedeuten.

»Wo ist Hannes?«, fragte sie, während der junge Mann sich schwerfällig am Küchentisch niederließ und mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Susi nahm neben ihrem Herrchen Platz, und als er sie nicht beachtete, legte sie sehr behutsam ihren Kopf auf seinen Oberschenkel. Automatisch begann er, ihr ein Ohr zu kraulen. Erst nach einer längeren Pause beantwortete er Sandras Frage, die sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt und zwei Becher mit Kaffee gefüllt hatte.

Thomas betrachtete geistesabwesend den dunkelblauen Becher mit dem hellen Rand, über dem leiser Kaffeedampf aufstieg, und erzählte: »Sie behalten Hannes in der Behnisch-Klinik. Er ist herzkrank und muss operiert werden.«

»Was?« Sandra starrte ihn verständnislos an.

Er seufzte schwer. »Ja, ich habe es auch erst nicht fassen können. Die Grippeviren haben eine Entzündung in seinem Herzen ausgelöst.«

»Und das muss operiert werden?«

»Nein, die Entzündung behandeln sie mit Medikamenten. Aber da ist noch was, eine Verbindung zwischen den Blutgefäßen, ich habe das nicht richtig verstanden. Sie bewirkt jedenfalls, dass Hannes unter Atemnot leidet, wenn er sich anstrengt. Es ist keine Asthma, es liegt an diesem Herzfehler. Dr. Norden sagt, der ist angeboren, kann aber leicht operiert werden.«

»Mein Gott, Thomas. Das ist unfassbar!« Heißes Mitleid erfüllte Sandras Herz. Sie konnte einfach nicht glauben, was das Schicksal diesem leidgeprüften Mann noch aufbürdete.

Er lächelte freudlos. »Ja, das ist es. Entschuldige mich, ich möchte jetzt lieber allein sein. Das verstehst du doch?«

»Ja, natürlich.« Obwohl sie lieber geblieben wäre, verabschiedete Sandra sich wenig später. Sie tat dies mit einem unguten Gefühl und schärfte Thomas beim Abschied ein, sie anzurufen, wenn er etwas brauche.

»Egal was, egal wann. Ich bin für dich da.«

»Ich weiß, danke.«

»Können wir Hannes morgen besuchen?«

»Ja, ich denke schon. Wir sehen uns dann in der Schule.«

Sie zögerte noch einen Moment, verließ dann die Wohnung. Als Thomas die Tür hinter ihr ins Schloss drückte, verstärkte sich das ungute Gefühl in ihrem Inneren und wurde zu Angst.

Die junge Frau fragte sich, was sie tun konnte, um Thomas zu helfen. Nach Ilkas Tod war er so verzweifelt gewesen, dass sie manchmal befürchtet hatte, ihn trotz aller Hilfestellungen zu verlieren. Oft war er dem Tod näher gewesen als dem Leben. Sandra war unendlich erleichtert gewesen, als es endlich so ausgesehen hatte, dass er sich gefangen, die Krise überwunden hatte. Doch sie ahnte, wie dünn das Eis war, auf dem er sich noch immer bewegte. Und sie war fast sicher, dass ein neuerlicher Schicksalsschlag es endgültig zum Brechen bringen würde. Dann würden ihn keine helfenden Hände mehr halten können. Das durfte einfach nicht passieren! Sie biss sich auf die Lippen, denn sie spürte die Tränen in sich aufsteigen.

Die Hilflosigkeit setzte ihr schwer zu, ein Gefühl der Unzulänglichkeit kam hinzu. Ihr liebendes Herz blutete.

Sandra ahnte, dass alles, was ihr blieb, einmal mehr nur Hoffen und Abwarten war. Und im richtigen Moment das Richtige tun, um das Falsche zu verhindern …

Thomas hockte die halbe Nacht in der Küche, starrte reglos vor sich hin und versuchte, die rabenschwarze Verzweiflung, die sein Herz ganz zu erfüllen drohte, niederzukämpfen. Es gelang ihm nicht. Voller Angst sah er am nächsten Morgen die Sonne aufgehen. Ungewissheit und Sorge peinigten ihn. Wie sollte er weiterleben, wenn ein ungnädiges Schicksal ihm auch noch Hannes nahm? Er wollte nicht daran denken, doch das Mühlrad in seinem Kopf drehte sich unablässig und spuckte dabei immer weiter düstere Prophezeiungen aus.

Als er gegen sieben Susi füttern wollte, lag sie noch in ihrem Korb und blinzelte scheu zu ihm auf.

»Liebes Mädchen«, murmelte er, vergrub sein Gesicht in ihrem weichen Fell und weinte bitterlich. »Es wird wieder, es muss.«

Doch Thomas glaubte selbst nicht an diese lauwarme Hoffnung.

*

Fee Norden betrat das Krankenzimmer von Hannes Sander, um ihren kleinen Patienten zu untersuchen. Hannes hatte ruhig geschlafen und wirkte nun sehr gefasst. Zu gefasst für einen Elfjährigen, fand die Mutter von fünf Kindern. Fee kannte jede Nuance, jede Regung der kindlichen Seele, sie war eine sehr einfühlsame Frau und eine erfahrene Kinderärztin.

»Werde ich wirklich wieder gesund?«, fragte Hannes, nachdem die Untersuchung abgeschlossen war.

»Natürlich. Du musst nur ein bisschen Geduld haben.«

»Stimmt das auch? Oder sagen Sie das zu allen Patienten?«

Fee musste schmunzeln. »Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich versuche ich, meine Patienten aufzurichten, damit sie Mut fassen und fleißig daran mitarbeiten, gesund zu werden. Aber ich belüge sie nie, darauf kannst du dich verlassen.«

Hannes musterte die blonde Ärztin abwägend, dann sagte er: »Das ist gut. Ich muss unbedingt gesund werden, für meinen Papa. Er ist nämlich sehr unglücklich.«

Fee erwiderte den Blick des Jungen fragend. »Unglücklich?«

»Ja, meine Mama ist letztes Jahr gestorben, hier in dieser Klinik. Seitdem ist Papa sehr unglücklich.«

»Und du? Ich nehme an, du vermisst deine Mama.«

Hannes nickte. »Ja, ich hab sie sehr lieb gehabt. Sie war immer lustig. Und sie konnte so schön singen. Und wenn ich mich abends ins Bett gelegt habe, dann hat sie mir einen Kuss gegeben. Sie roch nach Veilchen. Und sie sagte: ›Die Engel wachen über dich, Hannes.‹. Das hab ich mir gemerkt.«

Fee lächelte. »Das ist schön. Und jetzt wacht deine Mama über dich. Sie schaut von ihrer Wolke herunter und gibt Acht, dass dir nichts Schlimmes geschieht.«

»Wirklich? Sitzt sie denn auf einer Wolke?«

»Ganz bestimmt. Im Himmel gibt es viele Wolken.«

Hannes lachte leise. »Aber die bestehen ja nur aus Wasserdampf. Sie würde runterfallen …«

»Ich glaube, im Himmel bestehen sie aus weicher Watte, und man sitzt sehr bequem darauf, so wie auf einem dicken Federbett.«

Der Junge wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Doch allein die Vorstellung schien ihm zu gefallen, denn bevor Fee sein Krankenzimmer verließ, sagte er: »Das merke ich mir. Und wenn ich das nächste Mal draußen spiele, winke ich ihr zu!«

»Ja, das solltest du tun …« Sie kehrte in ihr Büro zurück und verglich die Vitalwerte ihres kleinen Patienten mit denen des Vortages. Die Medikation schien anzuschlagen, Hannes’ Zustand war stabil. Doch das konnte sich jederzeit ändern. Es kam nun darauf an, die Myokarditis schnellstmöglich auszuheilen, damit der mikrochirurgische Eingriff vorgenommen werden konnte. Es war ein Rennen mit der Zeit, dessen Ausgang ungewiss blieb …

Gegen Mittag erschien Thomas Sander auf der Kinderstation. Er hatte es an diesem Tag nicht geschafft, sich auf seinen Unterricht zu konzentrieren, und die Nachmittagskurse ausfallen lassen. Dr. Bayer, der Direktor, hatte Verständnis gezeigt und Thomas sogar eine Vertretung angeboten. Angesichts der Tatsache, dass diese jedoch von Dr. Pauls übernommen werden sollte, hatte der junge Lehrer dankend verzichtet.

Thomas war blass, wirkte übernächtigt, gab sich aber große Mühe, Hannes ganz normal gegenüber zu treten.

»Wie geht es dir?«, fragte er als Erstes.

»Schon besser. Frau Dr. Norden sagt, ich werde bald wieder gesund sein. Du musst dir keine Sorgen machen, Papa. Hast du an meine Aufgaben gedacht?«

»Tut mir leid, die habe ich vergessen. Aber ich bringe sie dir morgen mit, versprochen.«

»Ist nicht so wichtig, wenn ich mal einen Tag versäume. Das hole ich leicht wieder auf«, versicherte der Bub ihm. »Und was gibt’s Neues in der Schule? Was machen deine Streber?«

Thomas seufzte. »Ich fürchte, ich habe heute geschwänzt.«

»Du?« Hannes lachte. »Aber du bist doch der Lehrer!«

»Auch Lehrer können mal schwänzen. Mir war heute einfach nicht nach Schule. Ich wollte bei dir sein.«

»Das ist schön. Liest du mir was vor?«

»Gerne.« Thomas nahm eines der Abenteuerbücher, die sein Sohn so gern mochte, und begann vorzulesen.

Bald hatte Hannes sich ganz in die Welt des kleinen Marcel hinein geträumt, der zusammen mit seinen Eltern über den Atlantik segelte und dabei viel Ungewöhnliches erlebte. Thomas merkte, dass die Geschichte auch ihn ein wenig ablenkte und entspannte.

Als sich eine Hand sacht auf seine Schulter legte, blickte der junge Mann überrascht auf und in das lächelnde Gesicht von Sandra. Er wollte etwas sagen, doch sie schüttelte leicht den Kopf und wies auf Hannes, der eingeschlafen war.

Sie verließen leise das Krankenzimmer, Sandra schlug vor: »Gehen wir eine Kleinigkeit essen. Ich habe heute auch noch nichts Gescheites in den Magen bekommen. Im Erdgeschoss gibt es ein kleines Bistro, das ganz einladend aussieht.«

Thomas zögerte, stimmte dann aber doch zu.

»Wie geht es Hannes?«, fragte Sandra, als sie bei appetitlich belegten Baguettes und einem Glas leichten Weißen beisammen saßen. »Hast du mit den Ärzten gesprochen?«

Er nickte. »Frau Dr. Norden behandelt Hannes im Moment. Sie sagt, sein Zustand ist stabil. Aber es wird eine Weile dauern, bis die Entzündung ausgeheilt ist. Und dann steht ihm ja noch der Eingriff bevor.«

»Er wird also länger hierbleiben müssen.«

»Es sieht so aus.«

»Kannst du das schaffen?« Sie schaute ihn offen an. »Diese doppelte Belastung, meine ich.«

»Ich habe mit Dr. Bayer gesprochen, er hat vorgeschlagen, meine Kurse an Pauls zu geben, vertretungsweise.«

»Nein!« Sandra schüttelte spontan den Kopf. »Das kannst du deinen Schülern nicht antun, Thomas.«

»Will ich auch nicht, deshalb habe ich abgelehnt. Aber ich weiß auch noch nicht, wie das in nächster Zeit werden wird. Ich hatte heute ziemliche Schwierigkeiten, mich auf den Unterricht zu konzentrieren. Ich möchte niemandem den Abschnitt versauen, verstehst du?«

»Deine Schüler lieben dich. Und sie hassen Pauls.«

»Hm, das ist ein Argument.«

»Du solltest versuchen, zumindest die wichtigen Kurse zu halten. Der Unterricht wird dich ein bisschen ablenken und deinem Alltag Struktur geben.«

Thomas seufzte leise. »Ich mute dir ziemlich viel zu, nicht wahr? Bist du es nicht leid, immer nur die gute Samariterin zu spielen? Ödet dich das nicht an?«

»Wir sind Freunde«, erinnerte sie ihn langmütig. »Freunde sind füreinander da, vor allem, wenn es hart auf hart geht.«

»Ach, Sandra, du bist zu gut für diese Welt.«

»Ich weiß. Wenn ich heimkomme, klettere ich wieder auf meinen Sockel«, scherzte sie halbherzig.

»Weißt du, dass Hannes ein schlechtes Gewissen mir gegenüber hat? Das ist doch verrückt. Ich habe die ganze Zeit seit Ilkas Tod versucht, für ihn da zu sein, ihm Halt zu geben. Und nun zeigt sich, dass er mich völlig durchschaut hat. Er kann mir ins Herz sehen, Sandra, und er will alles tun, damit ich nicht wieder Kummer habe. Ich fühle mich so mies.«

»Dazu besteht nicht der geringste Grund. Du bist ein guter Vater. Hannes weiß das. Deshalb möchte er dir ja auch nur Freude machen.«

»Denkst du wirklich?«

»Das weiß ich. Du bist nämlich ein guter Mensch, Thomas. Mit sehr viel Tiefgang. Etwas ganz Besonderes.«

»Willst du vielleicht erreichen, dass ich eingebildet werde?«

Sie lachte leise. »Das werde ich nicht schaffen, niemals.« Behutsam legte sie eine Hand auf seine und drückte sie leicht.

Thomas lächelte ihr angedeutet zu. »Danke. Für den Trost und das Essen. Ich fühle mich schon sehr viel besser.«

»So soll es sein. Dafür hat man schließlich Freunde.«

*

»Herrn Sanders Sohn liegt auf deiner Station?« Dési Norden sah ihre Mutter mit einer Mischung aus Erstaunen und Mitleid an. »Aber er hat doch schon seine Frau verloren. Das war ganz furchtbar für ihn. Wir haben alle versucht, ihn ein bisschen aufzurichten und ihm zu helfen. Er ist ein sehr sensibler Mensch. Und er hängt unheimlich an Hannes. Was hat er denn?«

Daniel Norden bedachte seine Tochter über den Frühstückstisch hinweg mit leisem Tadel. »Schweigepflicht. Schon mal gehört?«

Désis Zwillingsbruder Janni hob die Schultern. »Ist mir auch lieber, ihr redet nicht darüber. Ich mag solche Sachen beim Essen nicht, dabei vergeht mir der Appetit.«

»Aber du hast den Sander doch auch gemocht«, erinnerte Dési ihn. Sie und ihr Bruder hatten das Abitur bereits in der Tasche, doch die Schulzeit lag noch nicht lange zurück für sie, die Erinnerungen waren noch frisch.

»Klar, er ist ein toller Lehrer.« Janni schob seine Hornbrille gravitätisch zurecht und gestand: »Er hat es nicht nur geschafft, mich mit Lyrik zu versöhnen, seit dem Kursus in der Zwölften bei ihm liebe ich sogar Rilke. Aber nicht weitersagen!«

Dési grinste frech, sie konnte es sich nie verkneifen, ihren Bruder aufzuziehen. »Du solltest das weitersagen. Es macht bestimmt Eindruck auf die Damenwelt …«

»Dési …« Fee Norden schüttelte leicht den Kopf. »Dein Bruder ist ein wunderbarer Mensch, der eine Menge zu geben hat. Auch wenn er keine Gedichte rezitiert.«

»Ob die Mädchen das auch so sehen?«

»Hört auf mit dem Unsinn«, bat Daniel Norden und erhob sich. »Liebes, wir müssen los. Und ihr beide vertragt euch bitte.«

Das Mädchen hob die Schultern. »Wir gehen uns aus dem Weg. Sicher ist sicher …«

Auf der Fahrt zur Behnisch-Klinik sinnierte Dr. Norden: »Ob unsere beiden Jüngsten wohl jemals erwachsen werden?«

Fee seufzte. »Hoffentlich noch lange nicht.«

»Jetzt ist mir auch klar, wieso Thomas Sander mir so bekannt vorgekommen ist. Wir haben ihn bei der Abifeier kennengelernt.«

»Dési sagte, seine Frau sei vor einem Jahr gestorben.«

»Ilka Sander, ich erinnere mich dunkel an den Fall. Der Kollege Hartmann hat sie behandelt. Als das erste Karzinom entdeckt wurde, hatte es bereits gestreut. Es war nichts zu machen, leider einer dieser hoffnungslosen Fälle, die kein Mediziner einfach so hinnehmen kann. Die Behandlung kam zu spät und hat nicht mehr greifen können.«

»Eine böse Geschichte. Hannes ist sehr tapfer, er will seinem Vater keinen Kummer machen. Der Junge ist erstaunlich.«

»Besondere Umstände formen oft früh den Charakter«, sagte Daniel. »Sie können eine zarte Kinderseele aber auch zerbrechen, das ist ein dünner Grat.«

»Wir wollen alles tun, um den Jungen zu heilen.«

»Das tun wir doch immer, mein Schatz.« Dr. Norden liebte seine Frau unter anderem für die warme Anteilnahme, die sie auch nach vielen Berufsjahren noch spontan entwickeln konnte. Für ihn war sie nicht nur das Idealbild einer Frau, sondern auch das Idealbild einer Ärztin. Er küsste sie zärtlich und wünschte ihr dann einen erfolgreichen Tag.

»Wir sehen uns bei der Visite, ich schaue heute mal wieder auf der Pädiatrie vorbei«, versprach er, bevor sie sich trennten.

Als Klinikchef hatte Dr. Norden nicht nur medizinische Pflichten, er musste sich auch um die Verwaltung des Hauses kümmern und sich mehr als einmal mit sturen Erbsenzählern auseinander setzen, denen Ausgaben wichtiger waren als Heilerfolge. Eine Balance zu finden zwischen ärztlicher Berufung und kommerzieller Vernunft war nicht gerade einfach. Und Daniel Norden entschied sich, wenn es darauf ankam, stets für seine Aufgaben als Mediziner und seine Verpflichtung den Patienten gegenüber. Die stand für ihn an erster Stelle.

Als er gegen Mittag die Stationsärzte der Pädiatrie bei der Visite begleitete, hatte Fee bereits einen Notfall hinter sich.

Kurz nachdem sie ihren Dienst angetreten hatte, war es Hannes Sander plötzlich sehr viel schlechter gegangen. Der Junge hatte hohes Fieber bekommen, seine Herzleistung war so weit herabgesetzt, dass er lange nicht bei Bewusstsein gewesen war.

Es war Fee gelungen, ihn zu stabilisieren. Doch sein Zustand war nach wie vor ernst.

»Wie sind seine Werte?«, fragte Daniel sie.

Fee reichte ihm ein Tablet mit den aktuellen Vitalwerten.

»Er ist stabil, aber auf niedrigem Niveau«, konstatierte ihr Mann. »Es ist gut, dass du das Fieber senken konntest. Trotzdem scheint die Entzündung weiter fortzuschreiten.«

»Ich werde die Medikation ändern«, beschloss Fee Norden.

»Tu das. Und halte mich bitte auf dem Laufenden.«

Sie versprach es und kehrte nach der Visite noch einmal zu Hannes zurück, um ihn gründlich zu untersuchen. Sein Zustand war noch immer nicht wirklich gut, auch wenn er nun wieder bei Bewusstsein war und behauptete: »Ich fühle mich schon besser, Frau Doktor. Wann werde ich operiert?«

»Damit müssen wir noch ein bisschen warten. Die Entzündung sollte zuerst abheilen, verstehst du?«

Hannes wirkte ein wenig enttäuscht.

Fee fragte sich, ob er wirklich so versessen auf den Eingriff war, ober ob er nur unbedingt so schnell wie möglich gesund werden wollte, um seinem Vater keinen weiteren Kummer zu bereiten.

Dachte man an die Vorgeschichte, erschien die zweite Möglichkeit recht wahrscheinlich.

»Ich wünschte, ich hätte es schon hinter mir«, murmelte Hannes nun bekümmert.

»Du musst keine Angst vor dem Eingriff haben«, versicherte Fee ihm einfühlsam. »Es ist wirklich keine große Sache, fast so, als ob man ein Pflaster auf eine Wunde klebt, damit sie heilen kann. Nur dass wir dieses Pflaster eben in deiner Brust aufkleben.«

»Weiß mein Vater das?«

»Natürlich. Wir haben ihm alles erklärt.«

Hannes atmete ein wenig auf. »Dann macht er sich bestimmt keine Sorgen mehr, so ein Glück!«

Dass es aber doch nicht ganz so einfach war, begriff Hannes, als sein Vater ihn am Nachmittag besuchen kam.

»Frau Dr. Norden sagt, die Operation ist gar nicht schlimm«, versicherte er. »Nur so, als ob man ein Pflaster aufklebt.«

»Hat sie das tatsächlich gesagt?«, wunderte Thomas sich.

»Ja, und dass ich dann wieder ganz gesund bin.«

»Das ist schön.« Er reichte seinem Sohn ein Heft. »Hier sind deine Hausaufgaben. Wenn du magst, nehme ich sie nachher mit.«

»Okay, ich mache sie gleich.«

Thomas wartete geduldig, bis Hannes fertig war, beantwortete ihm auch die eine oder andere Frage und lobte ihn dann.

»Das hast du schnell und richtig gut hingekriegt. Deine Lehrerin wird zufrieden sein.«

»Aber du bist nicht zufrieden, oder?« Der Junge schaute seinen Vater bekümmert an. »Du bist doch böse auf mich.«

»Nein, Hannes, ich mache mir Sorgen, das ist normal.«

»Aber das sollst du nicht! Frau Dr. Norden sagt …«

»Sie mag eine gute Ärztin sein, eine Hellseherin ist sie aber nicht. Und es ist so, dass man sich immer um seine Kinder sorgt, das wirst du selbst erleben, wenn du mal Vater bist.«

Hannes hob die schmalen Schultern. »Wenn man sich da immer Sorgen machen muss, werde ich vielleicht nicht Vater.«

»Na, mal abwarten …«

»Kannst du nicht mal Susi mitbringen? Ich vermisse sie.«

»Tut mir leid, Hunde sind hier nicht erlaubt. Aber ich habe was anderes, darüber wirst du dich vielleicht auch freuen …« Er reichte Hannes sein Smartphone, auf dem er ein kurzes Video mit dem Hund aufgenommen hatte. Susi schaute in die Kamera, bellte und knackte ihre Kroketten. Hannes lachte, dann aber wurde seine Miene traurig. Vielleicht war das Video doch keine so gute Idee gewesen.

»Wenn es dir besser geht und du in den Klinikpark darfst, bringe ich Susi mit«, versprach Thomas seinem Sohn beim Abschied.

Hannes nickte eifrig. »Das dauert bestimmt nicht mehr lange!«

*

Am nächsten Tag hatte Hannes wieder hohes Fieber, sein Vater durfte ihn nicht besuchen. Und so ging es noch eine Weile, bis Thomas Fee Norden vorwarf, nichts für seinen Sohn zu tun.

»Es geht ihm immer schlechter. Das ist doch nicht normal!«, beschwerte er sich. »Sie haben gesagt, die Entzündung im Herzen wird abheilen. Davon kann ja wohl keine Rede sein!«

»Sie müssen Geduld haben, Herr Sander«, mahnte Fee ihn. »Der Allgemeinzustand Ihres Sohnes ist durch seinen Herzfehler geschwächt, es dauert …«

»Aber er hatte diesen Herzfehler doch von Geburt an«, fiel er ihr aufgebracht ins Wort. »Wieso ist das plötzlich so wichtig? Und was hat das Eine überhaupt mit dem Anderen zu tun? Ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie mich nur hinhalten. Und dass Sie hier an meinem Sohn herumstümpern!«

»Dann ist Ihr Eindruck falsch«, widersprach sie ihm mit ruhiger Stimme. »Wir wissen sehr wohl, was zu tun ist. Leider ist der menschliche Körper keine Maschine, an der man nur ein paar Schrauben austauschen muss, damit sie wieder rundläuft. Bei einer Erkrankung und einem Heilungsprozess spielen viele Faktoren eine Rolle. Der Herzfehler Ihres Sohnes hat ihn bislang sehr wohl eingeschränkt. Leider ist das von Ihrem Hausarzt aber nicht erkannt worden, sonst hätten wir den Eingriff schon sehr viel früher durchführen können.«

Thomas senkte den Blick. Die besonnene Antwort der Ärztin kühlte seine heiße Wut und machte ihm zudem deutlich, dass er mit ihr die Falsche attackiert hatte.

»Es tut mir leid, ich … wollte Ihnen keine Vorwürfe machen. Es ist nur, ich fühle mich so hilflos. Hannes leidet. Und da ist nichts, was ich tun kann, um ihm zu helfen.«

»Das ist der schlimmste Zustand für Eltern, ich weiß. Und ich kenne ihn zudem aus eigener Erfahrung. Glauben Sie mir, Herr Sander, hier wird alles für Ihren Sohn getan, was möglich ist. Sie müssen einfach ­Geduld haben. Gehen Sie jetzt heim. Sobald Hannes wieder Besuch haben darf, gebe ich Ihnen Bescheid, darauf können Sie sich verlassen.«

Er zögerte kurz, nickte dann und murmelte: »Danke, Frau Dr. Norden, vor allem für Ihr Verständnis.«

Thomas verließ die Behnisch-Klinik und fuhr zur Schule. Er kam noch gerade recht zum Nachmittagsunterricht. Als er seinen Klassenraum ansteuerte, prallte er in der offenen Tür allerdings mit Dr. Pauls zusammen. Der zog die Tür rasch hinter sich zu, dirigierte den jungen Kollegen ein Stück zurück und fragte ihn dann mit leiser Ironie: »Was, denken Sie, tun Sie hier?«

Thomas schob Dr. Pauls Rechte von seinem Arm und erwiderte kühl: »Ich bin auf dem Weg zu meiner Klasse. Haben Sie damit vielleicht ein Problem?«

»Ich nicht, andere schon. Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Sie unterrichten hier nicht mehr.«

Thomas bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick und wollte wissen: »Soll das vielleicht ein Witz sein?«

»Hören Sie jemanden lachen? Wären Sie heute im Lehrerzimmer gewesen, wüssten Sie Bescheid. Aber das haben Sie ja nicht nötig. Ihre Privatangelegenheiten scheinen Ihnen wichtiger zu sein als Ihr Beruf. Und das hat sich endlich herumgesprochen.«

»Gehen Sie mir aus dem Weg, Pauls«, forderte Thomas ärgerlich. Eine Auseinandersetzung mit seinem Intimfeind war nun wirklich das Letzte, was er brauchen konnte.

»Ich denke nicht daran«, erwiderte der triumphierend. »Ich werde Ihren Kursus übernehmen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, um die Schüler, die schon viel zu lange ihrem verderblichen Einfluss ausgesetzt sind, auf den rechten Weg zurückzubringen. Ich werde mir jedenfalls alle Mühe geben!«

»Thomas, da bist du ja!« Sandra näherte sich ihnen.

»Gut, dass du noch kommst. Dr. Bayer war sich dessen nicht sicher und hat deshalb heute Vormittag gefragt, wer deinen Kursus eventuell heute übernehmen könnte.« Ihr Blick streifte knapp und abschätzig Martin Pauls. »Wäre aber nur dieses eine Mal gewesen, dass da keine Missverständnisse entstehen …«

»Okay, ich bin heute wieder da wie immer, kein Problem.«

Sandra schaute ihn aufmerksam an. »Wirklich?«

»Wirklich. Danke für die Info.« Er betrat das Klassenzimmer, ohne sich weiter um Dr. Pauls zu kümmern, und schloss die Tür vernehmlich hinter sich. Drinnen wurde Applaus laut.

Sandra bedachte den Kollegen mit einem ironischen Lächeln, der aber schnaubte verächtlich und riet ihr: »Freuen Sie sich nur nicht zu früh. Ihr Freund ist kein Pädagoge, er ist ein Stümper, der seine Unfähigkeit hinter zweifelhafter Kumpanei mit seinen Schülern zu verbergen sucht. Ich werde dafür sorgen, dass damit schon sehr bald Schluss ist!«

»Strengen Sie sich nur nicht an, mein Guter. Sie werden Thomas nichts am Zeug flicken können, dafür ist Ihre eigene Position an dieser Schule viel zu unsicher.«

Dr. Pauls hob irritiert eine Augenbraue und wollte wissen: »Was soll denn das wieder heißen?«

Sandra lachte leise. »Auf gut Deutsch: Niemand kann Sie leiden. Also hören Sie lieber auf, ständig an Ästen zu sägen. Ihr eigener könnte nämlich auch darunter sein …«

*

Eine Woche verging, ohne dass Thomas seinen Sohn in der Behnisch-Klinik besuchen konnte. Hannes’ Zustand hatte sich dramatisch verschlechtert. Die Medikation, mit der Fee Norden experimentierte, und die sie täglich neu anpasste, griff allmählich, die Entzündung des Herzmuskels ging zurück. Hannes war fieberfrei, aber so schwach, dass er die meiste Zeit schlief oder in einem Zustand zwischen Wachen und Schlaf vor sich hin döste. Fee informierte ihren Mann regelmäßig über den Zustand des kleinen Patienten, der Chefarzt engagierte sich und arbeitete einmal mehr Hand in Hand mit seiner besseren Hälfte.

Als Daniel Norden seiner Frau gegenüber andeutete, dass es vielleicht sinnvoll wäre, Hannes auf Intensiv zu legen, zeigte sich aber, dass dies einer der seltenen Fälle war, in dem sie nicht einer Meinung waren.

»Ich finde, wir sollten ihn jetzt nicht verlegen. Wenn die Krisis kommt, möchte ich die direkte Option haben einzugreifen und die Medikation anzupassen. Du weißt doch, Dan, wie störend das Kompetenzgerangel zwischen den Station sein kann.«

»Du brauchst Handlungsfreiheit, ich verstehe. Aber damit gehst du auch ein Risiko ein, Liebling«, gab er zu bedenken. »Der Zustand des Jungen ist ernst. Es könnte jederzeit kurzfristig eine intensive Behandlung nötig werden. Ich weiß nicht, ob wir so weit ins Risiko gehen und das Leben des Patienten aufs Spiel setzen sollten …«

Fee wollte etwas erwidern, als sie einen Schatten bemerkte, der sich hinter der halb geschlossenen Tür zu ihrem Büro abmalte. Sie stutzte, machte ein paar Schritte nach vorn und zog die Tür mit einem Ruck auf. Davor stand Thomas Sander, weiß bis in die Haarwurzeln. Unglaube zeichnete seinen Blick, Bitterkeit sprach aus seinen Worten, als er sie beschuldigte: »Sie haben mich belogen, die ganze Zeit! Hannes wird sterben. Und daran können Sie nichts ändern, ich habe es ja gewusst!«

»Herr Sander, was tun Sie hier?«, fragte Daniel Norden den jungen Lehrer sachlich.

»Ich wollte mit Ihrer Frau sprechen, weil ich es nicht mehr ertrage, nur zu warten, meinen Sohn nicht sehen zu dürfen. Aber jetzt sehe ich, dass alles umsonst ist. Ich hätte mir den Weg sparen können, denn Sie haben Hannes ja aufgegeben!«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Fee ihm vehement.

»Sie können nicht aus Wortfetzen auf etwas schließen, die völlig aus dem Zusammenhang gerissen sind«, unterstrich Daniel.

»Ich habe genug gehört.« Thomas deutete mit dem Finger auf sein Gegenüber und spuckte jedes Wort aus: »Bemühen Sie sich nicht, mir weiter Sand in die Augen zu streuen! Ich weiß jetzt endgültig Bescheid, was hier geschieht; nämlich gar nichts!«

»Herr Sander, bitte …«

»Ich werde jetzt zu meinem Sohn gehen. Wollen Sie mich vielleicht auch noch daran hindern?«

»Sie können Hannes nicht besuchen, er …«

»Das werden wir ja sehen!« Er stürmte aus dem Raum, die Nordens wechselten einen betretenen Blick und folgten ihm dann.

Thomas eilte über den Klinikflur und riss die Tür zum Krankenzimmer seines Sohnes auf. Er wollte zu Hannes, koste es, was es wolle. Doch als er seinen Sohn dann in dem sterilen Klinikbett wie leblos liegen sah, krampfte sich in seinem Innern alles zusammen. Plötzlich umfing ihn eine andere Realität.

Da stand er wieder an Ilkas Bett, ein letztes Mal, um sich endgültig zu verabschieden. Die Ärzte hatten alle medizinischen Geräte entfernt. Blass und still wie ein Engel lag seine Frau dort, direkt vor ihm, aber doch unendlich weit entfernt. Er schaffte es nicht, ihre kühle, porzellanweiße Hand zu berühren.

»Herr Sander, bitte …« Als Dr. Norden eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr Thomas herum, starrte den Chefarzt einen Moment lang verwirrt und verängstigt an und rannte dann aus dem Zimmer, so schnell er nur konnte. Fee Norden trat an das Bett ihres kleinen Patienten, kontrollierte seinen Zustand und verließ dann zusammen mit ihrem Mann ebenfalls den Raum.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte sie bekümmert. »Der Zustand des Kindes ist für einen Laien erschreckend. Und Thomas Sander ist mehr als vorbelastet.«

»Vielleicht sollten wir noch mal in Ruhe mit ihm reden.«

»Ich weiß nicht. Wir lassen ihm besser Zeit, sich zu beruhigen. Erzwingen können wir nichts.«

Daniel Norden wirkte unschlüssig. »Ich mache mir Sorgen um den Mann, er war in einem schrecklichen Zustand.«

*

Sandra Buchmann hatte an diesem Nachmittag frei und wollte Thomas besuchen. In den vergangenen Tagen war es ihm ziemlich schlecht gegangen, obwohl er sich große Mühe gegeben hatte, sich dies nicht anmerken zu lassen. Doch Sandra kannte ihn gut genug, um zu ahnen, wie es in seinem Herzen aussah.

In der Schule war eine gewisse Ruhe eingekehrt, Thomas erschien wieder regelmäßig zum Unterricht und hatte Dr. Pauls damit die Grundlage für seine Sticheleien entzogen. Sandra war aber trotzdem überzeugt, dass der alte Stinkstiefel weiter im Verborgenen sein Gift verspritzte. Er konnte wohl nicht anders.

Die junge Kunsterzieherin wollte Thomas ein wenig aufheitern und von seinen Sorgen ablenken. Darin hatte sie immerhin eine gewisse Übung. Vielleicht konnten sie Hannes ja in den nächsten Tagen gemeinsam besuchen. Sie wusste, dass Thomas in der Behnisch-Klinik hatte vorbeischauen wollen, und hoffte, dass er gute Neuigkeiten mitbrachte. Als Sandra dann bei dem jungen Kollegen klingelte, tat sich nichts.

Sie vermutete, dass er sich noch bei Hannes aufhielt, nahm den Schlüssel zur Wohnung, den sie schon lange für Notfälle in ihrer Handtasche hatte, und schloss auf. Bis Thomas heimkam, würde sie …

Sandra wunderte sich, dass Susi ihr wie ein Pfeil in der Diele entgegenkam. Die Hündin ignorierte sie, was so gar nicht ihrem freundlichen Naturell entsprach, und hatte im nächsten Moment die Wohnung verlassen. Was mochte das zu bedeuten haben?

Sandra schaute in die Küche, ins Wohnzimmer. Thomas schien nicht hier zu sein. Es miefte gehörig in der Wohnung, weshalb sie die Küchenfenster weit aufmachte. Dann warf sie noch einen Blick ins Schlafzimmer – und meinte, ihren Augen nicht trauen zu können. Thomas war durchaus zu Hause. Er lag angezogen auf dem Bett, schnarchte leise und hielt eine geleerte Flasche Wodka im Arm. Der Alkoholdunst erfüllte den Raum so intensiv, dass Sandra schlucken musste. Sie ging hinüber zum Fenster und öffnete es.

Thomas merkte nichts davon. Mit einem Seufzer trat sie neben ihn, rüttelte ihn an der Schulter. Er gab nur ein undefinierbares Brummen von sich und schnarchte dann weiter.

In diesem Moment wurde an der Wohnungstür geklingelt. Es war die Hausmeisterin, eine korpulente, energische Person, die Susi am Halsband führte und sich lautstark beschwerte: »Sie, Fräulein, das geht fei net! Wir sind da ein ordentliches Haus und kein Saustall net! Dass Ihr Zamperl einfach in mein sauberes Treppenhaus eini pieselt, kann ich net dulden! Einmal passiert das noch, dann werde ich’s der Hausverwaltung melden müssen!«

»Es tut mir sehr leid, Frau Moosgruber, es war ein Notfall«, versuchte Sandra, die aufgebrachte Hausmeisterin zu beruhigen, doch die lief nun erst zu großer Form auf. Während Susi sich mit eingeklemmter Rute an Sandra vorbei schlich und überaus unauffällig in ihrem Korb einrollte, ohne auch nur den leisesten Ton von sich zu geben, donnerte eine ganze Batterie urbayerischer Schimpfwörter auf die bedauernswerte junge Frau nieder, von der ›Sauhund‹ und ›Malefitz‹ noch die freundlichsten waren. Sandra atmete auf, als Frau Moosgruber von ihr abließ, nachdem sie versprochen hatte, Thomas ins Gewissen zu reden.

»Armer Hund«, murmelte sie, kraulte Susi die Ohren, die dabei probehalber ein klein wenig wedelte. »Dir ist wohl fast die Blase geplatzt, was? Kann passieren, war nicht deine Schuld.«

»Was ist denn hier los? Wo kommst du her?« Thomas stand in der offenen Schlafzimmertür, hielt sich den Kopf und murmelte: »Meine Zunge fühlt sich an wie ein Stück Radiergummi.«

»Kein Wunder, wenn du dich volllaufen lässt.« Sandra schüttelte nachsichtig den Kopf. »Musste das sein?«

Der junge Mann senkte den Blick und verschwand im Bad.

Sandra machte in der Küche ein wenig Ordnung, kochte einen starken Kaffee und stellte ein Wasserglas mit ein paar Pillen gegen Kopfschmerzen dazu.

Als Thomas auftauchte, wirkte er noch immer betreten.

»Was war los? Es muss ja wohl einen Grund dafür geben, wenn du dermaßen abstürzt.« Sie erinnerte sich an ein einziges Mal, als sie Thomas in ähnlichem Zustand vorgefunden hatte. Das war direkt nach Ilkas Beerdigung gewesen. Er hatte keinen Hang zum Alkohol, musste schon extrem verzweifelt sein, wenn es dazu gekommen war. Sandras Vermutung sollte sich sogleich als richtig erweisen. Der junge Lehrer nahm zwei Pillen, trank von dem Kaffee und erzählte dann: »Ich bin zufällig dazu gekommen, als die Nordens sich über Hannes unterhalten haben. Sie … haben ihn aufgegeben. Offenbar betrachten sie ihn als hoffnungslosen Fall, können nichts mehr für ihn tun.«

»Wie kommst du zu der Einschätzung?«

»Weil ich es gehört habe. Die sagen einem doch nie die Wahrheit ins Gesicht, diese Ärzte. Sie belügen dich, machen dir falsche Hoffnungen. Aber wenn keiner sonst zuhört, sind sie ehrlich.«

»Glaubst du das wirklich?« Sandra wirkte skeptisch. »Auf mich haben sie beide einen aufrichtigen Eindruck gemacht. Und sie sind doch auch gute Ärzte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Hannes so einfach aufgeben. Vielleicht hast du ja was falsch verstanden. So was passiert, wenn man an Türen lauscht.«

»Ich weiß nicht … Es klang ziemlich hoffnungslos. Und als ich Hannes dann gesehen habe …«

»Du warst bei ihm? Ich dachte, er sollte keinen Besuch haben.«

»Ich bin einfach in sein Zimmer rein.« Er rieb sich die Stirn. »Das war falsch. Ich hätte mich auch nicht so aufführen sollen. Die Nordens tun sicher ihr Bestes. Aber als ich an Hannes’ Bett gestanden habe, da … da war plötzlich alles wieder da, dieses schreckliche letzte Jahr und …«

Sandra legte ihre Hände auf die von Thomas und schaute ihn offen an. »Niemand kann dir das verübeln. Ich bin sicher, die Nordens verstehen es. Es ist jetzt sehr schwer für dich. Aber du darfst die Hoffnung nicht verlieren. Du musst daran glauben, dass Hannes gesund wird.«

»Wenn du ihn gesehen hättest, so blass, wie leblos …«

»Deshalb solltest du dich an das halten, was seine Ärztin sagt. Warte ab, bis es ihm besser geht. Es hat keinen Sinn, etwas erzwingen zu wollen.«

Thomas seufzte tief, dann drückte er Sandras Hände und lächelte ihr verhalten zu. »Ich danke dir, für alles.«

»Keine Ursache, gern geschehen.«

»Kann ich dir denn nicht auch mal was Gutes tun? Ich stehe schon so tief in deiner Schuld …«

»Gehen wir eine Runde mit Susi, das hat sie verdient, das arme Mädchen.« Sandra erzählte, was passiert war, und Thomas verdrehte die Augen.

»Die Moosgruberin, auch das noch! Ich sage dir was, Sandra, ich rühre keinen Tropfen Alkohol mehr an.«

Die junge Frau lächelte. »Ein guter Vorsatz. Bleib dabei!«

*

»Das ist eine infame Gemeinheit. Sie sollten sich was schämen!« Sandra Buchmann starrte Dr. Pauls empört an. »Haben Sie eigentlich überhaupt keinen Anstand? Thomas Sander muss um das Leben seines Kindes bangen. Und Ihnen fällt nichts weiter ein, als ihn hier vor versammelter Mannschaft schlecht zu machen!«

»Beruhigen Sie sich, Frau Kollegin«, bat Dr. Waldemar Bayer begütigend. »Es hat wenig Sinn, auf dieser unsachlichen Ebene zu diskutieren.«

»Und welchen Sinn haben die ewigen Attacken, die der Kollege Pauls gegen Thomas Sander reitet?«

»Das sind keine Attacken. Aber einer muss sich ja darum kümmern, dass die Dinge hier einmal gerade gerückt werden.« Martin Pauls lächelte süffisant. »Ihr persönliches Interesse an dem Herrn Kollegen in allen Ehren, mir geht es lediglich um das Lernpensum und die Auf­rechterhaltung des Niveaus, das unsere humanistische Bildungsanstalt schon seit jeher auszeichnet. Mit Exkursen und literarischen Kreisen in der Freizeit ist da wenig gewonnen. Ich behaupte, dass die Kurse des Kollegen Sander weit hinter dem Lehrplan her hinken. Und jetzt, da er ständig fehlt, sind die Lücken noch eklatanter geworden. Hier, zum Beweis habe ich einige Mails ausgedruckt, die von besorgen Eltern stammen.«

»Die haben Sie nicht zufällig selbst geschrieben?«

Dr. Pauls bedachte Sandra mit einem eisigen Blick. »Das habe ich nicht nötig. Die Empörung in der Elternschaft über die schlampigen Methoden Ihres Don Juan ist echt. Sie können gern den Sprecher des Elternbeirates befragen. Jeder, der noch bei klarem Verstand ist, wird sich meiner Meinung anschließen. Es wird allerhöchste Zeit, dieses Subjekt ein für alle Mal aus dem Lehrbetrieb zu entfernen!«

»Sie gehen zu weit, Herr Kollege«, mahnte der Direktor. »Solche Entscheidungen werden im Bildungsministerium gefällt, nicht auf Schulebene. Ganz davon abgesehen, dass ich Ihre Vorwürfe für übertrieben halte. Herrn Sanders Kurse sind durchaus auf dem gleichen Niveau wie die Ihren. Ich sehe keinen Grund, dem Kollegen etwas vorzuwerfen. Das einzige Problem sind seine gehäuften Fehlzeiten.«

»Sie kennen den Grund dafür, Herr Dr. Bayer«, mahnte Sandra.

»Sicher. Ich habe auch alles Verständnis für seine Lage. Aber ich muss mich um die Belange der Schule kümmern. Hier muss alles seinen Lauf nehmen. Deshalb schlage ich vor, dass wir bei der bereits getroffenen Übergangsregelung bleiben. Solange Herr Sander oft fehlt, wird der Kollege Pauls seine Kurse übernehmen.«

Damit war die Lehrerkonferenz beendet. Martin Pauls verließ mit stolzgeschwellter Brust das Lehrerzimmer, während Sandra sich noch einmal an den Direktor wandte und ihn bat: »Geben Sie Pauls nicht zu viele Kompetenzen. Er wird das nur ausnutzen.«

»Es tut mir leid, Frau Kollegin, ich habe im Moment keine andere Option. Dr. Pauls ist der Einzige, der diese Kurse übernehmen kann. Und wir gehen ja wohl alle davon aus, dass es nur eine Interimslösung sein kann.«

»Sagen Sie das den Schülern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie von dieser Regelung sehr begeistert sein werden …«

Sandra machte sich wenig später auf den Weg zu Thomas. Der hatte sich wieder halbwegs gefangen, wohl auch, weil er seit ein paar Tagen Hannes besuchen durfte. Er verbrachte nun meist den ganze Tag in der Behnisch-Klinik und erschien nicht in der Schule. Die junge Frau beschloss, mit ihm darüber zu reden, was hinter seinem Rücken vorging. Sie konnte und wollte nicht tatenlos zusehen, wie Martin Pauls versuchte, Thomas aus seinem Job zu drängen.

Auf direktem Weg hatte sie nicht wirklich etwas erreicht. Thomas musste wieder öfter zum Unterricht erscheinen, das war die einzige Möglichkeit, diesem Intriganten ein für alle Mal den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Auf Sandras Klingeln öffnete Thomas und ließ sie wissen: »Ich wollte gerade zur Behnisch-Klinik fahren.«

»Warst du mit Susi draußen? Oder soll ich …«

»Nicht nötig, wir waren zwei Stunden an der Isar.« Er lächelte schmal. »Wir erarbeiten uns ein paar Pluspunkte bei der Moosgruberin.«

Sandra schmunzelte. »Kann nicht schaden. Ich würd aber gerne noch kurz etwas mit dir besprechen. Es dauert nur fünf Minuten, versprochen.«

»Okay, trinken wir einen Kaffee zusammen.«

Als das aromatische Getränk dann in den Bechern dampfte, sagte Sandra: »Du musst wieder regelmäßig zum Unterricht kommen, Thomas. Pauls ist dabei, die ganze Elternschaft gegen dich aufzuhetzen. Wenn du das einfach so weiterlaufen lässt, hat er dich in ein paar Wochen aus dem Job gedrängt.«

Hatte sie Empörung erwartet, Sandra wurde enttäuscht. Thomas nahm diese Neuigkeiten mit erstaunlicher Gelassenheit auf, so als ginge ihn das überhaupt nichts mehr an. Sie konnte das absolut nicht verstehen.

»Wenn es den alten Stinkstiefel glücklich macht, soll er doch. Ich habe im Moment keinen Kopf für den Unterricht. Damit würde ich niemandem einen Gefallen tun. Und Hannes braucht mich.«

»Willst du einfach so kapitulieren?«

»Dass ich Hannes besuchen kann, ist ein Entgegenkommen von Frau Dr. Norden. Es geht ihm nach wie vor schlecht. Wann er endlich operiert werden kann, das steht in den Sternen.« Er schaute sie intensiv an. »Ich könnte es mir niemals verzeihen, ihn jetzt im Stich zu lassen. Wenn ich mir einen neuen Job suchen muss, ist das eben nicht zu ändern. Notfalls fahre ich eben Taxi, das ist mir egal. Jetzt zählt nur Hannes.«

»Du hast auch eine Verpflichtung deinen Schülern gegenüber. Willst du sie diesem unsensiblen Pauker zum Fraß vorwerfen?«

»Ungern. Aber momentan kann ich nichts dagegen tun.«

Sandra seufzte mit bekümmerter Miene. Der junge Mann lächelte ihr aufmunternd zu und bat sie: »Nimm es doch nicht so schwer. Es geht immer irgendwie weiter. Und solange es eine Frau wie dich in meinem Leben gibt, wird mir so schnell nicht bange.«

»Das hast du schön gesagt. Ich wünschte nur …«

»Lass gut sein, Sandra. Manchmal muss man auch loslassen können. Ich habe das auf die harte Tour gelernt …«

*

»Wohin willst du?« Janni musterte seine Schwester fragend. »Du bist heute mit dem Abendbrot dran. Willst du dich etwa schon wieder davor drücken? Ich springe nicht noch mal ein!«

»Ich dachte, du hast was gegen Veggie-Aufschnitt und Vollkornbrot. Dann sei doch froh, dass du dir heute einen Burger kaufen kannst«, spöttelte Dési. »Ich fahre in die Klinik und hole Ma ab. Ich brauche dringend neue Klamotten.«

»Ihr geht shoppen? Und ich?«

Dési lachte perlend und betrachtete dabei ihren Bruder, der in den immer gleichen Motiv-Shirts und Jeans herumlief. »Wenn wir an einem Altkleider-Container vorbeikommen, werfe ich einen Blick für dich rein, versprochen!«

Janni verzog den Mund und murmelte dabei einige nicht ganz stubenreine Verwünschungen in seinen nicht vorhandenen Bart. Als die Haustür hinter seiner Schwester zuklappte, machte er sich in der Küche auf die Suche nach etwas Essbarem. Was immer es war, besser als Désis veganer Krampf würde es auf alle Fälle sein …

Fee Norden war noch bei einem Patienten, als ihre Tochter in die Klinik kam. Dési kannte das schon, Verabredungen einzuhalten war nicht unbedingt die Stärke ihrer Mutter. Sie plauderte ein wenig mit Schwester Gitta, dann erspähte sie Sandra Buchmann, die in der Besucherecke saß und las.

»Hi, Frau Buchmann«, sagte sie und gesellte sich zu ihrer ehemaligen Kunstlehrerin.

Sandra lächelte Dési freundlich zu. Sie hatte die Zwillinge gerne gemocht, denn beide waren kreativ und hatten ihren eigenen Kopf. »Dési, wie schön. Wie geht’s dir?«

»Gut. Und Ihnen?«

»Ich begleite Thomas Sander. Vielleicht hast du schon gehört, dass sein Sohn hier liegt.«

»Ja, meine Mutter behandelt ihn. Ich war ganz schön erschrocken, als ich das erfahren hab. Wo Herr Sander doch erst im letzten Jahr seine Frau verloren hat. Das muss schwer sein.«

Sandra nickte. »Ja, es ist sehr schwer für ihn. Er ist ein sensibler Mensch und hängt unglaublich an seinem Sohn.«

»Wenigstens hat er Sie. Und die Schüler stehen doch bestimmt immer noch hinter ihm wie ein Mann. Ich erinnere mich daran, wie der Deutsch-Leistungskurs mal eine spontane Feier zu seinem Geburtstag veranstaltet hat. Mit Torte und allem drum und dran. Er war total baff und hat sich unheimlich gefreut. So einen Lehrer kann man suchen …«

»Ja, da hast du allerdings recht. Aber ob Thomas noch lange Lehrer sein wird, steht leider in den Sternen.«

Dési stutzte. »Will er sich denn verändern?«

»Er will nicht, aber er wird es womöglich müssen.«

»Was hat denn das zu bedeuten? Wegen Hannes?«

Sandra erzählte dem Mädchen nun offen, was sich momentan am Albertinen-Gymnasium abspielte. Sie stand zwischen den Fronten, und es tat ihr einfach gut, mal mit einem Außenstehenden darüber zu reden.

Dési hörte ihr mit wachsendem Unmut zu.

»Der Pauls, dieser Miesling! Ich glaube, es gab noch nie einen Schüler an unserer Penne, der ihn leiden konnte. Nicht mal seine eigenen Kinder. Wissen Sie, dass die seine Kurse gemieden haben? Ja, doch, das war so. Aber dass er so gemein ist, das hätte ich nicht mal dem zugetraut. Da muss was passieren!«

»Ich habe mich schon ziemlich ins Zeug gelegt, leider sind dem Direktor auch die Hände gebunden. Solange Thomas ständig fehlt, kann Dr. Pauls einhaken. Und er stänkert immer weiter gegen einen Mann, der sich momentan einfach nicht wehren kann.«

Dési verzog den Mund. »Dagegen lässt sich doch was machen, ganz bestimmt …«

»Ich habe alles getan, was ich konnte«, versicherte Sandra dem Mädchen bekümmert. »Leider ohne durchschlagenden Erfolg.«

»Klar, als Lehrerin müssen Sie ja weiterhin mit Ihren Kollegen und dem Direx auskommen, das verstehe ich. Aber die Schüler sind da niemandem verpflichtet. Und eine ehemalige Schülerin wie ich erst recht nicht …«

»Woran denkst du, Dési?«, fragte Sandra gespannt.

In diesem Moment erschien Fee Norden und rief: »Da steckst du! Schwester Gitta sagte mir, dass du schon seit einer halben Stunde wartest. Wir können jetzt los.«

»Okay, aber der Klamottenkauf fällt flach, Ma. Ich habe momentan anderes im Kopf«, erklärte das Mädchen und erhob sich. »Keine Sorge, Frau Buchmann, das kriegen wir hin. Grüßen Sie Herrn Sander von mir!« Weg war sie.

Fee runzelte leicht die Stirn. »Habe ich was verpasst?«

»Das kann ich Ihnen auch nicht so genau sagen. Aber ich glaube, Ihre Tochter hat vor, Thomas Sander zu helfen. Ich habe ihr von den Schwierigkeiten erzählt, die ein Kollege ihm wegen der vielen Fehlstunden macht. Und sie meinte, dagegen müsse dringend etwas unternommen werden.«

»So, so.« Fee lächelte. »Na, dann weiß ich schon Bescheid …«

*

»Frau Dr. Norden, schnell, Hannes Sander ist kollabiert!« Schwester Gitta eilte ins Krankenzimmer des Jungen, Fee Norden folgte ihr auf dem Fuß, während Sandra Buchmann zutiefst erschrocken zurückblieb.

Auf dem Gang vor dem Zimmer seines Sohnes stand Thomas, kreidebleich und unfähig, sich zu rühren. Gerade eben hatten er und Hannes noch über die Lösung einer Matheaufgabe diskutiert, dann, von einer Sekunde zur nächsten war sein Sohn einfach nach hinten weggekippt und bewusstlos liegen geblieben. Bis jetzt wusste Thomas nicht, wie es ihm gelungen war, den Alarmknopf zu drücken und dann das Krankenzimmer zu verlassen, um den Ärzten Platz zu machen. Während diese sich drinnen um seinen Sohn bemühten, wankte der junge Lehrer zu einer der gegenüber stehenden Wartebänke und ließ sich schwer darauf sacken. Im letzten Moment, bevor seine Knie endgültig nachgaben. Mit einem tiefen Seufzen vergrub er das Gesicht in den Händen und fragte sich, ob dieser Wahnsinn denn nie ein Ende nehmen würde. Warum nur ging es Hannes nicht endlich besser, warum konnte er nicht endlich operiert werden? Warum war dies alles überhaupt passiert? Er fühlte sich schwach und hilflos einem ungnädigen Schicksal ausgeliefert, das es offenbar darauf anlegte, ihn endgültig in Grund und Boden zu stampfen.

Als sich behutsam eine Hand auf seinen Arm legte, blickte er in Sandras Gesicht, das ihn mitfühlend anschaute. Er sank in ihre Arme und murmelte: »Es ist ganz plötzlich passiert, ohne Vorwarnung. Was soll ich nur tun, wenn ich ihn jetzt verliere?«

»Die Ärzte sind bei ihm, sie werden ihm helfen«, antwortete die junge Frau automatisch. Doch zugleich spürte sie, wie hauchdünn der Trost geworden war, den ihre Worte Thomas noch spenden konnten. Ging es Hannes nicht bald zumindest ein wenig besser, dann würde er an dem neuerlichen Schicksalsschlag zerbrechen. Die Erinnerungen an Ilkas Tod waren in der Behnisch-Klinik auf beängstigende Weise präsent. Und da war nichts, woran Thomas sich noch halten, worauf er noch zurückgreifen konnte. Er war wie ein Mann im freien Fall, dessen Fallschirm sich einfach nicht öffnen wollte …

Nach einer gefühlten Ewigkeit verließ Fee Norden das Zimmer des kleinen Hannes und bat dessen Vater, sie in ihr Büro zu begleiten. Ihre ernste Miene verhieß nichts Gutes.

Thomas bat Sandra, mit ihm zu kommen. Er fühlte sich dem, was nun kam, einfach nicht mehr gewachsen.

»Es tut mir leid, Herr Sander, aber wir müssen Hannes noch heute auf Intensiv legen. Ich wollte diesen Schritt vermeiden, habe ihn deshalb so lange wie möglich hinaus gezögert. Aber jetzt ist es unumgänglich, dass Ihr Sohn intensiv behandelt und ständig beobachtet wird, um seinen Zustand zu stabilisieren.«

»Wieso ist er zusammengebrochen?«

»Die Entzündung des Herzmuskels verschlimmerte das Problem, das der Herzfehler bereitet. Das Ganze hat sich gegenseitig so weit hochgeschaukelt, dass es zu dem Kollaps kam. Er ist ein Indiz dafür, dass die Krisis der Erkrankung beinahe erreicht ist. Danach wird die Heilung endlich greifen. Und dann kann Hannes auch operiert werden.«

»Wird er das denn überstehen? Es ging ihm schon die ganze Zeit so schlecht. Aber wenn es noch schlimmer wird …«

»Wie gesagt, der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Erst danach ist mit einem Umschlag zum Besseren zu rechnen. Ich muss Sie einfach noch um ein wenig Geduld bitten.«

»Heißt das, ich kann Hannes wieder nicht sehen?«

»Solange er auf Intensiv liegt, nicht.«

Thomas nickte nur, sagte aber weiter nichts.

Ohne sich noch um Sandra oder Fee Norden zu kümmern, verließ er mit schlurfenden Schritten den Raum. Die junge Kunsterzieherin zögerte einen Moment, dann fragte sie die Kinderärztin offen: »Wird Hannes wirklich wieder gesund? Seit er hier ist, geht es ihm immer nur schlechter. Ich will Ihre Kompetenz nicht infrage stellen, Frau Doktor, aber Sie sehen doch selbst, wie sehr sein Vater leidet. Er braucht dringend etwas, woran er sich halten kann, zumindest einen ganz kleinen Fortschritt.«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Frau Buchmann. Glauben Sie mir, ich würde auch lieber nur positive Prognosen stellen. Leider ist das nicht immer möglich. Es wäre unehrlich und würde auch niemandem etwas nützen.«

»Er leidet so sehr, ich wünschte, ich könnte ihm irgendwie helfen. Aber das Einzige, was ihm helfen würde, wäre, wenn es Hannes endlich etwas besser ginge.«

»Daran arbeiten wir, das dürfen Sie mir glauben.«

Sandra verabschiedete sich wenig später per Handschlag von Fee Norden, die nun endlich auch in den längst überfälligen Feierabend gehen konnte.

In Gedanken noch bei ihrer Arbeit, kam Fee eine Weile später heim und wunderte sich über den appetitlichen Geruch. Als sie die Küche betrat, werkelten Daniel und Janni dort herum. Im Ofen schmurgelte ein Auflauf aus Nudeln, Tomaten, Käse und einer Handvoll italienischer Kräuter; Daniels Paraderezept für Notfälle. Damit hatte Fee nicht gerechnet, deshalb freute sie sich umso mehr.

»Ihr verwöhnt mich, ihr zwei«, stellte sie fest und verpasste Mann und Sohn einen dicken Kuss. »Ich danke euch.«

Daniel schmunzelte zufrieden. »Ich sollte öfter kochen …«

»Ich habe nicht viel gemacht«, gab Janni offen zu. »Nur ein bisschen geholfen.«

»Als ich heimkam, aß er saure Gurken und Dosenwurst. Das ist doch keine Mahlzeit.«

»Wo ist Dési? Warum hat sie euch nicht geholfen?«

»Sie ist vor einer Weile heimgekommen und hängt seitdem am Telefon.« Janni hob die Schultern. »Wer weiß schon, was sie wieder vorhat? Diese Schwester ist eine von den ganz und gar Unberechenbaren.«

»Mein Auflauf ist fertig, hurtig zu Tisch«, bat Dr. Norden. »Ihr wollt doch dieses Kunstwerk der Küche nicht kalt werden lassen, oder?«

»Unter keinen Umständen!« Janni schnappte sich das Geschirr und deckte in rasender Geschwindigkeit den Tisch. Der gute Duft schien auch Dési herbeigelockt zu haben, denn sie saß gleich darauf mit ihrer Familie zusammen am Tisch.

»Ich habe eine Demo organisiert, deshalb konnte ich heute keine Klamotten kaufen, Ma«, ließ sie Fee kauend wissen.

»Eine Demo? Wogegen? Oder wofür?«

»Gegen den Pauls, die Ratte.« Dési berichtete von ihrem Gespräch mit Sandra Buchmann und der Hetzekampagne, die Dr. Pauls gegen Thomas Sander gestartet hatte.

»Ich habe mich mal mit einigen Leuten unterhalten, deren Namen mir noch im Gedächtnis waren. Alle wollten spontan mitmachen, weil niemand den Pauls ausstehen kann und schon gar kein Abi bei ihm schreiben will. Sie informieren den Rest des Kurses, und morgen wird dann demonstriert.« Dési grinste zufrieden. »Dem werden wir eins auswischen, dem fiesen Sack. So was nennt man einen Schuss, der nach hinten losgeht.«

»Dein Engagement in Ehren, aber eigentlich hätte Frau Buchmann mit dir gar nicht darüber reden dürfen«, gab Daniel zu bedenken. »Das sind Schulinterna, die nur das Kollegium angehen.«

»Ich bin aber keine Schülerin mehr und deshalb neutral. Außerdem werde ich auf der Demo nicht in Erscheinung treten. Ich war sozusagen nur der stille Initiator. Die kriegen das morgen auch ohne mich hin.«

»Hauptsache, dem Pauls wird das Handwerk gelegt. Der hat schon viele Schüler fertig gemacht«, merkte Janni an. »Wird Zeit, dass ihm auch mal Paroli geboten wird.« Er lächelte seiner Schwester zu. »Das hast du gut gemacht. Ich werde mich morgen am Gymnasium unters Volk mischen und mir anschauen, was dabei herauskommt …«

Nach dem Essen trollten sich die Zwillinge einträchtig, sodass Fee den Tisch abräumen und die Spülmaschine füllen musste. Ihr Mann half ihr und sagte: »Wir können heute ein bisschen stolz auf Dési sein, findest du nicht?«

»Schon. Ich hoffe nur, dass ihre Hilfe auch das richtige Ziel erreicht.«

»Was meinst du damit, Liebling?«

»Der Grund, weshalb ich heute so spät heimgekommen bin, ist Hannes Sander gewesen. Er ist kollabiert. Und ich musste ihn schweren Herzens doch noch auf Intensiv verlegen.«

»Wie hat sein Vater es aufgenommen?«

»Kannst du dir das nicht denken? Er wandelt wirklich auf schmalen Grat. Nur gut, dass Frau Buchmann sich so um ihn kümmert. Es geht ihm unglaublich nah, so etwas habe ich noch selten erlebt. Ich wünsche mir zum ersten Mal in meiner Laufbahn so etwas wie einen Zauberstab für eine Instantheilung.«

Daniel seufzte. »Den haben wir uns doch alle schon mal gewünscht. Der Junge muss die Krisis überstehen. Es war gut, dass du ihn verlegt hast. Das vergrößert auf jeden Fall die Heilungschancen.« Er klappte die Spülmaschine zu und streckte sich. »So, für heute haben wir genug für unsere Patienten getan. Ich ziehe uns jetzt ein schönes Fläschchen auf, und dann machen wir es uns auf dem Sofa gemütlich. Was hältst du davon?«

»Eine wunderbare Idee. Wenn mir nicht die Augen zufallen würden. Verschieben wir’s aufs Wochenende?«

»Ungern. Aber du hast recht, man kann nicht alles haben. Gehen wir schlafen, mein Engel.«

»Ich liebe dich, Dan. Du bist der Beste.«

»Weiß ich doch.« Er küsste sie zart. »Aber es tut immer wieder gut, es ab und an mal zu hören …«

*

Pünktlich wie jeden Morgen seit beinahe dreißig Jahren betrat Dr. Martin Pauls Schlag acht Uhr nach dem Klingeln mit frischem Elan den Klassenraum.

Als er sich allerdings umschaute, meinte er, noch zu schlafen und zu träumen. Denn das hier, das konnte doch unmöglich die Wirklichkeit sein.

Im Klassenraum des Leistungskurses Deutsch der zwölften Klasse herrschte nämlich gähnende Leere. Keine einzige Bank war besetzt. Kein Buch, keine Mappe, nichts. Keine Spur von einem der zwanzig Schüler, die ihn hier eigentlich erwarten sollten. Was hatte das zu bedeuten?

»Herr Kollege.« Dr. Bayer betrat nun den Raum und musterte Martin Pauls mit undurchdringlicher Miene.

»Was wird hier gespielt?«, ging der sofort in die Offensive. Da er selbst ständig an Intrigen strickte, nahm er natürlich an, dass alle anderen dies genauso hielten. Vermutlich war dies hier arrangiert worden, um ihm eins auszuwischen.

»Ihre Klasse scheint es vorzuziehen, dem Unterricht geschlossen fernzubleiben.«

»Aber – warum? Ich verstehe nicht …«

»Das werden Sie gleich, wenn Sie einen Blick aus dem Fenster werfen.« Dr. Bayer wies nach unten in den Pausenhof. Nur zögernd trat Martin Pauls neben den Direktor und erbleichte.

Seine Schüler hatten sich dort unten versammelt. Sie trugen ein großes Transparent, auf dem stand: ›Pauls raus! Wir fordern die Entfernung dieses Lehrers aus dem Schuldienst! Solange er hier ist, bleiben wir draußen!‹

»Was … wer steckt hinter dieser bodenlosen …«

»Bevor Sie sich aufregen, Herr Kollege, würde ich Ihnen raten, einen Blick in die sozialen Medien zu werfen. Besonders auf Facebook wird heftig darüber diskutiert, ob es für einen Lehrer, der unbeliebt und intrigant ist, noch eine Basis geben kann, um seinem Job als Pädagoge gerecht zu werden. Es wundert Sie bestimmt nicht, dass niemand dieser Meinung ist. Und der Kursus von Herrn Sander offenbar auch nicht.«

»Das ist ein Komplott. Man will mich hier heraus mobben!«

»Ich fürchte, Sie sehen noch immer nicht die Crux des Ganzen. Es geht hier nicht um Sie, sondern um den Leistungskursus Deutsch. Diese jungen Leute werden sehr bald ihr Abi schreiben. Und sie wollen dies ganz offenbar nicht bei Ihnen tun. Wohingegen es eine Initiative gibt, die den Abitermin verlegen möchte, bis der Kollege Sander diese Aufgabe wieder übernehmen kann. Ich denke, damit sind die Positionen mehr als klar umrissen.«

»Sie wollen mir kündigen? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!«

Dr. Bayer bedachte den Kollegen mit einem schmalen Lächeln. »Wie kommt es eigentlich, dass aus Ihrem Mund alles immer wie ein Vorwurf klingt?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte er reserviert. »Mir ist nur eines klar: Ganz offensichtlich greift der Kollege Sander nun zu kriminellen Methoden, um sich hier an der Schule halten zu können. Er ist inkompetent und nicht mal mehr in der Lage, jeden Tag zum Unterricht zu erscheinen. Aber statt die Konsequenzen zu ziehen und zu kündigen, hetzt er seine Schüler gegen mich auf. Mit welchen Folgen, das sehen Sie ja!«

»Soweit ich das beurteilen kann, hat der Kollege Sander mit dieser spontanen Aktion nichts zu tun.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht!« Dr. Pauls schnaubte verächtlich. »Ich habe schon lange vorausgesehen, dass es so weit kommen würde. Der Mann ist nicht in der Lage, sein Privatleben von seinem Beruf zu trennen.« Er funkelte den Direktor maliziös an. »Sie hätten ihm schon vor einem Jahr kündigen sollen, dann wäre uns allen sehr viel Ärger erspart geblieben!«

Dr. Bayer zuckte leicht zusammen, seine Miene verfinsterte sich. »Ich sollte wohl einmal klar stellen, worum es hier geht, Herr Kollege, denn wir reden anscheinend aneinander vorbei. Herrn Sanders berufliche Qualifikationen stehen hier ebenso wenig zur Debatte wie Ihr angeblicher Kreuzzug für mehr Lerndisziplin an unserer Schule. Wir haben es hier mit einem Schülerstreik zu tun, der auf Unzufriedenheit basiert. Ihre Methoden untergraben unseren schulischen Frieden. Und da Sie ja gerade ausführlich dargelegt haben, dass Sie weder willens noch offensichtlich in der Lage sind, sich zu ändern, denke ich, die beste Lösung wäre Ihre Versetzung an eine andere Schule.«

Martin Pauls starrte den Direktor ungläubig an. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, murmelte er heiser und lockerte seinen Hemdskragen. »Ich soll strafversetzt werden? Das ist Unsinn!«

»Ich muss Sie bitten, sich zu mäßigen, Herr Dr. Pauls«, erwiderte Dr. Bayer scharf. »Sie stören den schulischen Frieden, das ist eine ernste Sache. Und ich bin nicht gewillt, das noch länger zu dulden.«

Martin Pauls sank in sich zusammen. Mit zitternden Fingern holte er ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Jacketttasche und wischte sich die Stirn. Schließlich hatte er sich gefangen, straffte sich und fragte: »Was erwarten Sie nun von mir?«

»Beantragen Sie Ihre Versetzung, ich werde sie befürworten. Und es wird nichts über diese Vorgänge publik. Weigern Sie sich, zwingen Sie mich, ein Disziplinarverfahren gegen Sie einzuleiten. Ich werde keine weitere Hetze gegen Kollegen an dieser Schule mehr dulden. Also, wofür entscheiden Sie sich?«

»Das ist Erpressung. Ich könnte klagen …«

»Gehen Sie ruhig vors Arbeitsgericht. Aber vergessen Sie dabei bitte nicht, dass dann mehr als nur eine Versetzung zur Debatte steht. Wenn der Richter sich meiner Meinung anschließt, könnte Sie das Ihren Beamtenstatus inklusive aller Rentenanwartschaften kosten. Sie sollten das bedenken, bevor Sie blind vorstürmen.«

»Also schön.« Martin Pauls zog die Mundwinkel nach unten, Verachtung sprach aus seinen Worten und aus seinem Blick. »Sie werden das noch bereuen. Eines Tages wird an dieser Schule die vollkommene Anarchie herrschen. Glücklicherweise werde ich das nicht erleben müssen. Ich beantrage meine Versetzung.«

Dr. Bayer lächelte schmal. »Eine weise Entscheidung. Und noch ein Wort auf den Weg: Mit Anarchie lässt sich leichter umgehen als mit Unterdrückung. Die entfesselte Masse findet immer irgendwann zu ihrem Verstand zurück, das lehrt die Geschichte.«

Dr. Pauls lächelte spöttisch, schenkte sich aber eine Entgegnung. Er grabschte seine Aktenmappe und verließ dann hoch erhobenen Hauptes das Klassenzimmer.

Direktor Bayer atmete auf. Er war nicht gerade konfliktscheu, liebte aber auch keine offenen Auseinandersetzungen. An seiner Schule sollten Vernunft und umsichtiges Handeln den Ton bestimmen, sowohl im Umgang mit den Schülern als auch beim Lehrkörper. Nun konnte er allerdings nicht mehr umhin, vor sich selbst zuzugeben, dass Dr. Pauls ein echter Störfaktor gewesen war. Und dass er erleichtert sein konnte, ihn los zu werden.

Erleichtert war nicht nur der Direktor. Gleich darauf erklang im Pausenhof lauter Applaus, dazu schrillen Pfiffe, und es wurde sogar gejohlt. Vor dieser akustischen Kulisse querte Dr. Pauls den Hof und verließ ein letztes Mal das Albertinen-Gymnasium.

Dr. Bayer ließ den Schülern ein paar Minuten, dann klappte er das Fenster und rief: »Meine Damen und Herren, es ist Unterricht. Ich darf Sie bitten, sich in Ihren Klassenraum zu begeben. Heute werden Sie zur Abwechslung einmal mit mir Vorlieb nehmen müssen. Jedenfalls so lange, bis der Kollege Sander seinen Dienst wieder aufnehmen kann.«

Der Direktor hörte keinen Widerspruch, und schon wenige Minuten später saßen alle Schüler auf ihrem Platz und arbeiteten mit, wie man es erwarten konnte. Noch einmal atmete Waldemar Bayer auf, wenn auch nur innerlich. Der Schulfriede war also wieder hergestellt. Nun konnte es nur noch besser werden.

*

Fee Norden betrat die Intensivstation und trat an Hannes Sanders Bett. Der Junge war ohne Bewusstsein, noch immer fieberte er. Die Werte am Geräteturm hatten sich auf niedrigem Niveau eingependelt. Doch eine Verschlechterung schien wahrscheinlich, denn der Tiefpunkt war noch nicht erreicht.

»Frau Kollegin.« Der Intensivmediziner Schulz näherte sich Fee und ließ sie wissen: »Noch keine wesentliche Veränderung.«

»Ja, das sehe ich.«

Die beiden Klinikärzte gingen nebeneinander zum Ärztebüro, wo Dr. Schulz Fee einen Kaffee anbot. Sie sagte nicht nein.

»Wie kommt es eigentlich, dass ihr hier auf Intensiv den besten Kaffee habt?«, sinnierte sie.

Er lächelte. »Schwester Gabi kocht ihn schon seit Jahren.«

»Hm, sie hat ein Händchen dafür.« Fee seufzte. »Dieser Fall geht mir näher als sonst. Ich warte darauf­ …«

In diesem Moment wurde ein Alarm ausgelöst, der aus der Richtung von Hannes Sanders Bett kam. Fee begleitete den Kollegen, der zu dem kleinen Patienten eilte.

»Herzstillstand. Schwester Vera, intubieren.« Dr. Schulz setzte eine Spritze, überprüfte die Infusion und behielt dabei den Monitor im Auge. Fee trat neben das Bett und begann mit einer indirekten Herzmassage. Es dauerte nur noch wenige Sekunden, dann zeigte der Monitor wieder einen Herzschlag. Bis sich Hannes’ Zustand stabilisiert hatte, arbeiteten die beiden Mediziner weiter Hand in Hand. Endlich war es geschafft.

»Die Krisis«, murmelte Fee und atmete auf. »Darauf haben wir lange warten müssen. Jetzt besteht wieder Hoffnung.«

»Sie sind optimistisch.«

»Ich will es in diesem Fall sein. Wie gesagt, das alles geht mir sehr nah. Hannes hat seine Mutter im letzten Jahr in dieser Klinik verloren. Wir konnten sie nicht retten. Sein Vater ist an dem Verlust fast verzweifelt. Wir dürfen es nicht zulassen, dass er auch noch seinen Sohn verliert. Das wäre mehr, als ein Mensch ertragen kann.«

»Ich verstehe.« Dr. Schulz nickte knapp. »Sobald es eine Änderung gibt, lasse ich es Sie wissen, Frau Kollegin. Und … danke für Ihre ­Hilfe.«

Fee lächelte schmal. »Nichts zu danken.« Sie kehrte auf ihre Station zurück, gefolgt von einem wohlwollenden Blick des Kollegen. Dr. Fee Norden war schon ein besonderer Mensch, Dr. Schulz war stolz, mit ihr arbeiten zu dürfen.

An diesem Tag änderte sich noch nichts an Hannes Sanders Zustand. Kurz vor Feierabend schneite Dési bei ihrer Mutter herein und schlug vor: »Gehen wir shoppen, Ma. Es gibt was zu Feiern. Meine Demo war nämlich ein voller Erfolg.«

»Das musst du mir ein bisschen näher erklären. Wollen wir uns erst noch eine heiße Schokolade gönnen?«

»Im Café Ziegler?«

»Von mir aus auch da.«

»Die haben die besten Torten.« Dési lachte wie ein kleiner Kobold. »Eine Kalorienbombe zur Feier des Tages, okay?«

Fee stimmte in ihr Lachen ein. »Okay!«

Während Mutter und Tochter es sich gut gehen ließen, hatte Daniel Norden eine längere Unterhaltung mit Thomas Sander. Nach den Ereignissen dieses Tages konnte er dem verzweifelten Mann vorsichtig neue Hoffnung machen.

»Die Entzündungswerte in Hannes’ Herzen sind zurückgegangen, das bedeutet, die Heilung setzt endlich ein. Wenn es so bleibt und keine weiteren Komplikationen auftreten, werden wir Ihren Sohn in absehbarer Zeit operieren können.«

»Gott sei Dank«, murmelte Thomas verhalten erleichtert. »Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt, dass es endlich wieder besser werden könnte.«

»Es war eine schwierige Zeit, für uns alle. Sie können mir glauben, dass mich diese Dinge sehr berühren. Als Mediziner möchte man helfen, leider sind einem manchmal die Hände gebunden. Das ist ein quälender Zustand.«

»Ich stelle mir das schwierig vor.«

»Das ist es, aber man lernt auch, damit umzugehen. Es ist eben Teil des Berufs.«

»Ich verstehe. Und ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Herr Doktor.«

»Keine Ursache.« Daniel Norden drückte dem jungen Lehrer zum Abschied die Hand und versprach, ihn sofort benachrichtigen zu lassen, wenn er seinen Sohn wieder besuchen durfte.

Thomas machte sich auf den Heimweg und rief von unterwegs Sandra an. Er wollte sie gerne zum Essen einladen, denn er hatte einfach den Wunsch, ihr etwas Gutes zu tun. Außerdem vermisste er ihre Gesellschaft.

In letzter Zeit hatte er sich sehr daran gewöhnt, dass sie meist in seiner Nähe war. Und er hatte angefangen, diesen Zustand zu genießen. Thomas wurde allmählich bewusst, wie wichtig Sandra für ihn war, wie groß die Rolle, die sie in seinem Leben spielte.

Früher waren sie nur Freunde gewesen. Nach Ilkas Tod war sie so etwas wie ein Nothelfer für ihn gewesen. Jemand, der immer da war, um das Schlimmste zu verhindern. Nun aber war das anders.

Obwohl Sandra sich ebenso sehr um Hannes sorgte wie er und wieder alles tat, damit er nicht verzweifelte, hatte sich ihre Beziehung doch geändert. Sie stand seinem Herzen sehr nah. Und er ahnte, dass längst mehr zwischen ihnen war als Freundschaft.

Thomas verzog ärgerlich den Mund, denn nur Sandras Mailbox meldete sich. Dass sie mal nicht erreichbar war, berührte ihn unangenehm und machte ihm einmal mehr deutlich, dass er sich sein Leben ohne sie kaum noch vorstellen konnte.

Als der junge Mann heimkam, wurde er von Susi freudig begrüßt. Er beschloss, eine ausführliche Gassirunde an der Isar zu gehen, das würde ihnen beiden gut tun. Susi zumindest war begeistert.

Fast zwei Stunden lang spazierte Thomas mit seinem Hund an der Isar entlang, warf Stöckchen und fühlte sich so entspannt und ausgeglichen wie schon lange nicht mehr.

Als Herr und Hund dann heimkamen, wurden sie bereits erwartet. Sandra hatte gekocht und Susis Schüssel aufgefüllt. Sie war so gut gelaunt, dass Thomas sie verwundert musterte.

»Du wirst nicht erraten, was heute passiert ist«, sagte sie.

»Sechs Richtige im Lotto? Ein Heiratsantrag von einem Millionär? Im Supermarkt gab’s deinen Lieblingspudding?«

Sandra lachte. »In der Reihenfolge. Aber sag mal, dir scheint es auch nicht gerade schlecht zu gehen. Was ist passiert?«

»Aber du bist doch die Dame mit den unglaublichen Neuigkeiten«, scherzte er.

»Du zuerst.« Sie schaute ihn so gespannt an, dass er nachgab.

»Hannes’ Zustand bessert sich langsam. Dr. Norden hat mir erklärt, dass die Entzündung in seinem Herzen allmählich abklingt. Und das bedeutet, er kann in absehbarer Zeit operiert werden.«

»Oh, Thomas, das ist wunderbar!«, rief Sandra begeistert.

»Ja, das ist es. Ich habe schon nicht mehr daran geglaubt.«

»Ich habe dir ja gesagt, die Nordens helfen Hannes, die können was. Nun wird alles gut!«

»Ich danke dir«, sagte er da und lächelte ihr so warm zu, dass ihr Herz unruhig zu klopfen begann.

»Mir? Aber ich habe ja nichts dazu getan.«

»O doch, du warst wieder für mich da, so als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Ich habe das bis jetzt einfach so hingenommen. Vielleicht weil ein Hilfloser jede Hilfe annimmt, ohne zu fragen. Aber das ist nicht richtig.«

»Wir sind Freunde …«

»Wir sind weit mehr als das.« Er nahm ihre Hände und drückte sie leicht. »Du bist neben Hannes der wichtigste Mensch in meinem Leben, Sandra. Ich möchte, dass du das weißt.«

»Das bedeutet mir sehr viel«, versicherte sie leise.

Er lächelte ein wenig. »Mir auch. Wollen wir jetzt essen? Und dann möchte ich gern deine unglaubliche Neuigkeit erfahren.«

Sandra wandte sich rasch ab und murmelte »Okay«.

Sie rührte intensiv in ihren Töpfen, um etwas Zeit zu gewinnen und ruhiger zu werden. Mit allem hatte sie gerechnet, nicht aber damit, an diesem Abend noch ein solches Geständnis zu hören, das ihr Herz höher schlagen ließ. Vielleicht gab es ja nun nicht nur neue Hoffnung für Hannes, sondern auch für ihre heimliche Liebe zu diesem ganz besonderen Mann …

»Stell dir vor, ich habe Dési Norden in der Behnisch-Klinik getroffen«, berichtete sie dann beim Essen. »Sie hat so großen Anteil an deinen Sorgen genommen, deshalb habe ich ihr von Pauls’ Hetzkampagne gegen dich erzählt. Sie war sofort empört und wollte etwas dagegen unternehmen.«

»Das ist lieb von ihr, aber was könnte sie schon tun?«

»Sehr viel. Sie hat einen Streik organisiert. Deine Zwölfer haben den Pauls heute geschlossen bestreikt.«

»Was? Das gibt’s doch nicht!«

»Und ob. Du wirst es nicht glauben, aber das hat für Dr. Bayer das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hat Pauls nahegelegt, seine Versetzung zu beantragen.«

»Darauf wird er kaum eingehen.«

»Er ist schon darauf eingegangen. Wie genau es gelaufen ist, kann ich dir nicht sagen, Dr. Bayer schweigt sich aus. Fakt ist: Pauls ist fort. Und deine Zwölfer warten sehnsüchtig auf dich.«

Thomas konnte es nicht fassen. »Ich gehe ab morgen wieder pünktlich zum Unterricht. Das bin ich ihnen schuldig.«

»Will ich meinen. Na, siehst du, es hat sich eben doch rentiert zu kämpfen.«

»Ich werde Dési noch danken müssen. Ein tolles Mädchen!«

»Das ist sie. Und du bist ein toller Lehrer …«

*

Als Fee Norden am nächsten Morgen ihr Büro betrat, begann ihr Telefon zu klingeln. Es war Dr. Schulz.

»Sie sollten mal kommen, sobald Sie etwas Zeit haben«, sagte er in einem Tonfall, der recht zufrieden klang. Fee kannte den Intensivmediziner als nüchternen Menschen, deshalb wertete sie diesen Anruf als positives Zeichen. Und sie sollte sich nicht getäuscht haben.

Wenig später stand die Ärztin am Bett ihres kleinen Patienten Hannes Sander. Der Junge war noch immer blass und matt, aber er war bei Bewusstsein und bat sie: »Können Sie meinem Vater sagen, dass er mich besuchen darf? Bitte! Er macht sich bestimmt ganz schreckliche Sorgen um mich. Und es geht mir doch auch schon viel besser!«

»Fühlst du dich denn wirklich besser?«, forschte sie.

Hannes nickte. Er gab sich große Mühe, munter zu wirken. »Ja, sehr viel besser. Jetzt werde ich bestimmt bald operiert!«

»Hannes, nun hör mir mal zu«, bat Fee ihn da mit ruhiger Stimme. »Damals, als deine Mama gestorben ist, das war nicht nur für deinen Papa schlimm, sondern auch für dich, nicht wahr?«

»Hm. Ich vermisse Mama sehr«, gab Hannes kleinlaut zu.

»Aber das hast du deinem Papa nicht gesagt, oder?«

»Nein, ich hab mich nicht getraut. Er war immer so traurig.«

Fee nickte. Die ausgebildete Kinderpsychologin spürte, dass hier noch einiges im Argen lag. Hannes hatte nach dem Tod seiner Mutter keine wirkliche Trauerarbeit leisten können. Er hatte aus Angst, auch noch seinen Vater zu verlieren, die Rolle des Erwachsenen übernommen und sich angewöhnt, stets vernünftig und pflegeleicht zu erscheinen. Deshalb litt er ja nun so sehr darunter, dem Vater Kummer zu machen. Und allein deshalb wollte er so schnell wie möglich wieder gesund werden. Um in seine falsche Rolle schlüpfen und etwas leisten zu können, wozu er in seinem Alter noch längst nicht in der Lage war. Er selbst brauchte Trost, Verständnis und Geborgenheit. Doch er verdrängte diese Bedürfnisse, hatte sich ganz auf das Wohl seines Vaters konzentriert.

Es war nun die Aufgabe der Ärztin, ihm das klar zu machen und aufzuzeigen, wie falsch sein Verhalten war. Denn damit half er seinem Vater nicht und schadete nur sich selbst.

»Wenn dein Vater dich besuchen kommt, erzähl ihm doch einmal, wie es dir ums Herz ist, Hannes, ganz offen. Du musst keine Rücksicht auf ihn nehmen. Er ist erwachsen, du bist noch ein Kind. Das heißt, es liegt eigentlich bei ihm, auf dich Rücksicht zu nehmen.«

»Aber ich …« Der Junge wirkte bekümmert. »Das kann ich nicht.«

»Warum nicht? Du kannst es zumindest versuchen.«

»Nein!« Hannes schüttelte trotzig den Kopf. »Papa wird böse auf mich, wenn ich ihm Kummer mache!«

Diese Maxime schien sich fest in sein Denken eingeprägt zu haben und jede noch so kleine Entscheidung zu beeinflussen. Es würde nicht leicht werden, das zu ändern.

»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Fee ihm langmütig. »Dein Vater möchte, dass es dir gut geht, dass du glücklich bist. Das wünschen sich alle Eltern für ihre Kinder. Es ist für ihn das Wichtigste auf der Welt. Als es dir so schlecht gegangen ist, hat er seinen Beruf vernachlässigt, er hat sogar riskiert, Ärger mit seinem Vorgesetzten zu bekommen. Es war ihm ganz egal. Er konnte nur an eines denken: Für dich da zu sein.«

»Ich möchte aber auch für ihn da sein.«

»Das bist du. Aber nicht, wenn du in eine falsche Rolle schlüpfst und einen Erwachsenen spielst.«

»Ich habe ihn immer nachts weinen gehört«, erzählte Hannes da leise und stockend. »Das war so schrecklich. Ich hatte große Angst und dachte …«

»Na, was hast du gedacht? Du kannst es mir sagen.«

»Ich dachte, dass ich ihn verliere und dann ganz allein bin, dass ich in ein Heim komme und niemand mich mehr lieb hat.« Hannes fing an zu weinen, Fee nahm ihn behutsam in den Arm und wiegte ihn, bis er sich wieder beruhigt hatte. Sie spürte, dass dies bereits der erste Schritt in die richtige Richtung gewesen war. Der Junge hatte sich ihr geöffnet. Es würde vielleicht doch nicht so schwierig werden, die falschen Denkstrukturen aufzulösen. Vor allem aber musste sie mit Thomas Sander reden.

»Darf mein Vater mich jetzt besuchen?«, fragte Hannes, bevor Fee Norden sich verabschiedete.

»Noch nicht. Besuche auf der Intensivstation sind verboten. Aber wenn es dir jeden Tag ein wenig besser geht, dann wirst du bald verlegt. Und dann kommt dein Vater dich auch besuchen.«

»Versprochen?«

Fee lächelte. »Versprochen.«

»Aber ich muss doch nicht mit ihm darüber reden, Sie wissen schon …« Er druckste ein wenig herum.

»Du musst gar nichts, Hannes. Du darfst sagen und tun, was du willst. Ich sehe später wieder nach dir.«

»Danke, Frau Doktor.« Er lächelte so erleichtert, dass es Fee das Herz rührte. Sie erwiderte sein Lächeln und versicherte: »Gern geschehen, Hannes. Bis nachher.«

Am frühen Nachmittag rief Fee Thomas Sander an und bat ihn, in der Behnisch-Klinik vorbei zu schauen.

»Kann ich meinen Sohn sehen?«, fragte er sofort.

»Kurz, aber ich möchte vor allem mit Ihnen reden.«

Fee wunderte sich, als sie dem jungen Lehrer später in ihrem Büro gegenüber saß. Thomas Sander wirkte ganz verändert, so als sei eine schwere Last von seinen Schultern genommen. Etwas schien sich grundlegend für ihn geändert zu haben. Etwas, was noch über die Tatsache hinaus reichte, dass es Hannes langsam besser ging.

»Ich möchte Ihrer Tochter danken, vielleicht richten Sie ihr das aus«, sagte er als Erstes. »Es ist schon seltsam, aber die Nordens scheinen einen siebten Sinn dafür zu haben, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.«

»Sie meinen die Demo in der Schule? Ich war zuerst ein bisschen skeptisch, muss ich zugeben.«

»Sie hat das getan, was ich eigentlich selbst hätte tun müssen. Mich gegen Dr. Pauls wehren. Aber ich konnte es einfach nicht.« Er lächelte verschämt. »Es fiel mir schon immer schwer, mich durchzusetzen, ich bin kein Kämpfer.«

»Es muss auch sanfte Menschen auf unserer Erde geben, sonst wäre dies hier ein trauriger Ort.«

Thomas seufzte. »Ja, mag sein. Aber es ist nicht leicht, in der schwächeren Position zu sein. Ihre Tochter hat mir gezeigt, dass es sich rentiert, sich zu wehren. Das werde ich beherzigen. Zumindest will ich es versuchen.«

»Dési wird sich freuen, dass ihre Aktion so gut bei Ihnen ankommt. Aber deshalb wollte ich Sie nicht sprechen, Herr Sander. Es geht um Hannes.«

»Aber er ist doch auf dem Weg der Besserung, das sagte Ihr Mann mir jedenfalls …«

»Sicher, die Entzündung des Herzmuskels geht zurück, wir sind auf dem richtigen Weg. Hannes hat aber noch ein anderes Problem, das psychologischer Natur ist. Wissen Sie, dass er bislang nicht um seine Mutter hat trauern können? Jedenfalls nicht wie ein Kind seines Alters. Er hat es sich selbst nicht gestattet.«

Thomas wurde auf einen Schlag sehr ernst. Er bekannte: »Ich habe schon vor einer Weile eingesehen, dass ich da viele Fehler begangen habe. Meine Trauer war so überwältigend, dass ich über eine lange Zeit nicht in der Lage war, damit umzugehen. Nach außen hin habe ich mein Leben weiter gelebt, mir eingeredet, dass ich es für Hannes tue. Aber das ist nicht wahr. Als der Junge krank wurde, habe ich das begriffen. Er hatte Angst, mir Kummer zu machen. Das war ein Schock für mich. Mir wurde klar, dass er mich die ganze Zeit durchschaut hatte, dass er genau wusste, wie ich fühlte. Ich hatte mich selbst belogen und ihn. Wir hätten zusammen trauern müssen, das weiß ich jetzt. Ich konnte Hannes nicht vor einer Wirklichkeit schützen, die auch seine eigene war. Es war falsch. Falsch und schädlich.«

»Der Junge hat sich angewöhnt, alles auszuklammern, was Ihnen nach seiner Meinung Kummer machen könnte. Er versucht, ebenso zu funktionieren, wie Sie es nach dem Tod Ihrer Frau getan haben.«

»Wie kann man das ändern? Was kann ich tun?«

»Sie müssen mit Hannes darüber reden, immer und immer wieder. Und ich würde Ihnen raten, gemeinsam eine Therapie zu beginnen, wenn der Junge körperlich gesundet ist.«

»Wäre es nicht besser, ein Kinderpsychologe macht das?«

»Ich habe schon einen ersten Versuch gewagt, vielleicht können wir ja hier bereits etwas erreichen. Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass Sie beide sich zusammen dieser Problematik stellen sollten. Hannes muss erleben und verinnerlichen, dass die Trauer sie beide nicht entzweit, sondern verbindet.«

»Das wird bestimmt nicht leicht werden.«

»Ein langer Weg liegt vor Ihnen beiden, das steht fest.«

Thomas Sander nickte mit entschlossener Miene. »Wir werden ihn gehen, wenn es nötig ist. Ich will alles tun, damit es meinem Sohn wieder gut geht. Körperlich und seelisch.«

*

In den nun folgenden Tagen ging es Hannes allmählich besser. Die Medikation griff, die Myokarditis klang ab. Ende der Woche konnte der kleine Patient von der Intensivstation zurück zur Pädiatrie wechseln. Und damit war nun auch wieder der Weg für Besuche seines Vaters frei.

»Es geht mir gut, bald bin ich gesund«, war das Erste, was Thomas zu hören bekam, als er seinen Sohn besuchte.

Der junge Mann drückte den Buben lange, dann schaute er ihn aufmerksam an und fragte: »Ist das auch wahr?«

Hannes nickte eifrig. »Wenn ich erst operiert bin …«

»Nun mal langsam, Hannes. Du musst hier keinen Rekord aufstellen. Immer einen Schritt nach dem anderen. Wenn es dir noch ein bisschen besser geht, werden die Ärzte dich operieren. Und danach wirst du auch noch eine Weile …«

»Ach, das geht ganz schnell. Dann komme ich heim, gehe wieder in die Schule, und alles ist beim Alten. Dann musst du dir nie wieder Sorgen um mich machen, versprochen!«

»Nie wieder? Das wäre aber schlimm.«

Der Bub stutzte. »Machst du dir denn gerne Sorgen um mich?«

»Ich mache mir immer Sorgen um dich, das ist normal. Ich möchte einfach, dass es dir gut geht.«

»Aber das musst du nicht!«

»Hannes, du bist noch klein. Aber die Jahre vergehen. Und irgendwann wirst du erwachsen sein und mich nicht mehr brauchen. Bis dahin möchte ich ein guter Vater sein.«

»Das bist du! Der allerbeste Vater der Welt!«

Thomas lachte. »Das wage ich zu bezweifeln. Nun hör mir mal zu. Als deine Mama gestorben ist, da ging es mir so schlecht, dass ich nicht wusste, wie ich weiterleben soll. Ich konnte nur an mich denken, an meinen Schmerz, meine Verzweiflung. Ich habe vergessen, dass es dir ebenso ergangen ist. Da war ich kein guter Vater, und das tut mir jetzt sehr leid.«

»Das stimmt nicht. Du warst nur traurig.«

»Ja, aber ich habe diesen Schmerz nicht mit dir geteilt. Du warst der Einzige, der mich verstehen konnte, weil es dir ebenso ging. Es war falsch von mir, dich auszuklammern.«

»Wir wollen nicht mehr daran denken.«

»Doch, Hannes, wir müssen daran denken. Es ist nämlich noch nicht vorbei für uns. Wir beide haben uns nie zusammen dem Tod deiner Mutter gestellt. Ich habe zugelassen, dass meine Trauer uns getrennt hat, dabei hätte sie uns einander näher bringen müssen. Aber es ist dazu noch nicht zu spät. Wir können das nachholen.«

»Was meinst du?«, fragte das Kind unsicher.

»Frau Dr. Norden hat mir geraten, dass wir beide zusammen eine Therapie bei einem Psychologen machen sollten. Dabei könnten wir lernen, mit der Trauer umzugehen und zu leben. Und vor allem, uns gegenseitig zu trösten. Es ist falsch, wenn du auf mich Rücksicht nimmst. Und es ist auch falsch, wenn ich alles mit mir allein abmache. Wir müssen lernen, das zusammen zu tun.«

»Ich weiß aber nicht, ob ich das kann.«

Thomas seufzte, als er zugab: »Ich weiß es auch nicht. Aber ich finde, wir sollten es einfach versuchen.«

Hannes sagte dazu nichts, und sein Vater drängte ihn auch nicht. Es war gut, dass der Junge ihn nicht gleich abwies. Er hatte Angst vor etwas, das er nicht kannte, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Thomas erging es nicht anders. Doch er hoffte, dass sie es zusammen schaffen konnten. Den Versuch war es allemal wert.

Als es dann Zeit für die Visite wurde, verabschiedete Thomas sich von seinem Sohn mit dem Versprechen, ihn am nächsten Tag wieder zu besuchen.

»Aber du gehst auch in die Schule, oder? Frau Dr. Norden hat gesagt, dass du nicht mehr hingehen wolltest, weil du dir nur noch Sorgen um mich gemacht hast.«

»Keine Sorge, Hannes, ich kriege beides unter einen Hut, versprochen.« Thomas machte ein verschwörerisches Gesicht. »Die Schule, dich und deine Hausaufgaben.«

Davon war Hannes denn doch nicht so sehr begeistert. »Muss ich welche machen? Ich fühle mich noch nicht so gut …«

Der junge Lehrer lachte. »Dachte ich mir doch!«

Auf dem Klinikflur traf Thomas mit dem Ärztepulk zusammen, der gerade auf Visite war. Dr. Norden bat ihn, noch zu warten.

»Die Kollegin Rohde möchte kurz mit Ihnen reden.«

Dr. Christina Rohde war eine hübsche Brünette mit seelenvollen Augen. Sie war Thomas auf Anhieb sympathisch. Dieser erste Eindruck wurde allerdings relativiert, als er erfuhr, mit wem er es hier zu tun hatte.

»Ich werde Hannes morgen operieren. Vorher wollte ich den Eingriff mit Ihnen besprechen, Herr Sander, damit Sie wissen, was auf Sie zukommt«, erklärte sie.

»Auf Hannes, meinen Sie«, seufzte er bedrückt.

»Der Junge wird in Narkose sein. Ich nehme an, dass Ihr Leidensdruck etwas höher ist.«

»Da haben Sie wohl recht, ich kann es nicht abstreiten.«

»Sie müssen sich keine Sorgen machen. Hannes’ Zustand ist stabil, nachdem die Entzündung ausgeheilt ist. Der Eingriff findet unter Vollnarkose mit minimalinvasiven Instrumenten statt. Ich werde über eine Minikamera an einer Sonde den Ort lokalisieren, an den das chirurgische Pflaster platziert werden muss.«

»Ist es denn tatsächlich ein Pflaster? Ich dachte, das hätte Frau Dr. Norden nur gesagt, um es kindgerecht zu erklären.«

Dr. Rohde lächelte. »Streng genommen ist es kein Pflaster im klassischen Sinn. Wir nennen das nur so. Es ist ein Hightechmaterial, das innerhalb von Sekunden mit der Umgebung verwächst und die krankhafte Gefäßbrücke dauerhaft verschließt.«

»Aha. Und das hält? Ich meine, Hannes kann nicht wieder irgendwann Beschwerden kriegen?«

»Es verwächst, wie gesagt. Es wird zum Teil einer Gefäßwand.«

»Verstehe. Das heißt, wirklich vorstellen kann und will ich mir das nicht. Ich vertraue darauf, dass Sie wissen, was Sie tun.« Er warf ihr einen forschenden Blick zu. »Das wissen Sie doch, nicht wahr?«

Dr. Rohde lachte leise. »Verlassen Sie sich darauf. Das ist nicht die erste OP dieser Art, die ich durchführe. Haben Sie noch Fragen, Herr Sander?«

»Nach diesem Eingriff, wie geht es da weiter?«

»Ihr Sohn wird noch einmal auf Intensiv gelegt, das ist nach so einer OP Standard. Wenn es keine Komplikationen gibt, kann er am nächsten Tag wieder hierher wechseln. Er wird noch ein paar Tage in der Behnisch-Klinik bleiben, das ist alles.«

»Und muss er sich danach noch schonen?«

»Eine Weile sicher. Schließlich hat Hannes einiges hinter sich. Organisch wird er nach dem Eingriff aber gesund sein.«

Das hatte Thomas hören wollen. Er bedankte sich bei der Ärztin für diese Erklärung und machte sich wenig später auf den Heimweg. Hannes wurde schon morgens um acht operiert, das bedeutete, Thomas musste sich den ganzen Tag frei nehmen. Er rief gleich Dr. Bayer an, der Verständnis zeigte.

»Alles Gute für Ihren Sohn«, sagte er und fügte noch hinzu: »Vielleicht interessiert es Sie, dass der Kollege Pauls zu Beginn des nächsten Schuljahres eine neue Stelle an einem Gymnasium in Leipzig antreten wird.«

»Das ist ziemlich weit weg. Ob es ihm dort gefallen wird?«

»Die Frage ist wohl eher, ob den Schülern dort gefallen wird, was da auf sie zukommt«, scherzte der Direktor.

Thomas musste schmunzeln.

»Das würde ich bezweifeln …«

*

Sandra schaute am späteren Abend bei Thomas vorbei.

»Ich dachte mir, du könntest ein bisschen Gesellschaft brauchen«, sagte sie und schaute ihn aufmerksam an. »Geht’s dir gut, alles in Ordnung?«

»Nicht wirklich. Einerseits bin ich froh, dass es nun endlich soweit ist. Wenn Hannes die Operation hinter sich hat, kann er ganz gesund werden. Darauf warten wir nun schon ziemlich lange.«

»Aber?«

»Aber die Vorstellung, dass diese Ärztin ein Stück was auch immer in das Herz meines Sohnes klebt, will mir einfach nicht gefallen. Es klingt wie Frankenstein.«

»Hat sie dir nicht erklärt, wie es funktioniert?«

Der junge Mann seufzte. »Doch, eben deshalb …«

»Es wird schon. Soll ich uns was kochen? Das lenkt ab.«

»Danke, aber ich habe überhaupt keinen Hunger.«

»Gehen wir noch ein bisschen mit Susi raus?«

»Gute Idee!«

Sie spazierten fast bis Mitternacht an der Isar entlang, der samtschwarze Himmel war mit ungezählten Sternen bestickt, der Mond streute Silbertaler auf den Fluss und in einer Schlehe schlug sogar eine Nachtigall. Es war eine Sommernacht von seltenem Reiz. Trotzdem konnte Thomas sie nicht genießen. Sandras Nähe beruhigte ihn ein wenig, aber die Sorge um Hannes blieb. Und da er spürte, dass er doch kein Auge zumachen konnte, weil er viel zu aufgeregt war, bat er sie zu bleiben.

In dieser Nacht tauschten sie einen ersten, zaghaften Kuss, der nicht mehr als ein Versprechen, eine Ahnung war. Als die Sonne im Osten über die Berge stieg, war Sandra an Thomas gekuschelt eingeschlafen, während der junge Mann eine große Dankbarkeit empfand. Dass er diese letzten, dunklen Stunden nicht allein hatte verbringen müssen, würde er Sandra nie vergessen. Der Platz, den sie in seinem Herzen einnahm, war noch ein Stück größer geworden. Und er bedeutete ein stilles Glück, Zufriedenheit und den Wunsch, wieder an eine Zukunft zu glauben, was weitaus mehr war, als Thomas jemals erwartet hatte.

Sie frühstückten zusammen und fuhren dann in die Behnisch-Klinik. Dass Sandra sich ebenfalls frei genommen hatte, erstaunte ihn keineswegs. Doch dass der gesamte Deutsch-Leistungskursus auf dem Klinikflur vor der Chirurgie versammelt war, das erstaunte ihn sehr.

Dési Norden drückte Thomas die Hand und sagte lässig: »Ich dachte mir, ein bisschen moralische Unterstützung könnte nicht schaden, oder?«

»Dési, du bist ein Engel«, entfuhr es ihm.

Das Mädchen lachte. »Sagen Sie das mal meinem Bruder …«

»Müsst ihr nicht zum Unterricht?«, fragte er dann seine Schüler, die aber versicherten, dass schon alles seine Ordnung habe. Dr. Bayer hatte den Kursus für die ersten beiden Stunden offiziell beurlaubt. Thomas konnte es kaum fassen. All die Sympathie, Anteilnahme und Unterstützung, die er nun erfuhr, machten ihn sprachlos.

Dann aber erschien eine Schwester und ließ Thomas wissen, dass er seinen Sohn vor dem Eingriff noch einmal kurz sehen könne.

Er tauschte einen einvernehmlichem Blick mit Sandra und folgte der Schwester. Die junge Kunsterzieherin schlug den Schülern vor, zusammen einen Kaffee trinken zu gehen. Sie ahnte, dass Thomas lieber allein sein würde, wenn er von Hannes zurückkam.

Der Junge hatte bereits ein Beruhigungsmittel erhalten, das ihn für den Eingriff vorbereitete. Als sein Vater an die Rollliege trat, auf der Hannes lag, sagte er leise: »Ich hab es mir überlegt, Papa. Ich möchte die Therapie mit dir machen.«

Thomas war überrascht, denn daran hatte er nun gar nicht mehr gedacht. Behutsam strich er Hannes über die blonden Locken und sagte: »Darüber reden wir, wenn du das hier hinter dir hast. Aber ich freue mich, dass du einverstanden bist.«

»Es wird bestimmt schwer …« Hannes fielen bereits die Augen zu, die OP-Schwester erschien in der offenen Tür. Es wurde Zeit.

»Ich bin bei dir, Hannes, bald hast du es überstanden«, versicherte Thomas seinem Sohn und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Dann kehrte er auf den Klinikflur vor den Operationssälen zurück und war ebenso erstaunt wie erleichtert, als er sah, dass sich hier niemand mehr aufhielt. Vermutlich hatte Sandra dafür gesorgt. Sie kannte ihn eben in- und auswendig. Er wünschte sich, sie wäre nun bei ihm, aber er musste sich eine Weile gedulden, bis sie zurückkehrte.

»Dein Kursus ist wieder in der Schule«, ließ sie ihn wissen. »Soll ich bleiben? Oder möchtest du lieber allein sein?«

»Bitte, bleib!« Das klang wie ein Stoßseufzer. Sandra setzte sich zu Thomas, der ihre Rechte nahm und ganz festhielt. Einmal noch sollte sie sein Rettungsanker sein, sein Halt und Trost.

Wenn Hannes gesund war, dann sollte aber alles anders werden, ganz anders, das hatte Thomas sich fest vorgenommen. Nachdem Sandra so lange und unermüdlich an seiner Seite durch ein Tal der Tränen gewandert war, sollte für sie beide in Zukunft nur noch die Sonne scheinen …

Währenddessen war Hannes im OP in Narkose versetzt worden, Dr. Rohde hatte den Katheter mit der Minikamera eingeführt und fuhr nun auf der Suche nach der Gefäßbrücke zwischen der Aorta und den Lungenarterien die Blutgefäße ab. Ihr Blick war dabei konzentriert auf den Monitor über dem OP-Tisch gerichtet.

»Blutdruck 100 zu 60, fallend«, meldete der Anästhesist.

Christina Rohde ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Narkose und die Untersuchung verursachten Stress, auf die der Körper reagierte. Sie kannte das. Und sie wusste aus Erfahrung, dass der Blutdruck sich nach einer Weile stabilisieren würde.

»80 zu 50«, kam es von dem Narkosearzt.

»Hier ist es.« Die Chirurgin hatte die Stelle gefunden. Der Assistenzarzt neben ihr schob das chirurgische Pflaster über einen zweiten Katheter nach.

»Der Blutdruck sackt weiter ab«, mahnte der Anästhesist.

»Gleichen Sie aus, ich brauche noch zehn Sekunden«, bat Dr. Rohde knapp. Sie übernahm das Pflaster und wollte es platzieren, als ein schriller Alarmton die konzentrierte Stille im OP zerriss.

»Herzstillstand!«

»Mist«, knirschte die Ärztin, zog die Katheter nicht zurück, sondern verharrte, während die Assistenz mit der Reanimation begann. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann konnte der Narkosearzt feststellen: »Ich habe wieder einen Puls.«

Dr. Rohde ging nun kein Risiko mehr ein. Ohne weitere Verzögerung setzte sie das Pflaster präzise und beendete den Eingriff rasch, aber nicht hektisch.

Kaum zehn Minuten später war Hannes’ Zustand wieder stabil.

Das OP-Team atmete geschlossen auf, Dr. Rohde wollte den Raum verlassen, um Thomas Sander zu informieren, als der Assistenzarzt feststellte: »Das war gewagt. Ich wäre nicht so weit ins Risiko gegangen, die Katheter zu belassen.«

»Ich weiß, aber es gab keine andere Option. Wenn Sie mehr Routine haben, Herr Kollege, werden Sie ein Gefühl dafür entwickeln, was geht und was nicht. Hätte ich die Katheter entfernt, hätten wir kostbare Zeit verloren. Und einen zweiten Versuch gab es hier leider nicht.«

»Repekt, da habe ich was dazu gelernt.«

Dr. Rohde lächelte. »Gut, das tun wir alle ständig. Und so soll es ja schließlich auch sein.«

*

Auch Dr. Norden bewunderte den Mut der Chirurgin, bat sie aber, Thomas Sander gegenüber nichts von dem Herzstillstand zu erwähnen.

Christina Rohde war gleich einverstanden.

»Er scheint ein sehr sensibler Mann zu sein. Wir sollten ihm keine unnötigen Sorgen machen.«

»Frau Kollegin, Ihre Menschenkenntnis ist sehr ausgeprägt.«

Dr. Rohde hob die Schultern und versicherte: »Ich gebe mir Mühe. Hannes’ Zustand ist übrigens gut. Wenn keine Komplikationen auftreten, womit wohl nicht zu rechnen ist, kann er morgen schon die Intensiv verlassen.«

»Ein glücklicher Abschluss für einen dramatischen Fall.«

Die Chirurgin nickte. »Ja, aber sind das nicht alle Fälle?«

Thomas hätte seinen Sohn sehr gerne gleich besucht, doch er sah ein, dass das nicht möglich war. Und die Aussicht, Hannes schon am nächsten Tag sehen zu können, tröstete ihn.

Er bedankte sich bei Dr. Rohde und gab zu: »Ich kann es noch immer kaum glauben, dass Hannes nun bald ganz gesund sein soll. Er war immer ein zartes Kind, ich habe mir meist Sorgen um ihn machen müssen. Dass das nun vorbei ist, daran werde ich mich wohl erst einmal gewöhnen müssen.«

»Ich vermute, wenn man Kinder hat, hört das mit den Sorgen wohl nie so ganz auf. Das gehört einfach dazu.«

»Allerdings.« Er drückte ihr herzlich die Hand und verabschiedete sich. Dr. Rohde blickte ihm ein wenig sehnsüchtig nach. Wieso traf sie nie einen so sensiblen und liebenswerten Mann, der sich für sie interessierte? Immer nur mit dem Beruf verheiratet zu sein, drückte doch manchmal aufs Gemüt. Vor allem, wenn man jemandem wie Thomas Sander begegnete …

»Frau Doktor?« Schwester Renate spitzte ins Ärztezimmer und ließ Christina Rohde wissen: »Herr Wagner klagt über Schmerzen an seiner OP-Wunde. Könnten Sie sich das mal ansehen?«

»Sicher, ich komme.« Routiniert schob Dr. Rhode die privaten Gedanken beiseite. Die Pflicht rief, und sie kam. Es war nun mal ihr Beruf und auch ihre Berufung …

Schon am nächsten Tag zog Hannes wieder in sein Krankenzimmer auf der Kinderstation um. Fee Norden freute sich, als sie sah, wie gut es ihrem kleinen Patienten ging. Jeden Tag ein wenig besser. Nun war seine Munterkeit nicht mehr aufgesetzt, er spielte kein Theater mehr, um seinem Vater zu gefallen. Wenn Thomas ihn besuchte, unterhielten die beiden sich lange und ausführlich. Thomas brachte seinen Sohn nach und nach wieder auf den aktuellen Stand, denn er hatte in der Zwischenzeit doch einiges an Unterricht versäumt.

Schließlich war es so weit; Hannes durfte die Behnisch-Klinik als geheilt verlassen.

Thomas holte seinen Sohn ab, bedankte sich nachdrücklich bei den Nordens und versicherte ihnen: »Ich werde Ihre Klinik von nun an in guter Erinnerung behalten.«

»Wir wissen, dass Sie hier Schweres durchmachen mussten, Herr Sander«, erwiderte Daniel Norden. »Deshalb sind wir froh, dass es diesmal anders gekommen ist.«

»Das war nur Ihr Verdienst. Und das von Frau Dr. Rohde. Dass Sie Hannes geheilt haben, erscheint mir noch immer wie ein Wunder. Sie haben mir das Wertvollste im Leben erhalten. Das werde ich Ihnen niemals vergessen.«

»Achten Sie darauf, dass Ihr Sohn sich noch eine Weile schont. Und lassen Sie Hannes regelmäßig von Ihrem Hausarzt untersuchen, die Nachsorge ist bei einer Herz-OP wichtig. Ich habe ihm die Patientenakte bereits zukommen lassen.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll …«

»Nicht nötig, wir haben nur unsere Arbeit getan«, sagte Fee lächelnd. »Ihnen und Hannes alles Gute!«

»Es wird Sie vielleicht interessieren, dass wir ab nächster Woche eine Therapie beginnen werden. Zusammen. Hannes war zuerst unsicher, aber dann hat er mich richtig dazu gedrängt.«

»Das ist sehr vernünftig.«

Thomas seufzte. »Ja, der Junge ist immer noch viel zu vernünftig. Ich hoffe, das gibt sich irgendwann …«

Zusammen verließen Thomas und Hannes gleich darauf zum letzten Mal die Behnisch-Klinik. Auf dem Parkplatz wartete Sandra auf die beiden, Susi an der Leine.

Als Hannes seinen geliebten Zweibeiner erblickte, gab es für die zwei kein Halten mehr. Susi rannte mit freudigem Gebell auf den Buben zu, der beide Arme um ihren Hals legte, sie herzte und kraulte und dabei in einem Atemzug lachte und weinte. Zufrieden und glücklich ließ Susi sich diese Behandlung gefallen, die sie ebenso sehr vermisst hatte wie Hannes.

Dann machten die vier sich gemeinsam auf den Heimweg. Sandra und Thomas tauschten manch einvernehmlichen Blick, Hannes aber war voll und ganz auf Susi konzentriert. Zusammen träumten die beiden schon vom nächsten Spaziergang an der Isar. Und das Glück leuchtete ihnen dabei nur so aus den Augen …

*

Auch wenn Dr. Martin Pauls seine Versetzung beantragt und das Albertinen-Gymnasium verlassen hatte, schien er doch nicht darauf verzichten zu können, zumindest einen giftigen Abschiedsgruß zu hinterlassen.

Als Thomas ein paar Tage später zum Unterricht erschien, fand er in seinem Fach im Lehrerzimmer eine Nachricht von Dr. Bayer mit der Bitte, ihn nach Schulschluss in seinem Büro aufzusuchen.

Thomas wunderte sich darüber, machte sich aber noch keine Gedanken. Er vermutete, dass es Unklarheiten wegen seiner vielen Fehlstunden gab. Doch darum ging es nicht.

Im Büro des Direktors hielt sich neben Dr. Bayer der Elternsprecher auf sowie eine Dame mittleren Alters, die Thomas nicht kannte. Dr. Bayer stellte sie ihm als Mitarbeiterin des Kultusministeriums vor und bat ihn dann, ebenfalls Platz zu nehmen. Man sah dem Direktor an, dass er sich nicht wirklich wohl fühlte, dass ihm die Situation zuwider war. Doch er konnte sie nicht umgehen, dafür hatte Dr. Pauls schon gesorgt.

»Was wir hier zu besprechen haben, betrifft den Schulstreik, in dessen Folge der Kollege Pauls um seine Versetzung ersucht hat«, erklärte Dr. Bayer. »Das Ganze ist ein wenig unglücklich gelaufen, vor allem, weil Sie zwar nur indirekt betroffen sind, Herr Sander, nun aber gewisse Vorwürfe gegen Sie im Raum stehen, die doch einer Klärung bedürfen.«

»Und worum geht es genau?«, fragte Thomas irritiert.

»Darf ich?« Klaus Erler, der Elternsprecher, tauschte einen knappen Blick mit Waldemar Bayer, und da dieser nickte, führte er aus: »In den sozialen Medien wurde offen über Dr. Pauls Unterrichtsmethoden und sein Verhalten Ihnen gegenüber diskutiert, Herr Sander. Dort ist wohl auch die Verabredung zu diesem Streik zustande gekommen. Und wie es aussieht, ist die Initiatorin der Opposition gegen Dr. Pauls eine ehemalige Schülerin dieses Gymnasiums, Désirée Norden.«

Thomas Sander wahrte sein Pokerface. »Und?«

»Im Grunde ist das Ganze ein demokratischer Vorgang. Schüler haben das Recht, sich zu versammeln und für ihre Überzeugung zu demonstrieren. Natürlich im angemessenen Rahmen. Hier ist aber so einiges quer gegangen. Die Demonstration fand während des Unterrichts statt. Das ist nicht zu dulden und wird dem ganzen Kursus einen Verweis einbringen.«

»Ist das nicht ein bisschen kleinlich?«

Dr. Bayer räusperte sich. »Das eigentliche Problem ist, dass Dési Norden eine außenstehende Person ist, die über Schulinterna informiert war. Haben Sie dazu etwas zu sagen, Herr Sander?«

»Eigentlich nicht, ich war ja zu der Zeit in der Klinik.«

»Dann trifft es nicht zu, dass Ihre Kollegin Frau Buchmann das Mädchen informiert hat?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich bitte Sie!« Klaus Erler schüttelte ärgerlich den Kopf. »So kommen wir doch nicht weiter.«

»Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment.« Dr. Bayer machte Thomas ein Zeichen, ihm ins Vorzimmer zu folgen. Da die Schulsekretärin bereits Feierabend hatte, waren sie hier allein.

»Was soll denn dieser Zirkus?«, fragte Thomas ärgerlich. »Sie wissen, wie das Ganze gelaufen ist. Wieso wird plötzlich eine Staatsaffäre daraus gemacht?«

»Weil Dr. Pauls dafür gesorgt hat. Das ist wohl seine Rache. Er hat akribisch alle Infos aus dem Internet zusammengestellt und den ganzen Vorgang an die Elternschaft und das Ministerium geschickt. Ich war deshalb leider gezwungen zu reagieren. Sie wissen, wie erleichtert wir alle waren, nachdem Martin Pauls seinen Hut genommen hat. Und Sie wissen auch, dass ich auf Ihrer Seite bin, Herr Sander. Also arbeiten Sie jetzt mit, damit die Sache vom Tisch kommt und Pauls sich nicht noch eins ins Fäustchen lachen kann.«

»Sandra hat es Dési Norden erzählt. Ich will sie nicht belasten, denn sie hat es doch nur gut gemeint.«

»Wir wissen schon, wie es gelaufen ist. Frau Buchmann wird eine Abmahnung bekommen. Es geht jetzt nur darum, dass Sie kooperieren, dann belassen wir es dabei. Ich habe keinerlei Lust, das Ganze zu einer Disziplinarsache aufzublähen. So kurz vor den Abiturterminen wäre das so hilfreich wie ein Loch im Kopf, da stimmen Sie mir doch wohl zu, oder?«

Trotz allem musste Thomas schmunzeln. Dass Dr. Bayer deftig wurde, kam sonst nie vor. »Sicher, bringen wir es hinter uns.«

Der junge Lehrer erzählte nun offen, wie es zu dem Schulstreik gekommen war, wies aber zugleich darauf hin, dass alles, was er wusste, nur aus zweiter Hand kam.

»Ich war zu der Zeit bei meinem Sohn in der Behnisch-Klinik, Frau Buchmann hat mich über alles informiert.«

Klaus Erler gab sich damit zufrieden und stellte fest: »Sie haben sich offenbar korrekt verhalten, Herr Sander. Angesichts der Tatsache, dass unsere Kinder sehr viel von Ihnen halten und die Abiprüfungen vor der Tür stehen, sollten wir das Ganze wohl beilegen. Von der Elternschaft wird da nichts mehr kommen.«

»Und wie denken Sie darüber, Frau Mainhard?«

»Ich schließe mich der Meinung von Herrn Erler an. Allerdings hat es für mich den Anschein, als ob Sie hier ein Problem hätten, Herr Dr. Bayer.«

Der Direktor stutzte. »Ich?«

»Ja, Sie. Ihre Schüler genießen offenbar Freiheiten, die sie zum selbstständigen Denken animieren. Und die Bindung geht zudem über das Abitur hinaus, wie dieses Mädchen beweist, das den Streik organisiert hat. Auf der anderen Seite gibt es Lehrer wie Herrn Sander, die von ihren Schülern nahezu vergöttert werden. Etwas mehr Mittelmaß in allen Bereichen wäre da wünschenswert.« Sie erhob sich und lächelte schmal. »Kein großes Drama, lieber große schulische Leistungen. Kanalisieren Sie die Potenz Ihrer Schüler gezielter, Herr Dr. Bayer. Dann kann es nur besser werden. Auf Wiedersehen.«

Nachdem sich auch Klaus Erler verabschiedet hatte, drückte Dr. Bayer Thomas die Hand und bat: »In Zukunft kommen Sie bitte gleich zu mir, wenn es Probleme gibt.«

»Dr. Pauls war eigentlich mein Problem.«

»Falsche Einschätzung, oder?«

»Ja, das sehe ich jetzt ein. Aber dass Sandra abgemahnt wird, gefällt mir nicht. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, Herr Dr. Bayer. Können Sie nicht darauf verzichten?«

»Bei aller Sympathie, aber sie hat mit einer Außenstehenden über schulische Interna geredet. Das geht leider nicht. Ganz davon abgesehen wird so eine Abmahnung nach fünf Jahren wieder aus der internen Bewertung gestrichen, wenn der Betroffene sich nichts mehr zuschulden kommen lässt.« Er lächelte angedeutet. »Und da besteht bei der Kollegen Buchmann doch wohl keine Gefahr, oder?«

Thomas schüttelte den Kopf und versicherte: »Bestimmt nicht.«

*

»Ich finde es mies, dass Frau Buchmann bestraft wird, weil Sie das Richtige getan hat. Dagegen sollte man etwas unternehmen.«

Janni bedachte seine Schwester mit einem schrägen Blick. »Wie wär’s wieder mit einer Demo auf dem Schulhof?«

Dési zeigte ihm den Vogel, woraufhin er nur lachte.

»Seid ihr fertig, ihr zwei?« Fee betrat in einem festlichen, hellblauen Kostüm die Diele, das ihr blondes Haar zum Leuchten brachte. Ebenso wie die Augen ihres Sohnes, der feststellte: »Ma, du siehst Bombe aus!«

»Hoffentlich explodierst du nicht, Liebes«, scherzte Daniel Norden, der im dunklen Anzug ebenfalls eine gute Figur machte.

»Ich sollte lieber zu Hause bleiben, ich habe nichts Gescheites zum Anziehen für eine Hochzeit«, beschwerte Dési sich.

»Warum hast du nicht selbst was entworfen, wenn dir schon sonst nichts steht?«, stichelte Janni.

Sie verzog den Mund. »Mit dir kann ich immer noch mithalten.«

»Seid friedlich, ihr zwei«, mahnte Fee die Zwillinge.

»Was du da anhast, ist sehr hübsch«, lobte Daniel.

»Danke, Paps. Leider zählt deine Meinung nicht.« Sie lächelte ihm zuckersüß zu. »Du bist befangen.«

»Nun kommt, wir müssen los.« Dr. Norden verfrachtete seine Lieben ins Auto, dann fuhren sie zu einem Lokal in Haidhausen, wo an diesem Tag eine Hochzeitsfeier stattfand.

»Dass Frau Buchmann nicht kirchlich heiratet, verstehe ich nicht«, sinnierte Dési. »Ein weißes Kleid mit Schleier, das ist es doch, worum es bei einer Hochzeit geht.«

Fee und Daniel tauschten einen beredten Blick, während Janni seiner Schwester riet: »Du solltest nicht immer alles vom Standpunkt der zukünftigen Modedesignerin sehen.«

»Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich wirklich Modedesign studiere. Es gibt so viele andere interessante Gebiete …«

»Zum Beispiel?«

»Keine Ahnung, alles Mögliche eben …«

Janni verdrehte die Augen und schwieg sich aus.

»So, da wären wir.« Daniel Norden parkte vor dem Lokal, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift ›Geschlossene Gesellschaft‹ hing. »Wir gehören dazu«, stellte er lächelnd fest und streckte eine Hand nach Fee aus, die ihre hinein schob.

»Die beiden haben sich wirklich ein bisschen Glück verdient«, sagte sie. »Und Hannes kann endlich Kind sein.«

»Wie läuft wohl die Therapie für Vater und Sohn?«

Fee hob die Schultern. »Wir werden es sicher erfahren …«

Das etwas unscheinbare, biedere Gebäude erwies sich im Innern als sehr gemütliches Lokal. Der Besitzer hatte den urigen Charme einer Kneipe aus den Zeiten des Kaiserreichs mit praktischer Gemütlichkeit kombiniert. Und das Hochzeitsmenü war so schmackhaft, dass alle Gäste sich lobend äußerten.

Sandra und Thomas saßen mit glücklichen Gesichtern am Kopf der Festtafel, die die gesamte Länge des Schankraums einnahm. Neben ihnen hatte Hannes seinen Platz gefunden. Der Bub strahlte übers ganze Gesicht. Er war nicht mehr so dünn und blass und wirkte nun wie ein richtiger Lausbub. Natürlich durfte Susi nicht fehlen. Sie lag ganz entspannt zu Füßen des Jungen und freute sich über den einen oder anderen Bissen vom Tisch, mit dem Hannes sie heimlich bedachte.

Die Sanders hatten nicht nur Familie Norden eingeladen, sondern auch ihre Kollegen und den inzwischen legendären Deutsch-Leistungskursus, der natürlich geschlossen erschienen war, obwohl das Abitur und damit die Schulzeit mittlerweile hinter ihm lag. Doch es stimmte eben, was Frau Mainhard vom Kultusministerium festgestellt hatte: Die Schüler hingen am Albertinen-Gymnasium, es gab da ein Band, das auch im späteren Leben bestehen blieb.

Nach dem Essen blieb die Festgesellschaft dann noch lange gemütlich beisammen. Es wurde getanzt, geplaudert und viel gelacht. Und das Glück blitzte dem Brautpaar nur so aus den Augen, wie Fee Norden zufrieden feststellte.

»Wie läuft die Therapie?«, fragte sie Thomas interessiert.

»Langsam.« Der junge Mann seufzte. »Am Anfang hätte ich fast aufgesteckt, weil es einfach zu schmerzlich war, mich noch einmal mit Ilkas Tod zu befassen. Und Hannes hat es auch sehr mitgenommen. Aber irgendwann kamen die ersten Erfolge. Wir fingen an, darüber zu reden, unsere Gefühle offen zu formulieren. Es ging teilweise ziemlich ruppig zu. Sandra hat mal wieder als ausgleichende Kraft fungiert. Und jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, wo wir langsam abschließen können. Es wird noch eine Weile dauern. Ich weiß auch nicht, ob es uns je gelingen wird, mit Abstand darüber zu reden. Aber ich muss sagen, die Therapie hat sehr viel gebracht. Ich danke Ihnen, Frau Dr. Norden. Ohne Sie wäre ich nicht auf die Idee gekommen, wie wichtig diese Aufarbeitung ist.«

»Und ich vermute, sie hat auch Ihnen geholfen?«

Thomas nickte. »Ich habe keine Albträume mehr. Und ich bin endlich wieder fähig, ein neues Glück in mein Leben zu lassen.« Er schaute Sandra liebevoll an, die seinen Blick auf die gleiche Weise erwiderte.

»Wie geht es Hannes? Er macht einen munteren Eindruck.«

»Der täuscht nicht. Unser Hausarzt ist zufrieden mit ihm. Keine Atemnot mehr, keine Einschränkungen.« Thomas lächelte. »Ich glaube, Hannes hat sich schneller daran gewöhnt als ich. Es ist nicht leicht, sich plötzlich keine Sorgen mehr zu machen.«

Fee Norden lachte leise. »Das geht uns allen so …«

Kurz nach Mitternacht verabschiedete sich das frisch gebackene Ehepaar in die Flitterwochen. Eigentlich war es ja ein Familienurlaub, denn Hannes und Susi kamen natürlich auch mit. Doch das tat der romantischen Stimmung keinen Abbruch. Sandra und Thomas hielten schon im Taxi zum Bahnhof Händchen und tauschten manch liebevollen Kuss. Sie spürten beide, dass ihr Glück eben erst begonnen hatte. Und dass ein wunderbares, gemeinsames Leben vor ihnen lag.

»Wohin fahren sie eigentlich?«, fragte Janni auf dem Heimweg. »Ich dachte, in Flitterwochen geht man nur zu zweit …«

»Ich finde es gut, dass sie Hannes mitnehmen. Schließlich sind sie jetzt eine Familie«, merkte Dési an. »Und am Chiemsee ist es zu jeder Jahreszeit schön.«

»Chiemsee?« Janni schüttelte den Kopf. »Dahin hätten sie mit dem Fahrrad fahren können.« Er grinste. »Oder von mir aus auch mit einem Tandem …«

Fee und Daniel Norden hatten das schöne Fest genossen. Und als die Zwillinge in ihren Zimmern verschwunden waren, sagte Daniel: »Jetzt gönnen wir uns aber noch ein Gläschen. Oder bist du etwa schon wieder zu schläfrig?«

»Keineswegs. Ich bin hellwach!« Sie tauschten einen zarten Kuss, dann machte Fee es sich auf dem Sofa bequem. Eine gute Idee, den Abend so ausklingen zu lassen. Und am nächsten Tag war Sonntag, da konnten sie ausschlafen …

Eine kleine, steile Unmutsfalte prägte sich wenig später auf Fees Stirn ein, als das Telefon sich meldete und fast zeitgleich der Rufalarm auf ihrem und Daniels Handy losging.

Gleich darauf erschien ihr Mann, statt einer Flasche Wein und zwei Gläsern hob er sein Handy in die Höhe und mahnte: »Notfall, wir sind beide gefragt. Kommst du?«

Fee erhob sich mit einem Seufzer. »Sicher …«

»Wir holen das nach, versprochen.« Daniel schaute ihr für zwei unendliche Sekunden tief in die Augen und fand in diesem vertrauten Blick jene Einigkeit, die ihre Ehe und ihren Beruf erfüllte. Und die es ihnen erst ermöglichte, das zu leisten, was sie immer, Tag für Tag, zustande brachten. Ein rascher Kuss, dann saßen sie auch schon im Auto und machten sich schleunigst auf den Weg zur Behnisch-Klinik …

Für Fee und Daniel wurde es eine lange Nacht, Sandra und Thomas aber genossen diese Stunden auf intensive Weise.

Das kleine Ferienhaus am See lag sehr idyllisch nahe einem Schilfgürtel. Beschützt von alten Bäumen, mitten in der Natur und doch nur eine Bahnstation von der Stadt entfernt.

Hannes war in dem ungewohnten Bett nicht gleich eingeschlafen. Aber als Sandra ihm noch eine Geschichte erzählte und Susi auf dem Vorleger neben seinem Bett schlafen durfte, fielen ihm bald die Augen zu. Als die junge Frau behutsam die Tür zum Kinderzimmer schloss, empfing Thomas sie mit einem Glas Rotwein, nahm ihre Hand und ging mit ihr nach draußen.

Hier brannten Windlichte, die die Umgebung mit einem besonderen Zauber erfüllten.

Der Nachthimmel war tiefschwarz, der Mond bereits untergegangen. Grillen zirpten. Es raschelte im Schilf und irgendwo rief ein Nachtvogel. Sie setzten sich auf eine gemütliche Bank, blickten auf den stillen See und schwiegen einvernehmlich. Thomas dachte an die Nacht vor Hannes’ Operation, als sie lange mit Susi an der Isar gelaufen waren. Damals hatte er den Zauber dieser Nacht nicht genießen können, da war sein Herz voller Angst und Sorge gewesen. Nun war alles anders. Er empfand tiefes Glück und Zufriedenheit.

Und als über dem See eine Sternschnuppe niederging, erschien ihm dies wie ein gutes Omen.

»Wir müssen uns etwas wünschen«, mahnte Sandra ihn mit einem Lächeln. »Schnell, bevor es zu spät ist.«

Thomas erwiderte ihr Lächeln, küsste sie zärtlich und gab zu: »Es ist schon längst zu spät, ich habe ­alles, was ich mir nur wünschen kann …«

»Wunschlos glücklich?«

»Du etwa nicht? Das werde ich umgehend ändern.«

»Und wie willst du das anstellen?«, neckte sie ihn.

Er grinste jungenhaft. »Da wird mir schon was einfallen …«

»Und wenn noch mehr Sternschnuppen fallen? Es könnte eine dieser besonderen Nächte sein«, gab Sandra zu bedenken.

»O ja, das glaube ich auch«, lachte Thomas leise. Und dann waren sie einander genug, brauchten keine Worte mehr, denn die Sprache der Liebe ließ ihre Herzen in völligem Einklang schlagen. Von nun an ein ganzes, wunderbares Leben lang …

Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman

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