Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 41

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»Das lässt sich sehen.« Josef Moosbacher überflog noch einmal die Zahlen der Lieferverträge und nickte dabei mit einem zufriedenen Lächeln, das seine hellen Augen blitzen ließ. »Was sagst, Markus? Ab nächstem Monat wird der Name Kronenbräu auch in Hannover und Umgebung ein Begriff werden. Und was für einer …« Der Brauherr zwirbelte seinen in Ehren ergrauten Schnauz. Sein Blick suchte den seines Sohnes, doch Markus schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Stumm schaute er aus dem schmalen Seitenfenster der Cessna und betrachtete scheinbar mit großem Interesse die abgeernteten Stoppelfelder, die sie gerade im ländlichen Umfeld Münchens überflogen.

Der Himmel war klar wie Glas und babyblau an diesem Mittwoch im August. Nur ab und an segelten ein paar Wattewölkchen an der Privatmaschine vorbei und spielten Idylle weiß-blau.

Josef musterte seinen Älteren nachdenklich. Markus war in allem sein Ebenbild, oder doch fast. Sie waren gleich groß und ein wenig massig, fleißig und gute Geschäftsleute. Das dichte, dunkle Haar war bei Josef einem schimmernden Eisgrau gewichen, das ihn distinguiert erscheinen ließ. Das behauptete jedenfalls seine Jüngere, Elke. Sein Ein und Alles, seit seine geliebte Martha vor über zwanzig Jahren bei Elkes Geburt gestorben war. Sie war und blieb sein kleines Madel, zart und zerbrechlich nach einer durchkränkelten Kindheit. Nun eine hübsche junge Frau, fast feengleich mit Augen, so blau wie der Himmel über Bayern, mit glänzendem Blondhaar und einem zauberhaften Lachen. Dachte er an sie, dann ging ihm das Herz auf. Und er schob den Gedanken weit weg, dass sie erwachsen geworden war, dass sie irgendwann ihr eigenes Leben leben wollte, fernab von der imposanten Landvilla im Gebirglerstil, dem Wohnsitz der Moosbachers, nur einen Steinwurf entfernt vom Brauhaus, ihrem Broterwerb seit Generationen. Wenn Elke ihm nur noch eine Weile erhalten blieb, dann wollte er zufrieden sein. Die Familie zählte für Josef alles, sie kam immer an erster Stelle. Und wenn es da nicht stimmte, dann spürte er das. So war es auch jetzt.

»Bub, sag mir, was los ist«, bat er Markus, beugte sich ein wenig vor, sodass die Grandeln an seiner schweren Uhrkette aus Altsilber leise zu flüstern schienen, und legte ihm die große Rechte schwer auf die Schulter. Er spürte den teuren Loden und darunter Muskeln, denn Markus war sportlich. Schon in der Schule war er ein passionierter Ruderer gewesen und übte den Sport auch heutzutage noch aus, wenn die Geschäfte es zuließen, dass er sich ein wenig Freizeit nahm.

Ihr weitläufiges Grundstück hatte einen direkten Zugang zur Würm, mit Bootssteg komfortabel eingerichtet. Hier war der kleine Fluss breit und träge und bot unter dichter Ufervegetation Natur pur. Früher, als Bub, war Josef dort in heißen Sommern schwimmen gegangen. Doch das was so lange her, dass es schon fast nicht mehr wahr zu sein schien…

Markus wandte ihm das Gesicht zu, und er sah in den blauen Augen seines Sohnes, die den seinen erstaunlich ähnlich waren, tiefen Kummer. Die gesamte Geschäftsreise in den Norden war von einer unterschwelligen, kühlen Düsterheit beschattet gewesen. Josef, der für Emotionen jeder Art ein feines Gespür hatte, fragte sich schon, seit sie in Hannover abgeflogen war, woran das lag. Was war nur los mit seinem Sohn?

»Magst drüber reden? Was drückt dich?«, fragte er behutsam.

Der junge Moosbacher seufzte. »Ich mach mir meine Gedanken. Bevor wir losgeflogen sind, hatte ich Streit mit Evelyn. Das kommt in letzter Zeit öfter vor, wie du bestimmt mitgekriegt hast. Wir liegen uns einfach ständig in den Haaren.«

»Was Bestimmtes? Oder nur ein bisserl Eheroutine der unangenehmen Art?«, scherzte Josef mit einem schmalen Lächeln.

Markus hob die breiten Schultern. »Eigentlich steckt nix dahinter. Wenn ich im Nachhinein drüber nachdenke, kommt es mir ganz dumm und kindisch vor. Ich hab sogar das Gefühl, dass sie es drauf anlegt, verstehst?«

Josef wurde ernst. »Sie sucht den Streit?«

Er hatte seine Schwiegertochter nie sonderlich gemocht. Als Markus mit der kleinen Blondine aufgetaucht war, hatte er im Stillen gehofft, dass es nichts Ernstes sein würde. Sein Sohn glich ihm auch in dieser Beziehung. Josef war in jungen Jahren ein rechter Hirsch gewesen, vor dem kein Rock sicher war. Dann hatte er sich in Martha Maidenbauer verliebt, die bildschöne und selbstbewusste Tochter eines beruflichen Konkurrenten. Sie hatte ihn nach allen Regeln der Kunst an der Nase herum geführt und mit ihren spöttischen Kommentaren ständig auf die Palme gebracht. Die ersten Jahre mit ihr waren ein Leben auf dem Vulkan gewesen. Doch nach Kampfgeschrei und Leidenschaft hatten sich ihre Herzen in wahrer Liebe einander zugeneigt. Als sie gestorben war, hatte Josef auch sein Herz ins Grab geschickt. Seither war er Witwer mit den üblichen, standesgemäßen Gspuseln. Doch keine hatte sein Herz mehr berührt, seine Liebe war mit Martha gestorben.

Dass Markus an Evelyn hängen geblieben war, an dieser egoistischen und verwöhnten Person, oberflächlich und vergnügungssüchtig, wie sie war, erschien Josef schlimm genug. Dass sie nun auch noch die Ehe hintertrieb, seinen Sohn unglücklich machte, ging für seinen Geschmack eindeutig zu weit.

»Wenn ich’s recht bedenk, dann kommt es mir wirklich so vor. Früher war das anders. Evelyn ist nie zänkisch gewesen.«

Josef schwieg eine Weile, dann ließ er anklingen: »Könnte es denn sein, dass sie einen anderen hat? Will sie ausbrechen?«

Hatte er spontanen Widerspruch erwartet, sah er sich getäuscht. Markus schien ebenfalls schon in diese Richtung gedacht zu haben. Und das machte seinem Vater den Ernst der Lage bewusst. Die Ehe seines Sohnes schien in Gefahr zu sein.

Dass der Brauherr nicht unbedingt böse über eine Scheidung gewesen wäre, behielt er wohlweislich für sich. Hier ging es nicht um seine persönliche Antipathie gegen Evelyn, sondern darum, dass sein Sohn Kummer hatte, leiden musste. Und das tat auch ihm weh. Schließlich waren auch erwachsene Kinder noch Kinder, die beschützt werden wollten. So sah der Familienmensch Josef Moosbacher das jedenfalls.

Markus seufzte bekümmert. »Ich hab schon länger den Verdacht, dass da was ist.«

»Jemand Bestimmtes?«

»Frag mich net, warum, aber es schaut für mich so aus, als ob’s einer aus dem Betrieb wäre. Sie ist auffällig oft daheim, hat ihr ganzes Verhalten geändert. Net nur mir gegenüber.«

»Was meinst?«, forschte Josef nach.

»Da ist so einiges, was sie vor mir verbirgt. Und ich bring’s net über mich zu schnüffeln. Aber vor ein paar Tagen hab ich das auf dem Boden im Schlafzimmer gefunden. Sie hat’s wohl verloren und net bemerkt.« Markus griff in seine Jankertasche und reichte seinem Vater eine Rechnung für Getränke.

»Kasino München. Sie spielt?«

»Das war mir auch neu. Vielleicht spielt aber auch ihr Gspusi, und sie hat ihn begleitet. Vielleicht war’s zufällig eine Verabredung dort. So recht erklären kann ich’s mir net. Es wird mir nix anderes übrig bleiben, als sie zur Rede zu stellen.«

Der Brauherr nickte. Er betrachtete die Rechnung nachdenklich. »Und wenn da kein anderer ist? Könnte doch sein, sie will nur die Spielerei vor dir verheimlichen. Wäre dir das lieber?«

Markus lächelte schmal. »Ich weiß, Vater, du magst Evelyn net. In unserer Ehe ist auch gewiss net alles Gold, was glänzt. Aber ich hab meine Frau nach wir vor lieb. So einfach mag ich meine Ehe fei net verloren geben.«

»Verstehe.« Josef erwiderte das Lächeln seines Sohnes offen. »Wenn du es so willst, soll es mir recht sein. Du weißt, das Glück meiner Kinder steht für mich an erster Stelle.«

»Neben den Verkaufszahlen vom Kronenbräu?«

Er lachte. »Davor, Bub, davor!«

Nun meldete sich der Pilot aus dem Cockpit und informierte die Moosbachers, dass sie auf dem Anflug zum Privatflughafen waren.

»Wir sind bald daheim.« Josef legte die Verträge in seinen Aktenkoffer. »Ich werde …«

Mitten in seinen letzten Satz hinein drang unvermittelt ein lauter Knall, ganz ähnlich einer Explosion. Von einer Sekunde zur nächsten geriet die Maschine in Schieflage. Ein schriller Alarmton erklang, die Sauerstoffmasken fielen aus den Boxen über den Sitzen. Josef krallte sich automatisch fest, Markus schrie: »Was ist das, Sackerl Zement?«

Der Brauherr starrte, reglos vor Schreck, aus dem Fenster und sah die Landebahn rasend schnell auf sie zukommen. Markus war aufgestanden, wankte nach vorn und riss sie Tür zum Cockpit auf. »Anderl, was ist los?«, fuhr er den Piloten an, der hektisch einen Notruf absetzte und zugleich verzweifelt versuchte, die Maschine zu stabilisieren. Die Instrumententafel leuchtete wie ein Weihnachtsbaum. Markus, der ebenfalls einen Flugschein besaß, quetschte sich auf den Notsitz neben Anderl Hain, der knirschte: »Alle Kontrollen sind ausgefallen. Wir müssen versuchen, die Kiste auf Sicht runter zu bringen. Aber ich krieg sie net stabil, es geht einfach net …«

Markus übernahm den Steuerknüppel, während der Pilot einen Teil der Verkleidung löste, hinter der eine ganze Menge Technik zum Vorschein kam. Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte er.

»Ich kann hier nix überbrücken, jemand hat das Hauptrelais ausgebaut. Das ist Sabotage, das …«

Der junge Moosbacher zog den Steuerknüppel im scharfen Winkel nach oben, doch es war zu spät. Im nächsten Augenblick prallte die Cessna ungebremst auf die Landbahn. Mit ohrenbetäubendem Krachen brachen die Tragflächen, ein Teil des Rumpfs wurde eingedrückt, das Fahrgestell bohrte sich ins Innere der Maschine. Wie ein Geschoss schlidderte sie über die Landebahn hinaus, die Schnauze bohrte sich in den geschotterten Boden abseits des Asphalts. Noch einmal schien das kleine Flugzeug sich aufzubäumen, dann rutschte es auf die Seite und blieb liegen. Letzte Staubwolken stiegen träge in den weiß-blauen Sommerhimmel, dann war alles still.

*

Dr. Erik Berger, Leiter der Notfallambulanz in der Behnisch-Klinik, war gerade damit beschäftigt, einen Longboarder zu verarzten, der mit seinem Brett weit übers Ziel hinaus geschossen war, als sein Kollege Dr. Jakob Janssen den Behandlungsraum betrat und seinen Vorgesetzten wissen ließ: »Sie werden gleich im Schockraum gebraucht. Flugzeugabsturz in Erding, zwei Schwerverletzte in kritischem Zustand. Der Heli ist gerade gelandet.«

Dr. Berger nickte knapp. »Machen Sie das fertig.« Weg war er.

Nur wenige Minuten später wurden Markus und Josef Moosbacher in den Schockraum gebracht. Dr. Fred Steinbach, der die beiden während des Flugs betreut hatte, konnte wenig Gutes berichten.

»Zwei Schwerstverletzte, beide instabil. Multiple Frakturen, Verdacht auf innere Verletzungen. Blutdruck ist im Keller, ich gehe von mindestens einem Milzriss aus, der Ältere hatte auf dem Flug bereits einen Kardioarrest.«

Dr. Berger nickte knapp, dann wandte er sich an Schwester Inga, die ihm bei der ersten Untersuchung zur Hand ging. »Monitor anschließen, Blutdruck, EKG, Sättigung. Und schaffen Sie jemanden von der Chirurgie her, ich habe hier eine ganze Menge Arbeit für mindestens einen Kollegen.« Er schnaufte. »Verdammter Mist, das sieht aus wie auf dem Schlachtfeld …«

Schwester Inga bedachte ihn mit einem knappen Blick, sparte sich aber eine Erwiderung. Sie war die ruppige Art ihres Chefs mittlerweile gewohnt.

In der nächsten Stunde arbeitete Dr. Berger verbissen und mit nicht nachlassender Konzentration. Dr. Christina Rohde, die Chirurgin, operierte Josef Moosbacher, nachdem Erik Berger alles getan hatte, um die beiden Verletzten zu stabilisieren.

Mittlerweile waren nicht nur Feuerwehr und Rettungskräfte in Erding vor Ort gewesen, sondern auch Polizei und Presse.

Während man in der Behnisch-Klinik um das Leben von Vater und Sohn Moosbacher kämpfte, trafen die ersten Journalisten ein und belagerten sogleich den Eingang zur Notfallambulanz.

Schließlich erschien Dr. Daniel Norden, der Klinikchef, um ein Machtwort zu sprechen und dem Spuk ein Ende zu bereiten.

»Wie ist der Zustand der Moosbachers?« »War es ein Anschlag oder ein normaler Unfall?« »Sind schon Angehörige hier?« So wurde Dr. Norden mit Fragen bombadiert, die er allesamt überhörte. Stattdessen erklärte er mit gefasster Stimme: »Ich kann im Moment keinerlei Angaben machen und möchte Sie deshalb bitten zu gehen. Sie behindern unsere Arbeit.«

»Da vorn ist Evelyn Moosbacher!«, schrie einer aufgeregt, woraufhin die Meute hastig abzog. Dr. Norden betrat mit einem Seufzen die Notfallambulanz. Er kannte Josef Moosbacher gut, war seit Langem mit der Familie befreundet. Der Absturz ihrer Privatmaschine war auch für ihn ein Schock. Nun wollte er sich über den Zustand der beiden Verletzten informieren. Dass der Pilot bereits an der Unfallstelle verstorben war, wusste er schon. Dr. Janssen kam dem Chefarzt entgegen und fragte: »Ist die Presse endlich weg?«

»Ja, aber ich fürchte, nicht für lange. Sie haben sich auf die ersten Angehörigen gestürzt, die gerade angekommen sind. Wie geht es den beiden? Wissen Sie schon was?«

Der junge Assistenzarzt schüttelte den Kopf. »Der Chef hat den jüngeren Verletzten noch hier. Wenn Sie wollen …«

Daniel Norden nickte. Als er den Schockraum betrat, meldete gerade ein schriller Dauerton einen Herzstillstand. Er trat an den Behandlungstisch, wo Dr. Berger sich anschickte, Markus Moosbacher zu reanimieren. Wortlos ging Dr. Norden ihm zur Hand. Nach wenigen Minuten mussten sie ihre Bemühungen allerdings einstellen. Bedrückt fragte Dr. Norden nach dem alten Moosbacher.

Dr. Berger schüttelte nur den Kopf. Er wirkte sehr müde und niedergeschlagen. »Schwester Inga, notieren Sie den Zeitpunkt des Todes«, murmelte er automatisch, dann verließ er den Raum.

Draußen atmete Erik Berger einige Male tief durch, wandte sich danach an Daniel Norden und fragte: »Könnten Sie mit den Angehörigen reden? Sie wissen ja, mir liegt das nicht so.«

»Ist gut, ich übernehme das.«

»Danke.« Dr. Berger nickte knapp und wandte sich dann ab. Er tat sich schwer damit, Gefühle zu zeigen, versteckte sie lieber hinter Zynismus und Spott. Doch gleich zwei Patienten auf einen Schlag zu verlieren, das setzte auch ihm zu.

Dr. Norden verließ die Notfallambulanz und ging in die Halle, wo Evelyn Moosbacher von den Journalisten belagert wurde. Ein etwas unscheinbarer Mann stand neben ihr und versuchte, alle neugierigen Frager abzuwimmeln.

»Kommen Sie bitte mit, Evelyn«, bat Daniel Norden, woraufhin sie dem Mann zunickte, der ihr wortlos folgte.

Im Büro des Chefarztes erklärte sie: »Das ist Dr. Matthias Petzold, der Geschäftsführer unserer Brauerei. Er war so nett, mich hierher zu begleiten. Wie geht es meinem Mann und meinem Schwiegervater? Wissen Sie schon etwas, Daniel?«

Dr. Norden bot seinen Besuchern zunächst Platz an. Er wunderte sich im Stillen darüber, wie gefasst Evelyn war. In ihrem puppenhaft schönen Gesicht zuckte kein Muskel, ihre rehbraunen Augen blickten ihn kühl, beinahe gelassen an. Er hatte aus langjähriger Erfahrung mit Angehörigen eigentlich etwas anderes erwartet. »Es tut mir sehr leid, aber wir konnten die Verunglückten nicht retten, ihre Verletzungen waren einfach zu schwer. Mein Beileid.«

»Beide – tot?« Ihre Stimme zitterte leicht, doch ihr Blick blieb ruhig. »Das ist schrecklich.« Sie schlug die Augen nieder und murmelte: »Ich muss sofort nach Hause. Elke …«

»Soll ich Sie begleiten?«, schlug Daniel Norden spontan vor. Josefs Tochter Elke war bei seinem Sohn Danny in Behandlung, deshalb wusste er, dass sie sehr empfindlich und nicht belastbar war. Sie litt seit geraumer Zeit unter nervösen Herzbeschwerden. Vater und Bruder auf einmal zu verlieren, würde sie umwerfen.

Evelyn dachte einen Moment lang nach, dann lehnte sie Dr. Nordens Angebot aber ab. »Ich werde Ihrem Sohn Bescheid sagen. Nichts für ungut, aber Elke hat großes Vertrauen zu ihm.«

Gleich darauf hatte sie sich schon verabschiedet. Dr. Petzold folgte ihr wie ein Schatten.

Als Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, die Besucher hinaus brachte, betrat Felicitas Norden das Büro ihres Mannes.

»Fee, gut, dass du kommst.« Er atmete auf und legte einen Arm um sie. »Ich kann ein wenig Aufmunterung jetzt brauchen.«

Sie schaute ihn mit ihren erstaunlich blauen Augen aufmerksam an und fragte: »Schlimm?«

»Dass Sepp tot ist, daran muss ich mich erst mal gewöhnen. Er war ein wirklich guter Freund, wie du ja weißt. Seine Spenden für unsere Klinik, seine mitfühlende Art, sein Humor … Ich könnte noch stundenlang so weitermachen.«

»Du hast ihn sehr gemocht.«

»O ja, er war bodenständig und hatte zugleich einen Sinn für die feinen Zwischentöne. Nach dem Tod seiner Frau hat er sich zudem für die medizinischen Forschung eingesetzt. Er war ein Mann mit vielen Seiten.«

»Ja, ich erinnere mich noch gut daran, als wir ihn vor ein paar Jahren auf der Wiesn getroffen haben. Er konnte auch eine echte Stimmungskanone sein.«

Daniel lächelte. »Stimmt. Sein Bier war der Hit auf der Wiesn, er war wirklich sehr erfolgreich als Brauherr.«

»Vielleicht zu erfolgreich?« Fee machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie oft kommt es eigentlich vor, dass so ein kleines Flugzeug einfach abstürzt?«

»Du meins … Na ja, die Cessna ist eine der sichersten Maschinen. Und Sepps Pilot hatte viel Erfahrung. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es etwas anders als ein tragischer Unfall gewesen ist.«

»Die Polizei wird es herausfinden.« Fee küsste ihren Mann zart auf den Mund. »Ich muss wieder auf meine Station. Bis später.«

Daniel Norden widmete sich ebenfalls seinen Aufgaben, die für einen Klinikchef und Chefarzt in Personalunion entsprechend vielfältig waren. Doch wirklich konzentrieren konnte er sich nicht darauf. Fees Andeutung ging ihm nicht aus dem Kopf.

Er hielt es nach wie vor für undenkbar, dass jemand Sepp und seinem Sohn nach dem Leben getrachtet hatte. Als sie sich das letzte Mal gesehen hatten – bei einer Spendengala zugunsten der Krebsforschung im vergangenen Herbst –, hatte der Brauherr angedeutet, dass die Ehe seines Sohnes nicht wirklich glücklich sei. Daniel war allerdings der Meinung, dass Sepp seine Schwiegertochter einfach nicht leiden konnte. Die unterkühlte Blondine war eben nicht jedermanns Fall. Von beruflichen Feinden hatte er allerdings nicht gesprochen.

Wie auch immer; Daniel beschloss, am Abend mit seinem Sohn zu telefonieren. Er wollte wissen, wie es Elke Moosbacher ging.

*

Das wollte auch Désirée Norden, als sie am Abend erfuhr, was geschehen war. Sie kannte Elke Moosbacher aus der Schule, das Mädchen war zwar zwei Jahre älter als Dési, aber sie hatten zusammen im Schulchor gesungen.

Beim gemeinsamen Abendessen im Hause Norden erkundigte Dési sich deshalb genau, was passiert war. Ihr Zwillingsbruder Janni beschwerte sich: »Nicht schon wieder blutige Schilderungen am Esstisch, dabei vergeht mir der Appetit. Könnt ihr das nicht bitte später besprechen?«

Alex, der Sohn von Daniels Cousin Michael, mischte sich ein und bat um eine genaue Beschreibung. Er wohnte vorübergehend im Hause Norden, bis er ein passendes Zimmer gefunden hatte, denn er wollte in München Medizin studieren.

»Nun hör aber auf«, rügte Dési ihn, denn Janni wurde bereits verdächtig grün im Gesicht. »Es geht hier doch nicht um medizinische Details, sondern um Leute, die wir kennen und mögen. Ich werde Elke in den nächsten Tagen mal besuchen. Bestimmt kann sie Beistand gebrauchen. Jetzt hat sie ja nur noch ihre Schwägerin, diesen Eisblock.«

»Evelyn ist tatsächlich ziemlich unterkühlt«, gestand ihr Vater ihr zu. »Sie war dermaßen gefasst, als ich ihr die schlechte Nachricht überbringen musste, wie ich es praktisch noch nie erlebt habe.«

»Dass ihr Bruder diese Zicke geheiratet hat, war für Elke ein ziemlicher Schlag«, wusste Dési. »Sie hat ja keine Mutter, die ist bei ihrer Geburt gestorben. Deshalb gab es da immer nur ihren großen Bruder und den Vater. Na ja, sie hat sich so was wie eine Ersatzmutter erhofft, als Markus geheiratet hat. Aber Evelyn? Die ist so mütterlich wie eine Klapperschlange.«

»Ich vermute, die ist ihren Kindern gegenüber schon mütterlich«, warf Janni ein. »Wenn sie aus dem Ei schlüpfen …«

Dési verzog den Mund. »Okay, Herr Professor. Tatsache bleibt aber, dass Evelyn ein kalter Fisch ist. Und Elke hockt jetzt ganz allein da, die arme Seele.«

»Hat sie keinen Freund?«, fragte Alex.

Dési hob die Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Sie ist ziemlich schüchtern. Obwohl, diesen Thomas, den neuen Braumeister, den mag sie, glaub ich, ganz gern. Sieht auch nicht schlecht aus, der Junge.«

Fee horchte auf. »So? Interesse?«

»Rein platonisch. Was soll ich denn mit einem Bierbrauer? Ich trinke nur grünen Tee. Außerdem würde ich Elke nie ins Gehege kommen. Wir sind schließlich Freundinnen…«

Später am Abend telefonierte Daniel dann noch mit seinem ältesten Sohn, dem Leiter der Praxis Dr. Norden. Dr. Danny Norden, der attraktive Allgemeinmediziner, dessen Charme auch den schwierigsten Patienten nicht unberührt ließ, und der ebenso engagiert und empathisch wie sein Vater war, freute sich, von diesem zu hören.

»Ich kann mir schon denken, warum du anrufst, Papa«, sagte er. »Der Flugzeugabsturz in Erding war sogar in den Lokalnachrichten.«

»Eine schreckliche Geschichte. Hast du dich um Elke gekümmert? Evelyn war bei uns in der Klinik. Sie meinte, sie würde dich gleich verständigen, wenn sie heimkommt.«

Danny seufzte. »Sie liegt flach, Schock. Ich habe sie behandelt und hätte sie lieber zu euch gebracht, aber Evelyn hatte was dagegen. Sie will Elke angeblich selbst pflegen. Sie meinte, das würde sie ein bisschen ablenken.« Er konnte nicht verhindern, dass der letzte Satz ironisch rüberkam. Daniel verstand seinen Sohn nur zu gut.

»Und darauf hast du dich eingelassen?«, wunderte er sich.

»Ich sehe morgen wieder nach ihr. Wenn ihr Zustand sich nicht stabilisiert, werde ich sie zu euch in die Klinik schicken.«

»Gut. Halte mich bitte auf dem Laufenden. Ich denke, wir sehen uns dann bei der Beerdigung.«

»Wenn ich es schaffe. Bin momentan ziemlich eingespannt. Aber du kennst das ja, Papa. Bei euch alles gesund und munter?«

»Glücklicherweise. Mama und die Zwillinge schicken Grüße.«

»Mit Dank zurück.« Er zögerte einen Moment und gab dann zu: »Ich bin froh, dass du dich gemeldet hast. Lach bitte nicht, aber es hat mir einfach gut getan, deine Stimme zu hören.«

Daniel lächelte. »Verstehe ich schon. Wenn so was passiert, wird einem bewusst, was man selber jederzeit verlieren kann.«

»Man sollte eben nichts im Leben zu selbstverständlich nehmen.« Danny gähnte verhalten. »Bevor ich zu philosophisch werde, lege ich lieber auf. Bis bald, Papa.«

»Bis bald. Und … schlaf gut.« Daniel Norden schüttelte leicht den Kopf. Wie lange war es eigentlich her, dass er das zum letzten Mal zu seinem Ältesten gesagt hatte? Und ihm dabei über den Kopf gestrichen hatte? Ganz nebenbei, denn das war schließlich über viele Jahre zum täglichen Ritual geworden. Nun war es Vergangenheit. Aus Kindern wurden Leute. Und Danny schlief schon lange ohne den väterlichen Segen ein. Eigentlich schade. Daniel Norden lächelte schmal und dachte: Nur nicht philosophisch werden. Dann erhob sich, knipste die Schreibtischlampe in seinem Arbeitszimmer aus und gesellte sich wieder zu seinen Lieben.

*

»Was willst du denn schon wieder hier? Elke schläft.« Evelyn musterte Thomas Walters kühl. »Bilde dir nur nicht ein, dass du dich jetzt hier breitmachen kannst, wo die Chefs weg sind.«

Der hoch gewachsene, junge Mann mit dem dichten, dunklen Haar und den klaren, grauen Augen lächelte spöttisch. Als er beim Kronenbräu angefangen hatte, war Evelyn hinter ihm her gewesen. So wie hinter jedem halbwegs passabel aussehenden Angestellten des Brauhauses unter dreißig. Es schien ihr Spaß zu machen, ihren Mann zu betrügen. Oder vielleicht war sie auch ganz einfach nur gelangweilt. Er wusste es nicht, und es war ihm im Grunde genommen auch egal. Thomas interessierte sich nicht für verheiratete Frauen. Und Evelyn hätte ihn selbst dann nicht gereizt, wenn sie frei gewesen wäre. Sie war kalt und egoistisch, hatte keine Moral und kannte keine Skrupel. Von solchen Frauen hielt man sich wohl besser fern, wenn man sein Leben halbwegs genießen wollte. Und das tat Thomas. Er liebte seinen Beruf, war Braumeister mit Leib und Seele. Und es hatte nicht lange gedauert, bis er sich in die zarte und bezaubernde Elke Moosbacher verliebt hatte. Um dem Ruch zu entgehen, er wolle sich nur ins gemachte Nest setzen, hatte er sich aber zurückgehalten und sich mit einer lockeren Freundschaft begnügt.

Seit er Evelyns Avancen zurückgewiesen hatte, war sie ihm spinnefeind. »Nicht jeder denkt immer nur an seinen Vorteil«, erwiderte er nun gelassen auf ihren Vorwurf und ging lässig an ihr vorbei, die gelaugte Holzstiege hinauf in den ersten Stock, wo sich Elkes Räume befanden. Evelyn blickte ihm wütend und abschätzig hinterher.

Leise betrat Thomas Elkes Schlafzimmer. Das Fenster war abgedunkelt, im Raum herrschte ein pastellenes Zwielicht. Elke lag im Bett, war aber wach. Als sie Thomas bemerkte, bat sie: »Setz dich zu mir, ich möchte nicht allein sein.«

In ihrer Stimme schwangen Tränen mit, wie stets, seit sie am Vortag die schreckliche Hiobsbotschaft erfahren hatte. Vorsichtig setzte der junge Mann sich auf die Bettkante, nahm Elkes Hände, die eiskalt waren, behutsam in seine und versprach: »Ich bleib, bis du ein bisserl schlafen kannst.«

»Danke.« Sie seufzte zittrig. »Ach, Thomas, ich kann’s einfach net glauben. Ist es denn wirklich wahr? Warum nur? Warum lässt der liebe Herrgott so etwas zu? Ich begreif’s nicht.«

»Ich auch net«, gestand er ihr aufrichtig. »Denk nimmer dran, versuch einfach, an etwas Schönes zu denken. Es hat keinen Sinn, wenn du dich quälst. Das hätte dein Papa net gewollt.«

Elke weinte leise. Thomas ließ ihr Zeit, bis sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, dann schlug er vor: »Heut Abend gehen wir ein bisserl raus. Net lang, der Dr. Norden kommt ja gewiss noch mal vorbei, um nach dir zu sehen, gelt? Aber du brauchst frische Luft. Es ist so schönes Wetter.«

»Ich weiß nicht recht. Ich bin so müde, fühle mich ganz schwach, so als ob ich keinen einzigen Schritt tun könnte.«

»Dann verschieben wir den Spaziergang auf morgen, ganz wie du magst«, sagte er langmütig.

»Wenn der Dr. Norden nachher vorbeikommt, frage ich ihn einfach, was er davon hält, einverstanden?«

»Freilich, das ist eine gute Idee. So machen wir es.«

Danny Norden hatte nichts dagegen, dass seine Patientin einen kurzen Spaziergang unternahm, mahnte sie aber, es nicht zu übertreiben. So verließen Elke und Thomas schließlich das Haus, um eine Weile über das parkähnliche Grundstück rund um die Villa Moosbacher zu schlendern.

Auf einer Bank in der Nähe des Bootsstegs legten sie eine Pause ein. Die Sonne stand bereits tief hinter den Bäumen, Lichtsäume zeichneten die Silhouetten der großen alten Weiden am Wasser der Würm, die hier breit und träge floss. Nahe dem Ufer wuchsen weiße Seerosen und gelbe Mummeln. Über dem Wasser, das im sanften Abendlicht grünlich schimmerte, tanzten die Insekten.

»Als ich noch ein kleines Madel war, vielleicht vier oder fünf, da ist der Markus mit mir an einem späten Sommerabend hierher gegangen und hat mir die Glühwürmerln gezeigt«, erinnerte Elke sich mit trauriger Stimme. »Ich hab’s in meiner kindlichen Einfalt für Feen gehalten und ihn gebeten, mir eine einzufangen. Freilich hat er’s gemacht, aber dann war’s eben doch nur ein Käfer mit einem leuchtenden Hinterteil. Und ich hab so geweint, weil ich mir doch eine Fee gewünscht hab. Die sollte immer bei mir sein, mich in den Schlaf singen und mich trösten, wenn ich mal krank war.« Sie seufzte. »Aber damit war’s dann leider Essig.«

»Eine Ziehmutter aus dem Feenreich«, sinnierte Thomas und lächelte dabei versonnen. »Ich mein fast, du kommst auch von dort her, Liebes. Bist ein ganz besonderes Madel.«

»Ach, Thomas, ich wünschte, das wäre ich. Aber ich bin eben doch nur schwach und kränklich. Was soll nun aus unserem Brauhaus werden? Ich kann mich dieser Verantwortung nicht stellen, das pack ich nicht.«

»Du bist die Erbin vom Kronenbräu und wirst entscheiden müssen, was werden soll. Aber nicht heut und nicht morgen. Der Betrieb läuft, darum musst du dich nicht sorgen.«

»Ja, der Dr. Petzold hat gewiss alles im Griff.«

Thomas’ Miene war sorgenvoll, als er erwiderte: »Darauf solltest du dich nicht unbedingt verlassen. Der Mann hat zu viele eigene Interessen. Ich halte den net für einen loyalen Mitarbeiter. Und du darfst ihm nicht einfach freie Hand lassen.«

Elke schaute Thomas erschrocken an. »Wie meinst du das?«

Der junge Braumeister zögerte. Er hatte Elke lieb und wollte verhindern, dass ihr nun, da sie allein stand, noch mehr Leid zugefügt wurde. Der aalglatte Geschäftsführer des Brauhauses, der ihm recht undurchsichtig erschien, war dafür ein passender Kandidat. Thomas hatte nichts Konkretes gegen Matthias Petzold in der Hand, es war mehr eine Ahnung, ein Gefühl, genährt von zufälligen Beobachtungen und gesundem Menschenverstand. Doch er musste verhindern, dass Petzold die derzeitige Lage zu seinen Gunsten nutzte und dabei vielleicht sogar der Brauerei schadete.

»Dein Vater hat Petzold in letzter Zeit nimmer vertraut. Er hat wichtige Geschäftsabschlüsse nur noch selbst getätigt oder zusammen mit deinem Bruder. Petzold ist außen vor geblieben. Und ich glaube, das hat eine ganze Menge böses Blut gegeben.«

»Hat Papa mit ihm gestritten?«

»Die Situation war ziemlich verfahren. Ich habe einmal zufällig gehört, wie Petzold mit der Kündigung drohte. Dein Vater war sehr aufgebracht. Da muss einiges schief gelaufen sein. Dieser Petzold ist ein undurchsichtiger Charakter.«

Elke hatte aufmerksam zugehört, nun vertraute sie Thomas an: »Ich glaube, da ist auch was zwischen ihm und Evelyn. Die beiden gehen sehr vertraut miteinander um, wenn sie allein sind. Sie duzen sich auch, offiziell aber net. Und einmal hab ich sie zusammen in München gesehen. Sie waren beide elegant gekleidet und sind in die Spielbank gegangen.«

»Das gefällt mir nicht. Ich werde Petzold im Auge behalten.«

Elke lächelte ein wenig und schmiegte sich an Thomas. »Ich danke dir. Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.«

»Ich bin immer da, wenn du mich brauchst, das verspreche ich dir«, sagte er und es klang tatsächlich nicht nur wie ein Versprechen, sondern fast schon wie ein Schwur.

*

Am nächsten Tag besuchte Dési Norden Elke. Die freute sich, die Freundin zu sehen, und sie verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen. Erst als Thomas vorbeischaute, verabschiedete Dési sich, versprach aber, zur Beerdigung zu kommen.

»Sie ist ein liebes Madel«, urteilte Elke, nachdem Dr. Nordens Tochter gegangen war. »Ich mag sie wirklich gern. Aber sag, gibt es etwas Neues aus dem Brauhaus?«

»Der Betrieb läuft routinemäßig weiter. Dr. Petzold war heute den ganzen Tag net da. Erst kurz vor Feierabend ist er aufgetaucht, in seinem Büro verschwunden und hat dann lange telefoniert.«

»Hast du herausfinden können, mit wem?«

Thomas seufzte. »Es liegt mir zwar nicht zu spionieren, aber ich hab die Wahlwiederholung an seinem Telefon gedrückt, nachdem er weg war. Die Nummer gehört der Konkurrenz, dem Goldbräu in Nürnberg.«

Elke starrte ihn erschrocken an. »Was hat er nur mit denen zu bereden? Der Vater hat mal gesagt, die wären seine schärfsten Gegner. Ob er wohl wechseln will, sich beruflich verändern?«

»Möglich. Also, ehrlich gesagt, mir wäre das nur recht. Wenn du einen neuen Geschäftsführer einstellen tätst, könntest dich nur verbessern, das steht fest.«

»Vielleicht würdest du den Posten übernehmen«, deutete Elke an, doch Thomas schüttelte den Kopf.

»Nein, das wäre nix für mich. Ich bin Braumeister. Den ganzen Tag nur hinter einem Schreibtisch zu sitzen, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Wenn der Petzold wirklich geht, brauche ich einen guten Ersatz«, sinnierte Elke. »Hilfst du mir, einen zu finden?«

»Freilich. Aber noch wissen wir ja nicht, was er vorhat.«

»Versprich mir, dass du ein Auge auf ihn hast. Das wird mir schon sehr helfen.«

»Natürlich, du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst, Elke. Warten wir erst mal ab, was sich so tut.«

»Dann sehen wir uns morgen.« Sie wurde noch eine Spur blasser, ihre Augen verdunkelten sich vor Kummer. »Zur Beerdigung.«

»Ich werde da sein, du musst das net allein durchstehen«, versicherte Thomas ihr fürsorglich.

Als der junge Braumeister sich wenig später verabschiedete, beobachtete Evelyn ihn durch das Fenster im Arbeitszimmer ihres verstorbenen Schwiegervaters. Kalt und sezierend folgten ihre Augen ihm, dabei stellte sie fest: »Du musst diesen Walters feuern, so schnell es geht. Der aufdringliche Kerl wird uns noch in die Quere kommen.«

Dr. Matthias Petzold saß hinter dem Schreibtisch und schaute Unterlagen durch. Er warf Evelyn einen skeptischen Blick zu.

»Das halte ich für keine gute Idee. Er ist der beste Braumeister, den wir bislang hatten. Und ich habe nichts gegen ihn in der Hand, was beim Arbeitsgericht standhalten würde.«

»Dann denk dir was aus, du hast doch Fantasie.« Sie lächelte spöttisch. »Wirst du irgendwann diesen ganzen Wust durchgesehen haben? Oder dauert das bis in alle Ewigkeit?«

»Ich muss alle Unterlagen sichten, die dein Schwiegervater mir vorenthalten hat. In letzter Zeit hat er schließlich die gesamten Abschlüsse an sich gezogen. Ich will auf dem Laufenden sein, damit wir beim Verkauf der Brauerei nicht übers Ohr gehauen werden.« Er warf ihr einen knappen Blick zu und fragte: »Wie stellst du dir das Ganze eigentlich vor? Du bist immerhin nicht die Alleinerbin.«

»Keiner konnte damit rechnen, dass Elke zu Hause bleibt. Sie hatte schließlich vor, Markus und den Alten nach Hannover zu begleiten. Dass sie sich nicht wohl fühlt und sich im letzten Moment anders entscheidet, war verdammtes Pech.« Sie lächelte maliziös. »Wie gern würde ich das arme Kind nun beweinen…«

Matthias musterte Evelyn schweigend. In Momenten wie diesem graute ihm vor ihr. Sie war eiskalt. Dass er auf ihr schönes Gesicht und ihren perfekten Körper hereingefallen war, bereute er jeden Tag aufs Neue. Sie würde ihn seine Ehe kosten und sie hatte ihn bereits zum Mörder werden lassen. Doch sie machte immer weiter, es schien keine Grenzen für sie zu geben, wenn es darum ging, ihren Willen zu bekommen. Wäre er der Spielsucht nicht schon seit langer Zeit verfallen, hätte er vielleicht noch eine Chance gehabt, sich von ihr zu lösen. Doch durch seine immensen Schulden und die Unterschlagungen, zu denen er sich im Brauhaus hatte hinreißen lassen, hatte sie ihn fest in der Hand. Er war ihr williges Werkzeug, es gab kein Entkommen.

»Was hast du vor?«, fragte er sie voller Unbehagen.

Evelyn ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie war nicht dumm, besaß eine glasklare Menschenkenntnis und wusste immer, wie sie ihr Gegenüber einzuschätzen hatte.

Markus Moosbacher war ein ehrlicher Schnuffel gewesen. Mit der aufrichtigen und bescheidenen Masche hatte sie ihn rasch erobert, fast schon zu schnell für ihren Geschmack. Er war ihr lächerlich treu ergeben gewesen. Erst in letzter Zeit hatte er angefangen, misstrauisch zu werden. Doch seine Ahnungen waren vage geblieben. Und sein tragischer Tod hatte Evelyn jegliche Konsequenzen ihrer Handlungsweise erspart.

Matthias Petzold war aus anderem Holz geschnitzt. Berechnend, immer auf seinen Vorteil bedacht und auch skrupellos, wenn am Ende die Kasse stimmte. Er hatte nicht gezögert, seine Frau zu betrügen, als Evelyn Interesse an ihm gezeigt hatte. Und er hatte nur eine kleine Weile gezögert, als sie ihm offenbart hatte, was sie plante: Als Alleinerbin des Kronenbräu mit einer zweistelligen Millionensumme auf einen Schlag alle Spielschulden loszuwerden und einige Jahre in Saus und Braus zu leben. Sie hatte ganz offen darüber geredet. Wie sauber und glatt ein kleiner Flugzeugabsturz all ihre Probleme beseitigen könnte. Und auch seine. Sie hatte mit Verführung gearbeitet, mit genügend Geld gewinkt, um ihn ein für alle Mal vor zwielichtigen Schlägertypen zu bewahren, die überfällige Zinsen eintrieben.

Alles hatte sich genau so entwickelt, wie Evelyn es wollte. Nun stand nur noch die kleine Elke zwischen ihr und dem Erbe. Sie hatte bereits einen cleveren Plan, wie sie das schwächliche Mädchen loswerden konnte. Aber sie musste diesmal geschickt und behutsam vorgehen, um Matthias nicht zu verschrecken. Er war zwar ein verkommener Charakter, für den Moral ein Fremdwort darstellte, doch er war auch ängstlich. Und manche Dinge konnte er sich einfach nicht vorstellen, da stieß er an biedere Grenzen, die Evelyn vorsichtig auflösen musste, wollte sie erfolgreich sein. Und das wollte sie, schließlich stand einfach zu viel auf dem Spiel.

»Ich werde mich mit Elke einigen«, behauptete sie leichthin. »Sie muss einsehen, dass sie allein die Brauerei nicht leiten kann. Ohne dich ist sie aufgeschmissen. Wenn ich andeute, dass du bereits ein Angebot der Konkurrenz in der Tasche hast, wird sie nachgeben. Du fälschst die Bilanzen und sorgst dafür, dass ihr Erbe sehr viel schmaler ausfällt als erwartet.«

»Denkst du, dass wir damit durchkommen? Dieser Walters …«

Sie musterte ihn kalt. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst ihn los werden? Solange er hinter Elke steht und darauf spitzt, den Betrieb in Eigenregie zu übernehmen, werde ich bei ihr nichts erreichen. Denk dir was aus, er muss weg.«

Dr. Petzold erhob sich mit einem leisen Seufzen. »Gut, ich werde mich darum kümmern.«

»Sehr schön.« Sie wich ihm aus, als er sie zum Abschied küssen wollte, sodass er nur ihre Wange erwischte. »Wir sehen uns morgen bei der Beerdigung. Danach müssen wir Nägel mit Köpfen machen. Ich will keinen Tag länger hier bleiben, als unbedingt nötig. Lange genug musste ich in der Provinz versauern.«

»Wir werden ein herrliches Leben haben, alles wird gut«, versicherte Matthias ihr, und es klang, als müsse er sich damit in erster Linie selbst beruhigen.

»Hast du den Mechaniker gut bezahlt? Ich möchte nicht, dass noch etwas schiefgeht.«

»Er ist schon wieder im Ausland, keine Sorge.«

Evelyn hob die Schultern. »Ich mache mir nie Sorgen. Bis dann.« Nachdem der Geschäftsführer gegangen war, blickte Evelyn noch eine Weile hinaus in den Park. Sie sah Elke, die auf einer Bank am Fluss saß. Ganz allein. Vielleicht sollte sie …

Aber nein, ein weiterer Unfall in der Familie Moosbacher würde auffallen. Evelyn beschloss, bei ihrem ursprünglichen Plan zu bleiben. Sie löste sich vom Fenster, ging zum Schreibtisch und nahm aus einer schmalen Lade ein kleines Fläschchen heraus. Sinnend betrachtete sie es. Josef hatte die Tropfen gegen seinen hohen Blutdruck eingenommen. Hatte man ein schwaches Herz oder einen zu niedrigen Blutdruck, konnten sie eine nahezu fatale Wirkung haben. Evelyn lächelte eisig. Sie hatte das Gefühl, dass genau das schon sehr bald geschehen würde…

*

Josef Moosbacher und sein Sohn Markus wurden in der Familiengruft auf dem Erdinger Friedhof beigesetzt. Die kleine Gemeinde platzte an diesem sonnigen und noch warmen Spätsommertag buchstäblich aus allen Nähten. Jede Pension, alle Fremdenzimmer waren belegt. An der Landstraße reihten sich schwere Limousinen mit Fahrern, die in ihrer Livree leise vor sich hin schwitzten. Ein langes Spalier Trauerfloristik säumte den kiesbestreuten Weg zur Gruft aus dem hellen Stein der Region. Viele Moosbachers hatten hier bereits ihre letzte Ruhe gefunden, die Ahnenreihe reichte bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück. Kriege, Pest und Naturkatastrophen hatten auch in der Brauerfamilie ihre Opfer gefunden. Doch nie zuvor waren Vater und Sohn, Vergangenheit und Zukunft des Kronenbräus, an einem Tag bestattet worden.

Während der Gemeindepfarrer vor den beiden Särgen aus schwerer, dunkler Eiche predigte, rollte auch eine Kolonne gepanzerter Limousinen mit weiß-blauem Stander heran, der Münchner Oberbürgermeister, der Landrat sowie ein Vertreter des Ministerpräsidenten, mit Kränzen und Kondolationen im Gepäck.

»Der Josef war wirklich ein wichtiger Mann«, stellte Fee Norden fest und ließ ihren Blick über den Totenacker schweifen.

»Elke geht es richtig schlecht«, merkte Dési an. »Aber schaut euch nur mal Evelyn an, den Eisblock …«

Ihre Eltern konnten ihr nicht widersprechen. Daniel nickte seinem Sohn zu, der in Elkes Nähe stand, denn er rechnete offenbar jederzeit damit, dass sie zusammenklappte. Sie war kreidebleich, ihre Augen schwammen in Tränen, und sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Thomas Walters war an ihrer Seite und stützte sie. Evelyn hingegen stand hoch erhobenen Hauptes in der teuren Trauergarderobe eines namhaften Designers da, ihr Gesicht verschwand hinter einem aufwändigen Schleier. Ihre Mimik blieb dahinter zwar verborgen, doch ihre Körperhaltung drückte überaus deutlich aus, was sie empfand. Und Trauer war dies ganz gewiss nicht.

»Die macht sogar noch aus einer Beerdigung eine Modenschau«, stellte Dési ärgerlich fest. »So was ist doch unmöglich…«

Die Predigt des Pfarrers endete, Kränze wurden nieder gelegt, dann schickten sich die Sargträger an, die Verstorbenen in die Gruft zu bringen. In diesem Moment trat Dr. Danny Norden vor, zugleich fiel Elke in sich zusammen. Thomas bekam sie zu fassen und brachte sie nach einem kurzen Wortwechsel mit dem jungen Norden ein Stück weit fort.

Die Nordens folgten, Daniel schlug seinem Sohn vor: »Wir können Elke mitnehmen, wenn du es für besser hältst.«

»Ich will sie erst untersuchen, aber ich glaube, eine Weile in der Behnisch-Klinik wäre nun das Beste für sie«, stimmte er zu.

Thomas legte Elke behutsam in den Fond der Limousine, mit der die Familie zum Friedhof gekommen war. Dann trat er zu den Nordens und sagte: »Sie hätte gleich in die Klinik gehen sollen. Es geht ihr sehr schlecht. Ich mache mir große Sorgen um sie.«

Noch ehe jemand etwas erwidern konnte, näherte sich Evelyn Moosbacher, Dr. Petzold folgte ihr auf den Fuß. Sie war ärgerlich, das war nicht zu übersehen. Doch sie hatte sich gut im Griff, fragte mit salbungsvoller Stimme: »Wie geht es dem armen Kind? Sie hätte zu Hause bleiben sollen. Ich habe ihr gesagt, dass das einfach zu viel für sie ist, aber sie wollte ja nicht auf mich hören. Der gleiche Dickschädel wie ihr seliger Vater, der Arme …«

Danny kam heran und sagte zu Evelyn: »Ich würde Elke gern für ein paar Tage in die Behnisch-Klinik schicken. Ihr Zustand gefällt mir gar nicht. Meine Hausbesuche reichen da einfach nicht mehr aus. Sie braucht jetzt eine intensivere Betreuung, als ich sie leisten kann. Sind Sie einverstanden, wenn meine Eltern sie gleich mit nach München nehmen, Evelyn?

»Nein, damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden«, stellte sie sogleich entschieden klar. »Es wäre falsch, das arme Kind aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Elke hat hier alles, was sie braucht. Ich kümmere mich um sie, wir können uns gegenseitig Trost spenden. Das versteht ja doch kein Außenstehender. Und der unpersönliche Klinikbetrieb wäre nun das vollkommen Falsche für sie.«

Damit hatte Danny Norden nicht gerechnet. »Aber ich versichere Ihnen …«, setzte er an, wurde jedoch sofort von Dr. Petzold unterbrochen, der wie immer in Evelyns Windschatten gesegelt war. »Sie haben gehört, was Frau Moosbacher gesagt hat. Wir benötigen Ihre Hilfe jetzt nicht mehr, Herr Dr. Norden. Keine Sorge, Ihre Patientin wird betreut, sie hat alles, was sie braucht. Davon können Sie sich gern jederzeit überzeugen.«

»Das werde ich«, versprach Danny und schaute dabei nur Evelyn an, die ihn abschätzig musterte. »Ich sehe morgen wieder nach Elke, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Evelyn nickte hoheitsvoll, dann stieg sie zusammen mit Dr. Petzold zu Elke in den Fond der Limousine, die gleich darauf auch schon abfuhr.

»Das Ganze gefällt mir nicht«, beschwerte Danny Norden sich.

»Mir auch nicht«, pflichtete sein Vater ihm bei. Und es ging ihm in diesem Moment nicht nur ums rein Medizinische. Er hatte das deutliche Gefühl, dass sich hier bereits die nächste Tragödie im Hause Moosbacher anbahnte …

*

Am nächsten Tag wollte Thomas nach Elke sehen, aber eines der Hausmädchen verwehrte ihm den Zutritt zur Villa. Er beschwerte sich so lange lautstark, bis Dr. Petzold an der Tür erschien und ihm drohte: »Wenn Sie nicht sofort gehen, rufe ich die Polizei. Was Sie hier versuchen, nennt man Hausfriedensbruch. Verschwinden Sie, Walters, sonst werden Sie es bereuen!«

»Sie drohen mir? Sie haben hier doch gar nichts zu melden. Lassen Sie mich zu Elke«, forderte der junge Mann aufgebracht.

»Seien Sie vernünftig. Ich warne Sie zum letzten Mal.«

Thomas zögerte kurz, dann trat er den Rückzug an. Matthias Petzold lächelte zufrieden und schloss die Haustür.

»Ist er endlich weg?«, fragte Evelyn ungehalten.

»Ja, er hat sich getrollt.«

»Wir müssen ihn loswerden. Hast du etwas gegen ihn in der Hand?«, wollte sie drängend wissen.

»Seine Kündigung ist schon geschrieben. Keine Sorge, er liefert uns doch ständig Gründe. Ich warte nur auf eine passende Gelegenheit, dann fliegt er«, versicherte Matthias ihr.

»Gut. Ich sehe jetzt nach Elke.«

Der Prokurist schaute ihr nachdenklich hinterher. Ihr plötzlich erwachter Familiensinn war ihm suspekt. Hatte sie tatsächlich vor, Elke nur zu manipulieren? Oder führte sie etwas ganz anderes im Schilde? Mit einem unguten Gefühl kehrte er ins Arbeitszimmer zurück.

Evelyn betrat derweil Elkes Schlafzimmer. Die junge Frau lag blass und matt im Bett und reagierte kaum auf ihre Schwägerin.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Evelyn, während sie einige von Josefs Herztropfen in ein Glas mit Wasser gab.

»Sehr müde. Ich würde am liebsten nur noch schlafen.« Sie hob mühsam die Lider. »Ist Thomas nicht gekommen? Ich dachte, ich hätte seine Stimme gehört …«

»Du hast nur geträumt. Er arbeitet sicher noch. Sobald er auftaucht, bringe ich ihn zu dir«, versicherte Evelyn ihr. »Hier, trink, das wird dir gut tun.« Sie reichte der jungen Frau das Glas und ­achtete darauf, dass diese es austrank.

Arglos schluckte Elke das Medikament, sie nahm an, dass Danny Norden es verschrieben hatte. »Wann kommt denn Dr. Norden?«

»Bald, schlaf jetzt. Du brauchst Ruhe.«

Es dauerte tatsächlich nur noch wenige Augenblicke, bis Elke eingeschlafen war. Evelyn lächelte eisig, steckte die Tropfen wieder ein und verließ den Raum. Als sie die Treppe herunter kam, hörte sie Matthias sagen: »Natürlich können Sie zu Ihrer Patientin, Herr Doktor. Aber der da bleibt draußen. Elke möchte ihn nicht sehen, er wird sie nur wieder aufregen.«

»Dr. Norden!« Evelyn begrüßte Danny Norden, der einen Hausbesuch machen wollte, freundlich. Thomas Walters ignorierte sie. Offenbar hatten sie Thomas unterschätzt. Dass er sich an den Hausarzt gehängt hatte, um Elke zu sehen, war clever. So schnell gab er also nicht auf.

»Ich möchte kurz nach meiner Patientin sehen«, erklärte Danny Norden distanziert. Er hatte Evelyns Verhalten bei der gestrigen Beerdigung nicht vergessen.

»Aber natürlich, kommen Sie nur herein, Herr Doktor. Elke schläft. Sie war sehr erschöpft nach ihrem Zusammenbruch. Ich bringe Sie zu ihr.«

Thomas wollte dem jungen Arzt folgen, aber Matthias Petzold knallte ihm schlichtweg die Tür vor der Nase zu.

»Ich dachte, Elke und Thomas Walters sind befreundet«, merkte Danny Norden an. »Hat sie wirklich gesagt, dass sie ihn nicht sehen will?«

»Elke war gestern ein wenig verwirrt. Sie weinte viel, war sehr unglücklich und wollte niemanden sehen. Auch ihn nicht«, behauptete Evelyn. »Sollte sie ihre Meinung geändert haben, kann Thomas sie jederzeit besuchen. Ich möchte natürlich nur das Beste für sie, das versteht sich ja von selbst.«

»So.« Dr. Norden betrat Elke Moosbachers Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Er untersuchte seine Patientin gründlich, sprach auch mit ihr, erhielt aber keine richtige Antwort. Elke schien in einem seltsam benommenen Zustand zu sein, den der junge Allgemeinmediziner sich nicht recht erklären konnte. Als er die Landvilla schließlich verließ, wartete Thomas Walters noch vor dem Haus.

»Da stimmt was nicht«, urteilte Danny nachdenklich.

»Den Eindruck habe ich auch. Wie geht es Elke?«

»Darüber kann ich Ihnen nichts sagen, das müssen Sie verstehen, Herr Walters. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sie in keiner akuten Gefahr schwebt.«

»Das ist mir zu wenig, ich will zu ihr.« Thomas ballte die Hände zu Fäusten. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass sie diesen beiden Figuren ausgeliefert ist …«

»Momentan können Sie nichts tun«, mahnte der junge Norden ihn zur Besonnenheit. »Ich sehe morgen wieder nach Elke. Wenn es ihr dann besser geht, werde ich sie fragen, ob sie Sie sehen will.«

»Das ist nett von Ihnen, Herr Doktor, danke. Ich kann nur hoffen, dass Elke in der Zwischenzeit nichts zustößt. Es mag ja sein, dass sie medizinisch in keiner akuten Gefahr schwebt, aber in Sicherheit ist sie trotzdem nicht, davon bin ich überzeugt …«

Nachdem Danny Norden abgefahren war, blieb Thomas noch eine Weile in der Nähe. Er behielt das Haus und die Umgebung im Auge, denn er hatte das Gefühl, dass sich dort noch etwas ereignen würde, was er nicht verpassen wollte. Und er behielt recht.

Am späteren Abend verließ Dr. Petzold die Villa Moosbacher, um nach Hause zu fahren. Wieder trug er seinen Aktenkoffer bei sich, Thomas hätte wetten können, dass dieser Unterlagen enthielt, die ihn im Grunde genommen nichts angingen. Der Geschäftsführer des Kronenbräu drehte offenbar wieder krumme Dinger. Und das diesmal wohl im Auftrag von Evelyn Moosbacher. Die beiden machten gemeinsame Sache, da konnte es nun keinen Zweifel mehr geben. Thomas stieg in seinen Wagen, um Dr. Petzold zu folgen. Er hatte den Verdacht, dass dieser nicht direkt nach Hause fahren würde. Und auch damit lag er richtig.

Matthias Petzold fuhr nach München und besuchte eine Bar in einer eher zwielichtigen Gegend. Er traf sich dort mit jemandem, den Thomas nicht kannte. Ein noch junger, unscheinbarer Mann, auf den der Prokurist lebhaft einredete. Bevor die beiden sich trennten, steckte Petzold dem anderen noch einen Umschlag zu. Was mochte das zu bedeuten haben?

Thomas trat hinter eine Hausecke, als der Geschäftsführer des Kronenbräu die Bar wieder verließ. Er wollte sich nun selbst auf den Heimweg machen, überzeugt, dass an diesem Abend nichts mehr passieren würde. Allerdings hatte er sich geirrt.

Seltsame Geräusche erregten seine Aufmerksamkeit, vorsichtig lugte er um die Ecke und sah, wie zwei Kerle Matthias Petzold gegen eine Hauswand drückten. Sie waren groß und muskulös, trugen Maßanzüge und wirkten wie Bobyguards oder Rausschmeißer.

»Das ist die letzte Warnung«, lispelte einer von ihnen mit rauer Stimme. »Wenn du bis morgen die Summe nicht abdrückst, geht es dir schlecht. Schönen Gruß vom Boss.«

Der andere holte aus und versetzte Dr. Petzold einen üblen Schlag in die Magengrube. Der ging stöhnend zu Boden, während die Kerle sich rasch aus dem Staub machten.

Thomas überlegte, ob er sein Versteck verlassen sollte, um zu helfen, aber Matthias Petzold war schon wieder auf den Beinen und wankte zu seinem Auto. Offenbar war es nicht das erste Mal, dass er eine solche Behandlung über sich ergehen lassen musste. Bereits im nächsten Moment brauste er auch schon mit einem Kavalierstart davon.

Thomas schaute ihm nachdenklich hinterher. Offenbar hatte Matthias Petzold Schulden bei jemandem, der keinen Spaß verstand. Hatte Elke ihn und Evelyn nicht mal gesehen, als sie zusammen das Kasino in München besucht hatten?

Ein böser Verdacht stieg in dem jungen Mann auf. Hatte der Prokurist vielleicht hohe Spielschulden, von denen Evelyn wusste? Hatte sie ihn angestiftet …

Nein, in diese Richtung wollte Thomas nicht denken. Dann hatte er keine ruhige Minute mehr, wusste er doch Elke diesen Leuten ausgeliefert, denen er mittlerweile einfach alles zutraute.

Fest stand aber, dass Matthias Petzold eine ganze Menge Dreck am Stecken hatte. Etwas ging vor in der Villa Moosbacher. Und Thomas würde nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit kannte und Elke vor jeder möglichen Gefahr beschützen konnte.

*

In den nun folgenden Tagen machte Danny Norden jeweils morgens und abends einen Hausbesuch bei Elke Moosbacher. Ihr Zustand besserte sich allmählich. Noch immer war sie schwach und litt sehr unter der Trauer um Vater und Bruder. Doch ihr Allgemeinzustand stabilisierte sich endlich.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich um das arme Kind kümmern werde«, sagte Evelyn, als der junge Hausarzt sich mit dem Zustand seiner Patientin zufrieden zeigte. »Sie wollten sie unbedingt in ein Krankenhaus stecken. Was für ein Unsinn. Hier daheim hat Elke alles, was sie braucht.«

»Sie hatten recht, ich habe mich offenbar geirrt«, gestand er ihr reserviert zu. »Elke möchte gern Thomas Walters sehen. Vielleicht können Sie auch das arrangieren.«

»Natürlich. Alles, was das liebe Kind wünscht«, erwiderte sie leicht spöttisch.

Nachdem Danny Norden gegangen war, betrat Evelyn Elkes Räume. Die junge Frau saß in einem Schaukelstuhl am Fenster und blickte auf den spätsommerlichen Park. Ihre schmalen Wangen hatten tatsächlich wieder ein wenig Farbe angenommen. Und ihre Augen schimmerten, als sie zugab: »Ich möchte so gern rausgehen. Wenn nur Thomas mich endlich wieder besuchen kommt.«

»Ich habe ihn schon angerufen und gebeten vorbeizuschauen«, log Evelyn, während sie ein paar Herztropfen in Wasser auflöste. »Dr. Norden ist einverstanden, dass er dich besuchen kommt, aber nicht zu lange. Und ein Spaziergang ist noch zu anstrengend für dich, Elke. Du musst dich schonen.«

»Aber ich …«

»Denk an deinen Zusammenbruch. Das war ernst. Du solltest jetzt nicht zu schnell zu viel wollen. Das könnte nur wieder zu einem Rückfall führen.«

»Ja, du hast wohl recht«, seufzte Elke und nahm die Tropfen ein. Als sie Evelyn das Glas zurückgab, musterte sie diese ein wenig verwundert.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie lauernd.

»Ich muss dir wohl Abbitte leisten«, gab Elke da leise zu. »Ich dachte immer, du magst mich nicht. Aber jetzt bist du wirklich meine größte Stütze. So, wie du dich um mich kümmerst …«

»Nicht der Rede wert. Wir sind ja schließlich beide von diesem schrecklichen Schicksalsschlag betroffen. Deshalb müssen wir einfach zusammenhalten, finde ich.«

»Ja, du hast recht«, murmelte Elke und gähnte verhalten.

»Leg dich noch ein wenig hin und ruh dich aus«, schlug Evelyn scheinbar sehr fürsorglich vor. »Wenn Thomas kommt, wecke ich dich natürlich.«

»Danke.« Elke sank matt auf ihr Bett und war im nächsten Moment bereits eingeschlafen. Evelyn blickte mit einem zufriedenen Lächeln auf sie herab.

In den vergangenen Tagen hatte sie darauf verzichtet, Elke mit dem schädlichen Medikament zu versorgen. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass Danny Norden bereits Verdacht schöpfte. Der Zustand seiner Patientin sollte sich zunächst stabilisieren, bevor Trauer und Verzweiflung ihr endgültig das Herz brachen …

Evelyn verließ das Zimmer ihrer Schwägerin, als Dr. Petzolds Wagen vor dem Haus hielt.

»Na endlich«, begrüßte sie ihn ungehalten.

»Hast du mich vermisst, mein Herz?«, scherzte er trostlos.

»Du wolltest doch heute mit der Betriebsschätzung fertig werden. Also, wie viel ist das Brauhaus wert?«

»Alles in allem wäre eine Verkaufssumme von zwölf Millionen Euro angemessen«, erklärte er überzeugt und wunderte sich, als Evelyn ihn enttäuscht ansah.

»Mehr nicht? Kann es sein, dass du dich geirrt hast?«

»Das ist der Marktwert, du kannst gern die Unterlagen einsehen, ich habe alles bis ins kleinste Detail aufgeschlüsselt. Ziehen wir von dieser Summe einen klein gerechneten Erbteil für Elke ab, bleiben für jeden von uns noch runde vier Millionen. Ich finde, das ist nicht wenig.«

»Für dich vielleicht, du Erbsenzähler. Ich brauche mindestens zehn Millionen.« Sie musterte ihn kühl. »Und ich erwarte, dass du sie mir verschaffst, verstanden?«

»Aber wie stellst du dir das vor?« Er war ratlos.

»Du bist ziemlich schwer von Begriff für einen Mann, der seit Jahren die Bilanzen des Brauhauses manipuliert, um seine eigenen Taschen zu füllen. Du wirst eine neue Analyse machen und den Marktwert mindestens verdoppeln …«

»Aber das wäre Betrug.«

Evelyn lachte perlend. »Was du nicht sagst. Elke kriegt nur einen Bruchteil. Und du, mein Lieber, eine Provision. Damit wir uns beide endlich mal klar darüber sind, wo wir stehen.«

Matthias Petzold wurde blass. »Eine Provision?«, stotterte er. »Wofür hältst du mich eigentlich?«

»Für eine bezahlte Kraft.« Sie betrachtete ihn ausdruckslos.

»Aha.« Er räusperte sich, denn der Kragen wurde ihm plötzlich eng. »Ist das alles, was du in mir siehst?«

»Nun werde nicht melodramatisch. Wir verstehen uns doch, ziehen an einem Strang. Nichts hat sich zwischen uns geändert.«

»Nein, wohl nicht.« Bekümmert musterte er sie. Dafür hatte er also alles aufgegeben. Seine Ehe, seine Stellung, sein ganzes, bisher wohl geordnetes Leben. Bitterkeit stieg in ihm auf.

Evelyn schien das nicht zu kümmern. »Am besten setzt du dich gleich daran. Du solltest zügig arbeiten, damit wir den Verkauf zeitnah abwickeln können.«

»Aber Elke …«

»Ich möchte spätestens Ende des Monats den Verkauf an Goldbräu unter Dach und Fach haben.«

Als Matthias nicht auf ihre Worte reagierte, hob sie leicht irritiert eine Augenbraue und fragte: »Etwas unklar?«

»Du willst also über Elkes Kopf hinweg verkaufen. Wie soll das vonstatten gehen, kannst du mir das vielleicht mal erklären?«, fragte er sie voller Unbehagen.

Evelyn seufzte innerlich. Sie war offenbar zu früh unvorsichtig geworden. Da war er wieder, der kleine Spießer, für den alles seine Ordnung haben musste. Sie hatte angenommen, dass Matthias ihn endlich los geworden war. Doch sie musste wohl einsehen, dass er dafür zu wenig Format besaß.

»Ich habe sie schon fast so weit, dass sie mir eine Vollmacht unterschreibt«, log sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Damit ist der Verkauf nur noch eine Formsache.«

Matthias sagte dazu nichts, doch sein Blick verriet Evelyn, dass er ihr nicht glaubte. »Und Thomas Walters?«

»Der ist dein Problem. Sorge endlich dafür, dass er verschwindet und Elke nicht mehr belästigt.« Sie lächelte kalt, als sie noch hinzufügte: »Oder ich tue es.«

*

Am nächsten Morgen machte Thomas gerade einen Rundgang durch das Sudhaus der Brauerei, als Dr. Petzolds Sekretärin ihn wissen ließ, dass ihr Chef ihn sprechen wolle.

»Worum geht es denn? Ich habe keine Zeit«, murrte der junge Braumeister und amüsierte sich im Stillen über die saure Miene der Sekretärin, der die derben Gerüche im Sudhaus wohl nicht sonderlich behagten.

»Woher soll ich das wissen? Er will Sie eben sehen!«, fauchte sie und verschwand fluchtartig.

»Ist gut, ich komme gleich.« Thomas beendete seine Arbeit und wollte dann hinüber ins Hauptgebäude gehen, als zwei Männer, die er nicht kannte, ihm den Weg vertraten.

Einer hielt ihm einen Dienstausweis unter die Nase und stellte sich und seinen Kollegen als Kripobeamte vor. »Wir hätten ein paar Fragen an Sie, Herr Walters. Es geht um den Absturz der Privatmaschine Ihrer Chefs. Wo können wir uns hier denn in Ruhe unterhalten?«

»Am besten im Pausenraum, der ist jetzt leer.«

Gleich darauf saßen die drei Männer an einem der Tische, wo die Arbeiter der Brauerei sonst ihre Brotzeit aßen.

Die Polizeibeamten stellten Thomas eine ganze Menge Fragen, auf die meisten wusste er keine Antwort. Doch die Art, wie sie sich erkundigten, und vor allem die Richtung, in die das Gespräch lief, ließen in dem jungen Braumeister einen bestimmten Verdacht aufkeimen.

»Der Absturz war doch ein Unfall, nicht wahr?«, hakte er schließlich misstrauisch nach.

Die Kollegen tauschten einen knappen Blick, dann erklärte der Wortführer: »Es war Sabotage. Jemand hat die Maschine kurz vor der Landung in Erding zum Absturz gebracht.«

Der junge Mann erschrak zutiefst. »Und drei Menschenleben auf dem Gewissen, das heißt …« Er schluckte, in seinen Augen schien es zu irrlichtern, als er noch hinzufügte: »Elke Moosbacher wollte ihren Vater und Bruder an diesem Wochenende eigentlich nach Hannover begleiten. Sie hat sich im letzten Moment dagegen entschieden, weil es ihr nicht gut ging.«

»Ist sie krank?«

»Ja, sie leidet von Geburt an unter einer schwachen Konstitution, vor allem nervöse Herzbeschwerden machen ihr momentan zu schaffen.«

»Sie sind näher mit Elke Moosbacher bekannt?«

»Ich liebe sie.«

»Und Sie möchten vermutlich einheiraten.«

Die markante Miene des jungen Braumeisters verschloss sich, als er klarstellte: »Bisher waren wir nur befreundet, denn ich wollte genau diesen Anschein vermeiden. Nach dem Tod ihres Vaters und ihres Bruders braucht sie einen Menschen, der zu ihr steht. Dass sich alles so gefügt hat, war nicht meine Absicht.«

Die Beamten sagten dazu nichts, Thomas wollte wissen, ob es schon einen Verdächtigen für den Anschlag gebe.

»Noch nicht. Die Sabotage war anspruchsvoll gemacht, da muss ein Profi am Werk gewesen sein. Es gab einen kleinen Sprengsatz mit Zeitschaltung im Antrieb. Dadurch war die Maschine nicht mehr kontrolliert zu fliegen. Der Pilot hat wohl versucht, sie auf Sicht zu landen. Dazu hätte er die Bordelektronik auf manuell umstellen müssen. Die betreffende Schaltstelle befindet sich hinter der Verkleidung am Pilotensitz, war allerdings ausgebaut.«

»Wie konnten Sie das feststellen? Die Cessna war Schrott.«

»Wir haben unsere Methoden. Von dem betreffenden Bauteil gab es keine Spur an Bord.«

Thomas schüttelte den Kopf. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. »Wer sollte denn so etwas tun? Ich begreife das nicht …«

»Wie sieht es mit der Konkurrenz aus? Vielleicht war das Brauhaus ja jemandem ein Dorn im Auge«, sagte der Beamte.

»Aber deswegen bringt man doch keine drei Menschen um!«

»Gab es Übernahmeangebote von anderen Brauereien?«

»Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Herr Moosbacher senior hat mal eine Andeutung gemacht, dass das Goldbräu in Nürnberg unser Brauhaus liebend gern schlucken würde. Aber er hat nie daran gedacht zu verkaufen.«

»Und sein Sohn?«

»Der auch nicht. Markus und sein Vater haben an einem Strang gezogen, was denken Sie denn? Das Kronenbräu ist ein Familienunternehmen mit langer Tradition.«

»Das muss nicht heißen, dass sich nicht auch mal was ändert.«

»Freilich, aber net in einem solchen Traditionshaus.«

Der Kriminalpolizist machte sich eine Notiz und sagte: »Dann hätten wir es schon, Herr Walters. Nur noch eins: Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?« Er legte ein Foto auf den Tisch, das einen unscheinbaren jungen Mann im Fliegeroverall zeigte. Thomas hatte das Gefühl, diesen Typen kürzlich irgendwo gesehen zu haben, konnte sich aber nicht erinnern, wo das gewesen war. Deshalb schüttelte er den Kopf.

»Wer ist das? Hat er was mit dem Absturz zu tun?«, fragte er.

»Das vermuten wir. Er war bis vor Kurzem als Mechaniker auf dem Erdinger Privatflugplatz angestellt, wo das Unglück geschehen ist. Seitdem ist er verschwunden, hat nicht gekündigt und auch seinen ausstehenden Lohn nicht eingefordert. Das ist ziemlich verdächtig.« Er reichte Thomas eine Visitenkarte. »Wenn Ihnen noch was einfallen sollte, Herr Walters, rufen Sie mich an. Schönen Dank für die Auskünfte.«

Der junge Braumeister nickte nur, er war mit den Gedanken ganz woanders. Was er da eben erfahren hatte, das hatte ihn im Innersten erschüttert. Schlimm genug, dass die Moosbachers bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Doch wie sollte er Elke schonend beibringen, dass es Mord gewesen war?

Bedrückt machte er sich schließlich auf dem Weg zu Dr. Petzolds Büro. Doch der war mittlerweile gegangen.

»Hier, das soll ich Ihnen geben«, sagte die Sekretärin und drückte ihm einen Brief in die Hand. Thomas wunderte sich nicht im Geringsten, dass er seine Kündigung enthielt. Petzold wollte ihn aus dem Weg haben, vermutlich war das Evelyns Idee gewesen. Sie brauchten wohl keine Zeugen bei ihrem illegalen Treiben. Nun schien klar zu sein, dass der Prokurist des Brauhauses etwas plante, wobei er keine Zeugen brauchen konnte. Thomas beschloss, gleich mit Elke zu reden. Als er das Brauhaus verließ, fiel ihm siedend heiß ein, wo er den Mann auf dem Foto gesehen hatte. Es war der Kerl, mit dem Matthias Petzold sich in dieser Bar in München getroffen hatte. Und dem er einen Umschlag – vermutlich mit Geld – zugesteckt hatte…

*

Als Thomas wenig später zur Villa Moosbacher kam, war Evelyn nicht zu Hause. Eines der Hausmädchen ließ ihn wissen, dass Dr. Petzold sie abgeholt hatte. Dem jungen Braumeister sollte das nur recht sein.

Elke lag im Bett und schlief. Thomas hatte Mühe, sie wach zu kriegen. Als sie endlich zu sich kam, schaute sie ihn mit einem seltsam verschleierten Blick an, schien ihn kaum zu erkennen.

Bei dem jungen Mann schrillten da die Alarmglocken. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Er dachte an den Mechaniker, den Matthias Petzold bezahlt hatte. Wofür? War er für den Absturz verantwortlich? Das hieß im Umkehrschluss, dass letztendlich Evelyn hinter all dem steckte. Wenn sie es auf die Brauerei abgesehen hatte – was nahe lag –, dann stand ihr jetzt nur noch Elke im Weg. Und sie schien bereits etwas gegen dieses letzte Hindernis unternommen zu haben…

»Elke, komm, du musst aufstehen. Wir fahren zu Dr. Norden«, sagte er. »Er soll dich untersuchen.«

»Ach, Thomas, ich kann nicht. Ich bin so müde…«

»Was hast du genommen? Was hat Evelyn dir gegeben?«, forschte er, während er versuchte, sie auf die Beine zu bringen. Sie gab sich Mühe, war aber kaum in der Lage, sich aufzusetzen.

»Meine Herztropfen, sonst nichts«, nuschelte sie.

»Nun komm, keine Müdigkeit vorschützen. Wenn wir in der Praxis waren, kannst du dich gleich wieder hinlegen. Wo sind die Tropfen? Hast du sie hier im Nachttisch?«

»Nein, Evelyn hat sie. Sie gibt sie mir immer in Wasser.«

»Evelyn, aha.« Thomas zog Elke auf die Füße und hielt sie fest, denn sie drohte umzukippen.

»Ach, ich bin so müde. Lass mich doch schlafen, bitte …«

»Du musst wach bleiben, Elke. Es geht vielleicht um dein Leben. Bitte, versuch es wenigstens!«

»Mein Leben?« Sie gähnte und schmiegte sich in seine Arme. »Ich bin so froh, dass du bei mir bist. Ich habe mich so schrecklich allein gefühlt. Jetzt bleibst, gelt?«, bat sie ihn mit matter Stimme.

»Freilich bleibe ich, das hab ich dir ja versprochen. Aber wir müssen zu Dr. Norden. Es ist wirklich sehr, sehr wichtig!«, drängte er sie. »Bitte, Elke, komm mit! Mir zuliebe.«

Sie schaute ihn fragend an, dann lächelte sie. »Also schön, ich komme mit. Aber ich muss mich erst anziehen.«

»Soll ich dir dabei helfen?«

»Unsinn, das kann ich allein.« Sie kicherte. »Ich ziehe mich schon allein an, seit ich sieben bin. Jetzt dreh dich wenigstens um, das gehört sich so.«

»Also schön, ich warte vor der Tür. Aber du darfst nicht wieder ins Bett gehen, hörst du? Egal, wie müde du bist. Zieh dich bitte an, Elke. Und ruf mich, wenn du fertig bist.«

»Ja, ja, du Sklaventreiber …«

Mit ungutem Gefühl ließ Thomas sie dann allein. Etwas stimmte ganz und gar nicht mit Elke. Das war keine normale Müdigkeit oder Erschöpfung. Er vermutete, dass Evelyn ihr etwas Schädliches eingegeben hatte. Wenn er nur wüsste, was …

Rasch lief er die Stiege hinunter und warf einen Blick in das Arbeitszimmer von Josef Moosbacher. Er wusste, dass der Seniorchef wegen seines Bluthochdrucks in Behandlung gewesen war und auch Medikamente geschluckt hatte. Vielleicht hatte Evelyn sich ja hier bedient …

Der junge Braumeister kramte eine Weile im Schreibtisch herum, ohne fündig zu werden. Er fragte das Hausmädchen, das in der Küche saß und Zeitung las, erhielt jedoch keine konkrete Antwort. »Er hat allerweil solche Tropfen in Wasser genommen. Aber wie die heißen, das weiß ich net«, erklärte sie.

Thomas bedankte sich und eilte wieder nach oben. Als er Elkes Schlafzimmer betrat, fuhr ihm der eisige Schrecken in alle Glieder. Die junge Frau lag halb angezogen wie leblos auf dem Bett und atmete ganz flach. Ohne zu zögern, packte er Elke und trug sie aus dem Haus. Er ahnte, dass nun keine Zeit mehr zu verlieren war. Elkes Leben schien bereits an dem sprichwörtlich seidenen Faden zu hängen …

*

Auf dem Weg zur Praxis Dr. Norden kam Elke kurz zu sich. Sie schaute sich verwirrt um und wollte wissen, wo sie war.

»In meinem Auto, wir fahren zum Arzt«, erklärte Thomas ihr.

»Warum? Es geht mir doch gut. Ich bin nur müde«, sagte sie leichthin. »Fahr mich wieder heim, Thomas, bitte, ich will ins Bett und schlafen.«

»Wir sind gleich da«, murmelte er verbissen. »Dann …« Ein kurzer Seitenblick sagte ihm, dass sie schon wieder das Bewusstsein verloren hatte. Wenn er nur nicht zu spät kam …

Dr. Danny Norden behandelte gerade einen Patienten, als Thomas Walters mit Elke Moosbacher auf den Armen die Praxis betrat.

»Bitte, es ist ein Notfall«, wandte er sich an die erste Mitarbeiterin, die ihm über den Weg lief. »Sagen Sie sofort dem Doktor Bescheid, es geht um Leben und Tod!«

»Warten Sie hier«, bat die junge Frau und eilte davon.

Gleich darauf erschien Danny Norden. Er sah auf den ersten Blick, dass hier Eile geboten war, und hielt sich nicht damit auf, eine Rollliege für die Patientin zu holen.

»Bringen Sie sie hier rein«, wies er Thomas knapp an, der ihm mit der Bewusstlosen ins Sprechzimmer folgte und sie dann behutsam auf einer Behandlungsliege ablegte.

Zwei Mitarbeiterinnen erschienen, eine bugsierte Thomas, der sich freiwillig nicht vom Fleck rührte, aus dem Sprechzimmer, die andere ging Dr. Norden zur Hand.

»Ich möchte bei ihr bleiben«, beschwerte Thomas sich, als die Tür zum Sprechzimmer sich hinter ihm schloss. »Bitte …«

»Ich brauche Sie hier, Herr Walters, kommen Sie«, erwiderte die Assistentin von Danny Norden. »Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist. Hat Frau Moosbacher etwas eingenommen?«

Der junge Braumeister schwieg einen Moment lang und ordnete seine Gedanken, dann berichtete er: »Ich wollte sie besuchen, es ging ihr ja in den vergangenen Tagen schon besser. Als ich ihre Räume betreten habe, hat sie fest geschlafen. Darüber habe ich mich gewundert, sie ist ja nicht krank. Als ich versucht habe, sie aufzuwecken, habe ich gemerkt, dass ihr Zustand nicht normal war. Sie war wie betäubt, benommen …«

»Wissen Sie, ob Frau Moosbacher Medikamente genommen hat?«

»Ja, sie sagte etwas vom Herztropfen.«

»Hat der Doktor sie ihr verschrieben?«

»Ich weiß es nicht. Evelyn Moosbacher hat sie ihr offensichtlich verabreicht. Woher die sie hatte –, keine Ahnung.«

Die Sprechstundenhilfe machte sich Notizen und stellte Thomas noch einige weitere Fragen. Schließlich dauerte ihm das aber zu lange, und er beschwerte sich: »Ich möchte endlich zu Frau Moosbacher, bitte …«

»Einen kleinen Moment Geduld noch, Herr Walters. Wenn der Doktor durchruft, dürfen Sie rein.«

»Aber ich …«

»Frau Moosbacher wird jetzt behandelt, da würden Sie doch nur stören. Bitte, seien Sie vernünftig.«

Thomas nickte mit einem Seufzer und ging ins Wartezimmer. Die Zeit wurde ihm lang, und die Sorge um das geliebte Mädchen machte ihm das Herz sehr schwer. Endlich erschien Dr. Nordens Assistentin und bat ihn, ihr zu folgen. Sie führte ihn allerdings nicht in das Sprechzimmer, in dem Elke sich aufhielt, sondern in einen anderen Raum. Gleich darauf kam dann Danny Norden herein. Seine markante Miene war sehr ernst.

»Elke hatte einen Herzstillstand«, sagte er Thomas auf den Kopf zu, der ihn fassungslos anstarrte. Er fiel auf einen Stuhl, der hinter ihm stand, denn seine Knie gaben nach. Kreidebleich murmelte er: »Wie ist das möglich …«

»Das weiß ich leider auch nicht. Nur eins steht fest: Sie sind keine Sekunde zu früh hierher gekommen. Es war sozusagen Rettung im letzten Augenblick.«

»Oh Gott«, stöhnte Thomas und vergrub das Gesicht in den Händen. »Elke, nein …«

»Beruhigen Sie sich, Herr Walters. Ihr Zustand ist jetzt stabil. Ich möchte sie aber auf jeden Fall stationär unterbringen, um den Grund für den Herzstillstand feststellen zu können. Dazu sind umfangreiche Tests und Untersuchungen nötig, die ich hier in der Praxis nicht leisten kann.«

»Ja, natürlich, das verstehe ich.«

»Meine Mitarbeiterin hat mir erzählt, dass Elke ein Medikament genommen hat. Können Sie mir sagen, um was es sich dabei handelt? Das würde mir schon weiterhelfen.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was es war. Elke hat von Herztropfen gesprochen. Sie hat wohl angenommen, dass Sie diese verschrieben haben für ihr Herzleiden.«

»Ihre Herzbeschwerden sind rein nervöser Natur. Ein Medikament wäre da wirkungslos.«

»Evelyn hat ihr die Tropfen in Wasser gegeben. Mehr weiß ich auch nicht. Sie scheint dieses Medikament nicht aus der Hand zu geben. Ich habe es jedenfalls im Haus Moosbacher nicht finden können.«

»Haben Sie einen Verdacht, worum es sich handelt?«

»Der Seniorchef hat Herztropfen gegen seinen Bluthochdruck eingenommen. Vielleicht hat Evelyn davon …«

»Das wäre allerdings fatal.« Danny Norden machte sich eine Notiz. Er selbst hatte Josef Moosbacher das Herzmedikament gegen seine Hypertonie verordnet und wusste deshalb auch ganz genau um seine Wirkung.

»Könnte das den Herzstillstand ausgelöst haben?«, fragte Thomas. »Das wäre ja …«

»Möglich ist es. Allerdings nicht durch eine einmalige Gabe. Da müsste man schon über einen längeren Zeitraum die Dosis allmählich erhöhen.«

»Sie will Elke aus dem Weg räumen«, murmelte Thomas düster. Als er dem fragenden Blick des Mediziners begegnete, sagte er: »Die Polizei hat festgestellt, dass der Absturz auf Sabotage zurückzuführen ist. Jemand hat eine Sprengladung am Motor der Cessna angebracht und einen Teil der manuellen Steuerung entfernt. Es war Mord.« Er schaute Danny Norden, der nun seinerseits erschrocken war, sehr ernst an. »Aber der Mörder hat nicht alle erwischt, die offenbar auf seiner Liste stehen. Elke hätte mitfliegen sollen, hat es sich allerdings im letzten Moment anders überlegt. Dieser Umstand hat ihr das Leben gerettet. Und das kann der Mörder nicht hinnehmen.«

»Sie meinen …«

»Elke ist zu Hause nicht mehr sicher, Herr Doktor. Jemand trachtet ihr nach dem Leben. Jemand, der erben will.«

»Das sind schwere Anschuldigungen. Haben Sie Beweise?«

»Elkes Zustand ist doch wohl der beste Beweis. Bitte, Herr Doktor, helfen Sie mir. Wir müssen Elke schützen.«

»Sie kommt noch heute in die Behnisch-Klinik, mein Vater wird sich persönlich um sie kümmern. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass sie dort sicher ist.«

»Gut, das genügt mir.«

»Herr Walters, wenn das stimmt, was Sie mir erzählt haben, dann sollten auch Sie vorsichtig sein. Sie wissen zu viel. Der Mörder hat bereits drei Menschenleben auf dem Gewissen. Auf ein weiteres wird es ihm vielleicht nicht ankommen.«

»Ich passe schon auf.«

»Tun Sie das. Ich veranlasse jetzt, dass Elke Moosbacher in die Behnisch-Klinik gebracht wird. Sie können noch mal nach ihr sehen, aber nur kurz. Sie ist sehr schwach.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«

Während Danny Norden dann mit seinem Vater telefonierte, saß Thomas bei Elke, hielt ihre Hand und sprach beruhigend auf sie ein. Sie war sehr blass, fast durchscheinend und von den Strapazen dessen, was hinter ihr lag, gezeichnet. Trotzdem dachte sie nur an Thomas und bat ihn, sich vor Evelyn und Matthias Petzold in Acht zu nehmen. »Sie sind zu allem fähig, das weiß ich jetzt«, murmelte sie mit Tränen in den Augen. »Sie haben meinen Vater und meinen Bruder beseitigt, um an die Brauerei zu kommen. Sie haben es bei mir versucht und werden auch vor dir net zurückschrecken. Bitte, Thomas, gib auf dich acht. Ich könnte es nicht ertragen, dich auch noch zu verlieren.«

Er lächelte schmal und versicherte: »Keine Sorge, Unkraut vergeht nicht.«

»Thomas …«

»Ich passe auf, versprochen. Und ich komme dich in der Klinik besuchen. Du wirst dort nicht allein sein.«

Elke nickte und lächelte ein wenig. Doch Angst und Sorge spiegelten sich noch immer in ihren himmelblauen Augen und ließen sie ganz dunkel erscheinen. So sehr hatte sie schon gelitten. Sollte das denn nie ein Ende haben?

*

Evelyn lehnte sich in ihrem Sitz zurück und lächelte zufrieden. Aus halb geschlossenen Augen betrachtete sie das spätsommerliche Voralpenland, das am Seitenfenster der dunklen Limousine vorbeiflog. Matthias Petzold starrte verkniffen auf die Straße. Seine Miene war blass, sein Mund bildete nur einen Strich. Die Verhandlungen mit dem Goldbräu in Nürnberg waren erfolgreich verlaufen, die Übernahme so gut wie unter Dach und Fach. Evelyn hatte ihn machen lassen, hatte den Eindruck erweckt, dass sie ihm voll und ganz vertraute und hinter ihm stand. Die Wahrheit sah anders aus, aber das war ihr egal, es kam ihr nur auf den schönen Schein an, darauf, das Maximum aus diesem Deal herauszuholen. Und es sah ganz danach aus, als ob sie ihr Ziel erreichen würde. Matthias hingegen, zum Handlanger degradiert, hatte nichts zu erwarten als eine läppische Provision. Er machte sich nun nichts mehr vor. Evelyn hatte ihn von Anfang an manipuliert und ausgenutzt. Es ging ihr nur um das Geld, alles andere kümmerte sie nicht. Dafür war sie über Leichen gegangen. Und sie würde wohl auch ihn ohne Zögern fallen lassen, sobald sie keine Verwendung mehr für ihn hatte.

Sie wandte ihm nun ihr puppenhaft schönes Gesicht zu und fragte: »Warum bist du so still? Wir können zufrieden sein.«

»Du kannst zufrieden sein«, erwiderte er müde.

Evelyn hob leicht indigniert eine Augenbraue und warf ihm vor: »Du benimmst dich wie eine Mimose. Was ist denn plötzlich mit dir los? Bislang haben wir wunderbar zusammen gearbeitet. Wo liegt dein Problem?«

»Das will ich dir sagen. Was wir hier tun, ist kriminell.«

Sie stutzte, dann lachte sie perlend. »Was du nicht sagst …«

Matthias schwieg wieder verbissen.

»Also schön, heraus mit der Sprache: Was drückt dich? Willst du mehr Geld? Irgendwas passt dir doch nicht.«

»Vergiss es.«

»Nun rede schon. Ich kann es nicht leiden, wenn du herum hockst wie die gekränkte Unschuld. Das ist mir bereits bei Markus auf die Nerven gegangen.«

»Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen«, knurrte er.

»Worauf? Den Absturz oder den Verkauf der Brauerei?«

Er bedachte sie mit einem kurzen Seitenblick und stellte dabei schaudernd fest, wie entspannt sie war. So, als spreche sie mit einer Freundin über die neueste Mode. Sie schien tatsächlich keinerlei Skrupel oder auch nur den Hauch eines Gewissens zu haben. »Auf dich, auf alles, was daraus entstanden ist!«

Evelyn sagte dazu nichts. Sie schwieg sich erst mal eine Weile aus. Als sie Erding fast erreicht hatten, schlug sie vor: »Wir können uns trennen, wenn dir das lieber ist. Ich zahle dich aus. Es würde mir leid tun, aber ich kann dich nicht zwingen …«

»Ach nein? Dir scheint nicht bewusst zu sein, dass du mich bislang zu allem gezwungen hast. Oder glaubst du, die Geschichte mit dem Absturz würde mich nicht belasten? Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich ein Gewissen.«

»Wo gehobelt wird, fallen Späne.«

»Ist das alles, was dir dazu einfällt? Ein dummer Spruch?«

Sie lächelte schmal. »Das hat mein Vater immer gesagt, er war Schreinermeister mit eigenem Betrieb. Er hat sich krumm gelegt, hatte kaum Freizeit und stand sogar am Sonntag noch in der Werkstatt. Und wofür? Ein kleines Ferienhaus auf Mallorca, wo er mit meiner Mutter seinen Ruhestand verbringt.«

»Klingt doch nicht schlecht.«

»Für einen Kleingeist wie dich vielleicht. Ich gebe mich mit Halbheiten nicht zufrieden. Ich will etwas haben von meinem Leben. Und jetzt, da es endlich danach aussieht, lasse ich mir das von deinen kleinkarierten Skrupeln nicht kaputt machen, verstanden? Entweder wir ziehen weiter an einem Strang, oder aber wir trennen uns. Es liegt einzig und allein an dir.«

Matthias hielt vor der Villa Moosbacher und fragte unsicher: »Soll das heißen, dass wir noch eine gemeinsame Zukunft haben? In letzter Zeit …«

»Wie gesagt, es liegt an dir. Ziehen wir den Deal mit Goldbräu durch, dann sind wir beide all unsere Sorgen los. Denk darüber nach, was du willst, Matthias. Aber zögere nicht zu lange.«

Er wusste nicht, was er von ihren Worten halten sollte. Fast hatte er das Vertrauen in sie verloren. Hatte er ihr damit vielleicht doch Unrecht getan? Nachdenklich folgte er Evelyn ins Haus, die gerade eines der Hausmädchen anfuhr: »Wer hat dir erlaubt, diesen Kerl ins Haus zu lassen? Bestimmt hat sein Besuch Elke geschadet. Du dummes Ding, hol dir deine Papiere, du bist entlassen!«

»Was ist passiert?«, wollte Matthias wissen.

Evelyn eilte die Stiege hinauf und prallte vor der offenen Schlafzimmertür ihrer Schwägerin zurück. Ein saftiger Fluch kam über ihre Lippen. Ohne auf Matthias zu achten, drehte sie um, rannte wieder nach unten und fuhr die Bedienstete an: »Wo ist sie? Wo ist Elke?«

»Herr Walters hat sie mitgenommen«, erwiderte diese verschüchtert.

»Mitgenommen? Was soll das heißen? Wohin?« Evelyns Blick bohrte sich eiskalt in den des Mädchens. »Los, raus mit der Sprache! Was war hier los, während ich nicht zu Hause gewesen bin? Nun rede schon!«

»Herr Walters wollte sie besuchen. Als er kurz bei ihr war, kam er wieder herunter, hat im Arbeitszimmer etwas gesucht und mich dann nach den Herztropfen vom Seniorchef selig gefragt.«

Evelyn bekam schmale Augen und forderte: »Weiter!«

»Ich wusste nix, das hab ich ihm auch gesagt. Dann ist er wieder die Stiege auffi. Und gleich darauf hat er Elke in sein Auto getragen und ist weggefahren.«

»Wohin?«

»Keine Ahnung.«

»Und wann war das?«

Das Mädchen dachte kurz nach und sagte dann: »Am Vormittag.«

»Was hat das zu bedeuten?«, wunderte Matthias Petzold sich, während er Evelyn in den Wohnraum folgte. Sie goss sich einen Drink ein und ließ sich mit einer Antwort Zeit. Erst als sie an ihrem Glas genippt hatte, fauchte sie: »Dass unser Plan in ernster Gefahr ist. Und das alles nur, weil du nicht in der Lage gewesen bist, diesen Walters zum Teufel zu jagen!«

»Er hat heute seine Kündigung erhalten.«

»Zu wenig und zu spät. Er hat Elke weggeschafft. Jetzt können wir den Verkauf vergessen. Solange sie lebt …«

»Evelyn!« Matthias starrte sie entsetzt an. »Was hast du getan? Du wolltest doch nicht etwa …«

Sie ging nicht auf seine Worte ein, murmelte: »Also schön, dann müssen wir unsere Strategie eben ändern. Mir wird schon etwas einfallen, wie wir den Deal mit Goldbräu retten können.«

»Evelyn, sag mir, dass das nicht wahr ist.« Er packte sie bei den Schultern und schaute sie ernst an. »Bitte, sag mir …«

»Lass mich los, du Idiot! Dieser ganze Schlamassel ist deine Schuld. Hättest du den Braumeister gefeuert, als ich es dir gesagt habe, dann wäre die arme, bedauernswerte Elke heute friedlich in ihrem Bett an Herzversagen gestorben. Jetzt ist das Ganze hinfällig, ich muss umdisponieren. Verschwinde und lass mich allein, damit ich in Ruhe nachdenken kann.«

Matthias war wie gelähmt. Er konnte nicht fassen, wie kalt und absolut gefühllos Evelyn über ein Menschenleben verfügte. So, als sei das gar nichts. Sie schien jeden Skrupel und den letzten Funken von Menschlichkeit endgültig verloren zu haben. Ihm graute vor ihr, und er war erleichtert, als er die Villa Moosbacher verlassen konnte.

Auf dem Heimweg grübelte Matthias Petzold lange darüber nach, was er tun sollte. Zur Polizei gehen, ein umfassendes Geständnis ablegen? Dazu war er noch nicht bereit, denn es hätte ja schließlich auch bedeutet, seine eigene Schuld einzugestehen und die Konsequenzen zu ziehen. Er fürchtete sich vor dem tiefen Fall ins absolute Aus. Doch er ahnte auch, dass er dem nicht mehr lange würde entgehen können. Evelyn verstrickte sich immer tiefer in ihre Schuld, er war einfach nicht mehr gewillt, mit ihr diesen Weg ins Verderben zu gehen. Aber was sollte er tun? Er sah keinen Ausweg aus dieser Katastrophe, in die er aus Schwäche und Egoismus geraten war.

»Mitgegangen, mitgehangen«, murmelte er dumpf.

Was für den Prokuristen des Kronenbräu mit Träumen und Illusionen begonnen hatte, würde ihn nun unabänderlich in den Abgrund führen, das schien für ihn sonnenklar. Und es gab nichts, was er noch dagegen tun konnte.

*

Dr. Daniel Norden betrat Elke Moosbachers Krankenzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Die Patientin war am Vortag eingeliefert worden, der Klinikchef hatte lange mit seinem ältesten Sohn telefoniert und kannte die Hintergründe dieses tragischen Falles nun sehr genau. Noch lagen nicht alle Testergebnisse vor, doch der erfahrene Mediziner konnte sich bereits ein genaues Bild machen. Und das war erschütternd.

Elke öffnete die Augen, als Dr. Norden an ihr Bett trat.

»Wie fühlen Sie sich, Elke?«, fragte er freundlich.

»Gar nicht so schlecht. Aber warum bin ich hier?«

»Woran erinnern Sie sich noch?«, antwortete der Chefarzt der Behnisch-Klinik mit einer Gegenfrage.

Elke dachte eine Weile nach, dann sagte sie: »Thomas hat mich besucht. Er wollte, dass ich ihn zu Ihrem Sohn in die Praxis begleite. Dabei war ich nur müde und hätte so gern geschlafen.«

»Und davor? Ich meine, bevor Thomas auftauchte?«

»Ich weiß nicht mehr so genau…«

»Versuchen Sie, sich zu erinnern, Elke. Es ist wichtig.«

Sie bedachte Dr. Norden mit einem forschenden Blick. »Was ist passiert? Thomas sagte, ich müsse wach bleiben, dürfe nicht schlafen, weil es um mein Leben ginge. Das habe ich nicht verstanden. Was hat das alles zu bedeuten? Warum bin ich in der Klinik? Ich bin doch nicht krank.«

»Sie hatten einen Herzstillstand, Elke«, sagte Daniel Norden ihr da auf den Kopf zu. »Mein Sohn hat Sie reanimiert. Es war knapp, das darf ich Ihnen nicht verschweigen. Hätte Herr Walters sie nicht auf schnellstem Weg zum Arzt gebracht, wäre wohl jede Hilfe zu spät gekommen …«

Elke starrte den Mediziner fassungslos an. »Das … kann doch nicht sein. Ich dachte, meine Herzbeschwerden hätten gar keine organische Ursache. Das hat Ihr Sohn jedenfalls gesagt.«

»Das stimmt auch«, versicherte Daniel Norden ihr.

»Aber wie … konnte es dann soweit kommen? Ich war müde und abgespannt, fühlte mich sehr traurig und einsam. Evelyn hat sich um mich gekümmert. Ich habe mich, ehrlich gesagt, darüber gewundert. Sie war nie besonders nett zu mir. Früher dachte ich immer, dass sie mich nicht leiden kann. Aber jetzt war sie wirklich lieb zu mir, richtig fürsorglich.«

»Und heute? Was war da?«

Elke schüttelte leicht den Kopf. »Ich erinnere mich nicht …«

»Aber das müssen Sie, es ist sehr wichtig.«

»Alles verschwimmt wie hinter Nebel. Ich kann mich nicht richtig konzentrieren.«

»Versuchen Sie es, Elke. War Evelyn bei Ihnen?«

»Ja, ich glaube schon. Sie hat mir das Frühstück gebracht. Ich wollte eigentlich aufstehen, aber sie meinte, ich solle mich noch schonen. Und sie hatte damit recht. Nach dem Frühstück fühlte ich mich wieder sehr müde und schlapp.«

Dr. Norden horchte auf. »Hat Evelyn Ihnen ein Medikament gegeben?«, wollte er wissen.

Nach kurzem Nachdenken nickte Elke. »Die Herztropfen.«

»Woher stammten diese Tropfen? Hat mein Sohn Sie Ihnen vielleicht verschrieben?«

»Ich glaube schon. Also, mir direkt hat er nichts davon gesagt. Aber Evelyn gibt sie mir schon seit einer ganzen Weile. Deshalb dachte ich, dass er ihr das Rezept gegeben hat. So war es doch wohl, oder?«

»Sie wissen, dass Ihre Herzbeschwerden nervöser Natur sind, keine organischen Ursachen haben, nicht wahr?«

»Ja, schon, aber …«

»Deshalb wäre es sinnlos, ein Herzmedikament zu verordnen. Das hat mein Sohn auch nicht ­getan, ich habe mit ihm gesprochen.«

Elke stutzte. »Aber was war das dann, was Evelyn mir gegeben hat? Ich verstehe nicht …«

»Das möchte ich ja herausfinden. Erinnern Sie sich daran, dass Ihr Vater Tropfen gegen seinen Bluthochdruck genommen hat?«

»Ja, die hatte Ihr Sohn ihm verschrieben. Aber Sie denken doch nicht … Hat Evelyn mir Papas Tropfen gegeben? Warum?«

»Ich weiß es noch nicht. Wenn es so gewesen ist, wird das Labor es feststellen. Die Ergebnisse Ihrer Blutentnahme liegen noch nicht vor. Aber wir werden es bald erfahren. Der Wirkstoff ist noch eine Weile im Blut nachweisbar.«

Elke wurde blass, ihr Blick flackerte, als sie murmelte: »Evelyn will mich loswerden. Ohne mich wäre sie die Alleinerbin und könnte das Brauhaus verkaufen. Ist es das? Legt sie es darauf an? Aber das würde ja bedeuten …«

»Warten wir die Testergebnisse ab«, schlug Dr. Norden begütigend vor. »Versuchen Sie, sich zu beruhigen, Elke. Draußen wartet übrigens Besuch für Sie. Ich schicke ihn gleich herein.«

Elke war sehr froh, Thomas zu sehen. Er schloss sie in seine Arme und küsste sie lange und innig.

»Ich bin so froh, dass es dir besser geht«, gestand er ihr dann und wischte sich verschämt über die Augen. Die Angst um das geliebte Mädchen saß noch immer tief bei dem jungen Mann.

Sie schaute ihn kurz mit strahlenden Augen an, ganz erfüllt von dem herrlichen Gefühl der eben erblühten Liebe. Dann aber wurde sie gleich wieder ernst.

»Stimmt es, dass Evelyn mich umbringen will?«, fragte sie leise und bekümmert. »Dr. Norden vermutet, dass sie mir Papas Herztropfen eingegeben hat. Ich kann das kaum glauben.«

»Es sieht so aus. Sie und Petzold wollen die Brauerei verkaufen. Sie haben dafür bereits drei Morde begangen …«

Elke erstarrte. »Das kann nicht sein«, wisperte sie.

»Leider spricht alles dafür. Die Polizei hat festgestellt, dass der Absturz kein Unfall war. Jemand hat die Cessna manipuliert. Ein Mechaniker vom Flugplatz ist seither verschwunden, die Polizei sucht ihn. Ich habe ihn vor ein paar Tagen in München gesehen. Er hat sich dort am späten Abend mit Petzold in einer Nachtbar getroffen und von ihm einen Umschlag bekommen, vermutlich mit Geld.«

»Thomas, bitte sag mir, dass

das nicht stimmt! Evelyn ist Markus’ Frau gewesen, sie kann doch nicht …«

»Leider deutet alles darauf hin. Du musst jetzt ganz stark sein, Elke. Offensichtlich geht es Evelyn nur ums Geld. Und sie scheint vor nichts zurückzuschrecken, um es zu bekommen. Nicht einmal vor Mord …«

Wenig später hatte Dr. Norden die letzten Befunde aus dem Labor vorliegen. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass Evelyn Moosbacher versucht hatte, ihre Schwägerin mittels eines für sie gefährlichen Herzmedikaments aus dem Weg zu räumen.

Der Chefarzt der Behnisch-Klinik sprach zunächst mit Thomas Walters und bat diesen, Elke schonend mit der schockierenden Gewissheit zu konfrontieren.

»Ich rede mit ihr«, versprach der junge Mann. »Hier, das ist die Karte des ermittelnden Kripobeamten. Die Polizei hat festgestellt, dass die Moosbachers bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind. Vielleicht sollten Sie dem Kommissar mitteilen, dass Evelyn das offenbar nicht genügt hat.«

Daniel Norden erschrak. »Ein Anschlag?«

»Ja, jemand hat dafür gesorgt, dass die Cessna abgestürzt ist. Wie es aussieht, stecken Dr. Petzold und Evelyn Moosbacher dahinter.« Thomas Walters schüttelte leicht den Kopf. »Es ist wie ein Wunder, dass ich Elke davor bewahren konnte, diesen Leuten auch noch zum Opfer zu fallen. Und ich finde, es wird höchste Zeit, ihnen endlich das Handwerk zu legen!«

*

Die neuerliche Hiobsbotschaft war für Elke zuviel. Ihr Zustand verschlechterte sich sogleich, und Thomas blieb bei ihr, bis es ihr wieder ein wenig besser ging.

In der Zwischenzeit hatte Dr. Norden mit der Polizei gesprochen, sodass zwei Beamte in die Behnisch-Klinik kamen, um mit Elke Moosbacher zu reden. Nachdem auch Thomas eine Aussage gemacht hatte, verließ er das Krankenhaus und fuhr nach Erding. Er hatte noch seine persönlichen Sachen in der Brauerei, wollte diese nach seiner Kündigung abholen.

Es war bereits später Abend, als der junge Braumeister ankam. Er wunderte sich darüber, dass im Büro des Prokuristen noch Licht brannte, und fragte sich, was Dr. Petzold wohl um diese Zeit hier zu suchen hatte. Arbeitete er noch immer an seinen gefälschten Bilanzen oder bereitete er einen neuerlichen Betrug vor, um das Brauhaus einmal mehr zu bestehlen? Thomas traute Matthias Petzold mittlerweile einfach alles zu.

Der junge Mann suchte seine Sachen zusammen und wollte das Brauhaus verlassen, als Evelyns Wagen auf das Firmengelände fuhr. Thomas wunderte sich sehr darüber. Er konnte sich nicht daran erinnern, Evelyn jemals hier gesehen zu haben.

Neugierig geworden, folgte er ihr heimlich zum Büro des Prokuristen. Sie rauschte hinein, ohne Thomas zu bemerken, und begrüßte Matthias Petzold mit den Worten: »Wir sitzen in der Klemme. Elke ist in der Behnisch-Klinik, wir kommen also in nächster Zeit nicht an sie heran.«

»In der Klinik? Aber wieso…«

»Frag nicht so blöd«, fuhr sie ihn an. »Das ist nur die Schuld dieses dämlichen Hausmädchens. Hätte sie Thomas Walters nicht ins Haus gelassen, wäre alles nach Plan gelaufen. Jetzt ist Elke unerreichbar für uns. Du weißt, was das bedeutet …«

»Sie wird nichts sagen, sie weiß ja nichts.«

Evelyn stöhnte genervt auf. »Davon rede ich doch gar nicht! Der Deal mit Goldbräu geht uns durch die Lappen.«

»Wir werden den Verkauf einfach verschieben.«

»Kommt nicht infrage. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Goldbräu sich darauf einlässt. Die werden abspringen, sobald sie Schwierigkeiten wittern. Nein, wir müssen das durchziehen.«

»Aber wie?«

»Ich werde Elkes Unterschrift einfach fälschen.«

Thomas, der hinter der angelehnten Tür stand, konnte kaum fassen, was er da hörte. Obwohl er Evelyn und ihrem Komplizen vieles zugetraut hatte, schien er doch das ganze Ausmaß ihrer Skrupellosigkeit noch längst nicht erfasst zu haben. Es gab einfach nichts, was sie stoppen konnte. Um ihr Ziel zu erreichen, war sie zu allem bereit.

»Ich halte das für keine gute Idee«, widersprach Dr. Petzold ihr allerdings. »Wenn du eine Vollmacht aufsetzt, muss sie beglaubigt werden. Und eine gefälschte Unterschrift würde dabei auffallen.«

»Na und? Bis das geschieht, sind wir mit dem Geld längst über alle Berge. Und das Ganze hat noch dazu den Vorteil, dass wir Elke keinen Cent auszahlen müssen.«

»Du wolltest sie umbringen«, hielt Matthias ihr vor.

»Na und?« Sie hob lässig die Schultern.

»Evelyn, ich bitte dich! Wie kannst du mit ruhigem Gewissen einen Mord planen? Ich begreife dich nicht.«

»Spiel hier nur nicht den Moralapostel«, riet sie ihm abfällig. »Oder hast du vielleicht vergessen, dass du es warst, der den Mechaniker bezahlt hat? Wenn wir aufrechnen wollen, kommst du schlechter davon als ich. Denn an meinen Händen klebt noch kein Blut …«

Eine Weile herrschte Schweigen, schließlich seufzte der Prokurist: »Wie willst du die Vollmacht bekommen?«

»Ich kenne einen Notar, der wird sie ohne viele Fragen beglaubigen. Keine Sorge, es geht alles reibungslos über die Bühne. Sobald der Verkauf besiegelt ist, setzen wir uns ins Ausland ab.«

»Ich wünschte, es wäre schon vorbei.«

Evelyn lachte. »Sei doch kein solcher Hasenfuß.«

»Das bin ich ganz gewiss nicht«, brauste er wütend auf. »Ich habe alles getan, was du wolltest. Mein ganzes Leben habe ich für dich umgekrempelt. Aber allmählich wird mir der Boden hier zu heiß. Die Geldeintreiber sitzen mir im Nacken. Und die Polizei schläft auch nicht. Sie werden herausfinden, dass mit dem Absturz etwas nicht stimmt. Sie werden Schmidt ausfindig machen und verhören. Das alles gefällt mir nicht.«

»Ich denke, er ist im Ausland.« Sie musterte ihn streng. »Du hast ihn doch ausgezahlt und ihm geraten, sich abzusetzen.«

»Natürlich, aber … er wollte nicht weg.«

»Matthias, du verdammter Idiot! Warum hast du nicht darauf bestanden, dass er das Land verlässt? Du bist wirklich zu nichts nütze, es ist nicht zu glauben!«

»Was sollte ich denn machen? Ich habe ihm das Geld gegeben und ihm geraten, zu verschwinden.«

»Wenn man sich nicht um alles selbst kümmert …«

»Was hast du vor?«

»Das wirst du noch früh genug erfahren.« Evelyn wollte das Büro verlassen, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Sie ging ein paar Schritte zurück, nahm zugleich eine handliche Pistole aus ihrer Tasche und rief: »Wer ist da? Kommen Sie sofort raus!«

»Was ist denn?«, wollte Matthias Petzold wissen und staunte nicht schlecht, als gleich darauf Thomas Walters in die offene Tür trat. »Was tun Sie hier? Haben Sie Ihre Kündigung nicht erhalten?«, fragte er unfreundlich.

»Doch. Ich habe nur meine Sachen abgeholt.«

»Und ein bisschen geschnüffelt.« Evelyn fuchtelte mit der Waffe vor seiner Nase herum. »Hinsetzen. Was hast du gehört?«

Er lächelte schmal. »Nichts. Gab’s denn was zu hören?«

»Komm mir nicht so. Du hast gelauscht, gib es zu. Vermutlich in Elkes Auftrag. Dein einziges Sinnen und Trachten ist doch auf das Brauhaus gerichtet. Du bildest dir ein, du könntest jetzt hier den Chef spielen. Und dafür gehst du der Kleinen um den Bart. Aber vergiss es. Elke ist nicht so dumm, sich von dir einwickeln zu lassen. Ein Braumeister ist kein Brauherr!«

»Natürlich. Zumal es ja auch kein Brauhaus mehr geben wird, das ich übernehmen könnte, nicht wahr?«, spöttelte er.

»Na, siehst du, er hat alles gehört.« Evelyn warf Matthias Petzold einen bezeichnenden Blick zu. »Wir müssen ihn loswerden. Und diesmal reicht eine Kündigung nicht aus, das sollte selbst dir klar sein.«

»Evelyn, ich bitte dich …«

»Was denn?« Sie musterte ihn abfällig. »Hast du vielleicht eine bessere Idee?«

»Wir sperren ihn ein und …«

»Unsinn.« Ohne mit der Wimper zu zucken, legte sie auf Thomas Walters an. Dr. Petzold war einen Moment lang perplex, er schien nicht fassen zu können, was hier passierte. Thomas hingegen war nicht gewillt, sich einfach abknallen zu lassen. Er sprang von seinem Stuhl auf und ging Evelyn direkt an, in der Hoffnung, sie zu Fall zu bringen. Doch sie reagierte gedankenschnell, wich vor ihm zurück und zielte sofort wieder. Bevor sie abdrücken konnte, versetzte Matthias Petzold ihr einen festen Stoß. Thomas versuchte, aus der Gefahrenzone zu hechten, schaffte es allerdings nicht mehr ganz.

Im nächsten Moment löste sich ein Schuss. Der Prokurist versuchte, Evelyn die Waffe zu entreißen, wodurch ein weiterer Schuss abgefeuert wurde. Dann fiel die Pistole zu Boden. Evelyn wollte danach greifen, aber Dr. Petzold bekam sie zu fassen und hielt sie fest. Sie schrie ihn unbeherrscht an, sie loszulassen, doch er gab nicht nach. Evelyns Verhalten hatte ihm ein für alle Mal die Augen geöffnet. Sie war tatsächlich eiskalt und hatte keine Hemmungen, ihren Willen notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. Er musste ihr Einhalt gebieten, bevor sie noch mehr Schaden anrichten konnte.

»Lass mich los, du Idiot«, herrschte sie ihn an.

»Nein, du wirst ihm nichts tun. Es reicht, ein für alle Mal«, keuchte er und hielt sie weiter verbissen fest.

Da lachte Evelyn und riet ihm: »Mach mal die Augen auf. Ich habe ihn erwischt, der wird uns keine Schwierigkeiten mehr bereiten, nie mehr!«

Matthias Petzold sah jetzt erst, dass Thomas Walters tatsächlich zu Boden gegangen war. Er hatte geglaubt, der junge Braumeister wolle sich so nur vor den Schüssen schützen. Dass er sich nicht mehr rührte, war ihm bei dem Handgemenge mit Evelyn entgangen. Er ließ sie los, kümmerte sich nicht weiter um sie, beugte sich stattdessen über Thomas.

»Na, was habe ich dir gesagt? Der ist hin«, hechelte sie.

Vorsichtig drehte Matthias den Verletzten auf die Seite. Er erschrak zutiefst, als er die blutende Wunde in dessen Brust gewahrte. Sein Gesicht war schneeweiß, die Augen waren geschlossen. Er sah tatsächlich aus, als ob …

»Du verrücktes Stück!« Matthias holte aus und versetzte Evelyn eine schallende Ohrfeige. »Du hast ihn ermordet!«

Sie lachte ihm ins Gesicht. »Erbärmlicher Waschlappen«, war alles, was ihr dazu einfiel. Denn drehte sie sich um und ging einfach. Dr. Petzold machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er war in diesem Moment erleichtert, Evelyn nicht mehr sehen zu müssen. Sie hatte sich zu seinem schlimmsten Albtraum entwickelt. Hastig griff er nach dem Telefon, um Polizei und Rettung zu verständigen. Dann versuchte er, so gut es ging, Matthias Walters in eine entlastende Lage zu bringen.

Während er auf das Eintreffen des Notarztes wartete, hatte der Prokurist des Kronenbräu das eigenartige Gefühl, als ob sein Leben noch einmal an ihm vorbeiziehen würde. All seine Fehler und Unzulänglichkeiten kamen ihm zu Bewusstsein. Er dachte an seine Frau und schämte sich für den Kummer, den er ihr gemacht hatte. Er dachte an Josef und Markus Moosbacher, die ihn eingestellt und ihm jahrelang vertraut hatten. Zum Dank hatte er sie bestohlen und für ihren Tod gesorgt. Er dachte an Anderl Hain, den Piloten der Moosbachers. Ein netter Kerl, Familienvater und Hobbysportler. Erst kürzlich hatte er ihm erzählt, dass er bald Großvater werden würde. Ein freundlicher Kollege, der nicht mehr lebte. Und es war seine Schuld.

Nun, da Verblendung und sinnlose Leidenschaft für Evelyn Moosbacher erloschen waren, empfand Matthias Petzold nur noch Schuld und Reue. Und den Wunsch, sich alle Verfehlungen von der Seele zu reden. Vielleicht würde die Strafe, die das Gesetz über ihn verhängen konnte, ihm dabei helfen, die Last der Schuld zu tragen. Doch er bezweifelte es.

*

Elke Moosbacher lag ganz still, während Dr. Norden sie abhörte. Der Mediziner nickte schließlich.

»Schon besser. Wie fühlen Sie sich, Elke?«

»Es geht. Ziemlich fertig. Ich kann das alles nicht begreifen. Was ist Evelyn nur für ein Mensch? Wie konnte sie das tun?«

»Schwer zu sagen. Vermutlich ging es ihr nur ums Geld, das war wohl das Einzige, was sie interessiert hat.«

»Was geschieht denn nun mit ihr?«

»Die Polizei wird sie verhören und vermutlich verhaften. Sie sollten versuchen, nicht mehr daran zu denken. Ich sehe dann später wieder nach Ihnen. Und ich nehme an, Herr Walters wird bald zurückkommen.«

»Darf er denn noch zu mir? Die Besuchszeit ist doch bestimmt schon vorbei, oder?«

»Wir machen eine Ausnahme, wenn der Besuch für die Genesung des Patienten wichtig ist«, sagte Daniel Norden und zwinkerte Elke zu. »Versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen.«

»Danke, Herr Doktor.«

Der schüttelte leicht den Kopf. »Wofür denn?«

Als Dr. Norden sich auf den Rückweg zu seinem Büro machte, wurde er von der Notfallambulanz angepiepst. Dr. Berger empfing ihn dann mit einer wahren Horrorbotschaft.

»Ich habe hier einen Schwerverletzten, den Sie kennen. Thomas Walters. Er wurde angeschossen.«

»Was?«, entfuhr es dem Chefarzt entsetzt. »Das darf doch … Wie ist sein Zustand, Herr Kollege?«

»Instabil. Das Projektil steckt hinter einem Rippenbogen in Herznähe. Er hat starke innere Blutungen. Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, ihn zu stabilisieren.«

Die beiden Mediziner betraten den Schockraum, wo Thomas Walters auf einer Behandlungsliege lag. Der Geräteturm daneben zeigte seine Vitalwerte, die tatsächlich im Keller waren.

»Wir müssen ihn stabil bekommen, damit er operiert werden kann«, murmelte Dr. Norden. »Ist die Chirurgie informiert?«

»Steht sozusagen Gewehr bei Fuß«, scherzte Dr. Berger lau.

»Dann versuchen wir unser Bestes, Herr Kollege.« Daniel Norden kümmerte sich in der nächsten halben Stunden intensiv um Thomas Walters. Er hatte dabei die ganze Zeit Elke Moosbacher im Hinterkopf. In diesem Fall ging es ihm nicht nur darum, ein Menschenleben zu retten, es war auch eine Mission, die er zu erfüllen hatte. Nämlich einem schwer leidgeprüften jungen Mädchen den einzigen Menschen zu erhalten, der ihr auf dieser Welt noch etwas bedeuten konnte. Und dafür gab der engagierte Mediziner tatsächlich alles.

Endlich stabilisierten sich die Vitalwerte des Patienten so weit, dass er gefahrlos auf die Chirurgie transportiert werden konnte. Dr. Berger, der sonst großen Wert auf seine Stellung als Chef der Notfallambulanz legte, hatte sich in dieser Zeit betont zurückgehalten. Es war eigentlich nicht seine Art, das symbolische Zepter aus der Hand zu geben oder einen anderen einfach machen zu lassen. Aber in diesem Fall war eben alles anders. Und der jüngere Kollege hatte den Chefarzt zudem mit stiller Faszination beobachtet. Dr. Norden war eben ein Ausnahmemediziner, von dem jeder, auch Dr. Berger, noch lernen konnte. Im Stillen zollte er seinem Vorgesetzten großen Respekt. Allerdings hätte er sich wohl lieber die Zunge abgebissen, als dies laut auszusprechen …

Nachdem Thomas Walters verlegt worden war, bedankte Dr. Norden sich bei Erik Berger und brachte diesen ungewollt in Verlegenheit, denn er fragte verwundert: »Wofür denn?«

»Nun, ich weiß, es ist nicht angenehm, die Verantwortung auf der eigenen Station abzutreten, wenn auch nur zeitweise. Sie haben damit Ihre Probleme, Herr Kollege, nicht wahr? Umso mehr schätze ich Ihre Zurückhaltung. Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt, ich möchte nach meinem Patienten sehen.«

Dr. Berger nickte nur, verkniff sich aber eine Erwiderung. Nachdem der Chef gegangen war, fuhr er eine Lernschwester rüde an und brachte sie zum Weinen. Danach fühlte er sich noch immer nicht recht wohl. Ein einziger Rüffel hatte wohl nicht genügt. Also suchte er sich ein weiteres Opfer, das er zur Schnecke machen konnte, um sich nicht länger wie ein Gutmensch fühlen zu müssen. Denn das war einfach zu unangenehm…

*

Dr. Christina Rohde hatte Thomas Walters bereits auf dem OP-Tisch, als Daniel Norden erschien. Der Chefarzt verzichtete darauf, den Operationssaal zu betreten, er positionierte sich lieber in einem kleinen Nebenraum. Hier gab es ein Fenster, durch das man direkt auf den OP-Tisch sehen konnte.

Dr. Norden verfolgte von diesem Platz aus den gesamten Eingriff, der mehr als eine Stunde dauerte. Mehrere Male wurde er angepiepst, kümmerte sich aber nicht darum. Nun war für den Chefarzt der Behnisch-Klinik nur eines wichtig: das Leben dieses Patienten.

Dr. Rohde arbeitete mit einem Katheter, an dessen Ende sich hoch technisierte Instrumente der Minimalchirurgie befanden, sowie eine Kamera. Auf dem Monitor oberhalb des OP-Tischs konnte die Chirurgin so genau sehen, was sie tat. Das Projektil steckte in unmittelbarer Nähe einer großen Hohlvene, hatte diese aber glücklicherweise nicht verletzt. Trotzdem war erheblicher Schaden im umliegenden Gewebe entstanden, der für massive Blutungen gesorgt hatte. Es dauerte und gestaltete sich schwierig, in dem schwammigen Umfeld die Kugel zu finden und zu entfernen. Zumal der Anästhesist mehrere Male vor einem starken Abfall von Puls und Blutdruck warnen musste. Dr. Rohde konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Den Eingriff zu unterbrechen, war zu riskant. Sie musste den Fremdkörper herausnehmen, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte. Dr. Norden fieberte auf seinem Platz in jeder Minute mit der Kollegin. Und endlich hörte er die erlösenden Worte: »Ich habe das Projektil. Halten Sie ihn stabil, ich brauche noch eine Minute.«

»Kammerflimmern«, warnte der Anästhesist. »Er schmiert ab.«

»Gleichen Sie aus, ich bin fast fertig …« Christina Rohde zog die Kugel mit ruhiger Hand aus der Wunde. In keiner Sekunde wurde sie hektisch, ihre Finger arbeiteten präzise wie ein Uhrwerk. Endlich war es geschafft.

»Herzstillstand!«, rief der Narkosearzt. Zugleich erklang ein schriller Warnton.

»Reanimieren«, forderte die Chirurgin knapp.

Dr. Norden hielt den Atem an. Nun, da das Schlimmste hinter ihm lag, durfte der Patient nicht …

»Ich habe wieder einen Puls«, meldete der Anästhesist.

Dr. Rohde atmete auf, und auch der Chefarzt empfand die Erleichterung. Es dauerte noch einige ­Minuten, bis Thomas Walters Zustand sich stabilisiert hatte. Dann erst verließ die Chirurgin den OP und wies eine Schwester an, den frisch Operierten auf die ITS zu bringen.

Daniel Norden verließ seinen Posten und ging hinüber in den Waschraum, wo Dr. Rohde gerade ihre Hände säuberte.

»Eine brillante Leistung«, lobte er die verdutzte Ärztin.

»Chef, waren Sie etwa die ganze Zeit hier?«, wunderte sie sich und lächelte angedeutet. »Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mir noch größere Mühe gegeben.«

»Besser hätten Sie es nicht machen können.«

»Danke für das Lob, das hört man gern. Hat es vielleicht etwas Besonderes mit diesem Patienten auf sich?«

»Ich wollte einfach sicher gehen, dass er es schafft.«

Dr. Rohde hob leicht die Augenbrauen. »Also doch ein besonderer Fall. Jemand, der Ihnen nahe steht?«

»Mir nicht, aber einer Patientin. Er ist sozusagen der einzige Mensch auf der Welt, der für sie wichtig ist.«

»Oh. Dann wird sie noch eine Weile um ihn bangen müssen. Der Eingriff ist zwar gelungen, aber sein Zustand ist nicht stabil. Bis auf Weiteres habe ich ihn auf die ITS verlegen lassen.«

Dr. Norden nickte. »Ja, ich weiß. Hoffen wir einfach das Beste …«

Als der Chefarzt dann in sein Büro kam, beschwerte Katja Baumann sich: »Wo waren Sie denn so lange, Chef? Ich habe sie mehrere Male angefunkt und keine Antwort bekommen.«

»Ich war auf der Chirurgie unabkömmlich. Worum geht es denn? Etwas Wichtiges?«, wollte er wissen.

»Wie man es nimmt. Elke Moosbacher hatte einen Rückfall.«

»Aber sie war doch stabil.«

»Da haben sich ein paar Journalisten zu ihr geschlichen. Sie wollten anscheinend Hintergründe zu der Schießerei in der Brauerei in Erding erfahren.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« Dr. Norden war nun ernstlich böse. »Wozu gibt es hier eigentlich einen Sicherheitsdienst?«

»Diese Typen hatten sich als Ärzte verkleidet. Als sie aufgeflogen sind, war es schon zu spät. Eine Schwester hat dann die Security alarmiert, aber sie sind abgehauen.«

Daniel Norden eilte zu Elke Moosbacher auf die Innere. Der Internist Alexander Schön hatte sich um die Patientin gekümmert und ließ den Chefarzt wissen: »Sie hat sich halbwegs beruhigt, Sie können zu ihr.«

»Hat Sie noch Beschwerden?«

»Das Herz macht ihr wieder zu schaffen, sie leidet.«

Dr. Norden bedankte sich bei dem Kollegen und betrat Elke Moosbachers Krankenzimmer. Blass und elend lag die junge Frau in ihrem Bett, ihre Augen schwammen in Tränen.

»Wie konnte das nur geschehen?«, flüsterte sie verzweifelt.

Daniel Norden empfand heißes Mitleid. Was hatte die zarte, empfindliche Elke in den vergangenen Wochen alles erdulden müssen! Den Tod von Vater und Bruder, dann die Gewissheit, dass beide einem Anschlag zum Opfer gefallen waren. Die unsäglichen Intrigen ihrer Schwägerin, die in einem massiven Anschlag auf ihr junges Leben gegipfelt hatten. Und nun auch noch Thomas, der für unbestimmte Zeit auf der Intensivstation um sein Leben kämpfen musste. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte.

Daniel Norden sah es nun als seine Aufgabe an, Elke behutsam zu trösten, ihr wieder neuen Lebensmut zu vermitteln und auch das Gefühl, dass sie trotz allem nicht allein war. Dass es in der Behnisch-Klinik Menschen gab, die zu ihr standen und für sie da waren, solange dies nötig war.

»Wie geht es Thomas?«, fragte Elke nun gequält. »Bitte, Herr Doktor, sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Es geht ihm schon besser. Er wurde operiert, die Kugel, die ihn getroffen hat, ist entfernt worden.«

»Dann ist es wahr, was diese Journalisten gesagt haben? Evelyn hat versucht, auch ihn zu ermorden?« Sie schluchzte auf. »Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, dass Thomas noch mal allein zur Brauerei gefahren ist. Hätte ich ihm das nur ausgeredet …«

»Keiner konnte mit so etwas rechnen.«

»Doch, das war abzusehen.« Sie schnäuzte sich. »Ich wusste, dass man ihr einfach alles zutrauen muss. Diese Frau ist ein Ungeheuer. Sie hat uns alle getäuscht. Niemals hätte ich ihr all diese Verbrechen zugetraut. Das ist einfach nicht zu fassen.«

»Sie wird ihrer Strafe nicht entgehen«, versuchte Dr. Norden, Elke ein wenig zu trösten und zu beruhigen.

»Meinen Sie?« Das junge Mädchen schüttelte den Kopf. »Sie wird sich am Ende wieder herauswinden. Sie findet bestimmt ein Schlupfloch, wird ihren Kopf retten und alles Dr. Petzold anlasten. Ich traue ihr wirklich alles zu.«

»Sie sollten ein wenig Vertrauen in die Behörden haben«, riet Dr. Norden ihr da. »Der Fall liegt offen da, Evelyn kann sich der Strafe nicht entziehen.«

»Ich hoffe, Sie haben recht. Aber ich glaube erst daran, wenn diese Frau hinter Schloss und Riegel sitzt.« Elke schaute den Mediziner fragend an. »Darf ich zu Thomas? Bitte!«

»Dazu ist es noch zu früh. Es geht Ihnen nicht gut, Elke, Sie können jederzeit einen Rückfall erleiden. All die seelischen Schmerzen, die Sie erleiden mussten, fordern nun ihren Tribut. Sie müssen sich schonen, es geht nicht anders. Und Herr Walters darf nun eh keinen Besuch bekommen. Auf der ITS ist das nicht möglich. Sie brauchen ein wenig Geduld.«

»Ist das auch alles? Verschweigen Sie nichts, um mich zu schonen?«, hakte sie misstrauisch nach.

»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Elke, darauf können Sie sich verlassen. Ich muss Sie einfach um Geduld bitten, sich selbst und auch Herrn Walters gegenüber. Sobald sein Zustand sich so weit gebessert hat, dass er verlegt werden kann, dürfen Sie ihn sehen, das verspreche ich Ihnen. Sie vertrauen mir doch, nicht wahr?«

Elke nickte, ohne zu zögern. »Papa hat Ihnen vertraut. Und er hat eine gute Menschenkenntnis besessen.«

»Na, sehen Sie. Nun ruhen Sie sich aus, ich komme nachher noch einmal vorbei und schaue nach Ihnen.«

Elke nickte und schloss die Augen. Die neuerliche seelische Erschütterung und das Beruhigungsmittel, das Dr. Schön ihr gegeben hatte, taten nun ihre Wirkung.

Als Daniel Norden das Krankenzimmer der jungen Elke Moosbacher verließ, war diese bereits eingeschlafen. In diesem Fall schien dem Chefarzt der Behnisch-Klinik das alte Sprichwort angebracht, dass Schlaf das beste Heilmittel war. Elke brauchte viel Ruhe und Erholung, um wieder halbwegs stabil zu werden. Und ob sie es allein schaffen würde, ihre seelischen Wunden zu heilen, das erschien Dr. Norden eher zweifelhaft. Vermutlich musste sie dafür professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Doch vielleicht würde auch die Liebe ihr dabei helfen, gesund zu werden. War Thomas Walters erst wieder auf dem Posten, dann würde Elke bei ihm gewiss allen Trost und alle Fürsorge finden, derer sie bedurfte. Und ihr wundes Herz konnte dann endlich heilen. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg …

*

»Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, dass Evelyn Moosbacher die Anstifterin war und alles von ihr ausgegangen ist?«

Matthias Petzold nickte. Nach einer Nacht in U-Haft fühlte er sich nicht nur innerlich schmutzig. Sein Hemd war knittrig, er war unrasiert und kam sich vor wie ein Strolch. Aber war er dazu nicht auch geworden? Nun schien einzig sein Äußeres seinem Wesen zu entsprechen. Eine feine Ironie des Schicksals.

»Es war ihre Idee, die Moosbachers durch einen Flugzeugabsturz auf einen Schlag los zu werden.«

»Auf einen Schlag? Was meinen Sie damit?«, wollte Kommissar Brauer wissen. Er konnte sich noch kein richtiges Bild von Dr. Petzold machen. Der bis dahin zumindest nach außen unbescholtene Bürger, der plötzlich zum Mörder wurde, das war ein Fall, wie er nicht jeden Tag auf seinem Schreibtisch landete.

»Elke Moosbacher wollte ebenfalls mit nach Hannover fliegen. Es war reiner Zufall, dass sie es dann doch nicht tat, weil sie sich nicht wohl fühlte. Evelyn war darüber sehr böse.«

Der Kommissar nickte. Matthias Petzold schien die Wahrheit zu sagen, denn das hatte ihm bereits Thomas Walters erzählt.

»Und wie ging es dann weiter?«, forschte der Beamte.

»Evelyn wollte auch Elke noch loswerden. Ihr Ziel war es, als Alleinerbin in den Besitz des Kronenbräu zu gelangen, um den Betrieb verkaufen zu können.«

»Was hat sie getan, um Elke los zu werden?«

Matthias Petzold rieb sich die Stirn. »Könnte ich vielleicht einen Kaffee bekommen?«

»Klar.« Der Kommissar nickte seinem Kollegen zu, der bislang dem Verhör schweigend beigewohnt hatte. Er verschwand kurz und kehrte dann mit einem Becher Kaffee zurück. Nachdem Matthias Petzold einen Schluck getrunken hatte, fuhr er fort: »Josef Moosbacher hatte hohen Blutdruck. Er war deshalb in Behandlung. Der Doktor hat ihm Tropfen verschrieben, die er regelmäßig einnehmen musste. Evelyn hat Elke diese Tropfen gegeben. Sie hatte sich darüber informiert, wie sie bei einem schwachen Herzen und einem niedrigen Blutdruck wirken.«

»Demnach wollte sie ihre Schwägerin mit den Tropfen vergiften.«

»Ja, so könnte man wohl sagen. Nachdem Elke sie eine Weile eingenommen hatte, wurde sie immer schwächer. Sie schlief fast nur noch. Evelyn sprach von einem natürlich wirkenden Herzversagen. Das hat sie angestrebt.«

»Und Sie waren damit einverstanden?«

»Weiß Gott nicht! Ich habe es ja erst erfahren, als ihr Plan gescheitert ist. Thomas Walters hat sie noch eben rechtzeitig zum Arzt gebracht. Sie hatte tatsächlich einen Herzstillstand!« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht fassen, als sie mir davon erzählte, einfach so, als wäre gar nichts dabei.«

»Hat sie deshalb auf Herrn Walters geschossen? Aus Rache?«

Dr. Petzold schüttelte den Kopf. »Er war in der Brauerei, als wir uns dort abends unterhalten haben. Er hörte Dinge, die nicht für seine Ohren bestimmt waren.«

»Deshalb hat sie ihn niedergeschossen?«

»Sie wollte den Deal mit dem Goldbräu unter allen Umständen durchziehen. Das war das Einzige, was sie interessierte. Dafür hat sie alles getan und jeden geopfert, der ihr im Wege stand.«

»Kommt Ihnen das hier bekannt vor?« Kommissar Brauer legte eine ausgedruckte Seite des Buchhaltungsprogramms der Brauerei auf den Tisch vor Matthias Petzold. Der nickte müde.

»Das sind Ihre Manipulationen, nicht wahr?«

»Ja, ich habe über mehrere Jahre immer wieder Summen doppelt gebucht und in meine Tasche gesteckt.«

»Aus einem bestimmten Anlass?«

»Ich hatte Spielschulden, die ich nicht aus eigener Tasche zahlen konnte.«

»Und die Moosbachers sind nicht aufmerksam geworden? Gab es nicht eine unangekündigte Buchprüfung vor ein paar Monaten, bei der auch Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden?«

»Ja, aber es war nicht ganz klar, wer dafür verantwortlich gewesen ist. Der Chef hat einen Buchhalter entlassen.«

»Stimmt es dann nicht, dass er auch Ihnen nicht mehr vertraute, dass es da Reibereien gab?«

»Ich bin nicht beschuldigt worden, wenn Sie das meinen.«

»Dann frage ich Sie, wieso die Moosbachers alle wichtigen Geschäftsabschlüsse der letzten Zeit selbst getätigt haben. Ist es nicht Usus, den Geschäftsführer daran zu beteiligen? Und war es nicht über Jahre auch im Kronenbräu so?«

»Schon, aber das hat andere Gründe.«

Der Kommissar schien das nicht zu glauben. »Ich denke, dass man Ihnen auf die Schliche gekommen ist, Herr Dr. Petzold. Es gab nichts Greifbares, nichts Konkretes. Aber das Verhältnis zu Ihren Chefs war zerrüttet. Möglicherweise standen Sie kurz davor, entdeckt, entlassen und angezeigt zu werden.«

»Nein, das stimmt so nicht.«

»Ich glaube, dass es genauso gewesen ist. Deshalb haben Sie sich mit Evelyn Moosbacher zusammen getan, die ebenfalls Spielerin ist und hohe Schulden hat. Sie wollten sich auf einen Schlag sanieren, das Kapital dazu sollte aus dem Verkauf des Kronenbräus direkt in Ihre Tasche fließen. Wenn das kein Mordmotiv ist, dann weiß ich es nicht.«

»Evelyn hat mir eine Provision versprochen, mehr nicht. Fragen Sie sie doch selbst. So ist es gewesen!«

»Das werden wir, sobald wir sie gefunden haben. Momentan befindet sie sich noch auf der Flucht. Und solange das der Fall ist, sind Sie unser Haupttäter.«

»Es war ihre Idee, nicht meine!«, beteuerte er, doch der Beamte nahm ihm das nicht ab. Es war genauso gekommen, wie Matthias Petzold befürchtet hatte. Evelyn war fort, hatte sich elegant aus der Verantwortung für ihre Taten gestohlen und ließ ihn nun die Suppe auslöffeln, die sie ihm eingebrockt hatte.

»Ihr offenes Geständnis wird Ihnen Pluspunkte beim Staatsanwalt verschaffen«, ließ der Kommissar ihn noch wissen. »Aber Ihre Taten wiegen schwer. Reiner Schmidt hat ebenfalls ein umfängliches Geständnis abgelegt, in dem er nur Sie allein als Anstifter nennt. Evelyn Moosbacher taucht in seiner Aussage nicht auf, wird mit keinem Wort erwähnt.«

»Natürlich nicht. Sie hat es mir überlassen, mit dem Mechaniker alles abzusprechen und ihn zu bezahlen. Er hatte immer nur mit mir zu tun.« Er schnaubte verächtlich. »Jetzt ist mir auch klar, warum.«

»Sie hat Sie hereingelegt. Aber das wird Ihnen vor Gericht nichts nützen, Herr Dr. Petzold. Sie haben drei Menschenleben auf dem Gewissen, das sollten Sie nicht vergessen.«

Matthias Petzold senkte den Blick, seine Stimme klang bitter, als er versicherte: »Das werde ich wohl nie vergessen können, solange ich lebe.«

*

»Mensch, Papa, kommst du auch mal wieder heim? Wir wollten schon eine Vermisstenanzeige aufgeben.« Dési Norden lachte, als ihr Vater sie treuherzig fragte: »Habt ihr mich denn vermisst?«

»Mama hat mit dem Abendessen auf dich gewartet. Auf mich müsst ihr aber verzichten, bin verabredet.«

»Einen Moment noch. Wenn du ein bisschen Zeit hast, könntest du Elke Moosbacher besuchen. Sie liegt auf der Inneren, und es geht ihr gar nicht gut.«

»Mama hat schon was erzählt. Wird ihr Braumeister denn wieder? Evelyn hat versucht, ihn umzubringen, oder?«

»Es sieht danach aus; in beiden Fällen. Tust du mir also den Gefallen und besuchst sie?«

»Darum hättest du mich nicht extra bitten müssen, Papa. Das hatte ich sowieso vor. Es ist eine Schande, was sie durchmachen muss. Ich hoffe nur, dass sie diese Evelyn in eine Zelle sperren und den Schlüssel wegwerfen. So ein Biest, unfassbar! Ich kann mir kaum vorstellen, was die alles auf dem Gewissen hat. Wie kann man da nur nachts ruhig schlafen?«

»Das wirst du zum Glück nie erfahren, Liebchen«, sagte Daniel Norden und drückte seiner Tochter ein Küsschen auf die Wange. »Amüsier dich gut.«

Dési grinste. »Werde ich, versprochen!«

Fee begrüßte ihren Mann mit einer langen Umarmung, denn sie ahnte, dass er die nun einfach brauchte. Und sie hatte sich nicht getäuscht, er bedankte sich mit einem zärtlichen Kuss.

»Wie geht es Thomas Walters?«, fragte sie, als sie dann zusammen am Tisch saßen und ein spätes Abendessen einnahmen.

»Nicht gut. Ich habe eben mit dem Kollegen Schulz gesprochen. Der Zustand des Patienten hat sich zwar stabilisiert, aber auf sehr niedrigem Niveau. Er ist nach wie vor bewusstlos.«

»Lebensgefahr besteht aber keine mehr.«

»Nein, trotzdem gefällt mir das nicht.«

»Willst du sagen, er liegt im Koma?«

»Es wäre zu früh, darüber zu spekulieren. Aber es ist durchaus möglich, dass die Entwicklung dorthin geht. Und ich weiß nicht, wie ich das Elke beibringen soll. Sie hat einfach zu viel mitmachen müssen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sie am Abgrund steht. Einen weiteren Tiefschlag kann sie nicht mehr verkraften, das wäre zu viel.«

Fee nickte. »Elke ist schon ihr ganzes Leben lang kränklich. Aber ist das wirklich alles? Sie hat doch bestimmt auch den Moosbacher-Dickschädel geerbt. Zumindest in abgemilderter Form.«

Daniel musste schmunzeln. »Mag sein. Trotzdem braucht sie nun dingend Halt und Trost.«

»Beides kannst du ihr geben, Dan.«

»Sicher, ich bemühe mich ja auch, sie aufzurichten. Aber der Mensch, dem diese Aufgabe eigentlich zufällt, liegt nach wie vor bewusstlos auf der Intensivstation.«

»Ein interessanter Fall?« Alex war eben heimgekommen und gesellte sich nun zu den Nordens.

»Magst du noch etwas essen?«, wollte Fee wissen, doch der junge Mann lehnte ab.

»Zu spät für mich, dann schlafe ich schlecht.«

»Ein gesundheitsbewusster zukünftiger Arzt, das sieht man nicht alle Tage«, spöttelte Dr. Norden und trank einen Schluck Rotwein. »Wenigstens ein Glas davon?«

Alex grinste. »Da sage ich nicht nein. Aber jetzt heraus mit der Sprache, was gibt es Neues in der Behnisch-Klinik?«

»Die Moosbacher-Sache beschäftigt uns immer noch«, ließ Fee ihn wissen und stellte ein Weinglas vor ihn auf den Tisch.

»Das ist ja ein halber Krimi, kaum zu fassen, was sich in einem gut bayerischen Brauhaus so alles an tödlichen Intrigen entwickeln kann. Die Lokalseiten der Zeitung sind seit Wochen voll von an­rüchigen Details und Vermutungen.«

»Die Presse«, knirschte Daniel.

»Hat er was gegen die Leute?«, fragte Alex Fee.

»Momentan ist er nicht gut auf sie zu sprechen.«

»Seit wann denn das?«

»Seit zwei solcher Hornochsen mit ihrem vorlauten Geschwätz dafür gesorgt haben, dass Elke Moosbacher einen Rückfall erlitten hat. Da wusste sie nämlich noch nicht, dass Evelyn auf Thomas Walters geschossen hat.«

Der junge Mann nickte. »Ich sag’s ja, ein halber Krimi. Und was machen deine Patienten?«

»Elke ist halbwegs stabil, im Gegensatz zu Thomas Walters.«

»Er macht Daniel ziemliche Sorgen.«

»Eine wirklich tragische Geschichte. Und diese Evelyn? Die wird ja nun wohl hinter Gitter landen, nehme ich an.«

»Dazu muss die Polizei sie erst mal finden«, sagte Daniel Norden ärgerlich. »Bislang ist ihr das aber nicht gelungen.«

*

Nachdem Evelyn das Brauhaus verlassen hatte, war sie zunächst zur Villa Moosbacher gefahren, hatte in Windeseile gepackt und Erding schon kurze Zeit später verlassen.

Ihre Spur hatte sich in München fürs Erste verloren, doch die Fahndung nach ihr war sofort angelaufen. Als der Polizei dann die Aussagen von Matthias Petzold und dem Mechaniker Reiner Schmidt vorgelegen hatten, war die Suche nach der Flüchtigen noch einmal intensiviert worden.

Evelyn hatte sich in einer kleinen Pension in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofs eingemietet. Auch wenn diese Unterkunft unauffällig war, konnte sie nicht ewig hier bleiben. Sie musste München verlassen, am besten das Land. Noch hatte sie keine konkreten Pläne. Doch auch ihre Flucht ging sie so an, wie bislang alles in ihrem Leben. Mit kaltem Verstand und Kalkül.

Während sie in dem engen Zimmer mit der abgenutzten Einrichtung hin und her marschierte, verfluchte sie Matthias Petzold in den düstersten Tönen. Ihrer Meinung nach war er an allem schuld, auch an ihrer jetzigen prekären Lage.

Hätte er zu ihr gehalten, wäre er ein klein wenig entschlossener und skrupelloser vorgegangen, dann könnten sie nun ihre Millionen in der Karibik genießen. Doch er hatte sich einmal mehr von seinen kleinbürgerlichen Ängsten und Vorbehalten beherrschen lassen und ihren Plan so letztendlich zum Scheitern gebracht. Am liebsten hätte sie ihm dafür ebenso eine Kugel verpasst wie dem neugierigen Thomas Walters. Er hatte sie verdient, denn er war nichts weiter als ein erbärmlicher Versager, der sie auf ganzer Linie enttäuscht hatte.

Doch vermutlich saß er längst im Gefängnis, wo er auch hingehörte. Dort hatte er dann Zeit, für alles zu büßen, was er ihr angetan hatte …

Evelyn atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, sich in Rachegelüsten zu verlieren. Sie musste nun versuchen, das Beste aus einer schlechten Situation heraus zu holen. Ihre Barschaft reichte noch eine Weile, trotzdem brauchte sie mehr Geld, um ihre Flucht fortzusetzen. Ihren Sportwagen konnte sie auf die Schnelle nicht verkaufen, ohne aufzufallen. Die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, war ein Bankbesuch. Sie würde die Konten abräumen, zu denen sie Zugang hatte. Mit diesem Geld ließ es sich dann schon eine Weile angenehm leben, wenn sie aufs Spielen verzichtete. Natürlich war es nichts, verglichen mit der Summe, die sie sich von dem Verkauf des Brauhauses erhofft hatte. Doch dieses Geschäft musste sie endgültig vergessen, es gab keine Möglichkeit mehr, es abzuschließen. Deshalb war es auch sinnlos, sich noch darüber den Kopf zu zerbrechen.

Evelyn blieb vor dem schmalen Fenster stehen und blickte eine Weile auf die Stadt, die ihr hier, im vierten Stock, sozusagen zu Füßen lag. In der Ferne malten sich deutlich die Zwillingstürme der Liebfrauenkirche gegen den wolkigen Abendhimmel ab. Irgendwo dort war die Behnisch-Klinik, in der Elke lag. Evelyn lächelte spöttisch. Dummes, kleines Ding. Sie würde nichts anzufangen wissen mit ihrem Erbe, von irgendwelchen skrupellosen Geschäftemachern übervorteilt werden und am Ende nur verlieren. Doch es geschah ihr recht, schließlich hatte sie nie etwas für ihren Reichtum getan. Elke war in eine Familie hinein geboren worden, in der Wohlstand selbstverständlich war. Evelyn sollte es recht sein, wenn die Kleine nun mal magere Zeiten erlebte. Warum sollte es ihr auch besser gehen …

Am nächsten Morgen kleidete Evelyn sich sehr sorgfältig an und machte sich dann per Taxi auf den Weg zu ihrer Bank. Sie wurde höflich wie immer behandelt, es schien keine Probleme zu geben. Die von ihr gewünschten Abhebungen erfolgten problemlos. Es war beinahe schon zu einfach …

Als Evelyn die Bank dann wieder verlassen wollte, begriff sie, was los war. Vor dem Eingang hielt sich niemand auf. Der Platz, der sonst zu dieser Tageszeit von Passanten wimmelte, war wie leer gefegt. Und gegenüber stand ein dunkler, unauffälliger Wagen inmitten der Fußgängerzone. Sie überlegte kurz, kehrte dann ins Innere der Bank zurück und steuerte die Kundentoilette an. Niemand beachtete sie.

Im Waschraum hielt sich keiner auf. Evelyn betrat eine Kabine und verriegelte von innen. Dann schob sie das Fenster, das etwas höher lag, auf und stieg nach draußen. Nun befand sie sich auf der Rückseite der Bank. Es gab hier einen weiteren Eingang für die Anlieferung von Geldtransporten, der geschlossen war. Davor einen geflasterten Platz mit einigen Parkplätzen und einem Fahrradständer. Niemand war in der Nähe.

Evelyn spazierte unauffällig über den Platz und zur nächsten Bushaltestelle. Als der Bus die Vorderfront der Bank passierte, standen dort zwei Streifenwagen der Polizei, und mehrere Uniformierte rannten hin und her. Evelyn grinste kalt und dachte: Idioten.

Als sie wenig später die Pension erreichte, meinte sie schon, gewonnen zu haben. Sie packte und checkte aus. Dann verließ sie mit ihrem Sportwagen die Stadt Richtung Süden. Auf der Fahrt dachte sie darüber nach, wohin der Weg sie nun führen sollte. Vielleicht in die Berge? Sie konnte sich eine Hütte mieten und mal richtig ausspannen, bis Gras über alles gewachsen war.

Diese Idee erschien ihr gar nicht so schlecht. Und in ein paar Wochen würde sie dann in Kitz oder Garmisch ihre Fühler nach einer neuen, lohnenden Partie ausstrecken …

Evelyn war ganz zufrieden mit sich und der Welt. Sie hatte München bereits hinter sich gelassen, als ihr im Rückspiegel ein Wagen der Autobahnpolizei auffiel. Er blieb in gewissem Abstand hinter ihr. War das ein Zufall, eine Routinekontrolle oder …

Für einen kurzen Moment verlor sie ihre sonst eiserne Ruhe, und etwas wie Panik überfiel sie. Doch als sie das nächste Mal in den Rückspiegel schaute, war der Polizeiwagen fort. Offenbar an der letzten Abfahrt abgebogen.

Evelyn atmete auf und lächelte schmal. Sie musste sich zusammennehmen, wollte sie sich nicht selbst verraten. Bislang war sie immer und in jeder Lebenslage die Überlegene gewesen, und das sollte auch so bleiben.

Sie wollte sich eben entspannt in ihrem Sitz zurücklehnen, als eine Limousine vor ihr unvermittelt abbremste. Zugleich tauchte der Wagen der Autobahnpolizei wieder auf. Und direkt hinter ihr blinkte kurz ein Blaulicht an einem zivilen Wagen. Dazu eine Stimme über Lautsprecher, die forderte: »Verlangsamen Sie Ihre Geschwindigkeit und fahren Sie auf den rechten Randstreifen, Frau Moosbacher!«

Evelyn konnte es nicht fassen. Man hatte sie doch noch erwischt! Offenbar hatte sie die Polizei unterschätzt. Sie hatte ihre Schrecksekunde allerdings schnell überwunden. Und sie war fest entschlossen, auch aus dieser scheinbar aussichtslosen Lage unbeschadet heraus zu kommen. Zunächst bremste sie tatsächlich ab und zog nach rechts. Noch ehe ihr Vordermann es ihr aber gleichtun konnte, gab sie Vollgas.

Der schwere Motor des Sportwagens fauchte wie ein Raubtier, der flache Flitzer schoss wie eine Rakete nach vorn und kam innerhalb weniger Augenblicke auf Höchstgeschwindigkeit. Während die Dienstwagen der Verfolger zurück blieben, lachte Evelyn triumphierend und raste auf der Standspur davon.

Wieder einmal hatte sie gewonnen. Diese kleinen Lichter, die ihr nicht das Wasser reichen konnten, hatten sich verschätzt.

»Ihr blöden Vollidioten!«, schrie sie enthemmt.

Eine Weile raste Evelyn dahin, die Landschaft zu beiden Seiten flog nur so an ihr vorbei. Sie kümmerte sich nicht um das vielstimmige Hupkonzert, das sie begleitete. Doch ein kurzer Blick in den Rückspiegel brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein heftiger Fluch kam über ihre Lippen, während sie das Gaspedal ganz durchtrat.

Der Wagen der Autobahnpolizei holte allmählich auf. Er konnte es durchaus mit Evelyns Boliden aufnehmen, auch wenn der starke Motor eigentlich dazu diente, Temposünder zu verfolgen.

Wieder fluchte Evelyn. Plötzlich schien sich alles gegen sie verschworen zu haben, ihre Überlegenheit war dahin. Der Polizeiwagen hatte sie fast eingeholt. Und im nächsten, für sie schicksalhaften Moment sah sie die Straßensperre. Der Verkehr war umgeleitet worden, hinter ihr kam nur noch Polizei. Und die fiel nun allmählich wieder zurück, denn ihr Plan war aufgegangen.

Evelyn schrie zornig auf, als sie begriff, dass sie in eine Falle gegangen war. Das Rennen hatte ihr nichts genützt. Die Polizei hatte gewonnen. Den das breite Nagelband vor ihr würden ihre Reifen nicht unbeschadet überstehen.

Hektisch schaute sie sich um. Die Polizei war hinter und vor ihr. Scheinbar gab es kein Entrinnen. Oder doch? Ein kleines, hartes Grinsen legte sich um ihren Mund, als sie das Steuer herumriss und auf die Leitplanke zuhielt. Dahinter gab es nur abgeerntete, landwirtschaftliche Felder. Dieser Weg war im wahrsten Sinne des Wortes steinig, aber er würde ihr die Freiheit bescheren, davon war sie überzeugt.

Im nächsten Moment durchbrach der flache Sportwagen die Leitplanke. Es krachte wie eine Explosion, als das Metall aus den Verankerungen gerissen wurde, durch die Luft flog und auf der Fahrbahn landete. Evelyn schrie triumphierend auf. Dann knallte der Wagen auf die Erde. Ein ungeheurer Schlag traf die Fahrerin und setzte sie schachmatt. Sie ließ das Steuer los, der Flitzer bekam sofort Schlagseite, drehte sich und überschlug sich mehrere Male, um schließlich mitten auf einem Stoppelfeld auf dem Dach liegen zu bleiben.

Kurze Zeit später waren Polizei und Rettungskräfte vor Ort. Für Evelyn, die wie immer nicht angeschnallt gewesen war, kam jede Hilfe zu spät. Sie war aus dem Wagen geschleudert worden und lag mit gebrochenen Augen gut zehn Meter von ihrem zertrümmerten Wagen entfernt auf dem Feld. Der Koffer mit dem Bargeld hatte sich bei dem Aufprall geöffnet. Geldscheine wehten durch die Luft, führten einen grotesken Tanz um die Tote herum auf. Das, was Evelyn im Leben das Wichtigste gewesen war, schien sie auch auf ihrem letzten Weg nicht hergeben zu wollen …

*

»Wie geht’s dir so? Mies?« Dési Norden setzte sich zu Elke Moosbacher ans Krankenbett und drückte ihr beide Hände. »Das wird wieder, keine Sorge.«

»Meinst du wirklich?« Elke schaute die Freundin skeptisch an.

»Klar!« Dési lächelte ihr aufmunternd zu. »Deinem Thomas geht es schon besser. Bald wird er wieder fit sein und die Brauerei schmeißen. Und wenn ihr zwei Hübschen heiratet, kreiere ich für dich ein Brautkleid, das alle umwerfen wird. Wie eine Fee wirst du aussehen. Aber dass du mir dann nicht einfach durchs Fenster davon fliegst. Sonst kriege ich noch Ärger mit deinem Thomas.«

»Ach, Dési …« Elke fing an zu weinen.

»Mist, im Trösten war ich schon immer eine Niete. Entschuldige, wenn ich nur Quatsch gelabert habe. Vergiss es einfach ganz schnell wieder, okay?«

»Nein, das ist es nicht. Die Idee mit dem Feenbrautkleid gefällt mir. Aber ich fürchte, ich werde keinen Bräutigam haben, der dazu passt.«

»Wieso? Will Thomas nicht heiraten?«

»Keine Ahnung, ich kann ihn ja nicht fragen.«

»Also, ich glaube, du machst dir unnütze Gedanken. Ihr zwei seid doch ein Herz und eine Seele. Was soll da noch schief gehen? Dieser kleine fette Kerl mit den Pfeilen hat euch voll ins Schwarze getroffen.«

Elke seufzte. »Du verstehst nicht, was ich meine, Dési.«

»Hm, das glaube ich langsam auch. Dann rede doch mal Klartext, der auch bei mir ankommt.«

»Thomas liegt im Koma. Und niemand kann sagen, wann oder ob er wieder aufwacht«, seufzte Elke und schluckte krampfhaft, weil ihr schon wieder die Tränen kamen.

»Koma? Wer hat dir denn den Mist aufgetischt?«

»Es stimmt aber. Ich habe eine Schwester gefragt.«

»Die hatte bestimmt keine Ahnung und hat dir nur irgendwas erzählt. Weißt du was? Ich frage einfach meinen Vater.«

»Würdest du das für mich tun? Ich möchte so gern wissen, wie es wirklich um Thomas steht. Ich darf ja nicht zu ihm, solange er noch auf der Intensivstation liegt.«

Dési erhob sich. »Kein Thema, bin gleich wieder da.«

Natürlich war Dr. Nordens Tochter in der Behnisch-Klinik bekannt und konnte sich überall frei bewegen. Als sie das Büro ihres Vaters betreten wollte, saß Katja Baumann im Vorzimmer.

»Hi, ist mein alter Herr da?«, fragte Dési lässig.

Katja schüttelte den Kopf. »Er ist rauf zur ITS. Stell dir vor, Thomas Walters ist endlich zu sich gekommen.«

»Das wurde aber auch Zeit. Die arme Elke weint sich vor Sorge um ihn schon die Augen aus dem Kopf. Meinst du, ich kann eben mal zu ihm? Wenn ich ihn nicht selbst gesehen hab, glaubt Elke mir doch nicht, dass es ihm endlich besser geht.«

»Versuchen kannst du es. Und wie ich deinen Vater kenne, kann er dir doch nichts abschlagen.«

Dési grinste. »Nur kein Neid …«

Der Leiter der Intensivstation Dr. Schulz, seine Mitarbeiter und der Chefarzt hatten sich allesamt um Thomas Walters’ Bett versammelt. Dem jungen Mann schien so viel Aufmerksamkeit gar nicht zu behagen, er wirkte ziemlich verunsichert. Als Dési dann erschien, fragte er sie gleich nach Elke.

»Sie wartet sehnsüchtig darauf, dich endlich besuchen zu können. Na, das geht ja nun bald, dank Papa und seiner Gang, stimmt’s?« Sie grinste frech, kniff ein Auge zusammen und war schon wieder weg, ehe sie jemand dazu auffordern konnte.

»Ihre Tochter hat ein flottes Mundwerk«, stellte Dr. Schulz fest. »Kompliment, Chef, sie ist wirklich gut geraten.«

Daniel Norden seufzte. »Schön wär’s …«

Elke weinte schon wieder, diesmal allerdings vor Glück.

»Er ist wirklich wieder bei Bewusstsein? Und du hast mit ihm geredet?«, vergewisserte sie sich immer wieder.

»Wenn ich es dir doch sage. Er hat sofort nach dir gefragt. Also, wenn du mich fragst, Elke, ich sehe dich bereits als Fee zum Altar schweben.«

»Ja, das wäre schön. Aber bis dahin habe ich noch so einiges vor mir, fürchte ich.«

»Gesund werden und wieder auf die Beine kommen, klar. Aber was denn sonst noch?«

»Evelyns Beerdigung. Trotz allem, was sie getan hat, war sie doch die Frau meines Bruders. Ich muss mich um ein anständiges Begräbnis kümmern. Und dann das Brauhaus …«

»Dafür hast du doch deinen Braumeister.«

»Thomas ist fürs Bierbrauen zuständig. Die Brauerei braucht aber einen Chef. Und ich bin das bestimmt nicht.«

Dési machte ein nachdenkliches Gesicht. »Warum eigentlich nicht? Dir gehört das Kronenbräu jetzt. Wenn du einen tüchtigen Geschäftsführer einstellst, geht das doch. So wie es vorher gewesen ist.«

»Aber Papa und Markus haben die Abschlüsse getätigt, ich habe ja keine Ahnung vom Geschäft«, wandte Elke ein.

»Dann lernst du es eben. Oder willst du das Brauhaus verkaufen?«

»Nein, das geht doch net«, erwiderte sie spontan. »Es ist schon so lange im Besitz meiner Familie. Der Vater würde sich gewiss im Grab umdrehen, wenn ich verkaufe.«

»Also, dann bleibt ja nichts anderes übrig. Ich bin sicher, Thomas wird dir helfen. Zusammen schafft ihr das. Und dann gibt es eine neue Generation Moosbachers im Brauhaus. Ich finde, das hat was. Du etwa nicht?«

Elke seufzte tief. Noch immer war ihr Blick skeptisch, aber ein kleiner Hoffnungsschimmer lag auch darin. Vielleicht war das, was ihre Freundin ihr da vorgeschlagen hatte, gar nicht so verkehrt. Hieß es nicht, dass der Mensch an seinen Aufgaben wächst? Und nun, da sich in Elkes Leben wirklich alles geändert hatte, gab es die Möglichkeit, dass sie selbst auch aktiv etwas änderte. Diese Idee gefiel ihr zunehmend.

»Wie du das sagst, klingt es ganz einfach.«

»Einfach vielleicht nicht, aber machbar. Du bist doch klug im Kopf. Mach was draus.«

»Dési, du bist ein Schatz. Und wenn ich heirate, dann möchte ich dich als meine Brautjungfer, einverstanden?«

Dr. Nordens Tochter lachte leise. »Okay, dann entwerfe ich für mich auch was Schönes. Aber eine Fee oder Elfe bin ich leider nicht, das muss schon etwas bunter sein.«

*

Es dauerte noch ein paar Tage, bis Thomas Walters die Intensivstation verlassen konnte und in ein normales Krankenzimmer auf der Inneren verlegt wurde. Dr. Norden sorgte dafür, dass dieses nicht allzu weit von Elke Moosbachers Zimmer entfernt war. Und so erfüllte sich schließlich für sie der große, sehnsüchtige Wunsch, Thomas endlich besuchen zu dürfen.

Bevor es aber so weit war, mahnte Dr. Norden die Patientin, den jungen Mann nicht zu überanstrengen.

»Er ist noch empfindlich und geschwächt. Es wird eine Weile dauern, bis es ihm wirklich besser geht. Deshalb bitte nicht zu lange bleiben und auch keine anstrengenden Gespräche führen. Wollen Sie mir das versprechen, Elke?«

»Natürlich, Herr Doktor. Ich bleibe nur ganz kurz.«

Als Elke dann am Bett des geliebten Mannes saß, fiel es ihr doch schwer, ihr Versprechen zu halten. Sie war einfach nur selig in der Gewissheit, dass es Thomas endlich besser ging und dass er in absehbarer Zeit wieder gesund sein würde.

Auch wenn er nun noch sehr blass war und von den Strapazen, die hinter ihm lagen, gezeichnet.

Doch er lächelte, als Elke sich an sein Bett setzte, und hielt ihre Hand, die sie in seine schob, ganz fest.

»Wie geht es dir?«, fragte sie leise.

»Ging schon mal besser. Und dir?«

»Jetzt richtig gut!« Sie lächelte ihn so strahlend an, dass ihm das Herz aufging. Da war er endlich wieder, der blaue Sommerhimmel in ihren Augen, der ihm die Seele wärmte und ihn wunschlos glücklich machte.

»Was gibt es Neues? Mir sagt ja keiner was.«

»Na ja, Dr. Norden meint, ich solle dich nicht überanstrengen und nicht zu lange bleiben. Deshalb erzähle ich dir lieber alles ein bisserl später. Weißt, ich werde ja bald aus dieser Klinik entlassen. Und dann kann ich jeden Tag herkommen, dich besuchen und dafür sorgen, dass du ganz schnell gesund wirst. Da können wir gewiss noch Gesprächsstoff brauchen.«

Thomas schaute Elke liebevoll an. »Darauf freue ich mich«, sagte er mit müder Stimme, dann fielen ihm auch bereits wieder die Augen zu. Wie es schien, hatte Dr. Norden nicht übertrieben. Noch war Thomas sehr geschwächt und brauchte viel Ruhe.

Elke blieb also noch eine Weile ganz still an seinem Bett sitzen und wachte über seinen Schlaf, bis eine Schwester erschien und sie bat, wieder in ihr eigenes Zimmer zurückzukehren. Bevor Elke ging, warf sie noch einen langen Blick auf Thomas. Und den nahm sie dann in ihrem Herzen mit wie ein schönes Bild, das man immer wieder anschauen will, weil es einen ganz einfach glücklich macht.

Von diesem Tag an besuchte Elke Thomas regelmäßig. Ende dieser schicksalhaften Woche konnte Dr. Norden seine Patientin guten Gewissens nach Hause entlassen. Elkes Herzbeschwerden hatten sich tatsächlich gebessert, seit Thomas wieder bei Bewusstsein war…

Die junge Frau kam in ein leeres Haus zurück. Das Personal war ebenfalls fort, Elke musste erst einmal herumtelefonieren und die Bediensteten davon in Kenntnis setzen, dass sie wieder daheim war. Es fühlte sich seltsam an, allein durch die so vertrauten Räume zu gehen, die nur noch Erinnerungen an ein Gestern bargen, das so nicht mehr existierte.

Elke spazierte lange durch den Park, ging auch hinüber zum Bootssteg und blickte auf die Würm. Verblüht Seerosen und Mummeln, im Wasser schwamm nun bereits das bunte Laub der dritten Jahreszeit. Die junge Frau fühlte sich mit einem Mal sehr einsam.

Noch einmal dachte Elke an die Zeit zurück, als der Vater in seinem Büro regiert hatte, Markus seine rechte Hand gewesen war und sie am Abend alle zusammen um den großen Tisch im Esszimmer gesessen hatten. All das war unwiderbringlich dahin.

Mit schwerem Herzen kehrte Elke schließlich zum Haus zurück. Verwundert stellte sie fest, dass Dr. Danny Nordens Wagen davor hielt. Er begrüßte sie freundlich und erklärte: »Mein Vater hat mir gesagt, dass Sie heute heimkommen, Elke. Deshalb wollte ich mal nach Ihnen schauen.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Doktor.«

»Wie fühlen Sie sich? Kann ich etwas für Sie tun?«

»Nein, es geht mir ganz gut.«

Danny Norden lächelte ihr zu. »Wenn etwas ist, rufen sie nur an. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

»Ich möchte Ihnen noch danken, Herr Doktor. Sie haben mir das Leben gerettet. Ich stehe tief in der Schuld der Nordens.«

»Unsinn, ich habe nur meine Arbeit gemacht. Dann bis bald!«

Der Besuch des jungen Arztes gab Elke neuen Auftrieb. Es war das Gefühl, nicht allein zu stehen, Hilfe zu haben, wenn man sie brauchte, das sie dazu animierte, ihr neues Leben nun in die Hand zu nehmen.

Zunächst aber stand Evelyns Beerdigung an. Elke kümmerte sich darum, dass Markus’ Frau in der Familiengruft bestattet wurde. Sie hatte einfach das Gefühl, dass es sich so gehörte, trotz allem. Die Zeremonie war schlicht und kurz, nur Elke folgte dem Sarg in die Gruft. Danach fuhr sie in die Behnisch-Klinik und besuchte Thomas. Dem ging es schon so gut, dass er sein Bett für einen kurzen Spaziergang über den Flur verlassen konnte.

Wie bei jedem ihrer Besuche erzählte sie ihm alles, was der Tag ihr gebracht hatte. Thomas hörte ihr aufmerksam zu.

Als er schließlich in sein Bett zurückgekehrt war, erklärte Elke: »Ich habe mir ein paar Gedanken über die Zukunft gemacht. Du weißt ja, ich hatte Angst davor, dieses schwere Erbe anzutreten. Aber dann hat Dési Norden mich ermuntert, es einfach zu versuchen. Und je mehr Zeit vergeht, desto eher glaube ich, dass ich es schaffen kann. Allerdings will ich vieles ändern.«

»Da bin ich aber gespannt.«

»Zunächst mal müssen wir beide zusammen einen fähigen Geschäftsführer einstellen. Und wenn wir verheiratet sind, dann möchte ich, dass wir beide das Brauhaus zusammen leiten.«

»Aber, Liebes, ich bin Braumeister.«

»Ich weiß, das sollst du ja auch bleiben.«

»Aber wie hast du es denn dann gemeint?«

»Ganz einfach. Das Kronenbräu soll jedem von uns zur Hälfte gehören. Das heißt, wir werden über alle Entscheidungen, die den Betrieb betreffen, reden müssen. Das ist besser, als wenn nur einer alles entscheidet.«

»Und wenn wir uns dann ständig streiten?«

Elke lachte. »Das glaubst du doch selbst net.«

»Auch wieder wahr.« Thomas lächelte schmal. »Es ist eigentlich das, was ich net wollte. Ich liebe dich und ich heirate dich, net die Hälfte vom Kronenbräu.«

Sie seufzte. »Damit musst du dich abfinden, denn uns gibt es nur zusammen«, scherzte sie dann. »Sieh es halt als meine Mitgift an. Es ist da, das lässt sich net ändern.«

»Ich will mir Mühe geben«, erwiderte er in gleicher Manier.

»Fein. Und dann müssen wir nach einem Haus Ausschau halten. Ich will das unsere nämlich verkaufen.«

»Dein Geburtshaus? Bist du auch sicher?« Thomas machte ein skeptisches Gesicht. »Damit verbinden sich so viele Erinnerungen für dich, deine ganze Kindheit …«

»Eben drum. Als ich aus der Klinik entlassen worden bin, war das ein sehr trauriges Heimkommen. Alles dort ist mir vertraut. Überall seh ich Menschen, die nimmer leben. Das will ich einfach net. Ich möchte unser gemeinsames Leben neu anfangen, mit dem Blick in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Kannst du das verstehen? Oder findest du es falsch?«

»Nein, Herzerl. Wenn es für dich recht ist, dann soll es das auch für mich sein«, versicherte er.

Elke atmete auf. »Wunderbar. Dann musst du nur noch ganz gesund werden, damit unserem neuen Leben nix mehr im Weg steht.«

Er schmunzelte und versprach: »Ich will mir Mühe geben …«

Eine Weile dauerte es dann aber doch noch, bis auch Thomas die Behnisch-Klinik verlassen konnte. Er wurde noch einmal sehr gründlich untersucht, und erst als feststand, dass die schwere Schussverletzung keine bleibenden Schäden verursacht hatte, gab Dr. Norden grünes Licht für seine Entlassung.

Bevor Thomas dann zusammen mit Elke heimfuhr, bedankte er sich bei dem Klinikchef für alles.

»Und nehmen Sie sich am ersten Wochenende im Oktober nichts vor«, sagte er noch und tauschte einen verschwörerischen Blick mit Elke. »Dann heiraten wir. Und selbstverständlich möchten wir die ganze Familie Norden dabei haben.«

»Es wird uns ein Vergnügen sein«, versicherte Daniel Norden. Und Fee, die sich zu ihm gesellt hatte, scherzte: »Wie ich die Moosbachers kenne, wird es bestimmt auch ein Hochzeitsbier geben, oder?«

Thomas lachte. »Das dürfen wir nicht vergessen!«

»Noch mal vielen Dank, Herr Doktor.« Elke drückte Dr. Norden lange die Hand. »Was Sie für uns getan haben, werden wir nie vergessen. Ohne Sie …«

»Na, nur nicht übertreiben«, scherzte der bescheidene Mediziner da. »Alles Gute euch beiden. Wir sehen uns dann im Oktober wieder.«

Nachdem das junge Paar gegangen war, fragte Fee: »Im Oktober? Ein guter Monat, um zu heiraten, findest du nicht auch?«

Daniel legte einen Arm um ihre Schultern und küsste sie. »Ich kann dir nicht widersprechen, mein Herz. Schließlich haben wir ja auch …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment ging wieder einmal sein Piepser los. Und gleich darauf auch Fees kleiner Quälgeist. Sie tauschten einen einvernehmlichen Blick und eilten beide zu ihrem Notfall. Der kurze, private Moment war vorbei. Doch das kannten sie ja, denn schließlich waren sie beide nicht nur ein glückliches Paar, sondern vor allem eines: Mediziner mit Leib und Seele.

Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman

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