Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 33

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Das durchdringende Rasseln des Weckers riss Dr. Heike Kreisler mitten aus dem tiefsten Schlummer. Nur sehr widerwillig löste sie sich von der schönen Aussicht auf die Bay von San Francisco und öffnete mit Mühe ein halbes Auge. Der schmale Spalt genügte, um dem Ungetüm aus Blech vom Flohmark mit einem Handkantenschlag den Garaus zu machen. Danach versanken die brandroten Locken mit Genuss wieder unter der geblümten Bettdecke.

Heike war eine ausgesprochene Langschläferin, sie gehörte eindeutig zur Spezies der Eulen und liebte an ihrem Beruf als Kinderpsychologin unter anderem die Möglichkeit, Nachtdienst zu schieben. Nicht, dass dabei auf der Pädiatrie der Münchner Behnisch-Klinik allzu viel geschah. Doch Heike war eben noch hellwach, wenn der Mond über die Doppeltürme der Liebfrauenkirche lugte, und hatte dann Ruhe und Muße zum Arbeiten. In den stillen Stunden der Kliniknacht ließ es sich wunderbar schmökern, forschen, und – wenn nötig – konnte man auch die Krankenberichte auf den neuesten Stand bringen.

Am Vortag hatte Heike keinen Nachdienst gehabt, war aber doch erst weit nach Mitternacht ins Bett gekommen, weil sie noch sehr ausführlich mit ihrer Schwester Margie telefoniert hatte.

Heike war eine echte Berliner Pflanze. Geboren und aufgewachsen in Mitte, mit einem halben Dutzend Geschwistern, von denen sie die Mittlere war. Die Mutter hatte einen kleinen Blumenladen betrieben, der Vater war Busfahrer. Heike war die Einzige der Kreisler-Geschwister mit höheren Neigungen, wie der Vater das ausgedrückt hatte. Sie wollte Abi machen und studieren, Ärztin werden. Nicht ganz leicht in einer Familie von zukünftigen Busfahrern, Verkäuferinnen und Mechanikern. Sie hatte das praktische Talent des Vaters geerbt, konnte alles reparieren, was einen Motor hatte, und die Liebe der Mutter zu Blumen und Büchern. Woher der Wunsch zu studieren kam, war den Eltern ebenso suspekt gewesen wie ihren Geschwistern. Man hatte sie gehänselt und ausgelacht, die Mutter hatte ihr schließlich zur Güte vorgeschlagen, Arzthelferin zu werden.

Doch Heike hatte einen ausgemachten Sturkopf. Was ihr einmal in den Sinn gekommen war, das kam nicht so schnell wiederheraus. Sie hatte als Jahrgangsbeste ihr Abi hingelegt und sich danach das Medizinstudium mittels Stipendium und Kellnern verdient. Aus dieser Zeit stammten ihr leicht gothicmäßiges Aussehen, ihre Piercings, von denen ihre Mitmenschen nur das an der rechten Augenbraue zu sehen bekamen … Und nicht zuletzt ihre etwas schnodderige Art, die ihr im Umgang mit renitenten Kneipengästen einst ziemlich hilfreich gewesen war.

Nach der Assistenzzeit in der Berliner Charité hatte ihr Doktorvater sie für eine Feldstudie zum Thema frühkindliches Trauma gewinnen wollen. Doch für Heike war das einfach nicht ihr Ding. Sie wollte mit Kindern arbeiten, kleine Seelen verpflastern, wie sie das nannte. Und da war ihr die Stelle auf Dr. Fee Nordens Kinderstation in der Münchner Behnisch-Klinik gerade recht gekommen.

Trotzdem war es Heike nicht leicht gefallen, Berlin zu verlassen. Sie war ein Familienmensch und stand nach wie vor in engem Kontakt zu Eltern und Geschwistern. Die waren mittlerweile alle recht stolz auf ihre Studierte. Man telefonierte fleißig und besuchte sich, wann immer es ging. Am schönsten waren natürlich die richtigen Familientreffen, wenn Papa Kreisler in seinem Schrebergarten den Grill anwarf, Edi, der Älteste der Geschwister, mittlerweile Besitzer einer kleinen Autowerkstatt in Tegel und stolzer Vater von vier Rangen, die Gitarre auspackte, und es zwischen Grillwurst und Sangria ein wenig nach Kindheit duftete und sehr nach Geborgenheit schmeckte. Die Kreislers hielten zusammen, auch wenn sie nicht mehr zusammen lebten. Und es waren die starken Wurzeln, die Heike einfach mit nach München genommen und hier eingesenkt hatte, in der geräumigen Altbauwohnung in Giesing, vollgestopft mit ihren Fachbüchern, großblättrigen Zimmerpflanzen und Seite an Seite mit ihrem Freund Jo Braun. Der Zweimetermann mit dem breiten Kreuz und der Kraft eines Ringers, in dessen Brust das Herz eines sanften Lammes schlug, arbeitete als Pfleger in einem Heim für Schwerstbehinderte.

Jo stammte aus Fürstenfeldbruck, ebenfalls aus einer großen Familie. Die Brauns waren noch Bauern, Jos drei Brüder arbeiteten in der Landwirtschaft. Seine Schwester Marie war Tierärztin, wohl gemerkt fürs Großvieh. Sie war eine kräftige Person mit festem Willen, Heike hatte sie auf Anhieb gemocht. Und in gewisser Weise hatte sie sich auch mit Jos Schwester identifizieren können. Denn Marie hatte es nicht leicht gehabt. Zuerst den Sprung vom Bauernmadel zur Viehdoktorin, dann die Bewährungsprobe in der praktischen Arbeit. Manch ein Bauer hatte sich einen Spaß daraus gemacht, das »Madel« auf den stärksten Stier zu hetzen oder eine giftige Sau behandeln zu lassen.

Marie hatte sich mittlerweile Respekt bei der Bauernschaft erworben. Und in Jo ihren tatkräftigsten Unterstützer, denn der hatte von klein auf zur Schwester aufgeblickt. Wie sie mit jedem Viecherl auf dem Hof hatte umgehen können, das war eine wahre Pracht gewesen. Schon in frühen Jahren hatte sie sich was vom Veterinär abgeschaut, wenn der auf dem Hof erschienen war. Ging es aber darum, ein Tierchen zu pflegen, zu hätscheln, dann war Jo an der Reihe gewesen. Und daran hatte sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert, denn unter seinen großen Händen gedieh jedes Pflänzlein auf Heikes schmalem Balkon, da wurde jedes kranke Tierchen wieder munter und jedes menschliche Seelchen, wie zerfleddert und gebeutelt es auch sein mochte, das blühte wieder auf, das reckte und streckte sich und heilte.

Heike war fast wieder eingeschlummert, als Jo ihr hübsches Gesicht aus der Blümchendecke schälte, ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte und sie mahnte: »Schatzerl, Zeit zum Aufstehen!«

Heike brummte unwillig. »Noch nicht, ein bisschen kuscheln kann nicht schaden …«

»Wir kommen zu spät«, gab er zu bedenken.

»Ach, Bär, sei doch nicht so ungemütlich.« Sie schlang die Arme um seine breite Brust und seufzte. So angschmiegsam mochte ihr Jo sie, das war ihre stärkste Waffe. Doch leider nicht am frühen Morgen, wenn die Arbeit wartete. Denn ihr Freund hatte eben ein sehr ausgeprägtes Pflichtbewusstsein.

»Gemütlichkeit kommt nach Feierabend«, stellte er mit einem gutmütigen Lächeln klar, schenkte ihr einen Kuss und mahnte dann noch einmal mit Nachdruck: »Auffi geht’s, mein Preußenmadel, aus den Federn hupft!«

Heike seufzte. »Ich liebe es, wenn du bayrisch wirst, mein Bärchen. Also schön, ich komme …«

Wenig später saßen die beiden in der gemütlichen Küche und frühstückten. Es war ein warmer Junimorgen, die Balkontür stand offen, und eine leichte Brise brachte den Duft von Wicken, Geißblatt und Vanilleblume herein. Obwohl der Balkon nicht sonderlich groß war, hatte Jo daraus eine eingegrünte Oase zum Wohlfühlen geschaffen, in der auch noch schmackhaftes Gemüse wuchs. In den Nistkästen an der Hauwand zwitscherte es munter, und die Insekten labten sich an jeder frisch erblühten Blume. Es war ein richtiges kleines Paradies.

Jo hatte bereits eine Handvoll Monatserdbeeren aus einem Topf neben der Balkontür geerntet und über Heikes Müsli gestreut. Sie schloss bei diesem Genuss verzückt die Augen und seufzte: »Wunderbar! Ich glaub, ich steh wirklich im Wald …«

Jo lachte. »Hauptsache, du bist zufrieden, mein Herzerl.«

»Bin ich.« Sie grinste. »Bei dem Service …«

»Du, ich wollte noch was mit dir bereden. Es geht um Momo. Seine Mutter hat jetzt einen OP-Termin.«

Heike nickte. »Das wird auch Zeit, die Bandscheibe macht ihr doch schon ziemlich lange Probleme.«

»Ja, sie hat allerweil gezögert, weil sie Momo nicht allein lassen wollte. Immerhin dauert das Ganze ein paar Wochen. Die OP und danach die Reha. Momo ist ja nur in der Tagesbetreuung, das ist okay für ihn, weil er’s so gewöhnt ist. Sie wollte ihn nicht im Heimbereich unterbringen. Da kennt er keinen und würde sich gewiss recht einsam und unglücklich fühlen. Deshalb hab ich mir gedacht, dass wir den Momo für diese Zeit nehmen könnten. Wärst damit einverstanden?«

»Es ist eine große Verantwortung«, gab Heike zu bedenken. »Aber wenn es für dich in Ordnung geht, Bär, dann bin ich natürlich einverstanden. Momo ist ein lieber Kerl.«

Jo strahlte. »Wunderbar, Schatzerl! Da wird der Gisela gewiss ein Stein vom Herzen rollen.«

»Kriegst du es denn auch praktisch geregelt?«

»Freilich, ich seh da keine Probleme. Momo kann in unserem Gästezimmer schlafen. Mit dem Insulin-Pen kommt er schon gut zurecht. Und den Tag verbringen wir wie gewohnt in unserer Betreuung. Das sollte hinhauen.«

»Prima, wie immer hast du an alles gedacht.« Heike lächelte ihrem Schatz zu. »Dann kriegen wir also Familienzuwachs.«

»So kann man es auch nennen«, lachte er. »Der Momo wird Augen machen, wenn er es erfährt. Und er freut sich bestimmt sehr.«

»Ich frage mich, wer von euch beiden sich mehr freut«, neckte die junge Ärztin ihren Schatz und schenkte ihm einen dicken Kuss. »Ich hab dich lieb, mein Großer.«

»Und ich hab dich lieb, Prinzessin«, versicherte er ihr innig.

*

Zur gleichen Zeit, gar nicht so weit entfernt im benachbarten Münchner Stadtteil Haidhausen saßen auch Gisela Schubert und ihr zehnjähriger Sohn Momo zusammen am Frühstückstisch.

Die hübsche junge Frau mit den kurzen, kupferroten Locken und den klaren grünen Augen war seit ein paar Jahren Witwe. Ihr Mann Markus war Fernfahrer gewesen, ein ruhiger, verträglicher Mensch. Als Momo mit dem Down-Syndrom, einem Herzfehler und einer Insuffizienz der Bauspeicheldrüse, die rasch zur frühkindlichen Diabetis geführt hatte, geboren worden war, hatte er Gisela getröstet, ihr immer wieder Mut gemacht. Sie hatte einfach nicht gewusst, wie umgehen mit diesem Berg von Problemen, wo sie doch eigentlich nur ein fröhliches Baby erwartet hatte.

»Es wird«, hatte Markus dann gesagt. »Er ist unser Kind, wir haben ihn lieb, so wie er ist. Und wir helfen ihm, das Beste aus dem zu machen, was der liebe Herrgott ihm zugeteilt hat. Auch wenn es nicht viel ist …«

Tatsächlich hatten sie das geschafft. Momo entwickelte sich nur langsam, die meiste Zeit seines jungen Lebens verbrachte er beim Arzt. Doch er war von Anfang an ein fröhliches Kind, das viel lachte und die Welt mit großen Augen betrachtete. Markus hatte recht behalten; sie hatten gelernt, Momo lieb zu haben und nicht bitter zu werden. Jeden Augenblick mit ihm zu genießen und sich zu freuen, wenn er glücklich war. So war es nicht verwunderlich, dass sie sich noch weitere Kinder gewünscht hatten. Aber dann war Markus tödlich verunglückt, ‚auf der Straße geblieben’, wie die Brummifahrer das nannten.

Drei Jahre waren seither vergangen, Gisela vermisste ihren Mann noch immer, auch wenn sie sich ihr Leben neu eingerichtet hatte. Mit der kleinen Witwenrente und einer Abfindung hatte sie eine Lizenz als Marktfrau erworben und verkaufte seither Blumen auf dem Viktualienmarkt. Das machte ihr Spaß, das Auskommen war leidlich, und der Kontakt zu den anderen Marktleuten sorgte dafür, dass sie sich nicht zu sehr in ihrer Trauer vergrub.

Seit Momo sieben war, verbrachte er die Wochentage in der Betreuungseinrichtung der Caritas, lernte dort Lesen und Schreiben, Rechnen und Zeichnen. Er war ein aufgeweckter Junge und trotz seines Herzfehlers sportlich. Besonders Basketball hatte es ihm angetan. Für seine Mutter war das eine zwiespältige Angelegenheit. Einerseits war es natürlich gut, wenn Momo sich in Maßen bewegte. Zumal er geschickt und wendig war. Doch Gisela sorgte sich immer wegen seines Herzfehlers. Wenn ihm nur nichts zustieß! Dieser Gedanke war ihr ständiger Begleiter.

Seit Jo Braun sich um ihren Sohn kümmerte, hatten die Sorgen etwas nachgelassen. Jo war verlässlich und sehr bedacht im Umgang mit seinen Schützlingen. Gisela war überzeugt, dass Momo nichts zustoßen konnte, wenn Jo bei ihm war.

Dass er angeboten hatte, sich während ihres Klinikaufenthaltes auch nach Feierabend um Momo zu kümmern, war für Gisela eine große Erleichterung. Trotzdem wünschte sie, die OP bereits hinter sich zu haben und wieder für ihren Sohn da sein zu können, wie er es gewöhnt war.

Die junge Frau war bereits seit Stunden auf den Beinen, denn vor dem gemeinsamen Frühstück mit Momo stand die Fahrt zur Markthalle an, um Blumen und Pflanzen zu besorgen. Gisela hatte sich daran gewöhnt, sozusagen mit den Hühnern aufzustehen. Und wenn sie heimkam, Momo weckte und Frühstück machte, war sie munter und aufmerksam und umsorgte ihren Sohn mit all der Liebe und Fürsorge, die er so nötig brauchte und einforderte.

»Iss auf, Momo, wir müssen bald los«, mahnte Gisela ihn nun.

Der Junge beobachtete einige Meisen, die in der alten Kastanie vor dem Fenster ein Nest gebaut hatten. Darüber konnte er leicht alles andere vergessen.

»Die Meisen sind flink, manchmal seh ich sie gar nicht. Und dann sind sie doch da.« Momo lachte, dass seine dunkelbraunen Augen nur so blitzten. »Sie sitzen im Nest auf ihren Eiern wie in einem großen Korb voller Luftballons!«

Das war Momos Lieblingsausdruck, wenn ihm etwas gefiel. Die Farbe der imaginären Ballons zeugten vom Grad seiner Begeisterung, das hatte Gisela herausgefunden.

»Und wie sehen die Luftballons aus?«, fragte sie.

Momo musste nicht lange überlegen. »Rosa und himmelblau!«

Das war wirklich ein großes Lob für die kleinen Vögel vor dem Fenster. »Sie müssen so flink sein, denn ihre Brut hat sehr viel Hunger«, erklärte sie. »Die winzig kleinen, neuen Vögelchen müssen wachsen, sie kriegen Federn und alles, was ein Vogel so braucht. In ein paar Wochen sehen sie dann aus wie ihre Eltern und können für sich selbst sorgen.«

Momo hatte aufmerksam zugehört, nun warf er seiner Mutter einen traurigen Blick zu und sagte leise: »Ich seh nicht aus wie du, ich bin anders. Und für mich selbst sorgen kann ich auch nicht. Bist du enttäuscht, Mama?«

»Nein, Momo, ich bin stolz auf dich. Und dein Papa im Himmel war es auch. Wir haben dich beide vom ersten Moment an sehr, sehr lieb gehabt!«

»Warum?«

»Weil du unser Sohn bist. Das ist so. Alle Eltern haben ihre Kinder lieb und wünschen ihnen nur das Beste im Leben.«

»Auch die Meisen?«

Gisela musste schmunzeln. »Ich denke schon. Wir wissen es nicht, denn sie können es uns ja nicht sagen. Aber so, wie sie sich mühen und sorgen, glaube ich, dass sie ihre Kinder auch lieb haben. Und dass sie zufrieden und glücklich sind, wenn es ihnen gut geht. Ja, das glaube ich fest.«

Momo legte seine Hand auf die seiner Mutter und sagte leise: »Ich hab dich lieb, Mama.«

»Ich dich auch, mein Schatz.« Sie drückte ihn behutsam, dann stellte sie fest: »Jetzt müssen wir aber los. Jo wird schon auf dich warten.«

»Ja, bei dem schönen Wetter spielen wir bestimmt wieder Basketball zusammen. Darauf freue ich mich schon!«

»Es ist schön, dass ihr euch so gut versteht. Wenn ich ins Krankenhaus muss, wird Jo auf dich aufpassen. Und du darfst dann vielleicht auch bei ihm und seiner Freundin wohnen. Würde dir das gefallen?«

Momo machte ein nachdenkliches Gesicht, dann aber sagte er: »Ja, das wäre schön.« Er schaute auf seine Uhr, als ein kurzer Alarm ertönte, und griff dann nach dem Insulinpen. Die Handhabung war einfach, Momo beherrschte sie bereits im Schlaf, was seiner Mutter wieder eine Sorge abnahm. Nachdem er das Insulin in seine Bauchdecke gespritzt hatte, machten sie sich zusammen auf den Weg zum Betreuungszentrum.

Gisela fuhr einen schon etwas klapprigen Kastenwagen, in dem es immer nach frischen Blumen roch, Momo mochte das sehr.

Als die junge Frau ihren kleinen Sohn zur Tagesbetreuung brachte, kam ihnen Jo Braun bereits entgegen. Er begrüßte die beiden herzlich, schickte Momo dann in seine Gruppe und ließ Gisela wissen: »Es klappt. Sobald Sie ins Krankenhaus gehen, nehmen Heike und ich Momo zu uns.«

»Ach, Jo, das ist schön! Ich hab schon mit ihm gesprochen, und ich glaube, er freut sich wirklich. Das wird ein bisschen wie ein Abenteuerurlaub für ihn.« Sie lächelte vielsagend. »Und auch für Sie beide, fürchte ich.«

»Keine Sorge, wir kommen zurecht«, versicherte der Pfleger, und Gisela glaubte ihm aufs Wort. Sie winkte Momo noch einmal zu, der kräftig zurückwinkte, dann musste sie sich sputen, um rechtzeitig bei ihrem Stand zu sein.

Im Rückspiegel sah Gisela, wie Jo zu den Kindern ging, die gleich an ihm hingen wie die Kletten.

Was für ein Glück, dass es den Jo gibt, dachte sie dabei dankbar. Der Himmel hat ihn uns geschickt …

Noch ganz in Gedanken bei Momo und dem, was nun vor ihm lag, bestückte Gisela wenig später ihren Stand. Sie war so in ihre ­Arbeit vertieft, dass sie kurz zusammenschrak, als ihr plötzlich ­jemand einen Becher frischen Kaffee unter die Nase hielt. Gleich hellte sich ihre Miene aber auf, und ein Lächeln ließ ihre Augen strahlen.

»Herbert, ich dank dir! Den kann ich jetzt brauchen.«

»Dachte ich mir doch. Kann ich sonst noch was für dich tun?« Der große, schlanke Mann mit dem dichten, blonden Haar und den tiefblauen Augen war ihr Standnachbar. Herbert Kropp war Gemüsehändler, ein netter Mensch und für Gisela ein echter Freund. Als sie auf dem Viktualienmarkt angefangen hatte, war Herbert der Erste gewesen, der sich ein wenig gekümmert, mal ein nettes Schwätzchen gehalten oder ausgeholfen hatte, wenn es wo hakte. Konkurrenzneid kannte er nicht, er betrachtete die Kollegen auf dem Markt als goße Familie und hielt auf gute Nachbarschaft. Gisela wusste das sehr zu schätzen.

»Danke, ich hab schon alles im Griff. Aber wenn du magst, essen wir zu Mittag eine Kleinigkeit zusammen. Ich lad ich ein.«

»Das braucht’s aber net, Gisi«, wehrte er ab.

»Doch, schon, immerhin hast mir versprochen, auf meinen Stand zu achten, wenn ich in der Klinik bin. Dafür bin ich dir wirklich dankbar. Ich weiß doch, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

»Und wie schaut’s mit dem Momo aus? Hast das auch geregelt?«

»Sein Betreuer, der Jo, wird sich kümmern.«

»Na, dann kannst ja unbesorgt in die Klinik gehen.«

Gisela seufzte. »Ich wünschte, ich hätt’s schon hinter mir.«

»Ach, so eine Bandscheiben-OP ist net das Schlimmste. Ich hab’s auch durchgemacht. Es ist was wert, wenn die Schmerzen und Beschwerden endlich weg sind, das kannst mir glauben.«

Gisela seufzte. »Ja, da hast recht.« Sie gab ihm den Becher zurück. »Danke für den Kaffee. Dann bis Mittag?«

»Gern.« Herbert musste zurück zu seinem Stand, denn dort wartete bereits die erste Kundschaft. Und auch Gisela hatte nun zu tun. Der Gemüsehändler umfing sie im Gehen aber noch mit einem warmen Blick. Schon lange hatte er die hübsche und tüchtige Frau gern. Er bemühte sich, ihrem Herzen ein wenig näher zu kommen, doch bislang hatte er nicht viel erreicht. Gisela mochte ihn, das wusste er. Aber ihr Herz schlug noch für ihren verstorbenen Mann. Und ihr Leben, das drehte sich ganz um ihren Sohn Momo. Ob es darin wohl jemals ein Plätzchen für ihn geben würde? Herbert wusste es nicht. Doch er hoffte es.

*

»Stehen lassen, nicht anrühren!« Dési Norden ließ sich auf einen der Hocker an der Küchentheke fallen und langte nach einem Becher, um ihn hastig mit schwarzem Kaffee zu füllen. Nach einem großen Schluck seufzte sie zufrieden und lehnte sich lächelnd zurück. »Ich danke dir, Bruderherz, du hast mir gerade das Leben gerettet.«

Désis Zwillingsbruder Janni betrachtete zweifelnd die leere Glaskanne und stellte fest: »Jetzt kann ich noch mal Kaffee kochen. Die Eltern haben auch noch nicht gefrühstückt.«

»Noch nicht? Es ist ja gleich acht. Was ist denn da los?«, wunderte das hübsche Mädchen sich. »Sie werden doch nicht verschlafen haben? Das gab’s ja noch nie.«

»Kannst du mir mal verraten, wieso du heute so scharf auf Kaffee bist? Das ist doch sonst nicht deine Leidenschaft.«

»Daran ist nur Alex schuld. Er hat gestern Abend so spannend von seinen stolzen, spanischen Vorfahren erzählt, dass ich letzte Nacht eindeutig zu wenig Schlaf bekommen habe.«

»Alex und seine Storys. Wo ist er eigentlich? Ich habe den Eindruck, außer uns hat heute Morgen jeder in diesem Haus verschlafen«, murmelte Janni, während er die Kaffeemaschine fütterte. Dési hob die Schultern.

»Dabei sind wir die Einzigen, die nichts zu versäumen haben.«

»Du vielleicht nicht, ich habe Wichtiges zu erledigen.«

»So? Was denn zum Beispiel? Willst du endlich mal wieder dein Zimmer aufräumen?«

Janni verzog den Mund und schenkte sich eine Erwiderung.

Nun erschienen Daniel und Fee Norden in der Küche, und gleich darauf tauchte auch Alexander Norden auf, der vorübergehend bei den Nordens wohnte. Er war der Sohn von Daniels Cousin Michael, der an der Uni von Las Palmas einen Lehrstuhl inne hatte. Alex war mit seinen Zwanzig ein Jahr älter als die Zwillinge. Im Gegensatz zu Dési und Janni, die sich noch nicht definitiv für ein Studienfach entschieden hatten, wollte er Medizin studieren. Bis er eine bezahlbare Bleibe gefunden hatte, wohnte er im Haus der Nordens.

»Morgen allerseits«, grüßte Dr. Daniel Norden und verlangte eine Tasse Kaffee. »Für mehr reicht die Zeit leider nicht.«

»Wenn man verschläft …« Dési grinste frech.

»Mein liebes Kind, wir haben keineswegs verschlafen. Kurz vor Feierabend gab es einige Notfälle in der Klinik, die sich bis in die frühen Morgenstunden hingezogen haben.« Er gähnte verhalten und warf dabei einen unwilligen Blick auf die Uhr. »Ist dir eigentlich bewusst, dass wir nur drei Stunden geschlafen haben, Fee?« Er bedachte seine Frau, die ihren Becher mit frischem Kaffee füllte, mit einem sehr missmutigen Gesichtsausdruck. »Als Mediziner und Mensch stelle ich fest: Das ist zu wenig.«

Fees erstaunlich blaue Augen funkelten ironisch, als sie erwiderte: »Wem sagst du das? Ich war dabei.«

Alex betrachtete die beiden zweifelnd, woraufhin Daniel ihn warnte: »Was du hier siehst, ist deine Zukunft, Alex. Bedenke das bei jeder Entscheidung, die du triffst.«

Der junge Mann lachte leise. »Zu spät, ich habe mich schon entschieden. Die Medizin ist meine Leidenschaft.«

»Das scheint bei uns in der Familie zu liegen«, merkte Dési nachdenklich an und tauschte dabei einen Blick mit Janni. »Nur gut, dass es uns nicht erwischt hat.«

Janni nickte. »Ein Glück.« Er nahm die leere Glaskanne und startete mit einem Seufzer den dritten Versuch, an etwas Kaffee zum Wachwerden zu kommen.

Kurze Zeit später waren die Nordens und Alex ausgeflogen, und Dési hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Janni lächelte zufrieden, während er der Kaffeemaschine bei der Arbeit zusah …

Alex fuhr ein Stück mit Fee und Daniel, der ihn an der Uni rausließ und sich dann auf den Weg zur Behnisch-Klinik machte.

»Mein Magen knurrt. Außerdem bin ich so müde, dass ich mir nicht sicher bin, ob die Ampel eben grün oder gelb war«, beschwerte der Chefarzt der Behnisch-Klinik sich bei seiner Frau. Fee nahm es locker. Sie kam leichter mit wenig Schlaf aus, ihr Mann hingegen konnte in diesem Zustand sehr bärbeißig werden. Fee lächelte ihm begütigend zu.

»Sagen wir, die Ampel war dunkelorange. Und heute Mittag gehen wir in aller Ruhe essen, einverstanden?«

»Wenigstens etwas«, brummte Daniel. »Meinst du, das gibt ein Knöllchen, da eben …«

»Du hast dir in weiser Voraussicht eine Ampel ohne Blitzer ausgesucht, Dan, gut gemacht«, scherzte sie.

Er bog auf den Klinikparkplatz ab und seufzte: »Was täte ich nur ohne dich, mein süßer Sonnenschein?«

»Das wollen wir dahin gestellt sein lassen. Dann bis heute Mittag, pünktlich. Nicht vergessen, okay?«

»Okay.« Dr. Norden schenkte seiner besseren Hälfte zum Abschied einen zarten Kuss, der ihm sogar ein kleines Lächeln entlockte. Als der Lift auf der Pädiatrie hielt, entschwand Fee mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck.

Dr. Heike Kreisler wartete bereits in Fees Büro, als diese eintrat. Sie mochte die junge Kollegin mit den Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und der kecken Kodderschnauze und begrüßte sie freundlich.

»Alles in Ordnung, Frau Kollegin? Doch kein Notfall?«

»Nein, nichts dergleichen. Ich wollte Sie nur mal kurz privat sprechen. Geht das jetzt?«

»Sicher, setzen Sie sich. Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Es ist wegen Momo. Ich habe Ihnen doch schon mal von dem Kleinen erzählt. Mein Freund Jo betreut ihn.«

Fee Norden dachte kurz nach, dann nickte sie. »Der Junge mit dem Down-Syndrom und dem Herzfehler.«

»Genau.« Heike freute sich darüber, dass ihre Vorgesetzte es nicht vergessen hatte. Das zeigte schließlich, Fee Norden hörte einem zu und nahm Anteil, was ja nicht unbedingt selbstverständlich war. »Momos Mutter wird auf der Chirurgie behandelt, Bandscheiben-OP. In der Zeit, in der sie ausfällt, wird Momo bei uns wohnen. Jo hat diese Aufgabe zwar übernommen, aber ich möchte ihm dabei helfen. Deshalb müsste ich in den nächsten Wochen meinen Dienstplan ein bisschen flexibler gestalten. Damit ich greifbar bin, wenn was ist, Sie verstehen?«

Fee Norden nickte. »Ziemlich genau. Ich habe fünf Kinder.«

»Ja, stimmt, Sie wissen Bescheid. Es könnte also sein, dass ich öfter mal spontan weg muss, früher Feierabend mache oder so was in der Art. Ginge das?«

»Natürlich, das kriegen wir hin. Wenn es sein muss, springe ich mal für Sie ein. Ich bin ja mit Ihren aktuellen Fällen vertraut, Frau Kollegin.«

»Sie sind ´ne Wolke, Chefin, ehrlich!« Dr. Kreisler hob die Schultern. »Nichts für ungut, das meine ich, wie ich’s sage.«

»Und ich nehme es als Kompliment«, schmunzelte Fee. »Wenn Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich nur wissen.«

Daniel Norden machte sich an diesem Tag bei der Visite mit Gisela Schubert bekannt. Dr. Christina Rohde, die Chirurgin, die den Eingriff durchführen würde, zeigte dem Chefarzt anhand detaillierter 3-D-Aufnahmen die Schäden an den Bandscheiben der Patientin und erläuterte ihr Vorgehen.

Dr. Norden war mit ihren Ausführungen zufrieden und wandte sich dann an die Patientin, die recht verschüchtert wirkte.

»Haben Sie noch Fragen zu dem Eingriff, Frau Schubert?«

»Nein, ich möchte es eigentlich gar nicht so genau wissen«, scherzte sie ein wenig grimmig. »Ehrlich gesagt, will ich es nur so schnell wie möglich hinter mich bringen, Herr Doktor.«

»Das verstehe ich. Sie müssen sich keine Sorgen machen, bei der Kollegin Rohde sind Sie wirklich in den besten Händen.«

»Ganz bestimmt, trotzdem fühle ich mich nicht ganz wohl.«

»Kann ich vielleicht noch etwas für Sie tun?«, fragte der Chefarzt freundlich. Dr. Norden war dafür bekannt, dass er sich stets Zeit für jeden Patienten nahm. Bei ihm ging es nicht nur um medizinische Fälle, sondern um Menschen, Schicksale. Sie kamen für ihn an erster Stelle. Deshalb lag er wohl auch des Öfteren mit der Klinikverwaltung im Clinch, die ständig auf Effizienz pochte.

»Nun, ich … will Sie nicht aufhalten«, erklärte Gisela zögernd.

Da die Visite fast beendet war, schickte Daniel Norden seine Kollegen hinaus und versicherte der Patientin: »Das tun Sie nicht. Also, wenn Sie noch etwas auf dem Herzen haben, Frau Schubert, sagen Sie es nur. Vielleicht kann ich helfen.«

»Das ist wirklich nett von Ihnen, Herr Doktor. Eigentlich ist es nichts, ich mache mir nur Sorgen um meinen Sohn. Er ist zehn und nicht ganz gesund …«

»Aber er wird doch versorgt, während Sie hier sind, oder?«

»Sicher, trotzdem bin ich unruhig …«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Nein, ich weiß, dass es Momo gut geht, aber wir waren noch nie getrennt. Ich befürchte einfach, dass er mich vermisst, dass ihm vielleicht etwas fehlt, er sich fürchtet …«

Daniel Norden nickte verständnisvoll. »Die Sorgen einer Mutter, das kenne ich von meiner Frau. Und ich habe schon oft erlebt, dass sie meist unnötig waren. Wenn Ihr Sohn gut betreut wird, dann sollten Sie jetzt versuchen, sich zu entspannen, Frau Schubert. Denken Sie einmal nur an sich selbst, auch wenn es schwerfällt. Konzentrieren Sie sich darauf, gesund zu werden. Je eher das gelingt, desto schneller werden Sie wieder bei Ihrem Kind sein.«

Gisela lächelte verschämt. »Ja, Sie haben recht, Herr Doktor. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.«

»Nichts zu danken. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn es ein Problem gibt. Und nun ruhen Sie sich aus.«

»Ja, das werde ich.« Sie blickte dem Chefarzt beeindruckt nach, der ihr wie eine Lichtgestalt erschien. Dass er sich so einfach Zeit genommen hatte, um sich ihre Sorgen anzuhören, das hatte ihr gut getan. Und Gisela nahm sich vor, seinem Rat zu folgen. Schließlich wusste sie Momo bei Jo Braun in den besten Händen. Es war wohl wirklich an der Zeit, einmal an sich selbst zu denken. Aber das hatte Gisela beinahe verlernt …

*

»Na, Momo, wie findest du es? Gefällt dir das Zimmer?«

Der Junge stand in der offenen Tür zum Gästezimmer und schaute sich mit großen Augen um. Heike hatte das Bett mit bunter Wäsche bezogen, einen Blumenstrauß auf die Fensterbank gestellt und – das gefiel Momo besonders gut – einen Korb mit Luftballons auf dem Tisch platziert. Momo wusste nicht recht, wohin er zuerst sehen sollte. Er stand nur da und staunte.

»Ein großer Korb voller Luftballons, himmelblau und rosa«, murmelte er andächtig und machte dann doch ein paar Schritte ins Zimmer. »Es ist schön, Jo!«

»Das freut mich. Heike kommt bald heim, dann essen wir zusammen zu Abend. Wenn du magst, können wir aber vorher noch ein bisschen Basketball spielen, okay?«

Momo war sofort begeistert. »Kann man das hier auch?«

Jo nickte. »Klar, im Hinterhof gibt es einen Korb. Komm.«

Gleich darauf spielten sie sich zwischen Müllcontainern und dem Fahrradständer die Bälle zu. Momo trippelte geschickt und warf manchen Korb. Jo kommentierte jeden Treffer mit Jubel.

Als Heike heimkam, gesellte sie sich zu den beiden. Sie begrüßte Momo lässig und wollte wissen, was er am liebsten aß.

»Himbeertorte mit Sahne!«

Die junge Ärztin lachte. »Die gibt’s dann morgen. Heute begnügen wir uns mit Stullen, einverstanden?«

Momo schaute Jo fragend an. »Was ist das?«

»Sie meint Semmeln. Wenn du magst, pflücken wir noch ein paar Radieserln dazu, die wachsen nämlich auf unserem Balkon.«

Der Junge war einverstanden. Nach dem Abendessen schaute er dann ganz andächtig von Heike zu Jo und stellte fest: »Ihr seid beide lieb. Bei euch gefällt es mir!« Er sprang auf, holte den Korb mit den Luftballons aus seinem Zimmer und stellte ihn auf den Esstisch. »Für euch! Gute Nacht.« Weg war er.

Heike und Jo tauschten einen zufriedenen Blick, die junge Frau sagte entspannt: »Ist ja alles glatt gelaufen, besser als gedacht. Du kannst zufrieden sein.«

»Es war ein guter Start«, schränkte Jo ein. »Warten wir ab, wie es weitergeht. Momo wird seine Mutter bald vermissen.«

»Ihr könnt sie morgen besuchen, wenn ihr wollt. Ich hab das schon mit den Nordens geklärt.«

Jo war überrascht. »So schnell?«

»Na klar. Ich habe mit Fee Norden gesprochen, weil ich ja in nächster Zeit ab und an mal früher weg muss wegen Momo.«

»Aber, Schatzerl, ich kümmere mich doch um ihn.«

»Ich dachte, wir machen alles zusammen. Und das mit Momo, das ist schon eine gute Übung, oder?« Sie grinste wie ein kleiner Kobold. »Für später, meine ich …«

»Du denkst an die kleinen Heikes und Jos, die mal um uns herum springen werden? Wenn das so ist, bin ich deiner Meinung.«

Sie lachte. »Wunderbar, dann sind wir uns einig. Fee Nordens Mann ist der Chefarzt der Behnisch-Klinik. Und er ist einverstanden, wenn Momo seine Mutter besucht, so oft er mag.«

»Das wird Momo gewiss helfen«, war Jo überzeugt. »Hast gut gemacht, mein Schatz.«

»Dann werfe ich mal einen Blick auf unseren Logiergast, so von wegen Zähne putzen und dergleichen. Mach schon mal eine Flasche Wein auf. Wenn Momo pennt, wird’s gemütlich.«

Jo hatte nichts dagegen. Nachdem Heike sich vergewissert hatte, dass ihr kleiner Gast friedlich schlummerte, gesellte sie sich zu ihrem Liebsten auf den Balkon. Jo hatte ein paar Windlichter angezündet und reichte ihr ein Glas Roten.

Heike seufzte wohlig. »Das lasse ich mir gefallen. So richtig schön gemütlich, wie ich’s mag.«

»Ich auch.« Er legte einen Arm um ihre Schultern und sinnierte: »Was meinst, werden wir später auch mal so eine Kinderschar haben wie die Nordens?«

»Keiner kann in die Zukunft schauen, aber schön wär’s schon, oder? Allerdings müsste sich dann einiges ändern. Kinder sollten an die frische Luft. Und davon gibt’s auf dem Land nun mal mehr als in der Stadt.« Sie schmiegte sich an ihn. »Du siehst, mein Bär, da gibt es noch viel zu planen. Und im Moment, das sag ich dir, wie’s ist, bin ich mit unserem Leben ziemlich zufrieden.«

»Nur ziemlich?« Er schenkte ihr einen innigen Kuss.

Heike schmunzelte. »Ziemlich sehr. So wie es ist, ist’s schön. Oder bist du anderer Meinung?«

»Kann ich gar nicht sein. Du hast wie immer recht.«

Sie kicherte. »Was hab ich nur für einen klugen Freund …«

*

Als Gisela am nächsten Tag von einer Untersuchung zurück in ihr Krankenzimmer kam, staunte sie nicht schlecht. Denn da saß nicht nur Momo auf ihrem Bett, sie hatte noch mehr Besuch.

»Grüß dich, Gisi«, sagte Herbert und reichte ihr einen Bund Moosröschen. »Wie geht’s? Du schaust blendend aus wie immer.«

Sie lächelte verlegen. »Danke, ich fühl mich ganz wohl.«

»Mama, beim Jo ist es richtig toll!«, platzte Momo da heraus. »Er hat einen Garten auf dem Balkon, im Hof kann man Basketball spielen. Und seine Freundin ist total nett!«

»Dann hast du mich wohl überhaupt nicht vermisst«, sagte sie lächelnd und drückte ihren Sohn liebevoll an sich.

Momo schaute sie erschrocken an. »Doch – sehr!«

»Momo, gib deiner Mama jetzt ruhig das Bild, das du gemalt hast«, schlug Jo vor. »Sie wird sich gewiss drüber freuen.«

Der Bub nickte eifrig und wühlte in seinem Rucksack herum, bis er das ziemlich zerknitterte Stück Papier gefunden hatte. Stolz reichte er es seiner Mutter und erklärte: »Das bist du, das bin ich, das ist Jo und das Heike, seine Freundin. Und das ist das Krankenhaus und das ist Jos Wohnung.«

Gisela war beeindruckt. »Das hast du schön gemalt, man kann alles genau erkennen. Und was ist das?« Sie deutete auf einen kleinen, braunen Fleck neben Momo. Der lachte.

»Das ist Zecki, mein Hund.«

»Aber wir haben ja gar keinen Hund, Momo.«

»Ich weiß, ich möchte gerne einen. Deshalb hab ich ihn auf das Bild gemalt. Jo sagt, wenn man sich etwas ganz doll wünscht, dann geht es manchmal in Erfüllung.«

Gisela seufzte. »Da wird unser Vermieter anderer Ansicht sein. Aber ich danke dir sehr für das Bild, mein Schatz. Ich werde es hier auf den Nachttisch legen, dann habe ich immer das Gefühl, dass du bei mir bist.«

Damit war Momo sehr zufrieden. Als er sich wenig später verabschieden musste, versprach er seiner Mutter, sie schon bald wieder zu besuchen.

»Darauf freue ich mich jetzt schon«, versicherte sie und warf Jo einen dankbaren Blick zu. Er hatte ihr eine große Sorge genommen. Momo ging es offenbar gut, er fühlte sich bei seinem Pfleger und dessen Freundin wohl. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.

»Dann sollte ich wohl auch so langsam mal gehen«, sagte Herbert und erhob sich. »Du wirst dich ausruhen wollen, Gisi.«

»Bleib noch ein bisserl, Herbert«, bat sie ihn aber. »Ich werde morgen operiert und hab ziemlichen Bammel.«

»Das verstehe ich.« Er setzte sich wieder und lächelte ihr aufmunternd zu. »Keine Sorge, du bist da in den besten Händen.«

»Ja, ich weiß, trotzdem …« Sie seufzte unglücklich. »Gewiss hältst mich für kindisch, aber ich möchte am liebsten weglaufen. Die Frau Dr. Rohde hat mir genau erklärt, wie die OP abläuft. Es hört sich ganz einfach an, so wie sie es gesagt hat. Aber ich fürchte mich trotzdem schrecklich …«

»Das musst net.« Er nahm ihre Hände behutsam in seine und schaute sie ruhig an. »So was nennen die Ärzte einen Routineeingriff. Das machen die alle Tage. Und es geht meistens gut. Außerdem hat die Behnisch-Klinik zu Recht einen hervorragenden Ruf. Du kannst ganz beruhigt sein.«

Sie lächelte schmal, als sie versicherte: »Ich werde mir Mühe geben.«

»So ist es recht.« Er nickte ihr aufmunternd zu.

»Kommst du bald wieder? Dein Besuch hat mir richtig gut getan«, gab sie da leise zu.

»Wenn du morgen aus der Narkose aufwachst, dann bin ich da, versprochen. Und Momo wird gewiss auch da sein. Er ist wirklich ein lieber kleiner Kerl.«

»Du magst ihn? Oder sagst du das nur so?«

»Du solltest mich besser kennen, Gisi. Ich sag nur, was ich meine. Der Bub kommt nach dir, er ist ein rechter Sonnenschein.«

Gisela lachte leise. »Ja, das ist

er …«

»Also, dann geh ich jetzt. Wir sehen uns morgen.« Er drückte ihre Hände leicht, sein Lächeln vertiefte sich, als er sagte: »Für ein tapferes Madel wie dich ist so eine kleine OP doch nur ein Klacks. Warte ab, schon recht bald wirst wieder an deinem Standel die Kundschaft bedienen.«

»Hoffentlich hast recht«, seufzte sie.

Nachdem Herbert sich verabschiedet hatte, dachte Gisela noch eine ganze Weile über ihn nach. Bislang hatte sie in dem Kollegen nur einen netten Freund gesehen, nicht mehr. Doch nun wurde ihr allmählich klar, wie nah er ihr stand. Und dass sie sich ein Leben ohne ihn kaum mehr vorstellen konnte. Er hatte einen wichtigen Platz in ihrem Herzen eingenommen. Und es sah tatsächlich so aus, als ob er auch Momo gern hatte.

Zum ersten Mal, seit sie Herbert kannte, dachte Gisela in diese Richtung. Noch war das fremd für sie, ein wenig hatte sie das Gefühl, Markus zu betrügen, der nach wie vor in ihrem Herzen lebte. Aber ihr wurde auch klar, dass sie Herbert gern hatte. Mit einem Mal schien alles möglich zu sein.

*

Nach einer kurzen Nacht ohne viel Schlaf wurde Gisela am nächsten Morgen für den Eingriff vorbereitet. Dr. Christina Rohde schaute noch einmal nach ihr und fragte, wie sie sich fühle. Die Patientin machte noch immer einen ängstlichen Eindruck, versicherte aber, dass es ihr ganz gut ginge.

»Heute Mittag haben Sie alles hinter sich. Bis dahin machen Sie einfach ein langes Nickerchen«, sagte die Chirurgin mit freundlicher Stimme und ging dann wieder, während die Schwester Gisela ein Beruhigungsmittel gab.

Als sie in den OP gerollt wurde, war die junge Frau bereits so schläfrig, dass sie sich keine großen Gedanken mehr machte. Was Dr. Rohde gesagt hatte, erwies sich als richtig.

Während die Chirurgin die Schäden an Giselas Wirbelsäule beseitigte, träumte diese von einem Sonntagsausflug an die Isar. Zusammen mit Momo und Herbert hockte sie an einem schönen, warmen Sommertag am Fluss, betrachtete den tiefblauen Himmel und war einfach nur zufrieden und froh. Ein tiefer Friede hatte sich über ihre Seele gelegt und alle Sorgen einfach fortgenommen.

Ganz so entspannt waren die Menschen, die Gisela nahe standen, an diesem Morgen allerdings nicht.

Herbert Kropp saß wie auf heißen Kohlen. Bis zum Mittag sollte der Eingriff dauern, dann wollte er an Giselas Bett sein, wenn sie wieder zu sich kam. Zum ersten Mal, seit er eine treue Stammkundschaft und viele Laufkunden täglich mit Obst und Gemüse versorgte, war er nicht recht bei der Sache und froh, als er seinen Stand für diesen Tag schließen konnte.

Während Herbert sich auf den Weg in die Behnisch-Klinik machte, warteten Jo und Momo bereits auf das Ende der OP.

Der Pfleger war rechtzeitig mit seinem Schützling zum Krankenhaus gefahren, denn Momo war schon den ganzen Morgen unruhig und aufgeregt gewesen. Das entsprach so gar nicht seiner Art und verriet Jo, dass Momo sich große Sorgen um seine Mutter machte. Es hätte wenig Sinn gehabt, ihn beruhigen zu wollen. Momo dachte eindimensionaler als andere Kinder seines Alters, er konnte schlecht abstrahieren. Für ihn waren nur die greifbaren Dinge wichtig und von Bedeutung. Natürlich verstand er, dass die Menschen in der Behnisch-Klinik seiner Mutter helfen wollten. Aber für ihn war Gisela einfach nicht da, konnte sich nicht um ihn kümmern. Etwas war anders als sonst. Da nützte es auch wenig, dass er sich bei Heike und Jo wohl fühlte. Der Platz, den Gisela im Leben ihres Sohnes einnahm, war leer. Und es galt, diesen so bald wie möglich wieder zu füllen, um den Jungen zu beruhigen und ihm die Stabilität zurück zu geben, die so wichtig für ihn war. Das bedeutete nicht, dass seine Mutter im Handstreich wieder gesund werden musste, was ja auch gar nicht möglich war. Wichtig war für Momo, sie zu sehen, mit ihr zu reden. Dann kam seine kleine Welt wieder ins Gleichgewicht. Und für Jo und Heike wurde es leichter, ihm ein wenig – wenn auch geliehene – Geborgenheit zu vermitteln.

»Wann ist es soweit?«, fragte Momo immer wieder.

»Bald, nur noch ein bisschen Geduld«, bat Jo ihn, auch wenn er wusste, wie schwer es dem Jungen fiel, geduldig zu sein.

In diesem Moment trat Herbert Kropp aus dem Aufzug und kam auf die beiden zu, die sich im Wartebereich vor dem OP aufhielten.

»Ist sie noch drin?«, fragte er. Jo nickte.

In diesem Moment fing Momo an zu weinen. Der Pfleger setzte sich zu ihm, legte einen Arm behutsam um seine Schultern und gab ihm so das Gefühl, nicht allein zu sein. Momo weinte lange.

Schließlich gesellte Herbert sich zu den beiden und sagte zu dem Jungen: »Ich hatte heute einige Körbchen mit Heidelbeeren übrig. Die Leut’ wollten sie mir einfach net abkaufen. Was meinst du, Momo, könnte man damit anfangen? Hast du eine Idee?«

Zuerst sah es so aus, als ob der Bub nicht auf seine Worte reagieren wollte. Schließlich hob er aber doch den Kopf, wischte sich über die Augen und sagte: »Blaubeerkuchen.«

»Hm, das klingt gut. Ob wir deine Mama mal nach einem Rezept fragen? Gewiss wird sie eines kennen, was meinst?«

»Mama backt oft Kuchen, auch mit Blaubeeren.« Momo lächelte matt bei dieser Erinnerung. »Der ist gut.«

»Kannst du dich daran erinnern, was da so rein kommt?«

Der Junge dachte kurz nach, dann schaute er Jo fragend an.

»Eier, denk ich mir«, sagte der. »Mehl und Milch. Und gewiss auch eine Butter.«

Momo nickte. »Und Blaubeeren!«, schloss er strahlend.

In diesem Moment wurden die OP-Türen geöffnet, und Dr. Rohde erschien. »Alles gut verlaufen, Sie können in den Aufwachraum gehen, wenn Sie mögen«, ließ sie die Wartenden wissen.

»Na, komm, Momo, wir wollen deine Mama doch net warten lassen«, ermunterte Herbert den Jungen, der gleich aufsprang und ihn folgte. Jo zögerte, und als Momo ihn fragend ansah, schlug er vor: »Geht ihr zwei erst mal zusammen, ich warte hier. Wir wollen deiner Mama ja net gleich zu viel zumuten, gelt?«

»Ich komme bald wieder«, versprach Momo, dann schob er vertrauensvoll seine Rechte in Herberts Hand, und die beiden gingen einträchtig zum Aufwachzimmer.

Jo setzte sich wieder und machte dabei einen ganz zufriedenen Eindruck. Er staunte nicht schlecht, als gleich darauf Heike vor ihm stand.

»Na, alles paletti?«, fragte sie.

»Die OP ist gut verlaufen, Momo ist schon bei seiner Mutter.«

»Ohne dich? Wie denn das?«

»Dieser Herbert ist bei ihm. Ich glaub, aus der Gisela und ihm könnte was werden. Das ist ein netter Mensch. Und er kann gut mit Momo umgehen.«

»Hm, du meinst, ein neues Glück für Momos Mama?«

»Könnte schon sein. Zu wünschen wär’s ihr, sie war lange allein und hat sich allerweil nur um Momo gekümmert.«

»Bär, du bist ein Romantiker.« Heike grinste und verpasste ihm einen dicken Schmatz. »Das gefällt mir. Ich muss wieder auf meine Station, wir sehen uns heute Abend.«

»Schon recht, Prinzesserl.« Er lächelte ihr warm hinterher. Sie war eben ein Prachtmadel, seine kleine Preußin …

*

Gisela fühlte sich noch sehr matt und angeschlagen, als sie aus der Narkose erwachte. Aber dass nicht nur Herbert, wie versprochen, an ihrem Bett saß, sondern auch noch Momo, ließ ihr Herz sogleich höher schlagen.

Behutsam legte der Bub seine Rechte auf ihre und schaute sie sehr aufmerksam an. »Mama, geht’s dir gut?«

Gisela nickte und lächelte fein. Noch fiel es ihr schwer zu reden, sie hatte das seltsame Gefühl, als sei ihr Kopf mit Watte gefüllt, aber sie murmelte: »Alles in Ordnung.«

Momo strahlte. »Onkel Herbert hat eine Idee, was er mit den Blaubeeren machen kann, die er heut nicht verkaufen konnte«, fuhr der Junge eifrig fort. »Wir backen einen Kuchen. Du hast doch das Rezept dafür, nicht wahr?«

Herbert legte Momo eine Hand auf die Schulter und mahnte ihn: »Das besprechen wir lieber später. Deine Mama ist jetzt viel zu müde dafür. Bleiben wir noch ein bisserl an ihrem Bett sitzen und leisten ihr Gesellschaft, einverstanden? Aber ohne viel zu reden, wollen wir das versuchen?«

Momo war davon nicht sonderlich begeistert. Er freute sich so, dass er bei seiner Mutter sein durfte, da fiel es ihm schwer, ruhig zu sein. Aber wenn Onkel Herbert es für besser hielt, wollte er es zumindest versuchen. Schließlich mochte Momo ihn mittlerweile schon recht gern.

Gisela spürte, dass ihr Sohn zu hibbelig war, um still zu sitzen. Sie schlug vor: »Warum besuchst du mich nicht morgen, Schätzchen? Dann können wir uns schon länger unterhalten. Jo ist bestimmt mitgekommen, oder?«

Momo nickte eifrig. »Er wartet draußen.«

»Sag ihm einen Gruß von mir, ja? Und wir sehen uns morgen.«

»Morgen, fein!« Momo drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und eilte dann geschäftig hinaus. Gisela schaute Herbert vielsagend an.

»Er ist zu aufgeregt, um ruhig hier zu sitzen.«

»Ich muss wohl noch viel lernen über Momo«, stellte er fest.

»Willst du das denn?«

»Natürlich, der Kleine ist mir ziemlich wichtig.«

Gisela schaute ihn fragend an. »Und warum?«

»Weil er die Hauptrolle in deinem Leben spielt«, kam es ganz selbstverständlich von ihm. »Und was wichtig für dich ist, Gisi, das ist auch wichtig für mich.« Behutsam legte er eine Hand auf ihre. »Wie fühlst du dich? Schmerzen?«

»Nein, nur noch ein bisschen benommen. Die Schmerzen werden wohl kommen, wenn das nachlässt, nehme ich an.«

Ein leises Klopfen an der Tür unterbrach ihre Unterhaltung. Es war Dr. Rohde, die nach ihrer Patientin sehen wollte.

»Der Eingriff ist ganz nach Wunsch verlaufen«, ließ die Ärztin sie wissen. »Heute werden Sie auf Intensiv verlegt, das ist Routine nach so einer OP. Morgen können Sie aber aller Voraussicht nach wieder in Ihr altes Zimmer zurückkehren.«

»Und wie geht es dann weiter?«

»Je nach Heilungsfortschritt werden Sie bereits hier bei uns in die Physio gehen. Spätestens nach zwei Wochen kommen Sie dann in die Reha. Die kann sich ein wenig hinziehen. Um permanente Versteifungen in den Wirbeln zu verhindern, werden die Kollegen Sie intensiv therapieren.«

»Das klingt doch ziemlich langwierig.«

»Sicher, es wird eine Weile dauern, bis Sie wieder gesund sind. Aber ich kann Ihnen nur raten, Geduld zu beweisen. Wenn Sie die Reha zu früh beenden, kann das den Effekt des Eingriffs zunichte machen. Und das würde bedeuten, Sie hätten in ein paar Monaten erneut mit Schmerzen zu kämpfen.«

»Nur das nicht.«

»Keine Sorge, wenn alles ausheilt und die Reha greift, sind Sie dann auch wirklich permanent schmerzfrei.«

»Dann solltest du dich an alles halten, was die Ärzte sagen«, riet Herbert ihr eindringlich. »Du willst doch gesund werden.«

»Natürlich. Aber Momo …«

»Gisi, sei vernünftig! Du hast den Eingriff viel zu lange vor dir hergeschoben. Alles wegen des Jungen. Das war nicht recht. Jetzt musst du an dich denken, an deine Gesundheit. Wenn es dir wieder richtig gut geht, profitiert am Ende auch Momo davon.«

Sie seufzte. »Ja, du hast vermutlich recht.«

»Habe ich, glaub mir. Nun erhol dich erst mal von der OP. Ich sehe morgen wieder nach dir.«

»Ich dank dir, Herbert.« Sie lächelte ihm lieb zu. »Für alles.«

»Keine Ursache, gern geschehen.«

Als Gisela eine Weile später auf die Intensivstation verlegt wurde, schaute auch Dr. Norden bei ihr vorbei und erkundigte sich nach ihrem Zustand. Bevor er die Station dann wieder verließ, sprach er noch mit der Patientin und gab ihr so das Gefühl, nicht allein zu sein. Es tat ihr gut, auf Fürsorge und Verständnis zu stoßen und nicht nur ein Fall unter vielen zu sein. Sie hatte bereits Vertrauen zu Dr. Norden gefasst.

»Frau Dr. Rohde sagte, dass die Heilung recht langwierig sein würde«, sagte sie bedrückt.

»Die OP ist gut verlaufen, das ist die beste Voraussetzung für einen Heilerfolg ohne Verzögerungen. Aber natürlich kann man das im Voraus nicht sagen. Der menschliche Körper ist schließlich keine Maschine. Sie müssen lernen, ein wenig geduldiger zu werden, Frau Schubert.«

»Ja, ich weiß. Aber das fällt mir nicht leicht.«

»Machen Sie sich immer noch Sorgen wegen Ihres Sohnes? Meine Frau sagte mir, dass er bei der Kollegin Kreisler und ihrem Freund gut aufgehoben ist.«

»Schon, nur ist es eben nicht dasselbe.«

»Momo ist nicht mehr so klein.«

»Aber er braucht mich. Wissen Sie, Herr Doktor, früher war er sehr unsicher, da hat ihn alles aus dem Gleichgewicht gebracht, was anders oder aufregend war. Seit er in die Tagesbetreuung geht, hat sich das gebessert. Und nun fürchte ich …«

»Sie denken, dieses fragile Gleichgewicht könnte gestört werden. Ja, mag sein. Aber der Junge ist nicht aus Zucker. Er wird damit umzugehen lernen, dass die Dinge sich ändern können.«

»Das ist schwer für ihn, sehr schwer. Ich wünschte …«

»Sie wären lieber nicht in dieser Klinik, hab ich recht? Da sind Sie nicht die erste Patientin, Frau Schubert. Aber die Tatsachen lassen sich nicht ändern. Ich kann Ihnen nur noch einmal raten, sich damit zu arrangieren. Kummer und Sorgen werden sich negativ auf den Heilerfolg auswirken.«

»Sie haben recht, ich werde daran denken. Danke, Herr Doktor, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben. Ich fühle mich schon ein klein wenig besser.«

»Das freut mich. Ich sehe morgen wieder nach Ihnen, bei der Visite. Bis dahin gute Besserung.«

Wenig später kontrollierte Schwester Jana Giselas Zustand und die Medikation.

»Sagen Sie, kümmert der Chefarzt sich eigentlich um jeden Patienten in dieser Klinik? Wie schafft er das?«, fragte die Patientin die junge Krankenschwester. Diese schmunzelte.

»Das fragen wir uns hier auch. Dr. Norden ist immer über alles informiert, was in seinem Haus vor sich geht. Und er nimmt sich Zeit für die Patienten, das ist ja nicht selbstverständlich.«

»Trotzdem hat er auch noch ein Privatleben?«

Die Pflegerin nickte. »Er ist eben Mediziner mit Leib und Seele. Ich glaube, Beruf und Privates lässt sich da kaum noch trennen. Die Nordens haben aus der Behnisch-Klinik das gemacht, was sie jetzt ist. Und das geht eben nur mit unermüdlichem Einsatz und Leidenschaft. Ja, sie sind was Besonderes …«

*

In den nun folgenden Tagen ging es Gisela allmählich besser. Sie erholte sich rasch von dem Eingriff und konnte schon am nächsten Tag in ihr Zimmer auf der Chirurgie zurückkehren.

Herbert besuchte sie jeden Nachmittag, brachte ihr immer Blumen mit und kleine Geschenke und freute sich mit ihr über jeden Fortschritt, den sie machte.

Momo konnte ein paar Tage nicht zu seiner Mutter, denn er hatte sich erkältet. Gisela sorgte sich um ihn, aber Heike Kreisler schaute täglich bei ihr vorbei und hielt sie auf dem Laufenden, wie es Momo ging. Nachdem der Virus weg war, sollte der Junge wieder mit Jo in die Behnisch-Klinik fahren. Er war sehr aufgeregt, konnte am Vorabend lange nicht einschlafen und war am nächsten Morgen, als Heike ihn wecken wollte, nicht mehr in seinem Bett. Sie durchsuchte die Wohnung und fand Momo auf dem Balkon. Eine der Katzen der Nachbarin, die öfter einen Ausflug auf ihren Balkon machten, lag zusammen gerollt auf seinem Schoß und schlief. Und auch Momo schlief, eingekuschelt auf der Sonnenliege. Heike seufzte. Für seine eben abgeklungene Erkältung war das ja nicht gerade die richtige Behandlung. Aber offenbar hatte er es vor Aufregung und Wiedersehensfreude nicht in seinem Bett aushalten können. Und der Balkon war sowieso sein Lieblingsplatz, hier fühlte er sich ganz geborgen und sicher.

Heike setzte sich zu ihm, streichelte die Katze wach und lächelte Momo zu, der nun auch die Augen aufschlug.

»Na, mein Herr, auf Expedition im Dschungel?«, scherzte sie.

Momo rieb sich verschlafen die Augen. »Wo bin ich?«

»Auf dem Balkon. Kann es sein, dass du heute Nacht schlafgewandelt bist?«

»Was ist das?«, wunderte der Bub sich.

»Na ja, es gibt Menschen, die träumen so intensiv, dass sie dabei aufstehen und alles Mögliche machen. Eine Tante von mir hat bei Vollmond immer Mohnkuchen gebacken. Und einer meiner Cousins ist sogar über den Dachfirst spaziert.«

Momo machte große Augen. »Ehrlich?«

»Glaub ihr kein Wort, der alten Märchentante«, riet Jo seinem kleinen Schützling und mahnte: »Ab ins Bad, sonst kommen wir noch zu spät in die Behnisch-Klinik.«

»Nur das nicht!« Momo flitzte in die Wohnung, Heike bedachte ihren Freund mit einem strengen Blick. »Was heißt denn da Märchentante? Wohl mit der Muffe jepufft, wa?«

Jo musste lachen. »Schon möglich, wenn ich wüsst’, was das ist. Aber im Ernst; wir müssen jetzt besser auf Momo achtgeben. Er ist kein Schlafwandler, falls du das meinst.«

»Die Tage ohne seine Mama haben ihn aus dem inneren Gleichgewicht gebracht, ich weiß. Aber das wird sich geben, da bin ich ziemlich sicher.«

»Das ist jetzt eine schwierige Zeit für ihn. Wenn wir Gisela ein paar Mal besucht haben, wird er stabiler, hoffe ich.«

»Das kriegen wir schon hin, Bär, keine Sorge. Und jetzt wird gefrühstückt, die Märchentante hat nämlich einen märchenhaften Hunger. Sind schon wieder süße Beerchen nachgewachsen?«

»Für dich immer, mein Herzerl.«

»Das lieb ich mir, immer herzig, mein Großer …«

Momo saß an diesem Tag lange am Bett seiner Mutter, denn er hatte ihr viel zu erzählen. Alles, was sich in den Tagen ohne sie zugetragen hatte, sollte sie erfahren. Obwohl sie noch leichte Schmerzen hatte, hörte Gisela geduldig zu und nahm an allem Anteil, was Momo wichtig war. Als er sich dann verabschieden musste, klammerte er sich unvermittelt fest an sie und bat ängstlich: »Ich möchte da bleiben, Mama, bitte!«

»Aber, Schätzchen, wir sehen uns ja morgen wieder«, versprach sie ihm beruhigend. »Und du bist doch gerne bei Heike und Jo.«

»Ich möchte bei dir bleiben.« Momo fing an, leise zu weinen. Seine Mutter strich ihm behutsam übers Haar, doch er wollte sich nicht beruhigen, sein Weinen wurde sogar intensiver.

Gisela tauschte einen knappen Blick mit Jo, der verstand, was sie wollte. Er verließ das Krankenzimmer und fragte eine Schwester nach Dr. Rohde.

»Tut mir leid, die ist im OP«, ließ sie ihn aber wissen.

»Und Dr. Norden? Vielleicht könnte er … Wir haben da ein echtes Problem, sonst würde ich nicht so drängen.«

»Ich frage mal nach, einen Moment.«

Tatsächlich erschien Dr. Daniel Norden wenig später auf der Chirurgie. Jo, der vor Giselas Krankenzimmer gewartet hatte, atmete auf. Er hatte von Heike und Gisela schon so viel Gutes über den Chefarzt der Behnisch-Klinik gehört, dass er auf dessen Hilfe zählte. Und er wurde nicht enttäuscht.

»Momo ist sehr verunsichert. Er konnte seine Mutter einige Tage nicht besuchen und mag sich jetzt nicht von ihr trennen. Ich will ihn net zwingen, das könnte sehr schaden. Wäre es denn möglich, dass er über Nacht hier bleibt, Herr Doktor?«

»Grundsätzlich schon. Aber das ist nicht meine Station, wir müssten mit der Kollegin Rohde darüber reden. Kommen Sie.«

Christina Rohde hielt sich in der Zwischenzeit im Ärztebüro auf. Sie war nicht eben begeistert, als sie erfuhr, worum es ging, machte dann aber doch eine Ausnahme. Eine Schwester brachte ein Klappbett in Gisela Schuberts Zimmer, und Jo erklärte seinem Schützling: »Du darfst so lange bei deiner Mama bleiben, wie du magst, Momo. Aber morgen hole ich dich dann ab, denn das ist ein ganz normaler Schultag.«

»Ich darf wirklich bleiben?« Seine Augen strahlten.

»Freilich, ich sag’s dir ja.«

»Danke!« Momo umarmte Jo und drückte ihn, so fest er konnte. Dann aber kuschelte er sich gleich wieder an seine Mutter, die Jo einen dankbaren Blick zuwarf.

»Ich habe es für übertrieben gehalten, wie Frau Schubert sich schon vor dem Eingriff um ihren Sohn gesorgt hat. Anscheinend habe ich mich geirrt«, gab Dr. Norden zu, als Jo sich noch einmal bei ihm für die Unterstützung bedankte.

»Momo ist schon recht selbstständig. Die meisten Kinder mit Down-Syndrom werden von ihren Eltern zu sehr behütet. Da kommen dann oft noch weitere Erkrankungen hinzu, die Leut’ haben einfach Angst, dass dem Kind was passiert. Die Gisela hat diese Ängste auch, aber sie tut allerweil das, was für Momo am besten ist. Sie ist eine gute Mutter.«

»Leidet Momo denn an periphären Erkrankungen?«

»Wie viele Downer hat er einen Herzfehler. Und er ist Diabetiker. Trotzdem ist er sportlich, spielt unheimlich gern Basketball. Sein Traum ist es, irgendwann bei den Paralympics mitmachen zu können. Aber das liegt noch in weiter Ferne.«

»Schränkt der Herzfehler ihn ein?«

»Er ist nicht so belastbar wie ein gesundes Kind, wird schneller müde. Aber viel merkt man da net.«

»Hat denn Frau Schubert noch nicht darüber nachgedacht, ihn operieren zu lassen? Ich nehme an, es handelt sich um eine Klappenstenose. Probleme mit den Herzklappen sind am häufigsten bei angeborenen Herzfehlern.«

»Ich glaube, es handelt sich tatsächlich um eine Stenose. Aber operieren lassen will Gisela ihn gewiss net. Sie sorgt sich so schon ständig um ihn. Und so ein Eingriff am Herzen, mei, ich glaub, das wäre der reine Horror für sie.«

Dr. Norden nickte, sagte aber weiter nichts. Wenig später verabschiedete er sich per Handschlag von Jo Braun. Über den Fall des kleinen Momo aber dachte er noch eine ganze Weile nach.

*

Als Herbert Gisela am nächsten Tag besuchte, staunte er nicht schlecht über das Klappbett, das noch in ihrem Zimmer stand.

Der Grund war schnell erklärt, die junge Frau achtete dabei allerdings genau auf die Reaktion ihres Besuchers, was Herbert keineswegs entging.

»Du hast mir schon erzählt, dass Momo sich ohne dich leicht fürchtet«, erinnerte er sie. »Ich find’s gut, dass die Ärzte hier so großzügig reagiert haben.«

»Momo ist tatsächlich unsicher, wenn ich net bei ihm bin. Und das wird sich auch nicht ändern«, gab sie zu bedenken.

»Worauf willst du hinaus, Gisi? Ich kenne deinen Sohn.«

»Na ja, aber net wirklich gut. Da sind noch viele Dinge, die du nicht weißt. Mit Momo ist es eben ganz anders als mit anderen Kindern. Und das bleibt so.«

»Ich mein fast, du willst mich auf die Probe stellen.«

»Schau, Herbert, ich mag dich sehr. Und ich glaub, das beruht auf Gegenseitigkeit. Deshalb finde ich es wichtig, über diese Dinge zu reden. Mein Sohn ist behindert. Mag sein, dass er dir recht pflegeleicht erscheint, aber das täuscht. Das Leben mit Momo ist anstrengend, intensiv. Man muss vieles bedenken, immer hellwach sein. Und man kann selten spontan etwas tun, ohne sich vorher zu überlegen, ob das mit seinen Bedürfnissen zusammen passt. Ich möchte nicht, dass du dir falsche Vorstellungen machst. Davon hätte keiner was, und am Ende wären wir nur alle enttäuscht.«

»Du magst mich also? Sei mir net bös, dass ich das aus deiner kleinen Rede heraus gehört hab. Aber das macht mich wirklich sehr glücklich, Gisi. Ich hab dich nämlich von Herzen lieb, und das net erst seit gestern.«

»Herbert …«

»Lass mich ausreden, das muss ich mal los werden. Als du auf den Markt gekommen bist, da hat’s mich gleich erwischt. Ich hab mich sozusagen auf den ersten Blick in dich verschaut. Und als ich dich dann besser kennengelernt hab, sehen konnte, wie tüchtig zu bist, beruflich und mit deinem Buben, da hätte ich dir am liebsten gleich einen Antrag gemacht. Aber ich hab schon gespannt, dass du noch an deinen Mann selig denkst. Und wie wichtig Momo für dich ist. Da war eigentlich gar kein Platz in deinem Leben für mich. Dass sich das jetzt vielleicht geändert hat, macht mich richtig glücklich.«

»Ich wusste ja nicht, wie du empfindest. Ich dachte, wir sind nur gute Freunde.«

»Das waren wir ja auch. Aber für mich bist allerweil mehr gewesen, Gisi.« Er hauchte einen zarten Kuss auf ihre Lippen und gestand ihr dann zu: »Wenn es dir wichtig ist, kannst mich gern auf Herz und Nieren prüfen, solange du willst. Aber ich stell mir ein Leben mit dir und deinem Buben sehr schön vor. Das ist es, was ich mir wünsche.«

»Tatsächlich?«, fragte sie verlegen nach.

»Tatsächlich. Ich mach keinen Schmus, das liegt mir nicht. Ich sag’s, wie es ist. Seit fast zwanzig Jahren hab ich jetzt meinen Stand, in der Zeit hab ich so einiges auf die Seite legen können. Wenn wir wollen, kaufen wir uns ein Häusel auf dem Land. Momo würde das gewiss gefallen. Und ich denk mir, ein paar Geschwister für ihn könnten da auch net schaden, oder?«

»Du hast ja schon ziemlich genaue Vorstellungen.«

»Voreilig? Hoffentlich nicht.«

Gisela musste schmunzeln. »Darüber muss ich erst mal gründlich nachdenken. Das kommt doch ziemlich plötzlich.«

»Lass dir nur Zeit.« Er atmete tief durch. »Mir ist’s schon viel leichter ums Herz, jetzt, wo zwischen uns alles klar ist. Ich weiß, du wirst die richtige Entscheidung treffen, Gisi.«

Nachdem Herbert dann gegangen war, träumte Gisela noch eine ganze Weile mit offenen Augen vor sich hin. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie das zum letzten Mal getan hatte. Vielleicht als Teenager?

Die wenigen glücklichen Jahre mit Markus erschienen ihr sehr weit weg. Seither bestand ihr Leben nur aus Arbeit und der Verantwortung für Momo. Sie hatte das akzeptiert, ohne bitter zu werden. Aber Romantik, Glück, Liebe, all das hatte sie längst hinter sich gelassen. Und nun sollte es wieder einen Platz in ihrem Leben dafür geben? Gisela konnte kaum glauben, dass dies wirklich wahr sein könnte.

*

Momo übernachtete noch zweimal in der Behnisch-Klinik im Krankenzimmer seiner Mutter, dann verabschiedete er sich bei seinem nächsten Besuch brav und ohne viele Worte von Gisela.

»Er ist wieder ausgeglichen«, stellte Jo zufrieden fest.

»Sollen wir mal was mit ihm unternehmen?«, fragte Heike, als sie am Morgen zusammen frühstückten. »Vielleicht in den Tierpark gehen oder an die Isar?«

Momo sagte dazu nichts, er beschäftigte sich mit seinem Frühstück, das ihm ganz offensichtlich gut schmeckte.

Jo hob die breiten Schultern. »Ich weiß nicht, dazu ist es vielleicht noch zu früh. Momo braucht jetzt Beständigkeit. Grundsätzlich finde ich die Idee gut. Aber warten wir lieber noch ein paar Tage ab.«

»Okay. He, kleiner Mann, alles okay?«

Momo schaute Heike fragend an, lachte dann und versicherte: »Alles okay.« Um das zu unterstreichen, hob er dazu noch beide Daumen in die Höhe. »Du, Jo, spielen wir heute wieder im Hof? Der Korb ist höher als im Zentrum, das macht mehr Spaß.«

»Gerne. Aber wir müssen uns an die Ruhezeiten halten. Letztes Mal haben sich ein paar Leute beschwert.«

»Was ist das? Ruhezeiten?«

»Mittagsruhe. Wenn die Leut’ gegessen haben, machen sie ein Nickerchen und wollen ihre Ruh. Ab drei dürfen wir spielen.«

»Und um drei schläft man nimmer?«

Heike lachte. »Nee, dann ist bald Zeit zum Kaffee trinken.«

Jo schüttelte den Kopf und musste ebenfalls lachen. Und Momo stimmte sowieso mit ein.

»Aber wir trinken keinen Kaffee«, bestimmte er. »Den mag ich nicht, ist mir zu bitter.«

»Eine gesunde Einstellung«, lobte Heike. »Na denn, die Arbeit ruft, schwingen wir die Hufe!«

Am Nachmittag warfen Jo und Momo dann im Hinterhof Körbe. Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft gesellten sich zu ihnen, bald entwickelte sich ein schönes Spiel, an dem Momo seine helle Freude hatte. Jo achtete darauf, dass der Junge sich nicht zu sehr verausgabte. Es war ein warmer Sommertag, im Hinterhhof stand die Luft, auch wenn die Sonne sich hier nicht blicken ließ. Schließlich lud Jo alle auf eine Limo ein und schlug Momo dann vor, für diesen Tag Schluss zu machen.

Dass der Junge nicht reagierte, schrieb er zunächst seiner Erschöpfung zu. Er beugte sich über Momo, schaute ihn an – und erschrak zutiefst. Der Bub hatte die Augen halb geschlossen, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er war nicht ansprechbar. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Aber was?

Jo schob behutsam einen Arm unter Momos Knie und hob ihn an. Der Junge reagierte noch immer nicht. Sein Kopf fiel leicht nach hinten, an Jos Schulter, sein rechter Arm hing schlaff herab.

Da fiel dem jungen Mann auf, dass sein Schützling keine Uhr trug. Momo legte sie sonst nie ab. Sie zeigte ihm ja nicht nur die Zeit, sie erinnerte ihn auch daran, wann er Insulin spritzen musste. Insulin!

Siedend heiß fiel es Jo da ein. Er hatte vergessen, Momo nach dem Essen danach zu fragen, ob er sich gespritzt hatte. Das tat er jeden Tag nach jeder Mahlzeit, es war ihm sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Gisela hatte einmal erwähnt, dass Momo zwar in dieser Beziehung zuverlässig war, sich aber doch leicht ablenken ließ. Wenn ihn etwas mehr interessierte, konnte er die Insulingabe leicht vergessen. Und heute war er völlig vertieft in ihr Basketballspiel gewesen …

Jo hetzte mit dem bewusstlosen Jungen die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Drinnen war es angenehm kühl, denn er hatte mehrere sonnenabgewandte Fenster gekippt. Nun legte er Momo auf die große Couch im Wohnzimmer und rannte in die Küche. Auf dem alten Schrank aus Naturholz hatte er zuletzt die Schachtel mit den Insulinpens gesehen. Jo schaute sich hektisch um, konnte sie aber nirgends entdecken. Kurz befiel ihn Panik. Was sollte er tun? Momos Insulingabe war überfällig, er stand kurz davor, ins Koma zu fallen. Zucker!

Mit zitternden Händen langte er in eine Schublade des Küchenschranks und nahm die Dose mit dem Würfelzucker heraus. Gleich darauf schob er Momo ein Stück Zucker unter die Zunge, dann rief er in der Behnisch-Klinik an. Er konnte die Verantwortung für Momos Zustand nicht allein tragen, der Junge brauchte ärztliche Hilfe!

Jo hatte eben die Nummer auf seinem Handy angewählt, als die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und Heike heimkam. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.

»Schatzerl, schnell, hierher!«, rief er. »Der Momo hat vergessen, sich zu spritzen, ich weiß net, wo die Pens sind, ich … ich …« Er war so konfus, dass er sein Freundin nur hilflos anstarrte. Der Gedanke, dem Jungen geschadet zu haben, wenn auch ohne es zu wollen, setzte ihm schwer zu.

Heike kümmerte sich um Momo, während Jo in die Küche wankte und sich schwer auf einen Stuhl fallen ließ. Er war ganz verzweifelt, fühlte sich schrecklich unzuverlässig. Dass ihm so etwas passieren musste!

»Komm, Bär, wir bringen ihn in die Klinik«, hörte er Heike nach einer Weile sagen. »Ich hab ihm eine Gabe gespritzt, aber sein Zustand ist nicht gut. Er muss unter Beobachtung.«

»Es ist alles meine Schuld«, murmelte Jo düster. Behutsam trug er Momo die Treppe hinunter und legte ihn ins Auto. »Alles meine Schuld. Ich hab net dran gedacht, ich …«

»Es ist nicht deine Schuld, so was passiert eben«, widersprach Heike ihm entschieden. »Komm schon, beruhige dich.«

»Doch, ist es. Ich habe alle enttäuscht, die sich auf mich verlassen haben. Momo war in meiner Obhut. Und wenn es ihm jetzt schlecht geht, dann …«

»Jo, hör auf. Mit Selbstvorwürfen ist keinem gedient. Du bist ein Mensch, kein Pflegerobo. Jeder macht mal was falsch. Das ist wirklich kein Grund, sich selbst fertig zu machen.«

Jo sagte nichts mehr, er blickte aus dem Seitenfenster und schwieg sich aus. Heike musterte ihn beklommen. Sie wusste, dass ihr Freund sehr dünnhäutig war, auch wenn man ihm das nun wirklich nicht ansah. In seinem athletischen Körper schlug nun mal das Herz eines empfindsamen Kindes. Er war gewissenhaft in seinem Beruf, prüfte lieber alles dreimal, als etwas zu vergessen oder falsch zu machen. Aber das Leben spielte einem eben manchmal einen Streich. Jeder fühlte sich mal unzulänglich und musste damit fertig werden. Jo konnte das nicht. Und dass es nun ausgerechnet bei Momo geschehen war, der ihm wirklich nah stand, war schlimm. Wie schlimm, sollte die junge Ärztin jedoch erst noch erfahren …

Momo wurde in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik behandelt. Sein Zustand besserte sich rasch, doch Dr. Berger empfahl, ihn für mindestens vierundzwanzig Stunden zur Beobachtung in der Klinik zu behalten. Heike sorgte dafür, dass Momo auf die Pädiatrie verlegt wurde, wo sie sich um ihn kümmern konnte.

Der Junge war zunächst verwirrt, denn er verstand nicht, wieso er gerade eben noch Basketball gespielt hatte und nun im Krankenhaus war. Heike erklärte es ihm geduldig.

»Ich hab den Pen vergessen«, fiel es Momo da ein. »Beim Spielen hab ich nicht daran gedacht, Mist!«

»Ist kein Beinbruch, wir haben das schon geregelt. Du bleibst bis morgen hier, dann ist alles wieder in Ordnung.«

»Darf ich meine Mama besuchen?«, wollte er gleich wissen.

»Heute nicht mehr, du musst dich ausruhen. Aber morgen gehen wir zusammen zu ihr, okay?«

Momo schaute sich unsicher in dem fremden Zimmer um. »Muss ich ganz allein hierbleiben? Ich wäre lieber bei euch.«

»Ich schiebe heute Nachtdienst, bin also die ganze Zeit bei dir«, versicherte sie ihm.

»Wo ist Jo? Hat er sich erschrocken, als ich umgefallen bin?«

»Hm, ziemlich. Er wünscht dir gute Besserung. Morgen kommt er dich bestimmt abholen. Das ist mal was anderes.«

Noch immer war Momo nicht begeistert, gab sich aber damit zufrieden, Heike in seiner Nähe zu wissen. Diese verließ kurz sein Krankenzimmer und wollte mit Jo reden, aber er war fort.

Dr. Fee Norden kam auf sie zu und fragte: »Wie geht es Momo?«

»Schon wieder ganz gut. Haben Sie meinen Freund gesehen?«

»Er ist eben in den Lift gestiegen. Ich glaube, er hatte es eilig«, sagte sie. »Stimmt was nicht?«

»Nee, alles in Butter. Ich bin gleich wieder da. Heute übernehme ich dann den Nachtdienst, damit Momo wenigstens ein bekanntes Gesicht in seiner Nähe hat.« Sie eilte zu den Aufzügen, Fee Norden wunderte sich ein wenig, ließ sie aber gewähren. Schließlich kannte sie Heike Kreisler und ihre oft unorthodoxen Methoden schon recht gut …

Während Fee Norden sich mit Momo bekannt machte, erwischte Heike ihren Jo eben noch, bevor er in die S-Bahn steigen konnte.

»Wieso haust du einfach ab?«, wollt sie ungehalten wissen. »Interessiert es dich nicht, wie es Momo geht?«

Der junge Mann senkte den Blick. »Ich hab kein Recht, danach zu fragen, nachdem ich versagt habe.«

»Bär, du spinnst!«, entfuhr es Heike spontan.

»Ja, mag sein. Aber so empfinde ich es eben.« Er wandte sich zum Gehen, sie legte ihre schmale Hand auf seinen Arm und bat: »Warte mal, nicht so schnell.« Entschlossen schob sie ihre Hand in seine und forderte: »Komm mit, das will ich jetzt doch ein bisschen genauer wissen.«

Nur zögernd folgte er ihr zu einer der Bänke in der Nähe. Heike setzte sich und klopfte neben sich. »Also, was ist los? Du wirst doch aus dieser Geschichte kein Drama machen wollen. Momo hat das Insulin vergessen, weil er so großen Spaß am Spiel hatte. So was kann passieren. Und es geht ihm schon wieder viel besser. Er hat gleich nach dir gefragt und wollte wissen, ob du erschrocken warst.« Sie lächelte schmal. »Der kennt dich.«

Jo machte keine Anstalten, sich zu setzen. Er hob die breiten Schultern und beschuldigte sich selbst: »Ich bin kein guter Betreuer. So was darf net passieren. Ich hatte die Verantwortung und hab versagt. Das … werde ich mir nie verzeihen können!«

Noch ehe Heike etwas erwidern konnte, hatte Jo sich auf dem Absatz umgedreht und war davon geeilt. Diesmal ließ sie ihn laufen, denn sie meinte, dass er wohl etwas Zeit brauchte, um sich zu beruhigen und die Dinge wieder klar zu sehen.

Dann würde ihm auch bewusst werden, dass er überreagiert hatte, davon war sie überzeugt. Doch sie irrte sich …

*

»Ich mache dann Feierabend. Sie kommen zurecht?«

»Klar, Chefin, alles senkrecht.« Heike war damit beschäftigt, ihre Patientenakten zu aktualisieren, eine Arbeit, die sie sonst gerne vor sich herschob. Der unverhoffte Nachtdienst bot ihr nun die ideale Gelegenheit dazu. Nachdem Fee Norden gegangen war, schaute die junge Ärztin nach Momo. Er lag im Bett, schlief aber nicht. Als er Heike bemerkte, wurde seine Miene schuldbewusst, und er sagte: »Jo ist bestimmt sauer auf mich, sonst hätte er mich besucht. Ich hab Mist gebaut.«

Die junge Ärztin seufzte innerlich; in diesem Fall gab es tatsächlich mehr als einen Schuldkomplex, den es aufzulösen galt. Sie machte sich gleich an die Arbeit.

»Du hast was vergessen, das ist normal. Jeder vergisst mal was. Jo wäre deshalb nie sauer auf dich, das musst du doch wissen, Momo, er hat dich gern und möchte, dass es dir gut geht. Deshalb war er sehr erschrocken, als du plötzlich nicht mehr ansprechbar gewesen bist.«

»Er fragt mich immer, ob ich das Insulin gespritzt hab. Heute hat er nicht gefragt.«

»Er hat’s vergessen, so wie du deine Uhr. Du siehst, jeder vergisst mal was.«

»Ist er denn wirklich nicht sauer?«, vergewissert der Junge sich noch einmal. »Ganz bestimmt nicht?«

»Ganz bestimmt nicht«, bestätigte Dr. Kreisler.

»Ich wollte die Uhr nur kurz ausziehen, mir war so warm. Aber dann habe ich nicht mehr daran gedacht, sie wieder anzuziehen.«

»Ist das schon mal passiert? Oder war es heute das erste Mal, dass du es vergessen hast?«

»Ich hab sie mal im Bad liegen lassen. Meine Mama hat sie da gefunden. Und einmal hab ich sie nach dem Sport in der Umkleide vergessen«, gab Momo verschämt zu. »Meine Mama sagt, ich bin ein zerstreuter Professor. Stimmt das?«

Heike lachte. »So schlimm ist es nicht, aber ein bisschen schusslig zu sein, ist keine Schande. Jetzt mach dir keine Sorgen mehr. Wenn Jo dich morgen abholt, wird er dir dasselbe sagen, davon bin ich fest überzeugt.«

»Bleibst du noch da, bis ich eingeschlafen bin?«

»Ehrensache. Jetzt mach die Augen zu, damit der Knabe mit dem Sand tätig werden kann.«

Nach diesem Gespräch schlief Momo die Nacht durch und wachte kein einziges Mal auf. Als Heike am Morgen die Behnisch-Klinik verließ, tat sie dies mit einem guten Gefühl. Der kleine Zwischenfall schien nicht weiter ins Gewicht zu fallen, Momo hatte ihn bereits verarbeitet. Und Jo vermutlich auch, das nahm sie jedenfalls an.

Doch als Heike dann heimkam, war Jo nicht da. Das Bett war unbenutzt. Was hatte das zu bedeuten? Sie überlegte noch, was sie tun sollte, um ihren Freund ausfindig zu machen, da wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und Jo erschien. Blass und übernächtigt, mit Bartstoppeln und einem Ausdruck in den Augen, der irgendwo zwischen Resignation und Bekümmernis lag.

»Bär, was ist los? Wo warst du?«, fragte sie verständnislos.

»Hab net schlafen können, deshalb bin ich an die Isar. Da bin ich dann stundenlang herum gelaufen, gebracht hat’s nix.«

Er ließ sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen und starrte trostlos zu Boden.

Heike setzte sich ihm gegenüber. »Was ist los mit dir?«

»Nix, das ist es ja …«

»Das ist doch keine Antwort.« Sie suchte seinen Blick. »Momo geht’s gut. Er hat ruhig geschlafen, die ganze Geschichte schon wieder vergessen. Ich finde, das solltest du auch.«

»Wenn ich das könnte …«

»Aber, Jo, du wirst doch jetzt keine große Sache daraus machen. Ich bitte dich, das ist Unsinn.«

»Für mich net. Ich hab lange nachgedacht. Was da gestern passiert ist, dazu hätte es niemals kommen dürfen. Ich hab mich so hilflos gefühlt, als der Momo plötzlich bewusstlos geworden ist. Freilich gehört so was zu meinem Job. Und früher hab ich damit umgehen können. Aber jetzt schaff ich das nimmer. Die Kinder in der Betreuung sind mir einfach zu sehr ans Herz gewachsen, besonders Momo. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass ihnen durch mich ein Schaden entstehen könnte.«

»Aber es ist ja kein Schaden entstanden!«

»Diesmal net. Doch wer weiß, wie es beim nächsten Mal aussehen wird. Das Risiko kann ich net eingehen. Nein, Heike, das will ich niemandem zumuten.«

»Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«

»Dann muss ich wohl deutlicher werden: Ich hab mich entschlossen, meinen Beruf aufzugeben. Nach gestern steht für mich fest, dass ich keine Verantwortung für Hilfsbedürftige mehr übernehmen kann. Ich bin nimmer zuverlässig.«

Heike starrte ihren Freund ungläubig an. »Aber deine Arbeit bedeutet dir doch so viel. Ich kann nicht glauben, dass das dein Ernst ist. Du wirst doch nicht einfach so hinschmeißen wollen.«

»Mir bleibt keine andere Wahl. Ich bin gescheitert.«

»Jo, ich bitte dich! Denk in Ruhe nach, lass die Geschichte erst mal sacken, brich das nur nicht übers Knie, das wäre doch wirklich idiotisch. Die Kinder brauchen dich. Momo wartet in der Behnisch-Klinik darauf, dass du ihn abholen kommst.«

Der junge Mann lächelte unglücklich. »Ich kann nicht. Dass ich so versagt habe, das kann ich mir selbst net verzeihen. Es tut mir leid, Heike, es ist aus …«

*

Noch hielt Heike Jos Entscheidung für eine Kurzschlusshandlung und wartete darauf, dass er mit etwas Abstand zur Vernunft kam. Doch er sprach in den nächsten Tagen nicht mehr darüber, nahm nur seinen Resturlaub und verbrachte seine Zeit trotz des schönen Wetters fast ausschließlich in der Wohnung. Immer wenn Heike von der Arbeit kam, hockte er über Büchern. Sie meinte zuerst, er wolle sich weiterbilden. Dann aber begann sie zu ahnen, dass sein Problem tiefer saß, dass die Geschichte mit Momo bei ihrem Freund ein verdrängtes Trauma berührt hatte.

»Okay, reden wir mal Tacheles«, sagte sie eines Abends nach dem Essen. »Du liest Bücher über frühkindliche Traumata. Ich will ja nicht angeben, aber das ist zufälligerweise mein Spezialgebiet. Willst du also nicht mal mit mir darüber reden?«

»Heike, ich … Das ist net leicht.«

»Ich dachte immer, wir sagen uns alles. Offenheit, Ehrlichkeit, so was in der Preislage.«

»Das stimmt ja auch.«

»Also, was mich angeht, sicher. Ich habe dir alles von mir erzählt. Du weißt, wer mein erster Freund war, du kennst den Lieblingskuchen meines Vaters und du weißt, dass meine Mutter kurz vor der Menopause einen heißen Flirt mit unserem Postzusteller hatte.«

Jo musste schmunzeln. Heikes Offenheit kannte tatsächlich keine Grenzen. Sie war für ihn die Ehrlichkeit in Person, ein fester Grund, auf den er stets bauen konnte.

»Ich hab dir auch alles erzählt, jedenfalls alles, was wichtig ist«, schränkte er zögernd an. »Oder was ich für wichtig gehalten habe …«

»Hm, da kommen wir der Sache schon näher. Es gibt etwas, über das du nicht reden kannst und willst. Etwas, was in deiner Kindheit passiert ist. Etwas, was einen Schuldkomplex ausgelöst hat, der dich jetzt übertrieben reagieren lässt.«

»Ich finde es net übertrieben.«

»Lassen wir das mal dahin gestellt sein. Erinnerst du dich an das, was damals passiert ist? Oder hast du es verdrängt?«

»Ich erinnere mich daran. Aber ich kann net drüber reden.«

Heike musterte ihren Freund aufmerksam. »Es ist also so was wie ein Familientabu.«

Jos Reaktion verriet ihr, dass sie richtig lag. Kurz blitzte Schuld in seinen ehrlichen Augen auf, Widerwillen und auch Angst. Das Trauma schien tief zu sitzen. »Woher …«

»Pass mal auf, Bär, ich will dir was erklären, was so in keinem Buch steht. Die Theorie macht nämlich keine Wissenschaft aus. Ich hab erst angefangen, Dinge zu verstehen, als ich mit der direkten Analyse angefangen habe. Angst, Tränen, Schmerz, all das drückt aus, wo die Verletzung sitzt. Es ist ganz ähnlich wie bei den Kollegen der handfesten Zunft. Sie arbeiten mit Blut und offenen Wunden. Die gibt es in der Psychologie auch, aber eben nicht so plakativ. Es sind die feinen Nuancen, die Blicke, Gesten, manchmal ist es nur die Art, wie ein Kind seinen Teddy im Arm hält, die viel aussagt, wenn man einen geschulten Blick hat. Dich kenne ich inzwischen gut. Du bist zwar deinen Kinderschuhen eindeutig entwachsen, aber manche Reaktionen, die behalten wir ein Leben lang bei.«

»Du meinst, ich hab dir eben verraten, dass es da etwas gibt, über das in unserer Familie nimmer geredet wurde? Mit nur einem einzigen Blick?«

»Genau. Und ich bin froh, dass es so ist. Das bedeutet nämlich, wir können das Trauma orten und auflösen. Mit ein wenig Geduld und Muskelschmalz, versteht sich?«

»Willst du mit mir boxen?«

»Eher ringen. Und nicht mit dir, mit deinem Unterbewusstsein.«

»Heike, ich weiß nicht …«

»Schau, Schatz, so eine Sache ist kontraproduktiv. Schuld ist sinnlos, sie blockiert nur, führt zu falschen Reaktionen und Entscheidungen. Deshalb muss sie ausgesprochen und damit aufgelöst werden.«

»Aber wenn die Schuld doch da ist.«

»Selbst dann. Nehmen wir mal an, einer hat ein Verbrechen begangen und ist nicht erwischt worden. Er sagt sich: »Supi, alles wunderbar, ich hatte Schwein.« Und lebt dann munter und fidel bis an sein Ende. Nee, Pustekuchen. Das funktioniert so nicht. Der Mensch ist ein soziales Wesen, die Grundregeln für das Zusammenleben liegen in seinen Genen. Und eben auch die Vorstellung, was man darf und was nicht. Der Typ also, der nicht vom Gericht, sprich von der Gesellschaft bestraft wurde, der bestraft sich selbst. Er entwickelt eine Krankheit, sei es psychisch oder physisch, je nach dem, wie er veranlagt ist. Er bestraft sich letztendlich selbst, ob er will oder nicht. Eine Schuld, die ausgesprochen und gebüßt wurde, kann keinen Schaden mehr anrichten.«

»Das leuchtet mir schon ein. Aber es ist schwer, darüber zu reden. Ich weiß net, ob ich das kann.«

»Du wirst es schaffen, Bär, du bist kein Feigling. Vermutlich wird es eine Weile dauern, aber wir haben Zeit. Der Einzige, der darunter leiden muss, ist Momo.«

»Ich kann mich net um ihn kümmern, ich …«

»Ist schon okay. Bis seine Mutter die Reha hinter sich hat, hab ich zusammen mit meiner Chefin was organisiert. Momo ist gut untergebracht. Mach dir nur keine Sorgen um ihn.«

»Ich habe ihn im Stich gelassen, das ist kein schönes Gefühl. Ich wünschte, ich könnte wieder für ihn da sein, wie vorher.«

»Das liegt an dir. Wir werden daran arbeiten, dein Trauma aufzulösen. Ich bin für dich da. Aber den ersten Schritt, den musst du tun, das ist dir klar, oder?«

Jo seufzte leise und nickte. Behutsam nahm er Heikes Hände in seine und suchte ihren Blick. »Ich dank dir, Prinzesserl.«

»Schon gut, mein Prinz. Das wird, wir kriegen’s wieder hin.«

Zu gerne wollte Jo das glauben, doch so, wie es momentan in seinem Herzen aussah, fiel ihm das sehr, sehr schwer.

*

»Fühlt Momo sich denn dort wirklich wohl?« Gisela schaute Fee Norden skeptisch an. Diese hatte ihr gerade von der neuen Betreuung erzählt, die sich um ihren Sohn kümmerte.

»Es geht ihm gut. Das kann er Ihnen auch selbst sagen, Caro kommt heute noch mit ihm hierher.«

»Und diese Frau ist zuverlässig?«

»Caro ist eine gute Freundin von mir, Psychoanalytikerin und Mutter einer Tochter mit Down-Syndrom. Luisa ist Anfang Dreißig und eine begabte Malerin.«

Gisela seufzte. »Ich mache Ihnen so viele Umstände, das ist mir gar nicht recht.«

»Unsinn. Sie hatten alles geregelt. Dass Jo Braun ausfallen würde, damit konnte niemand rechnen. Nun machen Sie sich keine Sorgen, Frau Schubert, das wird schon.«

Daniel Norden erschien nun, um mit der Patientin zu reden. »Ich bringe gute Neuigkeiten, Frau Schubert. Ende der Woche können Sie in die Reha-Klinik wechseln.«

»Aber das wird dann auch wieder dauern. Ich wünschte, ich wäre endlich wieder fit und könnte heim. Ich muss mich um meinen Sohn kümmern, da wartet so viel Arbeit auf mich …«

Fee wechselte einen vielsagenden Blick mit ihrem Mann, der Gisela versicherte: »Momo ist gut untergebracht. Und die Arbeit läuft Ihnen bestimmt nicht weg. Soweit ich informiert bin, kümmert sich Herr Kropp doch um Ihren Stand.«

»Ich möchte ihn aber nicht ausnutzen.«

Dr. Norden musste schmunzeln. »Das tun Sie nicht. Ich glaube im Gegenteil, dass er Ihnen nur zu gerne hilft.«

»Er ist ein netter Mann«, merkte Fee an.

»Ja, das ist er«, seufzte Gisela. »Trotzdem gefällt mir der Gedanke nicht, ständig Hilfe annehmen zu müssen.«

»Nun machen Sie sich keine Sorgen mehr, es ist ja nur ein vorübergehender Zustand«, erinnerte Daniel Norden die Patientin. »Schon recht bald können Sie sich wieder nach Herzenslust in die Arbeit stürzen.«

Wenig später schaute Herbert bei Gisela vorbei. Wie jedes Mal, wenn er sie besuchte, brachte er ihr ein paar Blumen mit und die Abrechnung des Tages. Er hatte die beiden Stände kurzerhand zusammen gelegt und verkaufte nun für Gisela mit, damit sie durch ihren Klinikaufenthalt keinen finanziellen Schaden erlitt.

»Geht’s Momo gut?«, fragte er sie. »Schade, dass Jo krank geworden ist. Die beiden sind doch ein Herz und eine Seele. Ich hätte deinen Buben wirklich gerne genommen, aber mir fehlt leider die Zeit.«

»Du tust schon genug für mich, Herbert. Frau Dr. Norden hat ihn bei einer Bekannten untergebracht und sagt, dass er sich dort wohl fühlt. Aber da bin ich ein bisschen skeptisch. Du weißt ja, wie scheu Momo Fremden gegenüber ist …«

Mitten in ihren letzten Satz hinein klang ein lustiges Lachen und gleich darauf stürmte Momo durch die Tür. »Mama!« Mit einem seligen Strahlen fiel er Gisela um den Hals.

»Schätzchen, alles in Ordnung?«, wunderte sie sich über die schwungvolle Begrüßung.

»Alles prima«, versicherte der Bub und drehte sich zu seiner Begleiterin um, die in der offenen Tür stehen geblieben war. »Komm halt rein, Tante Caro. Das ist meine Mama, und das Onkel Herbert, er ist sehr nett.«

Carolin Feininger war eine elegante Dame in den besten Jahren. Der lässige Hosenanzug betonte ihre schlanke Erscheinung, sie wusste sich auf den hochhackigen Schuhen zu bewegen. Und ihre teure, italienische Tasche verlieh dem Outfit den letzten Pfiff. Gisela trachtete die Psychoanalytikerin bewundernd.

»Guten Tag, Frau Schubert«, sagte sie freundlich und drückte ihr die Hand. Sie nickte Herbert zu und bat: »Entschuldigen Sie mich, ich möchte noch kurz bei Fee Norden vorbei schauen, dann hole ich Momo wieder ab. Er ist ein sehr lieber Bursche, ich muss zugeben, dass ich ihn bereits ins Herz geschlossen habe.«

»Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, stellte Gisela mit gemischten Gefühlen fest. Dass Momo sich so ohne Weiteres einer quasi Fremden anschloss, war neu für sie.

»Lassen Sie sich nicht täuschen. Neue Reize lenken leicht von den eigentlichen Gefühlen eines Kindes ab. Aber das ist nur ein vorübergehender Zustand. Momo fragt jeden Abend nach Ihnen.«

Gisela lächelte ein wenig, fast kam sie sich kindisch vor.

»Danke, dass Sie sich um ihn kümmern.«

»Keine Ursache, das tue ich wirklich gern. Dann bis später.« Sie strich Momo im Vorübergehen lässig übers Haar, der Junge lachte und erwiderte: »Bis später!«

»Eine tolle Frau«, stellte Gisela fest.

»Von der Sorte kenne ich noch eine«, merkte Herbert mit einem Augenzwinkern an. Und Momo rief übermütig: »Mama ist die Beste!«

»Na, das will ich aber auch meinen«, lachte Herbert.

Carolin Feininger betrat gleich darauf Fee Nordens Büro und machte sich mit Heike Kreisler bekannt, die sich dort aufhielt.

Fee versorgte alle mit frischem Kaffee und Keksen und sagte dann: »Gut, dass du kommst. Wir haben da ein Problem, an dem wir beide ein bisschen zu knabbern haben. Du kannst uns bestimmt weiterhelfen, Caro.«

»Also, lass hören. Wie alt ist das Kind?«

Heike grinste schmal. »Ende zwanzig. Es wiegt hundert Kilo und ist knapp zwei Meter groß.«

Caro hob leicht die Augenbrauen und schob sich einen Keks in den Mund. »Hm, also ein Kindheitstrauma mit Nachklapp.«

Das gefiel Heike. »Sozusagen.« Sie berichtete, worum es ging, während die Psychoanalytikerin ihr aufmerksam zuhörte.

»Was denkst du, Caro, ist da zu tun?«, fragte Fee sie.

»Wenn Ihr Freund nicht von sich aus über das redet, was ihn belastet, schlage ich vor, ihn ein bisschen zu motivieren.«

»Und wie könnte das aussehen?« Heike seufzte. »Ich bin zwar kein Moti-Coach, aber ich verstehe mich aufs Anreizen.«

Caro lachte. Sie hatte eine raue Lache, die sehr ehrlich wirkte. »Diesmal läuft das anders, Frau Kollegin. Ich schlage vor, wir besuchen Ihr großes Problemkind und führen ihm vor Augen, was er freiwillig vermisst. Momo.«

»Und Sie denken, das funktioniert?«

»Ich bin davon überzeugt. Können wir gleich los?«

Heike hatte nichts dagegen, je länger sie über den Vorschlag nachdachte, desto besser gefiel er ihr. »Ich melde mich ab, Chefin, wenn Sie einverstanden sind.«

»Sicher, Sie schieben einige Überstunden vor sich her.« Sie lächelte Caro zu. »Mach dich nicht so rar, besuch uns mal wieder. Dan wird enttäuscht sein, wenn er erfährt, dass du hier gewesen bist, ohne bei ihm vorbei zu schauen.«

»Ich komme bald mal zu Besuch. Sag mal, Fee, die Kekse …«

»Selbstgebacken, nach Omas Rezept.«

Carolin Feininger lächelte genießerisch. »Ich komme sehr bald zu euch zu Besuch, versprochen!«

*

Jo war überrascht, als Heike früher heimkam. Er stand in der Küche und mixte ein Pesto aus frisch geernteten Kräutern.

»Ich dachte mir, heute essen wir mal wieder Nudeln.«

»Prima Idee. Du kannst ruhig eine ganze Packung ins Wasser schmeißen, wir haben nämlich Besuch.«

»Besuch?«, echote Jo. Dann aber ging die Sonne auf seinem Gesicht auf, als Momo in die Küche wuselte und ihn mit beiden Armen fest umfing. »Jo, du bist ja wieder gesund! Ich hab dich so schrecklich vermisst«, rief er aufgeregt zwischen Lachen und Weinen. »Und ich hab dir so schrecklich viel zu erzählen.«

»Momo …« Der junge Mann schluckte, seine Augen wurden feucht.

»Jo, was hältst du davon, wenn ihr zwei eine Runde im Hof spielt. Caro und ich kümmern uns ums Essen. Wir rufen euch.« Heike war gespannt auf seine Reaktion. Sie sah die Abwehr in seinen Augen, die Angst und Unsicherheit. Aber Momo ließ das nicht zu. Er lachte übermütig und forderte: »Komm, schnell, ich möchte so gerne wieder Körbe werfen, bitte!«

»Aber ich …«

Der Junge stutzte. »Onkel Jo, bist du sauer auf mich? Ich hab meinen Pen hier, nach dem Essen nehme ich mein Insulin, Ehrenwort! Du musst dir keine Sorgen machen. Nun komm, schnell, bevor die Nudeln kochen.«

Jo musste lachen, dann folgte er Momo ohne zu zögern.

»Ob das gut geht?«, sinnierte Heike. »Er hat noch immer Angst vor der Verantwortung.«

»Wir werden es erleben. Aber so, wie Ihr Freund sich gefreut hat, als Momo aufgetaucht ist, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir mit unserem Plan Erfolg haben werden.«

Heike musterte die elegante Dame bewundernd. »Sie sind `ne tolle Frau, wissen Sie das? Kompliment, echt.«

»Danke, Sie sind aber auch nicht ohne. Fee hat richtig von Ihren Fähigkeiten geschwärmt.«

»Ach, die Chefin, sie hat ein Herz aus Gold.«

»Aber auch eine große Fachkompetenz. Beruflich macht ihr keiner was vor.«

Heike lächelte schmal. »Haben Sie sich spezialisiert oder therapieren Sie sozusagen querbeet?«

»Frühkindliche Traumata sind mein Spezialgebiet.«

»Wow, Härte 10, meins auch! Kennen Sie Professor Ramelow von der FU Berlin? Er war mein Doktorvater.«

»Kurt Ramelow? Wir duzen uns schon seit zwanzig Jahren. Er war an der Uni ein paar Semester weiter als ich. Forscht er immer noch auf diesem Gebiet?«

»Hm, er hat vor zwei Jahren einen Lehrauftrag in Zürich angenommen.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass er in die Schweiz gehen würde.«

Heike lachte leise. »Dort wird er’s bestimmt nicht lange aushalten, er ist genauso eine Berliner Pflanze wie ich.«

Carolin stimmte in ihr Lachen ein. »Das ist wahr. So, die Nudeln sind fertig. Wollen wir die ‚Buben’ rufen?«

»Das mache ich.« Heike trat auf den Balkon und sah, wie Momo gerade einen Ball in den Korb beförderte. Jo war an seiner Seite, behielt ihn genau im Auge. Nach außen hin schien alles wie immer zu sein. Doch Heike wusste es besser. Ob ihr Plan aufging, Jo irgendwann wieder der Alte sein würde, das stand leider – noch – in den Sternen geschrieben …

Nach dem Essen verabschiedete Caro sich, ließ Momo aber die Wahl, ob er mitkommen oder lieber noch bleiben wolle.

»Ich kann ihn auch später abholen, kein Problem«, schlug sie unkompliziert vor.

»Komm einmal mit, Momo, ich möchte was mit dir bereden«, bat Jo da und verließ dann zusammen mit dem Jungen die Küche.

Heike warf ihrem Gast einen unsicheren Blick zu, Caro nickte ihr zu und sagte: »Lassen Sie den beiden ein wenig Zeit.«

Das fiel der jungen Ärztin nicht leicht. Sie atmete auf, als Jo schon kurze Zeit später mit Momo in die Küche zurückkehrte, und der Bub verkündete: »Ich komme mit dir mit, Tante Caro. Jo und ich, wir sehen uns morgen im Zentrum.«

»Okay, dann los.« Carolin Feininger verabschiedete sich herzlich und raunte Heike dabei zu: »Ich habe das Gefühl, es hat hingehauen. Machen Sie sich also bereit …«

Noch konnte Heike nicht ganz daran glauben. Aber nachdem die Gäste gegangen waren, bat Jo sie tatsächlich: »Gehen wir auf den Balkon, ich muss dir was erzählen.«

»Du willst wieder arbeiten?«

»Wenn ich das hier hinter mich gebracht habe. Ich möchte mich wieder um die Kinder kümmern. Momos Besuch hat mir deutlich gemacht, wie sehr ich das vermisse. Du hattest recht, Schatzerl, mein Beruf ist mir wirklich wichtig.«

Heike lächelte zufrieden. »Wusste ich doch. Und das andere …«

Nun wurde Jo ernst. Mit leiser Stimme erzählte er: »Es ist passiert, als ich sieben war. Meine Mutter hatte gerade ein Baby bekommen. Es war im Sommer, während der Ernte. In der Zeit gab es auf unserem Hof immer so viel zu tun, dass es kaum zu schaffen war. Die Mama hat gleich wieder zupacken müssen und mir öfter die Aufsicht über das Baby überlassen. Es war ein kleines Madel mit rosigen Wangen und goldblonden Locken.« Er schluckte. Heike nahm seine Rechte in ihre Hände und drückte sie leicht.

Da fuhr er stockend fort: »Eines Nachmittags kam mein Spezl Seppl vorbei. Er hatte eine neue Angel und wollte sie ausprobieren. Ein Stückerl hinter unserem Hof lag damals ein großer Weiher. Weil das Baby schlief, ging ich mit. Ich wollte net lang bleiben, vergaß dann aber die Zeit. Als ich am Abend heimkam, stand das Auto vom Doktor vor dem Haus.«

Heike schaute ihn betroffen an. »Was war passiert?«

»Der Doktor sagte, es war ein plötzlicher Kindstod. Das kommt vor, dagegen hätte keiner was machen können. Auch wenn ich da gewesen wäre und die Mama gleich hätte rufen können …«

»Vermutlich ein Herzversagen. So was ist gar nicht so selten.«

Jo nickte. »Keiner machte mir einen Vorwurf. Die Marie hat es mir erklärt, so gut sie konnte. Sie war schon damals sehr verständig, was solche Dinge anging. Trotzdem fühlte ich mich schuldig. Da war ein feiner Schmerz in meinem Herzen, immer wenn ich im Herrgottswinkel über der Eckbank das Foto des Babys sah mit dem ewigen Licht davor. Oder wenn die Eltern am Sonntag zum Grab gingen mit Blumen. Oder wenn ich die Mama weinen hörte. Da war eine Stimme tief in mir drin, die sagte: Das ist deine Schuld. Ich habe es irgendwann verdrängt, dachte, ich hätte es vergessen, es wäre nimmer wichtig. Aber als der Momo zusammengebrochen ist, da war’s wieder da. Die kleine Leich in dem weißen Sargel, die leere Wiege, die Mama, die weint …« Er vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte tief.

Heike legte eine Hand auf seinen Rücken und fragte behutsam: »Ihr habt nie wieder über das Baby geredet, oder?«

»Nein, es war ein Tabu. Ich hab mich auch net getraut, weil ich Angst hatte, der Mama noch mehr Kummer zu machen.«

»Aber du hast ihr keinen Kummer gemacht. Es war nicht deine Schuld, Jo. Du hast in den letzten Jahren bewiesen, dass du ein verantwortungsvoller Pfleger bist. Du bist einer der Besten in deinem Job.«

»Magst mir ein Selbstbewusstsein einpflanzen?«

»Muss ich nicht, das hast du. Die alte Geschichte hat dich nur ausgebremst. Und morgen? Gehst du wieder zur Arbeit?«

Er atmete tief durch und nickte dann entschieden. »Ich hab’s Momo versprochen, daran muss ich mich doch halten, oder?«

»Das will ich meinen.«

Jo lächelte befreit, dann schaute er Heike dankbar in die Augen und küsste sie lange und innig. »Mein Preußenmadel, du bist was ganz Besonderes. Ich steh tief in deiner Schuld.«

»Na, komm, die Schuldenkiste wollen wir rasch zunageln, die ist Schnee von gestern. Aber wenn du dich so verpflichtet fühlst, mir was Gutes zu tun, wie wär’s mit einer zünftigen Rückenmassage oder mehr …« Sie kicherte, als er sie hochhob wie eine Feder, und gleich darauf fiel die Balkontür dann mit Schwung ins Schloss.

Befreit von den Problemen des Alltags und dem, was tiefer ging und Wunden auf der Seele hinterließ, waren Heike und Jo ja nun und vor allem eines: Ein sehr verliebtes, junges Paar, das seine Liebe gern in vollen Zügen und bis zur Neige auskostete …

*

»Diese Frau ist wirklich eine Wucht.«

Janni Norden warf Alex über den Frühstückstisch hinweg einen fragenden Blick zu. »Du schwärmst ja richtig, Ödipus.«

Dési lachte amüsiert, während Fee leicht missbilligend den Kopf schüttelte und vermutete: »Alex hat das bestimmt rein schwärmerisch gemeint. Frauen in unserem Alter freuen sich, wenn sie noch Eindruck auf junge Männer machen.«

»So?« Daniels eben noch entspannte Miene verfinsterte sich sichtlich. »Und was ist mit Männern in meinem Alter und jungen Frauen? Dürfen die uns auch noch bewundern?«

»Rein schwärmerisch schon.« Fee lächelte ihrem Mann zuckersüß zu. »Wir verstehen uns, nicht wahr?«

»Wenn ich auch mal was sagen dürfte«, meldete sich Alex nun wieder zu Wort. »Ich wollte damit feststellen, dass Carolin Feininger nicht nur eine schöne und elegante Dame ist, sondern auch fachlich eine ganze Menge auf dem Kasten hat. Wie kommt es, dass sie keinen Mann hat?«

»Du hast wohl Interesse«, frotzelte Janni.

»Sie war nur kurz verheiratet. Ihr Mann Peer war Virologe. Er arbeitete auch für die Ärzte ohne Grenzen und war bei einem schlimmen Ebola-Ausbruch in Afrika. Er hat sich infiziert und starb mit Mitte dreißig.«

»Schlimm. Und ihre Tochter?«

»Luisa war damals zehn. Sie hatte ein Loch in der Herzscheidewand. Caro war dabei, als sie operiert wurde. Es stand lange auf Messers Schneide, ob die Kleine gesund wird. An dem Tag, als Peer starb, kam bei Luisa endlich die Wende zum Guten. Sie wurde gesund und entwickelte sich zu einem fröhlichen Mädchen mit künstlerischen Neigungen.«

»Und Caro hat nicht wieder geheiratet?«

»Was damals geschehen ist, das ging zu tief«, wusste Fee.

»Ihre Tochter ist jetzt schon über dreißig.«

»Ja, ihr Gesundheitszustand ist noch stabil, aber das kann sich jederzeit ändern. Caro verbringt viel Zeit mit Luisa. Sie ist sich der Endlichkeit dieses Zustandes durchaus bewusst.«

»Das ist tragisch«, seufzte Dési. »Sie tut mir leid.«

Fee lächelte ihrer Tochter zu. »Muss sie nicht. Caro hat ihren Beruf, sie wird nicht so schnell verzweifeln. Sie weiß, dass sie von vielen kleinen verletzten Seelen gebraucht wird.«

»Das ist schön. Und tröstlich.«

Janni stieß seine Schwester an, die sich über die Augen wischte. »He, nur nicht sentimental werden, altes Stachelschwein«, scherzte er herb.

»Janni …« Fee schüttelte nachsichtig den Kopf, dann wandte sie sich an ihren Mann und sagte: »Ich möchte Momo vom Kollegen Heinrich untersuchen lassen. Heike Kreisler hat mir erzählt, wie gerne er Basketball spielt. Aber die Stenose behindert ihn dabei. Wenn ein risikoarmer Eingriff möglich ist, sollte seine Mutter darüber nachdenken, finde ich.«

Daniel nickte. »Ja, klingt sinnvoll. Ich werde heute mal mit Frau Schubert reden, bevor sie in die Reha geht.«

Als Dr. Norden dann das Krankenzimmer der Patientin betrat, traf er dort bereits auf Herbert Kropp, der Gisela abholen wollte. Er begrüßte den Mann per Handschlag und sprach dann das Thema an, das auch ihm am Herzen lag.

Gisela, die nicht damit gerechnet hatte, ging allerdings gleich in Abwehrhaltung. »Momos Hausarzt hat gesagt, das sei nicht notwendig. Der Herzfehler ist nicht schwer.«

»Das sollten wir einmal untersuchen, um festzustellen, ob diese Einschätzung auch wirklich zutrifft.«

»Ginge es Momo denn nach einer OP besser?«, fragte Herbert.

Gisela schüttelte verärgert den Kopf. »Herbert, wieso fällst du mir in den Rücken? Ich habe doch gesagt, dass ich es nicht will. Momo soll keinem unnötigen Risiko ausgesetzt werden.«

»Das hast du nicht gesagt, Gisi. Und was dein Hausarzt irgendwann mal festgestellt hat, das muss doch jetzt nicht mehr stimmen. Warum hörst du dir nicht erst mal an, was Dr. Norden dir zu sagen hat? Bisher hat er dir doch nur gut geraten.«

Sie seufzte. »Also schön, aber ich bin dagegen, das sollen Sie wissen, Herr Doktor.«

»Eigentlich war es die Idee meiner Frau. Momo ist doch sportlich. Wenn er herzgesund wäre, könnte er auf dem Gebiet etwas erreichen. Und Sie müssten sich nicht um ihn sorgen.«

»Das tue ich sowieso. Mit einem Kind wie Momo hören die Sorgen nie auf, Herr Doktor. Aber ich möchte ihn nicht dem Risiko einer Operation aussetzen. Das kommt nicht infrage.«

»Lass die Ärzte doch erst mal nachschauen, wie es ihm geht«, schlug Herbert da begütigend vor. »Und wenn es eine Möglichkeit gibt, ihm ohne große Gefahr zu helfen …«

»Nein!« Gisela schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich will nichts mehr davon hören. Schluss! Gehen wir, Herbert.«

Er hob die Schultern und folgte ihr, Dr. Norden begleitete sie noch bis zum Lift und verabschiedete sich dann per Handschlag von den beiden.

»Danke für alles, Herr Doktor«, sagte Gisela leise.

»Keine Ursache. Alles Gute, Frau Schubert.«

Herbert Kropp schüttelte dem Chefarzt der Behnisch-Klinik zum Abschied ebenfalls die Hand und sagte dann halblaut: »Ich werde noch mal bei Gelegenheit mit ihr drüber reden.«

»Ja, tun Sie das. Ich glaube, es wäre sinnvoll, Momo einmal gründlich zu untersuchen und dann zu entscheiden, was zu tun ist. Die Operation einer Klappenstenose findet am geschlossenen Herzen statt und ist heutzutage nicht mehr risikoreich.«

Der Mann nickte. »Ich werde es Gisela sagen.«

Nachdem sich die Lifttüren hinter ihnen geschlossen hatten, fragte sie: »Was hattet ihr denn noch zu besprechen?«

Herbert hob die Schultern. »Nichts Besonderes.«

»Ich werde Momo nicht operieren lassen, das ist mein letztes Wort«, bekräftigte Gisela noch einmal mit Nachdruck.

»Du solltest ihn erst mal untersuchen lassen. Und wenn die Ärzte eine Diagnose stellen können, ist es an dir zu entscheiden, was gemacht werden soll. Ich finde das fair.«

»Und ich finde es überflüssig«, war alles, was Gisela noch dazu sagte. Für sie war das Thema damit erledigt, für Herbert allerdings nicht. Er wollte nur das Beste für Momo. Natürlich wusste er, dass auch dessen Mutter dies wollte. Doch die Angst und das Gefühl, ihren Sohn beschützen zu müssen, überlagerten ihre gute Absicht. Nun lag es wohl an ihm, Gisela zu einer vernünftigen Entscheidung zu bringen.

*

Nachdem Jo wieder zur Arbeit kam, pendelte Momo zwischen der Villa im Grünen, die Carolin Feininger mit ihrer Tochter bewohnte, und der Wohnung von Heike und ihrem Freund. Er genoss es, mal hier und mal da zu sein, warf weiterhin fleißig Körbe mit Jo und freundete sich mit Carolins Tochter ein, deren Malerei ihn sehr faszinierte.

Heike besuchte Gisela regelmäßig in der Rehaklinik, um sie auf dem Laufenden zu halten, was ihren Sohn anging. Was sie erzählte, konnte diese manchmal gar nicht recht glauben. Momo wurde immer selbstständiger, er schloss Freundschaften und schien seine Scheu anderen Menschen gegenüber allmählich abzulegen. Das alles erschien ihr schön, aber auch fremd und ein wenig beängstigend.

»Ich habe das Gefühl, der Junge entgleitet mir«, sagte sie zu Heike. »Er braucht mich gar nicht mehr.«

»Machen Sie Witze? Seit wann ist ein zehnjähriger Junge denn schon erwachsen und unabhängig?«

»Das meine ich nicht. Aber Momo war immer so fixiert auf mich. Und ich hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Jetzt erlebe ich, dass er auch ohne mich gut zurecht kommt.«

»Fühlen Sie sich überflüssig?«

Im ersten Impuls wollte Gisela widersprechen, dann aber gab sie kleinlaut zu: »Ich habe einfach Angst davor, keine Rolle mehr in Momos Leben zu spielen.«

»Quatsch. Sie werden immer seine Mutter sein, das ist was, was Ihnen niemand nimmt. Und dass Momo sich weiterentwickelt, das ist doch ein Grund zur Freude. Bei diesen Kindern ist es ja nicht unbedingt selbstverständlich.«

»Ja, Sie haben recht …«

»Wissen Sie was, Frau Schubert? Ich schlage vor, wir machen mal Schluss mit den Besuchen. Ich komme nur noch am Wochenende und bringe Ihnen Momo vorbei, okay?«

»Aber dann weiß ich nicht, wie es ihm geht. Dann mache ich mir ständig Sorgen um ihn.«

»Sie müssen lernen, das sein zu lassen. Konzentrieren Sie sich darauf, gesund zu werden. Und genießen Sie Ihr Leben mal ein bisschen. Sie haben doch einen netten Freund.«

»Das ist leichter gesagt als getan.«

»Haben Sie Zweifel wegen ihm?«

»Herbert möchte mich heiraten, aber ich weiß nicht …«

»Was? Ob Sie ihn lieben? Oder ob er es ernst meint?«

»Ich mag ihn schon sehr, es ist nur wegen Momo.«

Heike verdrehte die Augen. »Momo mag Ihren Freund. Wo liegt also das Problem?«

»Sie wollen mir damit sagen, dass es keines gibt? Daran werde ich mich auch erst mal gewöhnen müssen.«

Heike lächelte. »Sehen Sie, Frau Schubert, es ist schön, für andere da zu sein. Ich kenne das, deshalb bin ich Ärztin geworden. Aber man muss auch an sich selbst denken. Das nennt sich gesunder Ausgleich. Einer, der nur an sich denkt, wird zum gefühllosen Egoisten, dem die anderen egal sind. Wenn jemand aber nur an die anderen denkt, reibt er sich auf. Das kann es doch auch nicht sein. Überlegen Sie sich das halt mal.«

»Sie haben vermutlich recht.«

»Klar, immer. Dann bis Sonntag, wir sehen uns …«

Als Herbert am frühen Abend bei Gisela vorbeischaute, hatte diese einen Entschluss gefasst.

»Ich bin einverstanden, dass Momo untersucht wird. Wenn ihm ein Eingriff helfen und seine Lebensqualität verbessern könnte, dann kann und will ich ihm das nicht vorenthalten.« Sie lächelte schmal. »Auch wenn ich große Angst um meinen Sohn habe.«

»Ich wusste doch, dass du die richtige Entscheidung treffen würdest, Gisi.« Er freute sich sichtlich. »Warte nur ab, bald reißen sich die Basketball-Clubs um Momo.«

»Ach, Herbert …«

»Aber er schwärmt doch von den Paralympics. Wenn er tatsächlich irgendwann dort teilnehmen mag, dann muss er in ein Team und regelmäßig trainieren.«

»Glaubst du denn wirklich, Momo könnte das schaffen?«, zweifelte sie. »Er ist sportlich, das stimmt. Aber es gibt bestimmt viele in seinem Alter, die mindestens ebenso gut, wenn nicht besser sind. Ich möchte einfach nicht, dass er enttäuscht wird.«

»Das verstehe ich. Freilich gibt es da keine Erfolgsgarantie. Ich mein aber, dass der Momo es darauf auch nicht anlegt. Er hat einfach Spaß am Basketball. Und tragisch wird er es gewiss net nehmen, wenn’s doch nicht klappt mit dem olympischen Gold.«

Gisela bedachte Herbert mit einem Blick, den dieser nicht so recht zu deuten wusste. »Stimmt was nicht?«, fragte er deshalb.

Da lächelte sie und versicherte: »Im Gegenteil, alles stimmt. Mir ist nur eben aufgegangen, was ich für ein Glück hab, dass mir ein Mann wie du über den Weg gelaufen ist.«

»Hat diese Erkenntnis einen bestimmten Grund?«

»Du verstehst dich wunderbar mit meinem Sohn. Wie du mit Momo umgehst, das erinnert mich an Markus. Er hat in dem Buben immer nur ein Kind gesehen, keinen Behinderten. Er hat Momo ganz normal behandelt, das tust du auch. Und das gefällt mir.«

»Ich mag deinen Sohn, er ist ein lieber kleiner Kerl. Dass er anders ist als andere Kinder, muss ja nix Schlechtes sein. Jeder Mensch ist eben so, wie der liebe Herrgott ihn geschaffen hat. Und der hat sich gewiss was dabei gedacht.«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Dann rede ich mit dem Dr. Norden, damit Momo untersucht werden kann, einverstanden?«

»Ja, tu das. Ich fürchte, mich wird dabei nur der Mut verlassen. Auch wenn ich das Beste für Momo will, fällt es mir doch ziemlich schwer, dem zuzustimmen.«

»Ich versteh dich, Gisi. Trotzdem solltest dir keine Sorgen machen. Selbst wenn Momo operiert werden muss, ist er in der Behnisch-Klinik doch in den allerbesten Händen, das weißt.«

Sie nickte mit einem leisen Seufzen. Ja, sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass die Mediziner dort ihr Handwerk verstanden. Und dass es in dieser Klinik nicht nur um die Heilung körperlicher Leiden ging, sondern dass der ganze Mensch betrachtet und ihm, wenn nötig, auf jede nur mögliche Art und Weise geholfen wurde.

Doch das sagte ihr der Verstand. Das Gefühl sprach von ganz anderen Dingen. Angst, Sorge, Unsicherheit. All diese Emotionen verbanden sich für Gisela mit ihrer Entscheidung. Wenn sie nur das Richtige getan hatte …

*

Der Chef der Radiologie in der Behnisch-Klinik, Dr. Nils Heinrich, war ein gutmütiges Schwergewicht mit der Statur eines Rugbyspielers. Rein äußerlich erinnerte er Momo wohl ein wenig an Jo, denn er fasste gleich Zutrauen zu dem Mediziner und nahm die Untersuchung als großen Spaß. Dr. Heinrich mochte den lustigen Burschen, musste Momo aber mehrmals ermahnen, still zu halten. Sein tiefer Bass machte durchaus Eindruck auf den kleinen Patienten, und er tat genau, was der Doktor verlangte.

Schließlich lagen die Ergebnisse der Untersuchung Dr. Norden vor, der daraufhin eine Besprechung mit Dr. Christina Rohde, der Chirurgin, und Momos Mutter ansetzte. Dass Herbert Kropp sie begleitete, hatte der Chefarzt der Behnisch-Klinik erwartet und gehofft, denn er schien ein vernünftig denkender Mann zu sein, der Momos Mutter raten konnte, wenn sie sich zu große Sorgen um ihren Sohn machte. Dass sie der Untersuchung überhaupt zugestimmt hatte, war vermutlich ihm zu verdanken. Nun hoffte Dr. Norden, dass Gisela Schuberts Freund auch bei der jetzigen Entscheidung auf der Seite der Vernunft stehen würde.

»Die Ergebnisse der Untersuchung sind eindeutig, Frau Schubert. Momo leidet an einer so genannten Klappenstenose. Betroffen sind die Aorten – und die Pulmonalklappe. Beide öffnen sich durch angeborene Fehlbildungen nicht richtig. Dadurch entsteht, besonders bei Anstrengung, ein falsches Druckverhältnis im Herzen, das zu Beschwerden führt. Zudem besteht bei Momo noch ein so genannter Kurzschluss zwischen Bereichen mit sauerstoffarmem und sauerstoffreichem Blut. Vermischt sich dadurch beides, ist die Sauerstoffsättigung des Blutes herabgesetzt. Das kann sich schon im Säuglingsalter durch eine Blauverfärbung der Haut bemerkbar machen, die bei weniger gravierenden Fällen, wie bei Momo, aber ausbleibt.«

»Und was bedeutet das alles, Herr Doktor?«, fragte Gisela ihn leise und unsicher.

»Es bedeutet, dass Momo operiert werden muss.«

»Also doch.« Sie stöhnte gequält auf. »Ich habe so sehr gehofft, dass es auch anders geht. Eine Herzoperation, nein, das klingt so schrecklich …«

Herbert drückte ihre Hand und riet ihr: »Wenn Momo danach gesund ist, solltest du zustimmen, Gisi. Du weißt doch, es ist keine große Sache, es geht alles mit ganz winzigen Instrumenten, nicht wahr, Herr Dr. Norden?«

Daniel nickte und bat dann die Chirurgin Rohde, Gisela den Vorgang zu schildern. »Die Klappen werden auf minimalinvasive Weise ersetzt, der Stunt geschlossen. Alles läuft über einen Katheter mit Minikamera, deren Bilder ich auf einem Monitor über dem OP-Tisch sehen kann. Was zurückbleibt, sind zwei kleine Wunden. Die Heilungschancen sind heutzutage bei dieser Art von Eingriff sehr gut und stehen in keinem Verhältnis zum Risiko. Das ist tatsächlich zu vernachlässigen.«

Gisela tauschte einen fragenden Blick mit Herbert, der ihr angedeutet zunickte. Sie wusste, dass sie sich auf ihn und sein Urteil verlassen konnte, denn er wollte, wie sie, nur das Beste für Momo. Trotzdem zögerte sie.

»Was sagen Sie, Frau Schubert? Sind Sie einverstanden?«, fragte Daniel Norden sie nach einem Moment des Schweigens.

»Ich weiß nicht recht … Sicher, das klingt alles gut und auch gar nicht schwierig. Aber wir reden hier von meinem Sohn. Momo ist nicht so robust wie andere Kinder. Was, wenn es Komplikationen gibt, wenn etwas schiefgeht?«

»Sie können versichert sein, dass wir unser Bestes geben, um Ihrem Sohn zu helfen«, erwiderte Dr. Rohde.

»Ja, natürlich, das habe ich auch nicht bezweifelt. Trotzdem möchte ich es mir aber noch gründlich überlegen. Ich will einfach nichts falsch machen.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden, Frau Schubert«, zeigte Dr. Norden sich verständnisvoll. »Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben.«

»Ich … danke Ihnen.«

»Keine Ursache. Wie läuft die Reha?«

»Die Ärzte sind zufrieden mit mir. Wenn es so weitergeht, kann ich bald heim.« Sie seufzte. »Endlich.«

Nachdem Gisela und Herbert gegangen waren, fragte Dr. Rohde den Chefarzt: »Denken Sie wirklich, dass der Eingriff die richtige Entscheidung ist? Der Junge ist ein Risikopatient.«

»Ich weiß. Die OP würde ihm aber sehr viel mehr Lebensqualität bringen. Und ich traue Ihnen zu, dass Sie das Ganze gewohnt routiniert durchziehen, Frau Kollegin.«

Christina Rohde lächelte angedeutet. »Ich werde mein Bestes geben, Chef. Falls Frau Schubert einverstanden ist …«

Gisela ließ sich allerdings Zeit mit dieser Entscheidung. Eine Woche später konnte sie die Reha-Klinik verlassen und fühlte sich, zumindest körperlich, wieder fit und leistungsfähig.

Momo jubelte laut, als seine Mutter heimkam, Herbert kochte für sie drei ein feines Essen und steckte Gisela einen Verlobungsring an den Finger, der ihr Herz höher schlagen ließ.

Als Momo bereits schlief, brachte er dann noch einmal das Thema zur Sprache, das sie bislang vermieden hatten.

»Dr. Norden wartet immer noch auf deine Entscheidung, was Momo angeht«, erinnerte er sie behutsam. »Hast du mal darüber nachgedacht, Gisi, was werden soll?«

Ihre eben noch entspannte Miene verschloss sich, wurde kühl und abweisend. »Nein, und ich möchte auch nicht daran denken.«

»Aber, Gisi, du hast der Untersuchung zugestimmt. Das wäre ja ganz sinnlos gewesen, wenn du Momo jetzt net behandeln lässt.«

Sie schaute ihn vorwurfsvoll an. »Du hast mich dazu überredet. Ich wollte es von Anfang an nicht.«

»Gisi …«

»Lass mich bitte ausreden. Ich weiß, du meinst es gut. Und ich weiß natürlich auch, dass die OP Momo helfen würde. Deshalb habe ich lange darüber nachgedacht und versucht, das Ganze sachlich zu betrachten, das Für und Wieder abzuwägen. Aber es ist mir einfach nicht gelungen. Ich habe nur Angst. Und die Vorstellung, dass Momo auf einem Operationstisch liegt, in Narkose, dass die Ärzte in seinem Herzen herum schneiden, nein, die kann ich einfach nicht ertragen!«

Herbert griff nach ihrer Rechten und drückte sie leicht, sein Blick war verständnisvoll, aber auch bittend. Und sie wusste nur zu gut, was er wollte.

»Denk noch mal darüber nach, dann …«

»Das hätte keinen Sinn«, wies sie ihn entschieden ab. »Lass uns jetzt bitte nicht mehr darüber reden, Herbert.«

»Also schön, wie du willst«, gestand er ihr zu. Doch ganz hatte er noch nicht aufgegeben. Und er hatte auch eine Idee, wie er Gisela letztendlich doch noch davon überzeugen konnte, das Richtige zu tun. Das Beste für Momo, auch wenn es ihr noch so schwerfallen würde …

*

Am Wochenende hatte Herbert eine Überraschung für Gisela und Momo. Er wollte partout nicht verraten, was es war, bat die beiden nur mit geheimnisvoller Miene um Geduld. Als sie dann zusammen die Stadt verließen, Richtung Holzkirchen fuhren, ahnte Gisela bereits, was los war. Sie erinnerte sich an ein Gespräch, in dem Herbert davon gesprochen hatte, ein Haus auf dem Land zu kaufen. Ob er diesen Plan nun in die Tat umsetzen wollte?

Gisela fand die Vorstellung schön. Ein eigenes Haus mit Garten, in dem Momo spielen konnte, das war für sie immer ein unerreichbarer Traum gewesen. Auch wenn sich ihr Leben dann komplett ändern würde, Momo sich von lieb gewonnenen Menschen wie Jo Braun verabschieden musste. Doch das Landleben hatte einiges für sich. Und Herbert war nach Markus für Gisela der erste Mann, mit dem sie sich einen wirklichen Neubeginn vorstellen konnte. Sich gemeinsam ein Leben aufzubauen, dazu waren sie noch jung genug. Alles schien möglich …

Momo fing nach einer Weile an zu maulen. Ihm wurde langweilig, er sah keinen greifbaren Sinn in der langen Autofahrt. Da sagte Herbert: »Schau mal unter den Sitz, dort liegt was für dich.«

Der Bub förderte einen Basketball zutage und war sofort begeistert. »Spielen wir nachher, Onkel Herbert?«

»Klar. Wir schauen uns ein Haus an, in dem wir vielleicht zusammen wohnen werden, wenn es uns allen gefällt. Dort gibt es auch einen Basketballkorb.«

»Echt?« Momo strahlte. »Dann gefällt es mir!«

Es dauerte noch eine Weile, bis sie ihr Ziel erreichten, aber der Bub war nun zufrieden, schaute sich die Landschaft an und freute sich auf das versprochene Spiel.

»Na, was sagst? Es ist kein Palast, aber die Bausubstanz ist solide und das Grundstück schön groß.« Herbert schaute Gisela aufmerksam an. Er hatte das Haus über einen Makler gefunden, der ihm versichert hatte, dass es ein echtes Schnäppchen sei. Es war bezahlbar, aber sie würden sehr viel renovieren müssen. Und der Garten bestand lediglich aus einem verwahrlosten Rasen mit einer langen Wäscheleine und einem leeren Holzschuppen.

Momo hatte den Basketballkorb, den Herbert an der Rückseite des Schuppens angebracht hatte, gleich entdeckt, und begann zu spielen, während die Erwachsenen sich das Haus ansahen.

Gisela schaute in jede Stube, ihrem aufmerksamen Blick entging nichts. Schließlich stellte sie fest: »Die Küche ist schön groß und hat eine Tür in den Garten, das ist praktisch.«

»Und?«

»Alles andere ist renovierungsbedürftig, nehme ich an.«

»Holzheizung, die Wasserrohre sind alt, das Elektrische antik. Wir müssen erst mal die Handwerker rein lassen, bevor wir anfangen können zu renovieren.«

»Trotzdem gefällt es mir. Direkt in der Natur, die Weiden hinter dem Garten, die Stille, die gute Luft, ich glaube, da könnten wir uns wirklich wohl fühlen.«

Herbert lächelte zufrieden. »Ich hab gehofft, dass du das sagst. Hier steckt sehr viel Arbeit drin …«

»Das bedeutet aber auch, wir können es so machen, wie es uns gefällt, das ist ein Vorteil«, gab Gisela zu bedenken.

»Also abgemacht?«

Sie seufzte und nickte dann lächelnd. »Abgemacht.«

Einträchtig verließen sie das Haus, Gisela schaute sich um und fragte: »Wo ist Momo? War er nicht eben am Schuppen?«

»Freilich, er hat Körbe geworfen.« Herbert steuerte die Wiese an, blickte in alle Richtungen, konnte den Jungen aber nicht ausmachen. Da stieß Gisela unvermittelt einen schrillen Schrei aus. Er zuckte zusammen, drehte sich um und sah, wie sie zum Schuppen eilte. Hastig folgte er ihr.

Als Herbert zu Gisela aufschloss, beugte sie sich eben über Momo, der wie leblos am Boden lag.

»Was hat er? Was ist passiert?«, fragte er erschrocken.

»Ich weiß es nicht. Sein Lippen sind ganz blau«, stieß sie angstvoll aus. »Er hat sein Insulin nach dem Essen gespritzt, ich hab’s gesehen, was …«

Herbert fühlte den Puls des Jungen, dann murmelte er: »Es ist warm, er hat sich angestrengt. Die blauen Lippen … Das kommt vom Herzen, Gisi. Ich glaub, daran liegt es.«

»Aber was sollen wir machen?« Sie schaute ihn aus panisch geweiteten Augen an. »Wie können wir ihm denn helfen?«

»Wir bringen ihn in die Behnisch-Klinik.«

»Das dauert viel zu lange. Wir sind hier doch, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen …«

»Dann müssen die uns eben einen Rettungshubschrauber schicken. Ich ruf gleich an. Beruhige dich, Gisi, alles wird gut.«

Doch das schaffte sie einfach nicht. Gisela hockte im hohen Gras, hielt den bewusstlosen Momo in den Armen und hatte das schreckliche Gefühl, nur einen bösen Traum zu erleben. Doch das war es nicht, es war viel schlimmer, denn es war die Wirklichkeit. Sie hörte Herbert telefonieren, dann sprach er wieder beruhigend auf sie ein. All das nahm Gisela wie durch einen Schleier aus Angst und Verzweiflung wahr. Was, wenn die Ärzte zu spät kamen, wenn Momo …

Nein, nur das nicht! Sie zwang sich, nicht daran zu denken, dass das Leben ihres Sohnes womöglich an einem seidenen Faden hing. Eben noch war alles gut gewesen, und nun, aus heiterem Himmel, stand sie direkt am Abgrund.

Es ist meine Schuld, dachte sie einmal. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Wäre Momo operiert worden, hätte sie dem Eingriff gleich zugestimmt, dann wäre das hier niemals geschehen. Nun verlor sie ihren Sohn vielleicht, nur weil sie nicht in der Lage gewesen war, eine Entscheidung zu treffen.

Nein, das durfte nicht sein! Gisela schwor sich, alles zu tun, was nötig war, um nicht noch einmal ein solches Grauen durchleben zu müssen. Wenn Momo es nur schaffte!

Endlich, nach, wie es schien, einer kleinen Ewigkeit, näherte sich ihnen das Geräusch eines Hubschraubers. Herbert winkte und dirigierte den Rettungsheli auf die Wiese hinter dem Haus.

Gleich darauf kümmerte sich ein Notarzt um das bewusstlose Kind. Es dauerte nicht lange, bis Momo zum Transport stabilisiert war. Kaum zehn Minuten nach der Landung erhob sich der Hubschrauber schon wieder in die Luft.

Gisela stand ganz verloren auf der Wiese und blickte ihm nach. Herbert legte einen Arm um ihre Schultern und schlug vor: »Fahren wir zurück in die Stadt.«

»Ich wäre am liebsten mitgeflogen.«

»Ich weiß, aber das geht net. Keine Sorge, Momo ist versorgt. Wenn wir in die Klinik kommen, geht es ihm bestimmt schon wieder gut, du wirst sehen. Er hat sich ja nur überanstrengt und wird sich gewiss rasch wieder erholen.«

Sie maß ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Du hast gewusst, das so was passieren könnte.«

»Es tut mir leid, Gisi, wir hätten besser aufpassen müssen. Jo Braun hat mir erzählt, dass Momo beim Basketball alles andere vergisst und man aufpassen muss, damit er sich nicht überanstrengt. Ich hatte nur das Haus im Kopf und hab nimmer an seine Warnung gedach. Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Es war vielleicht ganz gut«, murmelte sie bedrückt. »Nicht für Momo, aber für mich. Ich hab eingesehen, dass was passieren muss. So kann es nicht weitergehen.«

»Was meinst?«

»Die OP. Momo wird größer, ich kann ihn nicht mehr in Watte packen. Er will sich bewegen, er liebt seinen Sport. Aber das Risiko, dass er jederzeit so einen Zusammenbruch erleiden kann, das kann ich nicht eingehen.«

»Du willst zustimmen?«

Sie schaute ihn an, noch immer ängstlich und unsicher, aber auch entschlossen. »Ja, das will ich. Es führt kein Weg daran vorbei, das habe ich heute begriffen.«

»Ich glaube, das ist eine gute Entscheidung, Gisi. Du wirst sie ganz sicher nicht bereuen«, sagte Herbert und atmete innerlich auf. Freilich hatte er nicht abschätzen können, dass Momo gleich zusammenbrechen würde. Er hatte geglaubt, wenn Gisela einmal mit eigenen Augen sah, wie sehr der Herzfehler ihren Sohn bei seinem Lieblingssport einschränkte, dann würde sie sich besinnen und der Operation zustimmen. Das war nun zwar geschehen, doch um welchen Preis. Herbert hatte ein schlechtes Gewissen, sowohl Gisela als auch Momo gegenüber. Er meinte, ihnen beiden nicht mehr in die Augen sehen zu können. Wie sollte es nun zwischen ihnen weitergehen? Er wusste es nicht.

*

Als Gisela und Herbert die Behnisch-Klinik erreichten, befand sich Momo noch in der Notfallambulanz. Dr. Erik Berger, der behandelnde Arzt, ging sofort auf die beiden los.

»Wie konnten sie den Jungen in dieser Gluthitze Ball spielen lassen, obwohl Sie wussten, dass er einen Herzfehler hat? So etwas Verantwortungsloses ist mir ja noch nie untergekommen!«

»Momo war im Schatten, er ist sportlich und …«, setzte Herbert zu einer Verteidigungsrede an, wurde aber sofort von Dr. Berger unterbrochen.

»Das Kind ist behindert, Diabetiker und herzkrank. Wenn Sie es los werden wollen, stoßen Sie es besser in einen Vulkan«, fauchte er und knallte den beiden dann die Tür vor der Nase zu.

»So eine Unverschämtheit«, regte Herbert sich auf. »Das lasse ich mir nicht gefallen, ich …«

»Er hat ja recht, es ist alles meine Schuld«, schluchzte Gisela da verzweifelt. »Es hätte niemals so weit kommen müssen, wenn ich nur …«

»Frau Schubert!« Dr. Daniel Norden trat aus dem Lift und eilte auf die beiden zu. »Beruhigen Sie sich, Momos Zustand ist schon wieder stabil.«

»Dieser Arzt ist ausfallend geworden«, beschwerte Herbert sich ärgerlich.

»Ja, das kann ich mir denken«, murmelte der Chefarzt betreten. »Der Kollege Berger stößt die Menschen leicht vor den Kopf, das ist so seine Art. Bitte entschuldigen Sie. Er ist ein brillanter Mediziner, nur leider ein recht schwieriger Mensch.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Was er gesagt hat, stimmt leider. Ich habe verantwortungslos gehandelt, als ich meine Zustimmung zu der Operation nicht gleich gegeben habe. Es tut mir sehr leid, ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.« Sie schluckte und blickte Dr. Norden dann aus tränenfeuchten Augen an. »Aber wenn es Momo besser geht, dann soll er operiert werden. So etwas möchte ich nie wieder erleben müssen, nie wieder …«

Dr. Norden lächelte ihr verhalten zu. »Darüber sprechen wir später, Frau Schubert, wenn Momo wieder stabil ist.«

»Dürfen wir zu ihm?«

»Ich sehe erst mal nach, einen Moment bitte.«

Dr. Berger blitzte den Chefarzt gefährlich an, als dieser den Behandlungsraum betrat, und bellte: »Lassen Sie diese Leute lieber nicht hier herein, sonst kann ich für nichts garantieren!«

»Nun schalten Sie mal einen Gang runter, Herr Kollege«, bat Dr. Norden ihn mit ruhiger Stimme. »Wie geht es dem Jungen?«

»Er ist stabil, der Kollege hat das bereits auf dem Weg hierher hingekriegt. Aber das ist kein Grund …«

Daniel Norden hob abwehrend die Hände. »Verlegen Sie Momo auf die Pädiatrie«, wies er Dr. Berger knapp an und verließ dann den Behandlungsraum, denn ihm stand der Sinn nun nicht nach ewig langen Diskussionen. War Berger in dieser zänkischen Stimmung, ließ man ihn am besten ins Leere laufen. Ein vernünftiges Gespräch war dann sowieso nicht möglich.

Wenig später saßen Gisela und Herbert an Momos Bett und waren beide sehr erleichtert, dass der Junge schon wieder munter war.

»Ich hab mich ganz komisch gefühlt«, erzählte er. »Anders als damals, als ich das Insulin vergessen hatte. Es war fast so, als ob mein Herz nicht mehr schlagen würde. Ich dachte, ich muss sterben.«

»Oh, Momo, sag so etwas Schreckliches nicht«, entsetzte sich seine Mutter. »Du wirst noch lange leben.«

»Jetzt fühle ich mich auch schon wieder ganz gut. Warum bin ich denn umgefallen? Ich hab doch nichts falsch gemacht.«

»Es liegt an deinem Herzfehler. In deinem Herzen funktioniert nämlich nicht alles so, wie es sollte. Deshalb wirst du beim Sport schnell müde. Und deshalb bist du eben umgekippt. Aber es gibt da etwas, das wir dagegen tun können.«

»Ja? Was denn?«

Gisela gab sich einen Ruck. »Die Ärzte hier werden dich operieren und die Defekte in deinem Herzen reparieren. Danach geht es dir dann wieder gut.«

»Und ich falle dann nicht mehr um?«

»Nein, du fällst nicht mehr um, Schätzchen. Und du musst auch keine Angst haben, das Ganze geht schnell vorbei.«

Momo schaute seine Mutter überrascht an und gab zu: »Ich habe gar keine Angst, ehrlich, Mama.«

Sie strich ihm lächelnd übers Haar. »Das ist schön.«

»Hernach kannst dann so recht trainieren, wie die Profis«, merkte Herbert noch wohlwollend an.

»Echt?« Momo strahlte. »Das ist toll, wie ein großer Korb voller Luftballons!«

Gisela schmunzelte. »In welchen Farben?«

»Ganz bunt. Die Luisa sagt, auf einem Bild müssen immer alle Farben sein, die es gibt, erst dann ist es fertig.«

»Und das gilt auch für deine Luftballons?«

»Klar!« Er dachte kurz nach und sagte dann: »Aber es reichen auch zwei oder drei Farben, es sind ja meine, nicht Luisas.«

»Eben drum. Die gehören dir ganz allein, mein Schatz.«

»Bleibt ihr noch bei mir?«, fragte Momo ein wenig unsicher.

»Du musst deiner Mutter auch mal eine Pause gönnen, sie kommt frisch aus der Reha«, sagte da eine bekannte Stimme von der Tür her. »Und mich gibt’s schließlich auch noch.«

»Tante Heike, super!« Momo freute sich wie ein Schneekönig über Heike Kreislers Auftauchen.

»Wenn Sie wollen, können Sie jetzt gehen, ich habe heute Nachtdienst«, sagte Heike zu Gisela und folgte ihr und Herbert dann noch kurz auf den Klinikflur. »Der Chef meint, es wäre das Beste, wenn Momo in den nächsten Tagen operiert wird.«

»Schon so bald?« Gisela zögerte. »Muss das sein?«

»Es ist die beste Lösung. Er muss sich erst mal erholen, dabei können schon die nötigen Untersuchungen gemacht werden. Und wenn sein Zustand stabil ist, kommt er unters Messer. Oh, pardon, ich meine, dann wird die Kollegin Rohde ihn operieren.«

Herbert merkte, dass Gisela nun wieder ins Grübeln kam, ihre Ängste schienen sie zu übermannen. Dr. Kreislers schnoddrige Art hatte leider dazu beigetragen. Er bemühte sich, sie zu beruhigen.

»Es wird alles klappen. Du hast endlich die richtige Entscheidung getroffen, Gisi«, sagte er überzeugt. »Warte nur ab, bald geht es Momo richtig gut.«

»Glaubst du das wirklich? Oder sagst du es nur, um mich zu beruhigen?«, fragte sie skeptisch nach.

»Gisi, du kennst mich. Ich sag nur, was ich auch meine.«

Sie seufzte. »Ja, das weiß ich. Ach, Herbert, ich hab so schreckliche Angst um Momo. Wenn es nur schon vorbei wäre …«

*

»Bist du wirklich sicher, dass es die richtige Entscheidung ist, Momo zu operieren? Ich habe da so meine Zweifel, Dan.« Fee Norden schaute ihren Mann skeptisch an. »Er ist immerhin ein Risikopatient. Und so sehr hat ihn der Herzfehler doch nicht eingeschränkt, oder?«

»Du weißt, wie Kinder sind. Und diese Kinder haben einen noch etwas dickeren Dickschädel«, gab er zu bedenken. »Momo ist ein Sportnarr. Ohne Basketball geht bei ihm gar nichts. Das ist ein ganz zentraler Punkt, wenn wir über seine Lebensqualität reden.«

»Du stellst dich auf den kinderpsychologischen Standpunkt? Wo ist der knochenharte Schulmediziner geblieben, den ich geheiratet habe?«, spöttelte sie.

Er schmunzelte. »Der hat dazu gelernt. Außerdem vertraue ich auf die Kollegin Rohde. Es wird schon alles gut gehen.«

Fee seufzte. »Wie du meinst.« Wirklich überzeugt war sie aber nicht. Doch sie ließ sich nichts anmerken, als Gisela und Herbert wenig später eintrafen.

Momo war in den vergangenen Tagen gründlich untersucht und dann auf die Chirurgie verlegt worden. Gisela schien aber mehr Zutrauen zu Fee Norden zu haben als zu Dr. Rohde.

»Tun wir wirklich das Richtige?«, fragte sie die Ärztin beklommen. »Ich habe große Angst um meinen Sohn.«

»Das müssen Sie nicht, Momo ist bei der Kollegin Rohde in den besten Händen«, versicherte Fee. »Wenn Sie möchten, begleite ich Sie auf die Chirurgie. Ich werde auch noch mal nach unserem kleinen Patienten sehen.«

Gisela war erleichtert. »Ja, das wäre sehr nett von Ihnen«, murmelte sie mit flacher Stimme. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich und fühlte sich nun sehr matt. Die Angst um Momo schnürte ihr die Kehle zu, sie konnte jeden möglichen Beistand brauchen. Herbert hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und lächelte ihr ab und zu aufmunternd zu. Gerne hätte Gisela noch kurz nach Momo geschaut, doch sie wusste, dass ihr Auftauchen ihn nur aufregen würde. So blieb ihr nichts, als abzuwarten.

Fee Norden kehrte gleich darauf noch einmal zu ihnen zurück und erklärte: »Momo geht es gut, sein Zustand ist stabil. Er ist gerade eben in den OP gebracht worden. Wenn Sie möchten, können Sie gerne in meinem Büro warten. Das ist weniger unpersönlich.«

»Danke, aber wir bleiben lieber hier.« Gisela lächelte schmal. »Ich möchte sofort Bescheid wissen, wenn der Eingriff vorbei ist, verstehen Sie?«

»Ich verstehe Sie sehr gut, Frau Schubert«, versicherte die Ärztin und lächelte ihr aufmunternd zu. »Alles Gute!«

»Versuch, dich ein bisschen zu entspannen«, riet Herbert ihr, als sie im Wartebereich vor den OPs dann allein waren. »Es wird bestimmt eine Weile dauern.«

»Ich wünschte, ich könnte das. Aber ich werde erst ruhiger, wenn ich weiß, dass alles gut gegangen ist …«

Sie setzten sich, Herbert nahm Gisela in den Arm, und sie lehnte sich an ihn. Seine Nähe gab ihr Trost und Halt. Ein klein wenig ruhiger wurde sie da schon. Trotzdem nagte das Gefühl der Schuld an ihrem Gewissen.

»Wenn etwas schiefgeht, ist das meine Schuld«, murmelte sie nach einer Weile bedrückt. »Ich habe zu lange mit der Zustimmung zur OP gewartet. Dieser Zusammenbruch, der hat Momo ganz bestimmt geschadet.«

Herbert bedachte sie mit einem beklommenen Blick. »Es war nicht deine Schuld, Gisi.« Er seufzte. »Es war meine.«

»Unsinn, du bist doch gleich für den Eingriff gewesen. Und du hast alles getan, damit Momo schnell geholfen wird, sogar einen Rettungshubschrauber zu unserem Häuschen im Grünen gelotst. Ich war viel zu konfus, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.«

»Es war meine Schuld, dass Momo zusammengebrochen ist.«

Gisela setzte sich auf und starrte ihn verständnislos an. »Was redest du da, Herbert? Ich verstehe nicht …«

Er ließ sie los und senkte den Blick. Mit leiser Stimme gab er zu: »Ich wollte net mit dir drüber reden, aber jetzt, wo du dir selbst die Schuld gibst, kann ich nimmer schweigen. Ich hab den Basketballkorb am Schuppen aufgehängt, damit ich dort mit Momo spielen kann. Du solltest zuschauen und mit eigenen Augen sehen, wie sehr der Herzfehler deinen Sohn einschränkt. Ich hab ja nicht ahnen können, dass Momo gleich wie ein Wilder loslegt und sich überanstrengt. Es tut mir wirklich sehr leid, was passiert ist. Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung für das, was ich getan habe.«

Gisela schüttelte leicht den Kopf. »So ein Unsinn. Du hast es doch nur gut gemeint, wie immer. Wir waren beide mit dem Haus beschäftigt, haben deshalb nicht auf Momo geachtet. Wenn wir wollen, können wir uns diese Schuld teilen. Obwohl ich nix davon halte. Du kennst meinen Sohn eben noch nicht so gut wie ich.« Sie lächelte ihm zu. »Aber das wird sich in der Zukunft gewiss ändern, wenn wir erst unser Idyll auf dem Land bezogen haben …«

»Gisi, du bist mir net bös?« Er war ganz überwältigt.

»Freilich nicht. Wie könnte ich auch?«

»Ich danke dir.« Er schenkte ihr einen zarten Kuss, dann schmiegte sie sich wieder an ihn und legte ihre Hände vertrauensvoll in seine. Herbert war sehr erleichtert, weil Gisela ihm nichts nachtrug, und auch, weil nun nichts mehr zwischen ihnen stand. Denn Unehrlichkeit war ihm zuwider.

Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis Dr. Rohde die Operation beenden konnte. Momos Zustand war nicht immer stabil gewesen, einige Male musste der Eingriff unterbrochen werden, denn der Kreislauf des kleinen Patienten wollte sich einfach nicht stabilisieren. Letztendlich gelang aber die Ersetzung der Herzklappen, und der Stunt konnte problemlos geschlossen werden.

Sofort nach Beendigung des Eingriffs verließ die Chirurgin den OP, um Gisela Schubert zu informieren. Sie wusste ja, wie sehr diese sich um ihren Sohn sorgte.

»Es geht Momo den Umständen entsprechend gut. Er wird bis Morgen auf Intensiv gelegt, danach können Sie ihn besuchen«, erklärte sie.

»Ich würde gerne heute bei ihm sein, er hat bestimmt Angst in dieser neuen Umgebung, bei Menschen, die er nicht kennt.«

»Es tut mir leid, das geht nicht. Momo wird aber auch nicht viel von seiner Umgebung mitbekommen. Und wenn er morgen wieder richtig munter ist, dürfen Sie ja zu ihm, Frau Schubert.«

Sie seufzte. »Tja, wenn es nicht anders geht …«

»Vielen Dank, Frau Doktor«, sagte Herbert freundlich zu der Ärztin. »Wir wissen Ihre Bemühungen zu schätzen.«

»Keine Ursache, gern geschehen.« Christina Rohde sah natürlich die Angst und Sorge in den Augen von Momos Mutter. Gern hätte sie noch mehr für diese Frau getan, doch ihr waren die Hände gebunden. Es war einfach unmöglich, Besuch zu einem frisch Operierten auf die ITS zu lassen.

»Komm, ich fahre dich heim«, schlug Herbert vor, nachdem die Ärztin gegangen war.

»Bleibst du noch? Ich kann jetzt nicht allein sein.«

»Natürlich.« Er lächelte ihr aufmunternd zu. »Das Schwerste liegt hinter Momo. Morgen siehst du ihn schon wieder.«

»Ja, ich weiß. Aber bis dahin ist es noch sehr lang …«

*

»Wie es aussieht, hattest du den richtigen Riecher, Dan. Die OP des kleinen Momo ist geglückt, heute wird er wieder auf meine Station verlegt.« Fee lächelte ihrem Mann vielsagend zu.

»Na ja, so ein bisschen Berufserfahrung bringe ich ja schließlich auch mit«, scherzte er entspannt.

»Könnt ihr aufhören, von Operationen zu reden? Dabei vergeht mir der Appetit«, beschwerte Janni sich und betrachtete seine Frühstückssemmel wie ein seltsames Insekt.

»Mich interessiert dieses Thema sehr«, wandte Alex ein. »Sprecht ihr über die Herz-OP dieses Down-Kindes?«

Dési verdrehte die Augen. »Nicht auch noch du, Brutus … Ich streiche die Segel und gehe laufen.«

»Und ich frühstücke lieber in meinem Zimmer.« Janni griff nach Teller und Tasse. »Da leistet mir nur mein Laptop Gesellschaft, und es redet nicht über blutige Eingriffe.«

»Eure Kinder sind ziemlich empfindlich«, stellte Alex fest. »Ein bisschen aus der Art geschlagen, oder?«

Fee lachte. »Schon, aber wäre es nicht schrecklich, in einem Haus zu leben, in dem nur Mediziner ständig Fachgespräche führen? Ein wenig frischer Wind und der eine oder andere Denkanstoß aus einer neuen Richtung können nicht schaden, finde ich. Was meinst du, Dan?«

»Ich meine, wir sollten uns allmählich auf den Weg zur Arbeit machen.« Er erhob sich. »Ansonsten bin ich ganz deiner Meinung, mein holdes Weib.«

»Oho, was sind denn das für Töne?«

Alex lachte. »Seid ihr etwa immer noch ineinander verliebt?«

»Immer noch und immer wieder.« Daniel stahl seiner Frau ein Küsschen. »Das ist das Geheimnis einer guten Ehe, mein Junge.«

»Oje, klingt anstrengend«, seufzte Alex.

»Wenn du die Richtige gefunden hast, wird es ganz leicht«, versicherte Fee ihm. »Es geht sozusagen von selbst …«

Als die Nordens die Behnisch-Klinik erreichten, war Momo bereits verlegt worden. Seine Mutter saß an seinem Bett, hielt seine Hand und hörte aufmerksam zu, was er ihr mit noch schwacher Stimme zu erzählen hatte.

Fee wollte diese Zweisamkeit nicht stören und beschloss, später nach ihrem kleinen Patienten zu sehen. Als sie ihr Büro wieder betrat, wartete dort Heike Kreisler auf sie.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen, Ihnen zu danken, Chefin«, erklärte sie. »Carolin Feininger hat so was wie ein Wunder an meinem Jo vollbracht. Er ist wieder ganz der Alte. Ich soll ihm gleich Bescheid geben, wenn Momo Besuch haben darf.«

»Er kann jederzeit vorbeikommen. Momentan ist aber Momos Mutter bei ihm. Da wollte ich auch nicht stören.«

»Stimmt es, dass sie wegziehen von München? Momo hat so was angedeutet.«

»Ja, es sieht so aus. Frau Schuberts Verlobter will wohl ein Haus in Holzkirchen kaufen. Für Momo wäre das zwar eine Umstellung, aber er hätte mehr Platz zum Spielen. Und er scheint sich mit seinem Stiefvater in spe gut zu verstehen.«

Heike wirkte bekümmert. »Stimmt alles. Ich fürchte nur, Jo wird das hart treffen. Er hat den kleinen Racker fest ins Herz geschlossen. Das wird ein schmerzlicher Abschied.«

Am Nachmittag schaute Jo Braun dann bei Momo vorbei. Der Junge freute sich sehr, ihn zu sehen, und sagte: »Jetzt bin ich bald ganz gesund. Und dann können wir den ganzen Tag Körbe werfen, ohne dass ich müde werde. Ich das nicht toll? Darauf freue ich mich schon sehr. Onkel Herbert hat gesagt, wenn ich fleißig trainiere, kann ich in einen Verein gehen. Und vielleicht irgendwann an den Paralympics teilnehmen.«

»Ich bin sicher, dass du das schaffst.« Jo lächelte dem Buben wohlwollend zu. »Du bist ein großer Sportler, Momo.«

Der lachte leise. »So groß bin ich noch gar nicht …«

»Und du verstehst dich gut mit dem Freund deiner Mutter, net wahr? Das ist doch ein echter Glücksfall.«

»Ja, Onkel Herbert ist okay. Weißt du, dass er uns ein Haus kauft? Auf den Land, ganz weit draußen. Er hat gesagt, wenn die Wiese gemäht ist, kann man darauf prima Körbe werfen.« Momo bemerkte, wie traurig Jo mit einem Mal aussah, und versicherte ihm rasch: »Aber bei euch im Hof hat es mir viel mehr Spaß gemacht, das war super, wie …«

»Ein großer Korb voller Luftballons?«

»Ja!« Momo lächelte. »Tante Heike hatte einen auf den Tisch in meinem Zimmer gestellt, als ich bei euch war. Das fand ich total nett von ihr. Ich … Ich wünschte, ihr würdet mitkommen nach Holzkirchen. Ohne euch wird es nicht dasselbe sein.«

»Aber, Momo, wer wird denn Trübsal blasen, wenn er so tolle Aussichten hat? Ein Häusel auf dem Land, die gute Luft, die schöne Natur, das ist doch wunderbar. Du wirst neue Freunde finden. Und gewiss kriegst dann auch deinen Zecki.«

»Den Hund, den ich auf das Bild gemalt hab? Daran kannst du dich noch erinnern, Jo?«

»Freilich. Es war ein sehr schönes Bild.«

»Ich male dir auch eines, wenn ich gesund bin. Und ich … Ach, ich will net fort von dir, Jo!« Momo griff nach Jos Hand und hielt sie ganz fest. »Ich hab dich lieb, ganz doll!«

»Ich hab dich auch lieb«, versicherte der Pfleger gerührt. »Aber das Leben ist eben eine Abfolge von Episoden. Man verlässt einen Ort und geht zu einem anderen, lernt neue Leute kennen, entwickelt sich immer weiter.«

»Das will ich nicht. Ich will bei dir bleiben.«

»Wir sind doch Freunde, Momo, daran ändert sich nix, glaub mir. So weit ist Holzkirchen auch wieder net fort. Wir können uns gegenseitig besuchen. Was hältst du davon?«

»Ehrlich?« Momo senkte den Blick. »Du wirst mich vergessen, wenn ich weg bin. Dann musst du dich um andere Kinder kümmern.«

»Ich vergesse nie einen Freund. Bevor du mit deiner Mutter und ihrem Freund weggehst, feiern wir ein großes Grillfest. Was hältst du davon? Wir treffen uns an der Isar, grillen und machen Musik, singen und spielen. Alle aus dem Zentrum, die kommen wollen und können. Und all unsere Freunde.«

Momo bekam glänzende Augen, es schien Jo gelungen zu sein, ihn von seinem Abschiedsschmerz abzulenken.

»Ehrlich? Ein ganz großes Fest nur für mich?«

»So ist es. Würde dir das gefallen?«

Momo nickte mit einem strahlenden Lächeln. »Und wie!«

»Okay, dann machen wir es so.«

*

Bis das Grillfest an der Isar stattfinden konnte, verging noch eine Weile. Momo musste etwas länger als geplant in der Behnisch-Klinik bleiben, seine Heilung verzögerte sich. Gisela machte sich Sorgen, ihr Sohn aber blieb unbekümmert. Und auch Herbert redete ihr immer wieder gut zu und beruhigte sie. Seine verlässliche Art tat Gisela gut. Anfang August war es dann so weit, Momo wurde als geheilt entlassen. Er war munter und alberte herum, es ging ihm richtig gut, wie Gisela erleichtert feststellte. Sie war von Herzen froh, dass ihre Entscheidung sich letztendlich als richtig erwiesen hatte.

Eine Woche nach Momos Entlassung aus der Behnisch-Klinik gaben Gisela und Herbert sich auf dem Standesamt das Jawort. Heike und Jo fungierten als Trauzeugen, zusammen ging man danach fein essen. Heike wunderte sich allerdings ein bisschen.

»Wolltest du keine Hochzeit in Weiß, Gisela?«, fragte sie. »Also, wenn ich es mal wagen sollte, dann nur in Weiß. Mit Einspänner, Schimmeln und allem, was dazugehört.«

Jo grinste schmal. »Ich fang schon mal an zu sparen …«

Gisela und Herbert tauschten einen liebevollen Blick, dann sagte sie: »Ein Hochzeitsfest macht viel Arbeit. Dazu fehlt uns momentan einfach die Zeit. Das Haus nimmt uns ganz in Anspruch.«

»Wie schaut es denn aus? Könnt ihr bald einziehen?«, wollte Jo wissen.

»Es wird absehbar. Nur mit dem Grundofen hapert’s noch. Wir finden einfach keinen Ofenbauer, der vor einem Jahr Termine frei hat. Das Heizen mit Holz liegt eben sehr im Trend.«

»Ist ja auch nachhaltig. Und die Wärme ist viel angenehmer als bei einer Zentralheizung. Daheim auf dem Hof haben wir drei Grundöfen. Der Älteste ist schon an die hundert Jahre alt und funktioniert noch wie am ersten Tag.«

»Kennst du dich damit aus, Jo?«, fragte Herbert.

Der nickte. »Wenn was dran war, haben wir es selbst repariert. Das ist gar net so schwer, wenn man erst mal verstanden hat, wie so ein Ofen funktioniert.«

»Würdest du dir unseren ansehen?«

»Herbert, ich bitt dich. Der Jo ist doch Pfleger, kein Ofenbauer. Außerdem stehen wir schon sehr tief in seiner Schuld. Was er alles für Momo getan hat, das können wir doch nie wieder gut machen.«

»Ich würde mir den Ofen gerne mal anschauen. Es macht mir Spaß, etwas zu bauen und zu reparieren.«

Heike nickte. »Er hat geschickte Hände, mein Bär.«

Alle lachten. Momo, der sich mit seinem Nachtisch beschäftigte, wollte nun wissen: »Kommst du uns dann öfter besuchen, Onkel Jo? Ich meine, wegen dem Ofen und so …«

»Klar, dann sehen wir uns schon sehr bald wieder. Aber am Wochenende feiern wir erst mal unser Grillfest.«

»Toll!« Momo schaute mit strahlenden Augen in die Runde und seufzte aus tiefstem Herzen: »Ihr seid alle toll, noch viel toller als ein ganz riesengroßer Korb voller Luftballons!«

Jo schaffte es, die meisten Heimbewohner zu dem Grillfest an der Isar zu bringen. Zusammen mit zwei Kollegen richtete er eine Art Shuttlebus zwischen dem Heim und der Isar ein, und bald waren alle in fröhlicher Runde vereint. Tiefblau und klar spannte sich der Himmel an diesem schönen Sommertag über den Fluss. Kühl und frisch war es am Wasser, eine leichte Brise bewegte die Blätter der Erlen und Weiden.

Heike hatte einige Kollegen aus der Behnisch-Klinik eingeladen und freute sich besonders, als die Nordens vollzählig erschienen.

»Hübsche Kinder haben Sie, Chefin«, stellte sie fest und kniff Richtung Alex ein Auge zu. »Da könnte man ja direkt schwach werden …«

Fee schmunzelte. »Alex ist der Sohn eines Kusins meines Mannes. Er hat eine spanische Mutter.«

»Dachte ich mir doch.« Heike grinste frech. »Olé!« Sie lachte und gesellte sich zu Jo, der den Grill bestückte. »Na, mein Schatz, bist du zufrieden? So ein schönes Fest haben wir lange nicht auf die Beine gestellt.«

»Ja, es ist wirklich schön. Leider muss ich dir aber noch was sagen, Prinzesserl. Ich werde der Gisela und dem Herbert den Ofen grundsanieren. Das dauert ein paar Wochenenden …«

»So, so, du willst mich also schmählich allein lassen. In dem Fall werde ich mich wohl doch ein wenig näher mit dem feschen Alex Norden befassen müssen …«

»He, net so schnell. Holzkirchen ist net aus der Welt. Und wenn du magst …«

»Gut geschaltet, mein Bärchen. Natürlich komme ich mit. Ein bisschen Landluft kann einer Stadtpflanze wie mir bestimmt nicht schaden. Hoffe ich wenigstens …«

Wenig später trafen auch Carolin Feininger und ihre Tochter ein. Momo freute sich sich sehr, Luisa zu sehen. Die beiden hatten sich viel zu erzählen, während Carolin mal wieder ausgiebig mit Fee Norden plaudern konnte.

Jo war am Grill fleißig und versorgte alle mit leckeren Würstchen. Es wurde viel gelacht, ein Kollege von Jo hatte seine Gitarre mitgebracht und spielte bald auch zum Tanz auf.

»Nun sieh dir das mal an«, raunte Gisela Herbert zu und deutete auf Momo, der Luisa unverdrossen herumschwenkte. Dass sie ihn um mehr als einen Kopf überragte, schien ihn dabei gar nicht zu stören.

»Ihr Momo ist ein kleiner Charmeur«, stellte Fee Norden schmunzelnd fest.

»Das habe ich gerade auch gemerkt«, seufzte Gisela.

»Und wie verkraftet er die Umstellung?«

»Ich hatte ein bisschen Angst davor, aber dann war es viel leichter als gedacht. Momo wird nach den Ferien die integrierte Gesamtschule bei uns draußen besuchen. Er ist dort nicht das einzige Kind mit Down-Syndrom. Die Lehrer kennen sich gut damit aus. Ich war so erleichtert, als ich das erfahren habe.«

»Das kann ich mir denken. Und wie sieht es mit Ihrem Stand auf dem Viktalienmarkt aus?«

»Den musste ich leider aufgeben, die Anfahrt wäre zu lang. Aber wir verkaufen ab Herbst auf den lokalen Wochenmärkten. Es wird eine Umstellung, alles ist neu. Trotzdem habe ich ein gutes Gefühl dabei. Wissen Sie, Herbert ist das Beste, was mir seit Langem passiert ist.«

»Das freut mich für Sie, wirklich.«

Daniel Norden kam nun auf seine Frau zu, und an seiner Miene konnte sie bereits ablesen, was los war, noch ehe er sagte: »Ein Notfall, ich muss in die Klinik.«

»Soll ich mitkommen?«

Er zögerte nicht. »Ja, das wäre mir lieb.«

»Okay, ich komme gleich.« Fee sprach Heike Kreisler noch einmal an und bat sie, Alex und die Zwillinge später mitzunehmen, was diese nur zu gerne versprach. Ihr Blick hing schon wieder an dem attraktiven Medizinstudenten, der ihr einfach nicht aus dem Sinn zu gehen schien …

Die Nordens verabschiedeten sich herzlich von Gisela und Herbert und eilten dann zur Behnisch-Klinik.

»Was für ein Beruf, immer auf Abruf, ich weiß nicht, wie sie das schaffen«, sinnierte Gisela.

»Sie sind eben Ärzte aus Leidenschaft.«

»Ja, das muss es sein.« Gisela horchte auf, als der Gitarrenspieler ein romantisches Lied intonierte. Herbert lächelte vielsagend. »Wollen wir?« Er musste nicht lange fragen. Selig schmiegte sie sich in seine Arme und war ganz einfach nur wunschlos glücklich. So wie ein großer Korb voller Luftballons, dachte sie und lächelte still in sich hinein …

Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman

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