Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Paket 2 – Arztroman - Patricia Vandenberg - Страница 30
ОглавлениеIn den dreißig Dienstjahren auf der Rettungswache hatte Dr. Fred Steinbach gelernt, dass nicht alle Einsätze glücklich endeten. Gewöhnen konnte er sich trotzdem nie daran. Es ließ ihn nicht unberührt, wenn der Tod den Kampf um ein Menschenleben gewann, aber er konnte inzwischen akzeptieren, dass nicht alles in seiner Hand lag. Manchmal war die Krankheit zu weit fortgeschritten, ein anderes Mal waren die Verletzungen zu schwerwiegend. So, wie bei dieser jungen Frau, deren Leben in einem völlig zerstörten Autowrack zu Ende gegangen war. Sie würde nicht mehr erleben, wie ihre kleine Tochter aufwuchs, ihre ersten Schritte machte, das erste Wort sprach. Ihr Leben war unwiederbringlich vorbei. Das ihres Kindes stand noch ganz am Anfang. Wie durch ein Wunder hatte das kleine Mädchen den Unfall in seiner Babyschale auf dem Rücksitz überlebt. Mit großen wachen Augen sah es sich in dem Rettungswagen um, ohne zu verstehen, wie schicksalhaft dieser Tag für sie war.
»Wie alt mag sie sein?«, fragte Jens Wiener, der Rettungssanitäter, leise. Sanft streichelte er ein zartes Händchen.
»Ich schätze fünf, vielleicht sechs Monate.« Fred beendete seine Untersuchung. »Ich kann nichts feststellen. Auf den ersten Blick scheint sie unverletzt zu sein. Aber du weißt ja, wie das bei Kindern in diesem Alter ist: die Situation kann von einer Sekunde auf die andere umschlagen. Lass uns lieber zügig in die Behnisch-Klinik fahren.«
»Mit dem vollen Programm?«
Fred nickte. »Mit allem, was du hast.«
Und so brachten die beiden Männer ein kleines, süßes Mädchen, das gerade seine Mutter verloren hatte, mit Blaulicht und Sirene in die Behnisch-Klinik.
Ihr Kommen hatte die Zentrale angekündigt, sodass sie bereits erwartet wurden. Dr. Erik Berger, der Leiter der Notaufnahme, hatte Felicitas Norden um Unterstützung gebeten. Auch wenn er mit Recht behaupten durfte, der beste Notfallmediziner Münchens zu sein, scheute er sich nicht, eine erfahrene Kinderärztin hinzuzuziehen, falls er es für nötig hielt. Babys sind keine kleinen Erwachsene, pflegte er dann immer zu sagen. Das, was für die großen Patienten galt, ließ sich nicht eins zu eins auf die kleinen übertragen. Zum Wohle der Kinder hielt Berger deshalb sein übergroßes Ego in Schach und überließ den ausgebildeten Kinderärzten das Feld.
Dr. Felicitas Norden, die von ihren Freunden nur Fee genannt wurde, war in der Behnisch-Klinik die Leiterin der Pädiatrie. Als sie Bergers Anruf erreicht hatte, war sie sofort in die Aufnahme gelaufen. Ein Baby, das einen schlimmen Verkehrsunfall mitgemacht hatte, konnte so schwer verletzt sein, dass es wortwörtlich um jede Sekunde ging.
»Wollen Sie sie gleich in die Pädiatrie hochbringen oder erst in den Schockraum?«, fragte Erik Berger seine Kollegin, als sich die Tür des Rettungswagens öffnete.
»Schockraum«, entschied Fee sofort. Der Schockraum in der Aufnahme war bestens für die Erstversorgung schwerer medizinischer Notfälle ausgestattet. Erst wenn die Patienten stabil genug waren, wurden sie von hier auf die Intensivstation gebracht oder auch in den OP.
Erik Berger hob die Babyschale aus dem Rettungswagen. Auf dem Weg in die Notaufnahme berichtete Fred Steinbach von dem, was ihm bekannt war. »Der Wagen ist bei regennasser Fahrbahn von der Straße abgekommen und hat sich mehrfach überschlagen. Es grenzt an ein Wunder, dass die Kleine überlebt hat. Äußerlich ist sie unverletzt, die Vitalwerte sind im Normbereich.«
Berger stieß die Tür zum Schockraum auf und stellte die Babyschale auf dem Behandlungstisch ab. Für die kleine Patientin war dies der Moment, die neue Umgebung und die vielen fremden Menschen um sich herum mit einem lauten und durchdringenden Geschrei zu begrüßen.
»Sehr schön«, sagte Erik zufrieden. »Mir sind die lauten Babys immer lieber als die stillen, von denen man nie weiß, was sie gerade ausbrüten.«
»Da gebe ich Ihnen recht«, erwiderte Fee, während sie das Baby erst mal nur oberflächlich nach Verletzungen absuchte. »Das habe ich schon beim Medizinstudium von meinem Professor gelernt. Bei einem Massenunfall sollen wir ein besonderes Augenmerk auf die Verletzten legen, die ruhig und still sind. Denjenigen, die noch laut brüllen und rufen können, geht es in der Regel gesundheitlich besser.« Ihr Tonfall änderte sich, wurde warm und sanft, als sie nun auf das Baby einsprach: »Pst, ist ja gut, meine Süße. Du kommst da ja jetzt raus.«
Sie öffnete den Gurt und nahm das Mädchen vorsichtig hoch, um es zu beruhigen. Das Weinen ließ sofort nach. Zärtlich streichelte Fee über den zarten Haarflaum und lächelte, als die Kleine das Köpfchen an ihre Brust legte und kräftig an ihrem Daumen nuckelte. »Na, meine Süße, hast du Hunger oder möchtest du dich nur ein wenig beruhigen?«
»Ich tippe auf Hunger«, sagte Berger. Er zuckte die Achseln, als ihn alle fragend ansahen. »Babys haben doch immer Hunger, oder nicht?«
»Wenn Sie das sagen«, gab Schwester Inga leise lachend zurück. Alle waren bester Stimmung. Dem Baby ging es augenscheinlich gut, und die Sorge, mit der die Ärzte und Schwestern seiner Ankunft entgegengesehen hatten, war purer Erleichterung gewichen. Selbst Erik Berger, der meistens griesgrämig und schlecht gelaunt war, machte Scherze und präsentierte ein seltenes Lächeln.
Fee legte die Kleine vorsichtig auf dem Behandlungstisch ab und begann mit einer gründlichen Untersuchung, während Berger bereitwillig assistierte.
»Ich habe ja sonst nichts zu tun«, erklärte er, als sie ihn deswegen amüsiert ansah. »Sobald die Mutter der Kleinen eintrifft, sind Sie mich los, Frau Norden.« Berger bemerkte den merkwürdigen Blick nicht, den Fred Steinbach seinem Rettungssanitäter zuwarf. »Haben Sie eine Ahnung, wann wir mit ihr rechnen dürfen?«, fragte er völlig ahnungslos die Männer vom Rettungswagen.
Fred Steinbach übernahm schweren Herzens das Antworten: »Hat Ihnen die Zentrale nichts gesagt? Die Mutter hat es nicht geschafft. Sie muss auf der Stelle tot gewesen sein. Wir konnten nichts mehr für sie tun.«
Alle starrten den Rettungsarzt entsetzt an.
»O mein Gott«, flüsterte Inga schockiert. Für eine endlos lange Zeit blieb es bei diesen wenigen Worten, die das tiefe Entsetzen über das Gehörte widerspiegelten. Die fröhliche Unbeschwertheit war verschwunden, und Erik Berger kehrte zu seinem sauertöpfischen Gesichtsausdruck zurück.
»Toll, dass wir das auch schon erfahren«, blaffte er und warf sein Stethoskop auf den Tisch. Erik Berger, den so schnell nichts erschüttern konnte und der von gefühlsseligen Momenten nichts hielt, wirkte ehrlich betroffen. Doch es gelang ihm rasch, das mit seiner gewohnten Bärbeißigkeit zu überspielen.
»Haben wir wenigstens einen Namen? Geburtsdatum? Irgendwelche anderen Informationen zum Baby?« Niemand störte sich an seinen harschen Worten. Das Wissen, dass dieses kleine süße Mädchen ohne seine Mutter aufwachsen würde, nahm sie mehr mit als Bergers rauer Umgangston.
»Nein, nichts«, reagierte Jens Wiener auf die Frage des Arztes. »Sobald die Polizei etwas herausgefunden hat, wird sie sich hier melden.«
»Lina. Unsere Süße heißt Lina.« Schwester Inga hielt ein Lätzchen hoch, auf dem in Großbuchstaben der Name des Kindes stand. »Es lag in der Babyschale.«
»Dann wissen wir also jetzt, wie du heißt«, sagte Fee zu dem Mädchen, das die nette Ärztin aus großen, blauen Augen anschaute und das Weinen längst aufgegeben hatte. Fee fiel es unglaublich schwer, die Kleine anzusehen, ohne dabei an den herben Schicksalsschlag denken zu müssen. Und wenn sie sich im Schockraum umsah, wusste sie, dass es niemandem anders ging. Allen sah sie ihre Betroffenheit an. Bis auf Erik Berger natürlich. Er saß mit verschränkten Armen auf der Schreibtischkante. Sein Gesicht glich einer starren Maske, hinter die niemand mehr blicken konnte. Schneller als die anderen hatte er zu seiner gewohnten Professionalität zurückgefunden.
»Sie hat keine äußeren Verletzungen, alle Vitalwerte sind im Normbereich«, zählte er ruhig auf und blickte dabei Fee an. »Abdomen weich und unauffällig, Lunge frei und ausreichend belüftet. Ich empfehle ein CT und intensivmedizinische Überwachung für die nächsten Tage.«
»Sehe ich genauso«, erwiderte Fee. »Also dann, kleine Lina. Ab mit dir in die Radiologie zum CT.«
»Wenn Ihr Mann endlich einen Computertomographen für den Schockraum genehmigen würde, könnten wir uns den Gang dorthin sparen«, ätzte Berger. »Sollten Sie für Ihre Pädiatrie neue Ausrüstungen brauchen, müssen Sie bestimmt nicht so lange darauf warten wie ich. Das liegt wohl an dem kürzeren Dienstweg.«
Jeder im Raum verstand Bergers Anspielung. Fee warf ihm mit hochgezogenen Augenbrauen einen tadelnden Blick zu. Zu unterstellen, dass sie es leichter hatte, nur weil sie mit dem Chefarzt der Behnisch-Klinik verheiratet war, ärgerte sie. Doch sie mochte nicht mit Berger streiten. Sie ahnte, dass er nur ein wenig Dampf ablassen wollte. Das war halt seine Art, mit der schwierigen Situation klarzukommen.
Während Fee die kleine Lina zurück in die Babyschale legte, sagte sie zu ihm: »Es liegt weniger an dem kurzen Dienstweg, sondern an meinem Charme und meinem netten Wesen, Herr Kollege. Vielleicht sollten Sie das auch mal versuchen.«
*
Eine knappe Stunde später lagen alle Untersuchungsergebnisse vor, und Fee hatte Gewissheit, dass es der süßen Lina gutging –, soweit man das von einem kleinen Mädchen behaupten konnte, das gerade seine Mutter verloren hatte.
Lina würde die nächsten Tage auf der Kinder-ITS verbringen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, die nach einem so schweren Unfall unverzichtbar war. Hier war die Kleine ständig unter Aufsicht. Sollten sich doch noch Komplikationen einstellen, würde sie sofort die notwendige Hilfe bekommen.
Fee stand hinter der Glasscheibe, die das Dienstzimmer vom Patientenzimmer trennte, und sah zu, wie Schwester Gitta der Kleinen das Fläschchen gab. Ein schöner Anblick, der Fee das Herz wärmte, sie aber auch traurig stimmte, wenn sie an den großen Verlust, den das Mädchen erlitten hatte, dachte. So fand sie Daniel Norden – in Gedanken versunken, mit einem wehmütigen Zug um ihren schönen Mund.
Daniel stellte sich neben seine Frau und legte einen Arm um sie, während auch seine Augen auf Schwester Gitta und dem Baby ruhten.
»Wie geht es ihr?«, fragte er leise.
»Gesundheitlich? Prima. Wirklich gut. Im CT gab es keine Auffälligkeiten. Ich werde sie für ein oder zwei Tage auf der ITS behalten. Anschließend kann sie auf die chirurgische Station zur weiteren Beobachtung. Nur für alle Fälle.«
Daniel Norden kannte seine Fee gut genug, um ihren Kummer zu spüren. »Ihr Schicksal nimmt dich sehr mit.«
»Ja, uns alle«, erwiderte Fee seufzend. »Vorhin in der Aufnahme, wir waren so … so froh und erleichtert, weil die Kleine unverletzt war. Sogar Berger wirkte gelöst und beinahe glücklich. Du weißt, wie selten das bei ihm vorkommt. Und dann … «
Als Fee schwieg, sprach Daniel weiter: »Und dann habt ihr von der Mutter erfahren, und plötzlich war die Welt eine andere.«
Fee nickte. »Früher, als junge Ärztin, habe ich gedacht, es würde irgendwann mal leichter werden. Und manchmal kam es mir auch so vor. Aber dann passiert so etwas wie heute, und ich weiß, dass es sich nie ändern wird. Es wird mich immer wieder hart treffen.«
»So schlimm sich das für dich auch anfühlen mag, Feelein, so zeigt uns das doch nur, dass wir immer noch mitfühlen können. Wir sind keine emotionslosen Roboter, die ihren Dienst verrichten, ohne am Schicksal anderer Menschen Anteil zu nehmen.«
»Nein, das sind wir nicht.« Fee schüttelte den Kopf und sagte dann: »Auch Berger war erschüttert. Er kann es nur besser verbergen als wir, indem er einfach einen Streit anfängt.«
Fee warf noch einen letzten Blick auf ihre kleine Patientin. Dann wandte sie sich ab und ging mit Daniel in den Aufenthaltsraum, der zur Kinder-ITS gehörte.
Bei einer Tasse Kaffee berichtete Daniel von dem eigentlichen Grund seines Kommens: »Ich habe vorhin mit der Polizei gesprochen. Sie wissen jetzt, wer Linas Mutter war, konnten aber keine Angehörigen erreichen. Die Nachbarn meinten, dass sie mit ihrem Baby allein gelebt habe. Die Eltern befänden sich auf einem großen Segeltörn rund um die Welt. Mehr wüssten sie nicht. Auch zum Vater des Kindes konnten sie keine Angaben machen.«
»Was wird nun passieren? Irgendjemand muss für Lina zuständig sein? Das Jugendamt?«
»Ja, sollte kein Angehöriger gefunden werden. Aber …« Er rieb sich mit den Fingern über die Stirn, als würde ihm das beim Nachdenken helfen. »Mir spukt da ein Gedanke durch den Kopf, seit ich den Namen der Mutter weiß: Bianka Makowski.«
»Bianka Makowski? Makowski … meinst du, sie ist verwandt mit Rosa?«
»Der Gedanke kam mir sofort. Makowski ist sicher kein häufiger Name. Und ich kann mich daran erinnern, dass Rosa eine ältere Schwester erwähnte. Allerdings weiß ich deren Namen nicht.«
Fee überlegte kurz. »Das bekommen wir sicher ganz leicht raus. Anneka wird uns da weiterhelfen können.« Sie seufzte leise auf. »Ich hoffe sehr, dass es sich bei der Verunglückten nicht um Rosas Schwester handelt. Mir ist es lieber, wenn die Mutter eine Unbekannte für mich ist und es keinen persönlichen Bezug gibt. Es ist dann natürlich nicht weniger tragisch, aber irgendwie fällt es mir dann leichter, mit der Situation umzugehen. Außerdem …« Sie sah Daniel traurig an. »Außerdem würde es mir für Rosa sehr leidtun. Ich mochte sie immer sehr.«
»Wer nicht?«, fragte Daniel lächelnd. Rosa Makowski hatte mit Anneka, der ältesten Tochter von Fee und Daniel, dasselbe Gymnasium besucht. Eine Zeitlang waren sie eng befreundet gewesen. Erst als Rosa vor zwei Jahren München verließ, hatten sich die beiden Mädchen aus den Augen verloren. Ganz abgerissen war der Kontakt zwischen ihnen aber nie.
Fee holte ihr Handy aus der Kitteltasche. Sie wollte Klarheit haben und rief deshalb sofort Anneka an. Bis zuletzt hoffte sie, dass sich dieser schlimme Verdacht nicht bestätigen würde.
Daniel verfolgte das kurze Telefonat angespannt. Schnell erkannte er an Fees Gesichtsausdruck die traurige Wahrheit. Als sie auflegte, sagte sie: »Anneka meinte, dass Rosas Schwester tatsächlich Bianka heißt. Sie ist zwei Jahre älter als Rosa und lebt hier in München … oder lebte.«
Weil Fee bei ihren Worten so niedergeschlagen aussah, versuchte Daniel, ihr Mut zu machen: »Das muss alles noch gar nichts bedeuten, Liebes. Vielleicht ist es nur eine zufällige Namensgleichheit und nicht mehr.«
»Ach, Dan, ich fürchte leider, dass es unsere kleine Rosa treffen wird. Ich fühle einfach, dass es ihre Schwester ist. Sag doch selbst, wie viele junge Frauen in diesem Alter mag es in München geben, die Bianka Makowski heißen?«
»Ich weiß, was du meinst, Fee. Es sieht tatsächlich nicht gut aus. Und nun? Wir müssen diese Information an die Polizei weitergeben. Es ist jetzt ihre Aufgabe herauszufinden, ob es wirklich Rosas Schwester ist.«
»Anneka schickt dir Rosas Telefonnummer. Am besten leitest du sie dann an die Polizei weiter. Und dann bleibt uns nur noch zu hoffen.«
*
Auch nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag in der Klinik war es Fee wichtig, dass am Abend ein frisch zubereitetes Essen auf den Tisch kam. Zum Glück hatte sie in ihrer jüngsten Tochter Dési eine begeisterte Hobbyköchin gefunden, die diese Aufgabe gern mal übernahm oder ihr beim Kochen assistierte. Sehr zum Leidwesen ihres Zwillingsbruders Janni, der sich selten für Désis Kochkünste erwärmen konnte. Zu seinem Glück war Dési heute nur für den Salat zuständig, während Fee kochte.
Als Janni einen Blick in die Küche warf, atmete er hörbar auf. »Bin ich froh, dich am Herd zu sehen«, sagte er zu seiner Mutter. »Als Paps eben sagte, dass Dési in der Küche ist, bekam ich einen Riesenschrecken.«
»He, nicht so frech, Bruderherz!«, beschwerte sich seine Schwester prompt. »Sei froh, dass du mitessen darfst, obwohl du dich immer wieder erfolgreich vor der Küchenarbeit drückst.«
»Ich bin nicht der Einzige in der Familie, der sich drückt …«
»Falls du mich meinst, mein Sohn, ich habe gerade den Tisch gedeckt.« Daniel war unbemerkt in die Küche gekommen und amüsierte sich darüber, wie Janni bei seinen Worten schuldbewusst zusammenzuckte. »Damit du wenigstens einen kleinen Anteil beiträgst, darfst du dich um die Getränke kümmern.«
»Ich werde sogar noch mehr tun«, sagte Janni, nachdem er einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. Grinsend holte er ein weiteres Gedeck aus dem Schrank, und nur Sekunden später erfuhr der Rest der Familie den Grund dafür: Anneka Norden schloss die Haustür auf.
Ein Blick in Annekas betrübtes Gesicht, und ihre Eltern wussten Bescheid. Die vage Vermutung wich nun trauriger Gewissheit.
»Es ist also wirklich Rosas Schwester«, sagte Fee und zog ihre älteste Tochter in eine Umarmung. Anneka tat es gut, von ihrer Mutter in den Armen gehalten zu werden. Auch wenn sie schon längst selbstständig war und das Haus ihrer Kindheit vor einiger Zeit verlassen hatte, zog es sie immer wieder hierher zurück, wenn sie ein Kummer plagte.
»Rosa hat mich vorhin angerufen. Die Polizei hat sich bei ihr gemeldet.«
»Was ist los?«, fragten Dési und Janni fast gleichzeitig.
Ihre Eltern sprachen selten über die Ereignisse in der Klinik –, vor allem nicht über die tragischen. Doch diesmal machten sie eine Ausnahme. Es war ein Mensch ums Leben gekommen, der für die Familie Norden nicht völlig fremd war. Daniel war es, der jetzt den beiden Jüngsten von Rosas Schwester erzählte.
»Ich finde das wirklich sehr traurig«, sagte Dési im Anschluss. »Bianka habe ich zwar nie kennengelernt, aber dafür Rosa umso besser. Sie war ja früher recht häufig hier. Wahrscheinlich ist sie total fertig.«
Anneka nickte. »Ja, das ist sie, obwohl das Verhältnis zwischen ihr und Bianka nie besonders eng war. In den letzten beiden Jahren hatten sie wohl gar keinen Kontakt mehr gehabt. Selbst Biankas Tochter kennt Rosa noch nicht.«
»Was ist mit ihren Eltern?«, fragte Daniel. »Wahrscheinlich lastet jetzt auf Rosa die schwere Aufgabe, ihnen die traurige Nachricht zu überbringen.«
»Ihre Eltern schippern seit drei Jahren mit ihrer Segelyacht irgendwo umher. Rosa wird versuchen, sie über das Satellitentelefon zu erreichen.«
»Und gibt es wenigstens einen Vater zu dem Baby?«, wollte Fee nun wissen. »Er muss sich unbedingt in der Klinik melden, damit wir Linas weitere Behandlung mit ihm abstimmen können.«
»Auch ihn will Rosa anrufen. Wahrscheinlich weiß er noch gar nichts von dem Unfall.«
»O je, die Ärmste. Ich stelle es mir schrecklich vor, diese Botschaft überbringen zu müssen«, sagte Dési.
»Ja, das stimmt.« Fee war sehr ernst geworden. Als Ärztin wusste sie genau, was das bedeutete. »Angehörigen den Tod eines nahestehenden Menschen mitzuteilen, ist das Härteste, zu dem uns unser Beruf manchmal zwingt. Nun trifft es Rosa. Das wird sicher sehr schwer für sie werden.«
»Ja, diese Anrufe werden ihr einiges abverlangen, besonders der mit ihren Eltern. Was Leo anbelangt: Na ja, ihn konnte sie nie leiden. Seinetwegen gab es ständig Streit zwischen den Schwestern. Irgendwann krachte es dann endgültig, und Rosa ging nach Kassel. Das war vor zwei Jahren. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr zwischen ihr und Bianka.«
»Sie hatten sich also nicht mehr aussöhnen können?« Als Anneka den Kopf schüttelte, fuhr Fee fort: »Dann wird Rosa unter Biankas Tod noch mehr leiden. Neben der Trauer werden sie wahrscheinlich auch noch Schuldgefühle plagen.«
»Wieso?«, fragte Janni. »Hatte sie denn Schuld an dem Streit?«
Dési rollte mit den Augen. »Mensch, Janni! Als ob das noch eine Rolle spielen würde. Rosa wird sich mit irrationalen Schuldgefühlen quälen. Sie wird sich mies fühlen, weil es nie gelang, den Streit beizulegen. Nun ist es zu spät dafür.«
»Sieh an, sieh an«, sagte Fee anerkennend. »Hast du schon mal überlegt, auf Psychologie umzusatteln? Du scheinst ein Gespür dafür zu haben.«
Sofort hob Dési abwehrend die Hände. »Auf gar keinen Fall! Ich bleib bei meiner Mode! Hier kann ich wenigstens meine Kreativität ausleben.«
Als Fee das Essen vom Herd nahm und in Schüsseln umfüllte, zog Anneka tief die Luft ein. »Hähnchencurry mit Reis«, schwärmte sie. »Es riecht fantastisch.«
»Dann ist es ja gut, dass du pünktlich zum Essen gekommen bist.« Fee lächelte ihre Große an. Sie freute sich immer, wenn eins ihrer flüggegewordenen Kinder zum Abendessen erschien. Doch Anneka schüttelte bedauernd den Kopf.
»Ich kann leider nicht bleiben. Ich muss für morgen noch einiges vorbereiten und … «
»Und essen musst du trotzdem«, unterbrach sie Fee. »Ich habe eh den Eindruck, dass du das in letzter Zeit ein wenig vernachlässigst.« Fees besorgten Mutterblick war nicht entgangen, dass ihre ohnehin schon sehr schlanke Anneka schmaler aussah als sonst. Ihr dichtes blondes Haar hatte sie im Nacken durch ein Zopfgummi zusammengebunden. Das Gesicht wirkte dadurch noch filigraner, fast zerbrechlich.
»Komm schon, Schwesterherz«, sagte auch Janni. »Ich habe doch bereits für dich aufgedeckt. Du brauchst dich nur noch hinzusetzen und zu essen.«
Anneka lächelte. »Überredet. Es wäre ja auch wirklich dumm, wenn ich mir ausgerechnet eins meiner Lieblingsgerichte entgehen lassen würde.«
Später, beim Essen, kamen sie wieder auf Rosa zu sprechen.
»Wann kommt sie nach München?«, wollte Daniel von Anneka wissen.
»Morgen. Sie kommt gegen halb eins mit dem ICE an. Ich hole sie dann vom Bahnhof ab und bringe sie in die Klinik.«
Fee sah ihre Tochter erstaunt an. »Schaffst du das? Hast du morgen nicht Spätdienst?«
Anneka winkte ab. »Ja, aber ich fange erst um zwei an. Der ICE ist gegen halb eins in München. Das bekomme ich schon hin. Ich hätte gern ein paar Urlaubstage genommen, um nur für Rosa da zu sein. Aber im Moment geht das leider nicht. Wir sind eh schon unterbesetzt. Mir wird deshalb auch kaum Zeit für Rosa bleiben. Ich wollte ihr anbieten, bei mir zu wohnen, aber dort wäre sie meistens allein. Ich glaube nicht, dass das jetzt gut für sie wäre.«
»Recht hast du«, stimmte ihr Fee zu. »Bei dir wäre Rosa zurzeit wohl nicht so gut aufgehoben. Aber warum wohnt sie nicht bei uns? Sie wäre hier herzlich willkommen.«
Daniel pflichtete seiner Frau bei: »Es wäre wirklich sehr schön, wenn sie unser Gast wäre.«
Anneka atmete auf.
»Ich muss gestehen, ich hatte gehofft, dass ihr das anbietet. Ich mochte nicht fragen, weil Alexander bald nach München kommt und dann hier wohnen wird. Also wenn euch zwei Gäste nicht zu viel werden …«
»Natürlich nicht!«, erwiderte Fee gelassen. »Das Haus ist groß genug für Rosa und Alexander.«
»Auf Alexander bin ich schon sehr gespannt«, sagte Dési. »Ist schon merkwürdig, einen Cousin zu haben, den man nicht kennt.«
»Cousin zweiten Grades«, berichtigte Janni seine Zwillingsschwester. »Und dass wir ihn nicht kennen, stimmt auch nicht ganz. Wir können uns nur nicht mehr an ihn erinnern, weil wir bei unserer letzten Begegnung zu jung waren.«
»Ich habe noch eine vage Erinnerung an ihn«, sagte Anneka, die älter war als die Zwillinge. »Ein süßer Junge mit ganz dunklen Haaren und himmelblauen Augen.«
»Der süße Junge ist nun schon zwanzig und beginnt im Herbst sein Medizinstudium.« Daniel lächelte. »Ich freue mich schon sehr auf ihn.«
»Weil er Medizin studiert oder weil er der Sohn deines Cousins Michael ist, den du seit Ewigkeiten nicht gesehen hast?«, fragte Janni.
»Weil er zur Familie gehört. So einfach ist das. Ich würde mich auch auf ihn freuen, wenn er einen anderen Berufswunsch hätte. Und natürlich ist es auch schön, dass dadurch der Kontakt zu Michael und Sofia wieder etwas enger wird. Wenn Alex hier studiert, werden sie sicher häufiger nach Deutschland kommen, und wir könnten uns endlich mal wiedersehen.«
»Wenn deine Sehnsucht so groß ist, müssen wir ja nicht warten, bis sie herkommen«, erwiderte Dési grinsend. »Wir könnten ja auch zu ihnen fahren. Also ich hätte nichts gegen einen kleinen Urlaub auf Gran Canaria einzuwenden.«
Es war Daniel, der zur Überraschung aller sagte: »Warum eigentlich nicht? Ein kleiner Urlaub würde uns sicher guttun. Es wäre schön, wenn die ganze Familie zusammen verreisen würde.« Ein feines Lächeln, das beinahe wehmütig wirkte, erschien um seinen Mund, als er fortfuhr: »Manchmal denke ich, dass wir ohnehin zu wenig Zeit miteinander verbringen. Zeit, die man nicht nachholen kann.«
Jeder am Tisch ahnte, dass der Tod von Bianka Makowski zu diesem Gedanken geführt hatte. Er lag wie ein schwerer, dunkler Schatten über dem heutigen Abend, obwohl niemand mehr offen davon sprach. Stattdessen erzählte Daniel von seinem Cousin Michael Norden, der in jungen Jahren bei einem Urlaub auf Gran Canaria seiner großen Liebe begegnet war. Sofia, eine schwarzäugige, temperamentvolle Schönheit, hatte sein Herz im Sturm erobert. Ohne langes Nachdenken hatte Michael seine Zelte in Deutschland abgebrochen und war in Las Palmas geblieben, um dort mit Sofia zu leben. An der Universität Las Palmas de Gran Canaria fand er schnell eine Anstellung. Als Leiter eines Lehrstuhls widmete er sich von nun an der Lehre und Forschung. Ihn hätte es gefreut, wenn Alexander sein Medizinstudium in der kanarischen Heimat begonnen hätte. Aber davon wollte sein Sohn nichts wissen. München sollte es für ihn sein. Stolz hatte er seinen Eltern die Zulassung präsentiert und angekündigt, dass er den Sommer nutzen würde, um sich eine Unterkunft zu suchen und ein paar Vorbereitungskurse zu belegen. Auch wenn es Sofia und Michael sehr schwerfiel, unterstützten sie seine ambitionierten Pläne. Das Wissen, dass die Verwandtschaft in München ein Auge auf ihren Sohn haben würde, half ihnen dabei.
*
Am nächsten Tag fuhr Anneka Norden nach der Arbeit zum Bahnhof, um Rosa abzuholen. Ein wenig aufgeregt wartete sie auf dem Bahnsteig. Seit sie Rosa das letzte Mal gesehen hatte, waren zwei lange Jahre vergangen. Jahre, in denen sich die Menschen veränderten und sich fremd werden konnten. Doch als der ICE schließlich einlief und sie Rosa am Fenster entdeckte, verschwand ihre Anspannung und sie freute sich einfach über das Wiedersehen. Nur wenig später lagen sie sich in den Armen. Nichts hatte sich verändert. Die alte Vertrautheit hatte nicht unter der verstrichenen Zeit gelitten. Sie waren immer noch Freunde: die blonde Anneka und die hübsche Rosa mit ihren dunklen Haaren und den gefühlvollen Augen, die heute müde und traurig aussahen.
»Es tut mir so leid für deine Schwester«, sagte Anneka mitfühlend. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das für dich sein muss. Wie geht es dir?«
»Nicht so gut«, erwiderte Rosa leise. »Vielleicht wird‘s irgendwann leichter werden. Aber im Moment …«
»Ich weiß«, sagte Anneka und betrachtete besorgt ihre Freundin, die mühsam um Fassung rang. »Wollen wir irgendwo einen Kaffee trinken oder eine Kleinigkeit essen?«
»Danke, aber ich würde jetzt eh nichts runterbekommen. Ich möchte lieber gleich in die Klinik fahren, um meine Nichte kennenzulernen. Außerdem …«
Rosa seufzte und verzog dabei gequält den Mund.
»Außerdem wollte ich mich dort mit Leo treffen.«
»Du hast ihn also gestern doch noch erreichen können.« Anneka war überrascht. An Leo Glaser, einen aufstrebenden Popstar mit einem wachsenden Bekanntheitsgrad heranzukommen, war sicher nicht einfach gewesen.
»Ja, ich hatte noch eine alte Handynummer von ihm gefunden. Ich hätte nicht gedacht, dass die überhaupt noch aktuell ist.«
»Und … und wusste er schon von …«
»Nein. Er hat es erst von mir erfahren. Leo wirkte ehrlich betroffen. Ich glaube, auf seine Art hat er sie wirklich geliebt.«
»Hast du etwas anderes erwartet?«, fragte Anneka erstaunt. »Immerhin sind die beiden seit vielen Jahren zusammen gewesen. Ich hätte mich eher gewundert, wenn es ihn kaltgelassen hätte.«
»Mich nicht«, entfuhr es Rosa bitter. Um ihre Worte abzumildern, fügte sie mit einem Achselzucken hinzu: »Du weißt ja, dass ich nicht viel von ihm halte und eher schlecht von ihm denke. Vielleicht zu Unrecht, wäre ja möglich, dass sich Leo in den letzten Jahren geändert hat.«
»Ja, vielleicht.« Beide klangen nicht überzeugt.
Auf der Fahrt zur Klinik erzählte Anneka von dem Angebot ihrer Eltern. »Es wäre wirklich schön, wenn du bei mir wohnen würdest, aber ich habe momentan ganz schreckliche Arbeitszeiten mit ständig wechselnden Diensten. Du wärst die meiste Zeit allein oder müsstest durch die Wohnung schleichen, weil ich gerade am Schlafen bin. Selbst jetzt …« Anneka seufzte laut auf. »Selbst jetzt kann ich nicht so lange bei dir bleiben, wie ich möchte. Wenn ich dich zu meiner Mutter gebracht habe, muss ich gleich wieder zum Dienst.«
»Hört sich ziemlich hart an.«
»Ja, manchmal. Die Arbeit macht mir Spaß, so ist es nicht. Aber mein eigenes Leben kommt oft zu kurz. Und gerade jetzt, wo eine gute Freundin meine Hilfe braucht, bedauere ich das sehr.«
»Anneka, bitte, mach dir keine Gedanken. Ich schaffe das schon. Für mich ist es kein Problem, ein Hotelzimmer zu nehmen.«
»Das weiß ich, aber mir wäre wohler, wenn du die Einladung meiner Eltern annehmen würdest. Wohne bei ihnen, solange du in München bist. Bitte, tu mir den Gefallen! Zieh bei meinen Eltern ein! Die nächsten Tage werden hart genug für dich werden. Da könntest du ein bisschen Ablenkung und mütterliche Zuwendung gut vertragen.«
»Mütterliche Zuwendung?«
»Ja, meine Mutter hat genug davon zu bieten. Sie wäre sehr froh, wenn sie endlich mal wieder jemanden im Hause hätte, den sie damit überschütten könnte. Bei den Zwillis hat sie sich schon ausreichend ausgetobt.«
Rosa lachte leise, verstummte dann aber schnell, als ihr einfiel, dass es für sie keinen Grund gab, fröhlich zu sein. Ihre Schwester war gestorben. Das Einzige, das sie noch für sie tun konnte, war zu trauern.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Anneka behutsam. Sie drückte Rosas Hand.
»Ja, ja … natürlich. Wenn man davon absieht, dass Bianka …« Rosa schluckte die aufkommenden Tränen runter und sprach dann gefasster weiter: »Ich nehme sehr gern die Einladung deiner Eltern an. Danke, Anneka. Die Vorstellung, allein in einem ungemütlichen Hotelzimmer zu sitzen, macht mir tatsächlich etwas Angst.«
Anneka war erleichtert, dass Rosa so schnell nachgab. Sie hatte mit größerem Widerstand gerechnet. Rosa war immer die Vernünftige, Starke gewesen, die sich keine schwachen Momente erlaubt hatte. Anders als ihre Schwester Bianka, die gern mal über die Stränge geschlagen und weder die Schule noch das Leben an sich besonders ernst genommen hatte. Von ihren Eltern wurden ihr kaum Grenzen gesetzt. ›Genieße das Leben, solange du kannst!‹, lautete deren Philosophie, an die sie eisern festhielten. Niemand hatte sich damals gewundert, als sie ihr Hab und Gut zusammenpackten und mit ihrem Segelboot in See stachen, kaum dass die Töchter aus dem Haus waren. Seitdem war Rosa auf sich allein gestellt. Ein harmonisches Familienleben, so wie Anneka es kannte, war Rosa fremd. Und in Augenblicken wie diesen musste Rosa das besonders schmerzlich vermissen.
Fee Norden erwartete die beiden Freundinnen vor der Kinder-ITS. Anneka blieb kaum die Zeit für eine richtige Begrüßung. Sie versprach, sich am Abend telefonisch bei Rosa zu melden, und lief dann los, um pünktlich zu ihrem Spätdienst zu kommen.
Rosa sah ihr nach. »Annekas Job scheint ziemlich hart und anspruchsvoll zu sein.«
Fee nickte. »Das Gleiche habe ich auch gerade gedacht«, gab sie zu. Als sich die Fahrstuhltüren hinter ihrer Tochter schlossen, drehte sie sich lächelnd zu Rosa um und wies auf die breite Flügeltür, die den Klinikflur von der Intensivstation trennte. »Wollen wir? Sie möchten doch bestimmt Ihre kleine Nichte kennenlernen.«
»Ja, natürlich. Aber vor allem möchte ich, dass Sie mich weiterhin duzen, Frau Norden. Bitte, tun Sie mir den Gefallen. Das Du hört sich für mich vertraut an, beim Sie … ich würde mich Ihnen dann sehr fremd fühlen.«
»Ich weiß, was du meinst, Rosa. Natürlich erfülle ich dir gern diesen Wunsch.« Spontan zog Fee die Freundin ihrer Tochter in die Arme. »Es tut uns allen schrecklich leid, was deiner Schwester passiert ist. Du sollst wissen, dass wir für dich da sind. Du musst das nicht allein durchstehen.«
»Danke«, schniefte Rosa leise. »Das bedeutet mir sehr viel.«
Als sich Rosa aus der Umarmung löste, griff Fee nach ihrer Hand und ging mit ihr auf die Kinder-ITS. Rosa zog sich die Schutzkleidung an, die hier Vorschrift war, und fragte: »Wie geht es Lina eigentlich? Sie ist doch gesund, oder?«
»Ja, keine Sorge. Dass sie noch hier liegt, verdankt sie einer überbesorgten Kinderärztin.« Damit zeigte sie lächelnd auf sich. »Lina geht es wirklich sehr gut. Sie saß beim Unfall wohlbehütet in ihrem Babysitz. Es könnte sein, dass sie ein leichtes Schleudertrauma davongetragen hat. Bei Autounfällen kommt das sehr häufig vor. Nun kann ein Baby uns natürlich nicht sagen, welche Beschwerden es hat. Wir können in diesem Fall nur Vermutungen anstellen und unsere Hoffnung auf die modernen medizinischen Geräte legen, die uns bei der Diagnosestellung helfen sollen.«
»Und haben sie das getan?«
»Sie haben uns zumindest gesagt, dass Lina keine schwerwiegenden Verletzungen hat. Ein Schleudertrauma, also eine Stauchung der Halswirbelsäule, können sie leider nicht zuverlässig anzeigen.«
»Deshalb also die Unterbringung auf der ITS.«
Fee zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Und natürlich auch, weil wir hier mehr Zeit für sie haben. Die Kleine ist einfach bezaubernd. Du wirst von ihr begeistert sein.«
»Sind nicht alle Babys bezaubernd?«, fragte Rosa lächelnd. »Ich kenne jedenfalls keins, für das das nicht zutrifft.«
»Und mit Babys weißt du ja bestens Bescheid. Anneka erzählte, dass du als Erzieherin in einer Kinderkrippe arbeitest.«
Mehr als ein stummes Nicken brachte Rosa nicht zustande.
Sie standen jetzt vor dem Bettchen, in dem Lina lag. Nie hätte sie vermutet, dass der Anblick ihrer kleinen Nichte sie so mitnehmen würde. Ein Baby war doch nichts Neues für sie! Es war ihr Job, sich an fünf Tagen in der Woche dieser kleinen hilflosen Wesen anzunehmen. Aber diesmal war es anders. Ganz anders. Lina war nicht irgendein Baby. Es war Biankas Tochter.
Als Fee die Kleine hochnahm und in Rosas Arme legte, war es um sie geschehen. Plötzlich brach alles aus ihr heraus: die Trauer über Biankas Tod, der Schmerz, sich nicht mit ihr versöhnt zu haben und die übergroße Freude, dass wenigstens dieses unschuldige Kind das Unglück überlebt hatte.
Rosa merkte nicht, dass sie zu weinen begonnen hatte. Für sie gab es nur noch dieses kleine Wunder in ihren Armen, das genau wie sie einen schweren Verlust erfahren hatte.
»Sie ist so wunderschön«, wisperte sie andächtig, als sie sich etwas beruhigt hatte.
»Ja, das ist sie«, erwiderte Fee bewegt. Die Szene ließ sie nicht kalt. Ganz im Gegenteil. Sie rührte sie so heftig, dass sie selbst Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Fee schämte sich dessen nicht. Auch nach all den Jahren als Ärztin nahm sie noch immer Anteil an den Schicksalen anderer. Dass sie sich nun zurückzog, war allein dem Umstand geschuldet, dass sie Rosa und Lina diesen besonderen Moment des Kennenlernens gönnte und nicht stören wollte.
»Meinst du, du kommst allein klar?«, fragte Fee. »Ich muss noch ein paar Telefonate führen, die nicht warten können.«
Rosa betrachtete mit verklärtem Blick ihre süße Nichte, weinte aber nicht mehr. »Ja, ja … Wenn ich hier einfach noch ein bisschen sitzenbleiben darf …«
»Natürlich, Rosa. Bleib, solange du möchtest. Das wird dir guttun und der kleinen Lina erst recht. Für die Eltern unserer Patienten gibt es selbst auf der ITS keine festen Besuchszeiten. Je häufiger die Kinder mit ihren Müttern oder Vätern zusammen sein dürfen, umso schneller werden sie gesund.«
»Aber ich bin nicht Linas Mutter«, rutschte es Rosa heraus.
»Im Augenblick bist du diejenige, die ihrer Mutter am nächsten kommt. Sie braucht dich jetzt, Rosa. Sie hat doch sonst niemanden.«
»Doch, ihren Vater. Obwohl …« Rosa warf Fee einen kummervollen Blick zu. »Ich will ehrlich sein, Frau Norden. Mein Vertrauen in Leos Fähigkeiten als Vater ist sehr gering. Allerdings wäre es möglich, dass ich ihm damit Unrecht tue. Vielleicht hat er sich ja geändert. Ich habe ihn in den letzten beiden Jahren nicht ein einziges Mal gesehen oder gesprochen … Genauso wenig wie Bianka, was ich jetzt aus tiefstem Herzen bereue. Ich hätte für sie da sein müssen …« Rosa begann wieder zu weinen, und Fee hockte sich schnell zu ihr, um sie zu trösten.
»Hätte Bianka das denn überhaupt gewollt oder zugelassen?«
Rosa schüttelte den Kopf. »Nein. Sie war es, die die Verbindung abgebrochen hat. Wir hatten schon früher nicht das beste Verhältnis gehabt. Deshalb fiel es uns auch so leicht, diesen endgültigen Bruch zuzulassen. Trotzdem habe ich oft gehofft, dass sie sich bei mir melden würde, damit wir den Streit beilegen können. Und nun frage ich mich, ob sie vielleicht das Gleiche gehofft hatte. Vielleicht hatte sie sich ja gewünscht, dass ich den ersten Schritt mache.« Rosa wischte sich die Tränen fort, als sie sagte: »Ach, ich wünsche mir so sehr, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich müsste mir dann nicht vorwerfen, es nicht wenigstens versucht zu haben.«
Fee wusste, es gab nichts, was sie sagen konnte, um Rosa zu trösten. Von ihren Schuldgefühlen musste sie sich allein befreien. Doch das konnte sie erst schaffen, wenn sie Frieden mit dem, was geschehen war, geschlossen hatte. Fee hoffte inständig, dass ihr das bald gelingen würde. Gefühle von Schuld und Reue konnten zermürbend sein und einem sensiblen Menschen wie Rosa jede Lebensfreude nehmen.
Als Fee hinausging, warf sie noch einen Blick zurück. Das, was sie sah, gab ihr die Hoffnung, dass Rosa ihren Kummer bewältigen würde. Die kleine Lina hatte das Herz ihrer Tante erobert. Sie würde Rosa die Kraft geben, mit dem Tod der Schwester fertigzuwerden.
*
Fee hatte erst eins ihrer Telefonate beendet, als es an ihrer Bürotür klopfte. Noch ehe sie darauf reagieren konnte, kam Schwester Gitta völlig aufgeregt ins Zimmer gelaufen. Fee, die sofort an einen Notfall dachte, sprang auf.
»Sie werden nicht glauben, wer gerade gekommen ist«, rief Gitta strahlend.
»Also kein Notfall?«
»Notfall?« Diese Frage bremste Gittas Euphorie ein wenig aus. Verwundert schüttelte sie den Kopf. »Wie kommen Sie denn auf einen Notfall?«
Fee setzte sich seufzend. »Sie stürmen mein Büro, sind völlig aus dem Häuschen und müssen mich das erst fragen?«
Gitta winkte ab. »Wenn Sie wüssten, wer hier ist, wären Sie auch aufgeregt.« Sie ließ ihrer Chefin keine Zeit für eine Antwort, sondern sagte strahlend: »Leo! Stellen Sie sich das bloß vor! Leo ist hier! Er ist hier in der Behnisch-Klinik! Auf unserer Station!«
»Leo?«, fragte Fee verständnislos. Sollte das etwa der Leo sein, von dem Rosa gesprochen hatte? Linas Vater?
Aber woher kannte Gitta ihn, und warum war sie seinetwegen so durcheinander?
»Ach, Frau Dr. Norden«, sagte Gitta, die genau wusste, worüber sich die Leiterin der Pädiatrie den Kopf zerbrach. »Jeder kennt doch Leo Glaser! Er ist mit drei Titeln in den Charts.«
»Charts? Ist er Musiker?«
»Sänger! Und nicht irgendein Sänger. Er ist ein Pop-Star und total süß!«
»Aha.« Fee musste schmunzeln, als sie feststellte, wie sehr Schwester Gitta einem verliebten Teenager ähnelte. »Und was will dieser Star hier?«
»Er sagte, dass er mit Rosa Makowski verabredet sei. Ich wollte ihr gerade Bescheid sagen, aber ich dachte, dass ich es Ihnen unbedingt zuerst erzählen muss.« Sie sah enttäuscht aus, als sie fortfuhr: »Aber da Sie ihn ja noch nicht mal kennen, hätte ich auch genauso gut zu Frau Makowski gehen können.«
»Schon gut, Gitta. Es war richtig, dass Sie es mir gesagt haben. Wo ist er jetzt? Im Besucherraum? Gut, denn ich muss auch noch mit ihm sprechen. Und Sie informieren bitte Frau Makowski über sein Kommen.«
Gitta war schon fast wieder draußen, als Fee sie aufhielt: »Eins noch, Gitta …« Fee sah Gitta ernst an, als sie weitersprach: »Sie informieren bitte nur Frau Makowski und nicht die ganze Klinik. Für sein Hiersein gibt es einen sehr ernsten Grund. Er ist nicht gekommen, um von Fans umlagert zu werden oder Autogramme zu geben.«
Gitta schaute betrübt drein. Zu gern hätte sie jetzt wenigstens ihrer Freundin Lore, die auf der Inneren als Schwester arbeitete, von Leo Glaser erzählt.
Doch Frau Norden hatte so streng geklungen, dass Gitta es noch nicht mal in Erwägung zog, sich heimlich ihrer Anweisung zu widersetzen. Deshalb eilte sie schnurstracks zu Rosa Makowski, die noch immer bei der kleinen Lina war.
Zu Gittas großer Verwunderung schien sie über Leo Glasers Ankunft nicht besonders erfreut zu sein. Sie verabschiedete sich mit einem wehmütigen Lächeln von ihrer Nichte und eilte dann hinaus, ohne zu verbergen, wie wenig sie von einem Treffen mit Leo hielt. Für Gitta war das völlig unverständlich. Kopfschüttelnd sah sie Rosa nach. Erst Frau Norden, die keine Ahnung hatte, wie berühmt Leo Glaser war, und nun auch noch Frau Makowski, die ihre Abneigung kaum verbarg.
Rosa betrat den kleinen Besucherraum, der zur Kinder-ITS gehörte. Kurz vor ihr musste Fee Norden angekommen sein. Rosa hörte, wie sie sich Leo vorstellte, ihm ihr Beileid ausdrückte und dann sagte: »Es ist gut, dass ich mit Ihnen sprechen kann, Herr Glaser. Uns fehlen noch wichtige Angaben zu Linas Krankengeschichte. Wir müssen unbedingt wissen, ob es Vorerkrankungen gibt oder wie der Impfstatus ist. Im Moment kennen wir noch nicht mal Linas Geburtsdatum.«
»Und wie kommen Sie darauf, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann?«, fragte Leo abweisend.
»Nun, ich dachte Sie als Linas Vater …«
»Moment mal!«, unterbrach Leo sie unwirsch. Sein Blick fiel auf Rosa. »Hast du etwa behauptet, dass ich der Vater bin? Wie kommst du dazu?«, blaffte er sie an.
»Wie ich dazu komme?«, fragte Rosa fassungslos. »Bianka und du, ihr wart ein Paar …«
»Schon lange nicht mehr«, erwiderte Leo. »Und was das Kind angeht: Ich stehe nicht als Vater auf der Geburtsurkunde.«
»Wenn nicht du, wer dann?«, fragte Rosa scharf zurück.
»Keine Ahnung. Niemand, glaube ich. Komm, Rosa, lass uns vernünftig darüber reden.« Mit einem Seitenblick auf Fee Norden sagte er: »In Ruhe, unter vier Augen. Entschuldigung, Frau Doktor, aber das hier ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«
Fee hatte sich nach den wenigen Worten, die sie mit Leo Glaser gewechselt hatte, schnell eine Meinung zu ihm gebildet. Und die war nicht die beste. Sie besaß eine exzellente Menschenkenntnis und war bereits zu der Überzeugung gelangt, dass dieser gutaussehende junge Mann als Vater denkbar ungeeignet war. Es fehlte ihm an der nötigen Charakterstärke, um die Verantwortung für ein Kind übernehmen zu können. Deshalb war sie fast erleichtert, als er nun die Vaterschaft bestritt, auch wenn sie ihm nicht glaubte.
»Ich lasse Sie gern mit Rosa allein, damit Sie über alles reden können. Wir brauchen nämlich dringend ein paar Informationen zu Lina. Rosa, vielleicht hast du mehr Glück als ich, die von Herrn Glaser zu bekommen. Und du solltest dich auch bei der Polizei melden, damit sie dir Biankas Sachen aushändigen. Fahr in ihre Wohnung und versuch, den Impfausweis von Lina zu finden.« Sie sah streng zu Leo Glaser rüber, als sie sagte: »Oder Linas Geburtsurkunde. Vielleicht findet sich da ein Vermerk zum Kindesvater. Das Jugendamt wird das wissen wollen, um einen Vormund für Lina festzulegen.«
»Vormund?«, fragte Leo nun sichtlich nervös.
»Ja, irgendjemand muss Linas Interessen vertreten. Ihre Mutter kann es nicht mehr. Entweder wird nun das Jugendamt als Vormund eingesetzt oder ein naher Verwandter. Im günstigsten Fall der Vater. Aber da wir im Moment nicht wissen, wer das ist …«
Rosa nickte. Dann sah sie schweigend zu, wie sich Fee mit einem knappen Gruß von Leo verabschiedete und in ihr Büro zurückkehrte.
»Puh!«, sagte Leo. »Die war ja anstrengend!«
»Frau Dr. Norden macht nur ihren Job«, schoss Rosa sofort zurück. »Einen ausgezeichneten Job, wenn du mich fragst. Schließlich ist sie diejenige, die sich um Lina kümmert, seit sie hier ist.«
»Ja, das weiß ich doch.« Leo fuhr sich mit einer Hand durch seine blonden Haare, die er jetzt länger trug als früher und die ihm immer wieder ins Gesicht fielen. Er war braungebrannt und erinnerte Rosa an einen unbekümmerten, stets gut gelaunten Surfer, als er ihr nun sein umwerfendes Lächeln schenkte. »Ich freue mich, dich wiederzusehen, Rosa. Du hast mir gefehlt. Und du siehst einfach toll aus. Wow, wer hätte gedacht, dass du noch hübscher werden könntest …«
»Was soll das denn? Flirtest du etwa mit mir? Besitzt du denn gar keinen Anstand? Meine Schwester ist keine vierundzwanzig Stunden tot, ihr Baby liegt auf der Intensivstation, und dir fällt nichts Besseres ein, als mich anzubaggern?«
Leo hob abwehrend die Hände. »He, kein Grund, hier eine Show abzuziehen. Du musst mich nicht so angreifen. Es tut mir leid für deine Schwester. Wirklich! Aber deswegen darf ich dir doch wohl sagen, dass ich dich vermisst habe.«
»Nein, das darfst du nicht. Nicht nach dem, was damals vorgefallen ist!«
»Jetzt übertreib mal nicht! So schlimm war das Ganze gar nicht. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken und dann mein Glück bei dir probiert. Es war nur ein harmloser Kuss. Ich bin auch nur ein Mann! Dass das dann so unschön endete, war allein deine Schuld. Machst einen Riesenaufstand, knallst mir eine und rennst anschließend zu Bianka, um ihr alles zu erzählen.«
»Was hast du denn erwartet? Dass ich kein Wort darüber verlieren würde?«
»Wäre vielleicht besser gewesen«, sagte Leo locker. »Du siehst ja, was es dir gebracht hat: Dich hat sie verdammt und mir hat sie großzügig verziehen.«
Rosa spürte wieder die alte Wut über diese Ungerechtigkeit in sich aufsteigen. Als Leo sie damals geküsst hatte, hatte sie sofort Bianka von seinem Verrat erzählt. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Leo es mit der Treue nicht so ernst genommen hatte. Es hatte zahlreiche andere Mädchen gegeben, mit denen er sich amüsierte, wenn Bianka gerade nicht in der Nähe war. Natürlich war es ihr nicht verborgen geblieben, aber sie hatte Leo immer wieder verziehen. Selbst als Leo es dann bei Rosa versuchte, blieb das ohne Folgen für ihn. Doch die ohnehin schon schwierige Beziehung der Schwestern überlebte Leos Verrat nicht. Bianka war auf Rosa losgegangen und hatte sie beschuldigt, es darauf angelegt zu haben. Die Auseinandersetzung, die dann folgte, war heftiger gewesen als alle Streitereien zusammen, die die beiden ungleichen Schwestern je ausgetragen hatten. Es sollte ihr letzter Streit gewesen sein. Bianka hatte sich von ihr abgewandt. Sie hatte fest zu Leo gehalten, dem das Zerwürfnis der beiden Frauen kein bisschen leidgetan hatte. Rosa hatte sich damals geschworen, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln. Und doch stand sie nun hier.
»Wir müssen über Lina reden«, sagte Rosa steif. »Bist du nun ihr Vater oder nicht?«
Leo setzte sich auf die Lehne eines Stuhls und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen glitten langsam an Rosas Körper herab. »Das erfährst du, wenn du mit mir essen gehst.«
Verblüfft riss Rosa den Mund auf. »Spinnst du? Du verlangst, dass ich mit dir ausgehe?«, brachte sie schließlich konsterniert heraus.
»Klar. Was erwartest du denn von mir? Dass ich dir hier alles offenbare, obwohl du mir deutlich zeigst, wie sehr du mich verabscheust? Wenn du von mir wissen willst, wer Linas Vater ist, musst du mir schon ein bisschen entgegenkommen. Geh mit mir essen. Bitte, Rosa.« Er hatte sich aufs Bitten verlegt und setzte dazu sein charmantestes Lächeln ein. Mit diesem Lächeln hatte er es immer wieder geschafft, Bianka einzuwickeln. Er konnte nicht wissen, dass Rosa immun war.
»Wir können nach unten in die Cafeteria gehen und einen Kaffee trinken«, machte sie ihm trotzdem ein Angebot.
»Nein, nicht die Cafeteria«, schmetterte Leo ihren Vorschlag ab. »Ich habe wirklich keinen Bock auf einen Haufen Fans, der mich dort belagert und sich fragt, was ich in einer Klinik mache. War schon schwer genug gewesen, mich hier unerkannt einzuschleichen.«
»Ja, du hast wirklich ein hartes Leben.«
»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen. Du weißt nichts von meinem Leben und wie schwer ich dafür schuften muss. Aber ich will mich gar nicht beklagen. Es gefällt mir, so wie es ist. Ich bin erfolgreich und habe gerade einen neuen Plattenvertrag abgeschlossen. Für mich kann es gar nicht besser laufen.«
»Wenn man mal von der Kleinigkeit absieht, dass deine Freundin gestern gestorben ist und deine Tochter ihre Mutter verloren hat. Ach, entschuldige, ich vergaß, dass Lina ja gar nicht dein Kind ist und Bianka nicht mehr deine Freundin war.« Wütend funkelte sie ihn an.
»Siehst du! Schon wieder greifst du mich an. Du hast dir ein Urteil über mich gebildet, von dem du nicht abrücken willst. Mein Gott, was willst du denn von mir hören? Dass mir die Sache von damals leidtut? Ja, ich bedauere, dass du dich mit Bianka überworfen hast. Zufrieden? Aber der Kuss, der tut mir nicht leid.«
Damit hatte Rosa nicht gerechnet. Leo soll es tatsächlich bedauern, dass es diesen Streit zwischen ihr und Bianka gab? Das konnte sie ihm nicht glauben. Stumm sah sie zu, wie er seine Jacke anzog, die er auf einem der Besucherstühle abgelegt hatte, und die Kapuze aufsetzte.
»Geh morgen Abend mit mir essen, Rosa. Ich verspreche dir, du wirst deine Antworten bekommen.«
Als Rosa nickte, lächelte er. »Ich habe deine Nummer und schick dir nachher eine Nachricht, wo wir uns treffen.«
Er zog seine Kapuze tief ins Gesicht, bevor er ging.
*
Leo wusste, dass er einen Sieg errungen hatte, der ihm den restlichen Tag versüßen würde. Noch vor Kurzem hätte er es nicht für möglich gehalten, dass Rosa Makowski jemals wieder mit ihm reden würde. Und nun ging sie sogar mit ihm essen. Natürlich war es keine romantische Verabredung, und der Anlass war ziemlich tragisch. Aber trotzdem war er glücklich. Nun würde alles gut werden. Die Probleme, die ihn quälten, seit er gestern von Biankas Unfall erfahren hatte, wogen nun weniger schwer.
Rosas Auftauchen hatte ihn von einer schweren Last befreit. Mit ihr an seiner Seite würde alles leichter zu ertragen sein. Rosa war tüchtig und klug. Sie würde ihm den Rücken freihalten, wie Bianka es immer getan hatte. So konnte er sich wieder auf die Dinge konzentrieren, die ihm wirklich wichtig waren. Und er würde sogar ein wenig Zeit mit Rosa verbringen. Leo lächelte. Er wusste schon ganz genau, wie er diese Zeit nutzen würde.
Leos Hochgefühl hielt an, bis er in seinem Sportwagen saß und vom Parkplatz der Behnisch-Klinik fuhr. Dann verflog es so schnell, wie es gekommen war. Stattdessen spürte er wieder diesen eigenartigen Druck in seiner Magengegend und das Gefühl von Trauer im Herzen. Bianka war tot. Wie lange würde es dauern, bis er es wirklich glauben konnte? Bianka hatte immer zu seinem Leben dazugehört. Sie waren schon in der Schule zusammengekommen. Bianka war ein Teil von ihm gewesen, und er wusste, er würde sie vermissen. Aber er musste nach vorn schauen und durfte seinen Fokus nicht verlieren. Dafür hatte er in den letzten Jahren zu hart gearbeitet. Im Moment musste sich alles um seine Karriere drehen. Für Bianka konnte er nichts mehr tun. Bei Lina sah das allerdings anders aus. Sie war seine Tochter, ob ihm das nun gefiel oder nicht. Er war gegen diese Schwangerschaft gewesen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es das Baby nie gegeben. Aber es war nicht nach ihm gegangen. Bianka hatte ihn irgendwann mit der Tatsache, dass er Vater wurde, konfrontiert. Sie hatte ihn hereingelegt. So einfach war das. Wütend hatte er damals seine Koffer gepackt und war zu seiner Deutschlandtour aufgebrochen.
Natürlich hatten sie sich wieder versöhnt. Das hatten sie immer getan, ganz egal, wie heftig ihr Streit auch war. Aber diesmal war es anders gewesen. Sie hatten nicht mehr zu ihrer alten Vertrautheit zurückfinden können. Dieser letzte Streit hatte seine Spuren hinterlassen, die sich nicht mit heißen Küssen verwischen ließen. Und nun war Bianka nicht mehr da, und es gab Lina, für die er in irgendeiner Weise verantwortlich war. Und wieder spürte er dieses eisige Gefühl in seinem Magen, das nur nachließ, wenn er an Rosa dachte. Rosa, die jetzt für ihn da sein musste.
Wie von selbst hatte ihn sein Wagen nach Schwabing gebracht, wo noch immer seine Eltern lebten. Als er vor dem kleinen Reihenhäuschen anhielt, wäre er am liebsten wieder umgekehrt. Das Haus erinnerte ihn zu sehr an ein Leben, das er längst hinter sich gelassen hatte. Er war diesem kleinkarierten, spießigen Vorstadtmief vor etlichen Jahren entflohen. Es gab nicht viel, was ihn hierher zurückzog. Dass er nun trotzdem hergefahren war, wunderte ihn am meisten. Doch da er schon mal hier war, stieg er aus und ging den schmalen, gepflasterten Weg entlang, der zur Eingangstür führte.
»Deine Eltern sind nicht da«, schallte es plötzlich vom Nachbargrundstück zu ihm herüber. Die Stimme war ihm gut vertraut. Grinsend machte er kehrt und ging nach nebenan.
»Niklas! Toll, dich zu sehen!«
Niklas Harrmann war aus dem Haus, das zur linken Seite an das Glaser-Grundstück grenzte, getreten.
»Ich freu mich auch, Leo. Wolltest du deine Eltern besuchen?«
»Ja, wird wohl mal wieder Zeit.« Leo sah zu dem Freund aus alten Tagen auf. Niklas überragte ihn um einen halben Kopf und war um einiges muskulöser als in Leos Erinnerung. »Du ruderst wohl immer noch«, schlussfolgerte Leo richtig. »Wann klappt’s denn mal mit der Olympiateilnahme?«
»Gar nicht. Rudern ist seit Jahren nur noch ein Hobby für mich. Den Leistungssport habe ich doch aufgegeben, als ich mit dem Studium begann.«
»Ach ja, stimmt, dein Studium. Irgendetwas auf dem Bau, oder?«
Niklas nickte. »Bauingenieurwesen. Ich habe vor drei Jahren meinen Abschluss gemacht.«
»Und jetzt schuftest du auf einer Baustelle? Klingt ziemlich öde.«
»Nicht für mich«, erwiderte Niklas leicht verletzt. Doch er hatte sich schnell wieder im Griff. Mit einem freundlichen Lächeln sagte er: »Aber ich gebe zu, deine Musikerkarriere ist wahrscheinlich spannender. Es ist schön, dass du so erfolgreich bist. Sämtliche Radiosender spielen deine Titel rauf und runter. Selbst, wenn man wollte, könnte man sich dem nicht entziehen.«
»Ich hoffe, du willst nicht.«
Niklas lachte jetzt offen. »Natürlich nicht. Du weißt doch, dass wir den gleichen Musikgeschmack haben. Deine Musik gefällt mir, und ich bin stolz darauf, mich als deinen ehemaligen besten Freund outen zu dürfen.« Niklas zwinkerte ihm zu. »Das macht sehr viel Eindruck bei den Mädels.«
»Mädels? Du hast also noch nicht die Eine gefunden?«
Niklas zuckte die Schultern. »Ich bin immer noch Single. Hat halt nicht jeder so viel Glück wie du. Apropos – wie geht es Bianka und der Kleinen?«
Leo setzte zu einer Antwort an und merkte plötzlich, wie schwer es war, die Wahrheit auszusprechen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, fast so, als würde es erst dadurch wahr werden. Er verstand es nicht.
Vorhin, mit Rosa, konnte er darüber reden, als würde es ihn nicht berühren. Warum war das jetzt mit Niklas anders? Lag es daran, dass niemand ihn so gut kannte wie Niklas? Niklas und er waren über viele Jahre ein eingeschworenes Team gewesen. Ihm hatte Leo nie etwas vormachen können. Sie hatten sich so nahegestanden wie Brüder. Die erste Band hatten Leo und Niklas gemeinsam gegründet. Niklas hatte sich irgendwann von der Musik zurückgezogen und sich seiner zweiten Leidenschaft, dem Rudern, zugewandt. Das war der Moment, in dem sie sich voneinander entfernt hatten. Anfangs so wenig, dass es ihnen kaum auffiel, bis später auch ihre Freundschaft litt.
»Was ist los?«, fragte Niklas besorgt, als das Schweigen zu lange andauerte.
Leo musste sich erst umständlich räuspern, bevor er sprechen konnte. »Bianka … sie hatte einen Unfall … gestern … Sie … sie ist …« Er brach wieder ab.
»Leo! Was ist mit Bianka? Ist sie verletzt?«
»Tot«, brachte er mühsam heraus. »Sie ist tot.«
Leo fand erst in die Wirklichkeit zurück, als Niklas ihm eine Tasse Kaffee reichte. Sie saßen in der kleinen Küche der Harrmanns, und Leo hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war.
»Geht’s wieder?«, fragte Niklas mitfühlend, sah dabei aber aus, als würde er selbst gleich zusammenbrechen.
Leo nickte. »Ja, ja … natürlich. Ich weiß auch nicht, was vorhin mit mir los war.«
»Das fragst du dich tatsächlich?« Niklas schüttelte verwundert den Kopf. »Mann, Leo, Bianka ist tot. Da ist es doch wohl ganz natürlich, dass es dir die Füße weggezogen hat. Ich bin ja schon ziemlich fertig. Wie mag es dir da erst ergehen!«
Ja, Niklas sah wirklich sehr mitgenommen aus, fand Leo. Die Nachricht von Biankas Tod hatte auch ihn geschockt. Bianka und Niklas hatten sich immer gut verstanden. Sie sei zu gut für Leo, hatte Niklas einmal in seinem Beisein zu ihr gesagt. Er hatte es wie einen Scherz klingen lassen, aber Leo wusste, wie ernst es Niklas gemeint hatte.
»Was ist mit Lina? War sie bei dem Unfall etwa dabei?«
»Ja, aber ihr geht es wohl ganz gut. Sie liegt in der Behnisch-Klinik.«
»Sie ist in der Klinik? Dann ist sie verletzt?«
»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht! Sieh mich nicht so entsetzt an. Ich hatte in dem Moment ganz andere Sorgen. Ihr wird es schon gutgehen. Wenn nicht, hätte man mir das sicher gesagt.« Er klang gereizt, und als er sah, wie Niklas deswegen die Stirn runzelte, steigerte das seine schlechte Laune. Warum nur erwarteten immer alle von ihm, ein guter aufopferungsvoller Vater zu sein? Niemand konnte das von ihm verlangen! Er hatte es sich nicht ausgesucht, ein Kind in die Welt zu setzen.
»Wo sind eigentlich deine alten Herrschaften?«, fragte er, um nicht mehr über Lina sprechen zu müssen.
»Bei einem Ausflug mit dem Kegelverein, zusammen mit deinen Eltern.«
»Und was machst du hier? Ich dachte, du hättest inzwischen eine eigene Wohnung.«
»Habe ich auch. Ich war nur hier, um den Klempner reinzulassen.« Niklas betrachtete seinen Freund aufmerksam. »Wir müssen nicht über Bianka reden, wenn du es nicht möchtest. Aber solltest du jemanden brauchen, der dir zuhört, bin ich für dich da. Oder wenn ich dir sonst irgendwie helfen kann …«
»Helfen? Wobei?«
»Nun, äh … also, bei der Beerdigung zum Beispiel. Und dann musst du sicher Biankas Wohnung auflösen und den ganzen Papierkram erledigen. Und vor allem musst du dich um Lina kümmern. Du wirst einiges organisieren müssen. Du sollst nur wissen, dass ich für dich da bin, falls du Hilfe brauchst.«
»Danke, Niklas. Aber ich denke, das wird nicht nötig sein. Rosa ist da. Sie kümmert sich um alles.«
»Rosa? Biankas kleine Schwester?«
»Ja, die Polizei hat sie nach dem Unfall verständigt. Rosa hat alles im Griff. Ich halte mich da am besten raus.«
»Das ist doch nicht dein Ernst! Ihr wart acht Jahre zusammen, habt ein gemeinsames Kind, und du tust, als würde dich das alles nichts angehen?«
Leo schob seine Kaffeetasse so schwungvoll zurück, dass sie umfiel und sich ihr Inhalt über den Tisch ergoss. Aufgebracht sprang er auf. »Was erwartest du denn? Dass ich plötzlich den liebenden Vater spiele und sie zu mir nehme?«
Niklas nickte ungerührt. »Ja, eigentlich schon. Schließlich ist sie deine Tochter, und du bist für sie verantwortlich.«
»Ich habe diese Verantwortung nie gewollt! Ich habe dieses Kind nie gewollt! In meinem Leben ist kein Platz für ein Baby! Soll ich sie etwa mit auf die Bühne nehmen oder ein Kinderbett in den Tourbus stellen?«
»Für den Anfang wäre es gut, dir überhaupt mal Gedanken zu machen, wie es weitergehen soll. Und ob es dir gefällt oder nicht, du musst dir irgendetwas einfallen lassen.« Niklas holte einen Lappen, um den Tisch abzuwischen.
Leo wandte sich ab und ging zum Küchenfenster hinüber. Während er hinausschaute und sich etwas beruhigte, dachte er nach. Niklas hatte recht. Er konnte seine Tochter nicht ignorieren. Auch wenn er sie nie gewollt hatte, musste er irgendetwas für sie tun. Wenn er nur wüsste, was! Er sah zu seinem Elternhaus hinüber. Das helle Sonnenlicht blendete ihn, und er kniff die Augen zusammen. Vielleicht wäre das ja die Lösung? Seine Eltern könnten Lina bei sich aufnehmen, und er hätte den Kopf frei für seine Musik. Dabei verdrängte er den Gedanken, dass seine Eltern bisher kein großes Interesse an ihrem Enkelkind gezeigt hatten. Sie würden ihm den Gefallen sicher erweisen. Immerhin war er ihr einziges Kind. Sie liebten ihn und hatten ihn immer unterstützt. Warum sollte sich das plötzlich geändert haben? Jetzt, da er auf dem Weg nach oben war. So kurz vor dem Ziel durfte er sich keine Ablenkungen erlauben. Er musste sich voll und ganz auf seine Karriere konzentrieren. Das Business war hart. Es gab genügend andere Musiker, die nur darauf warteten, seinen Platz einzunehmen. Wenn er sich nur einen kleinen Fehler erlaubte, würde er schnell wieder in der Versenkung verschwinden, und die ganze Mühe wäre umsonst gewesen.
Leo drehte sich zu Niklas um: »Weißt du, wann unsere Eltern von ihrem Kegelausflug zurückkommen?«
*
Als Rosa am nächsten Morgen erwachte, brauchte sie eine Weile, bis sie erkannte, dass sie im Haus der Nordens war. Und zur gleichen Zeit fiel ihr auch der traurige Grund dafür ein. Bianka! Die Trauer kam so plötzlich und heftig, dass sich Rosas Brustkorb schmerzhaft zusammenzog und sie Mühe hatte, Luft zu holen. Bianka lebte nicht mehr! Es war zu spät, um ihren alten Streit beizulegen und sich zu versöhnen. Zu spät für einen Neuanfang. Der Tod war endgültig. Es gab nichts, was sie tun konnte, um alles wieder in Ordnung zu bringen.
Rosa blinzelte die Tränen fort und sah sich um. Sie musste es schaffen, sich von ihrem Kummer abzulenken, um nicht zusammenzubrechen. Fee hatte ihr Annekas altes Zimmer gegeben und so dafür gesorgt, dass sich Rosa weniger fremd vorkam. Hier hatte sie in ihrer Jugend viel Zeit mit ihrer Freundin verbracht. Sie hatten zusammen gelernt, gelacht, über Jungs oder den ersten Liebeskummer gesprochen. Rosa fühlte sich sofort in alte Zeiten versetzt, obwohl es hier kaum noch etwas gab, was daran erinnerte. Die heißgeliebten Poster waren längst von den Wänden verschwunden, und die Möbel waren neu. Und doch fühlte sich Rosa geborgen und auf wundersame Weise heimisch. Der Grund dafür wurde ihr schnell klar: Es war weniger das Zimmer, sondern die Menschen in diesem Haus, die ihr das Gefühl gaben, willkommen zu sein. Dieses Gefühl verstärkte sich, als sie hinunter in die Küche kam und den hübsch gedeckten Frühstückstisch sah.
»Guten Morgen, Rosa«, wurde sie von Fee und Daniel mit einem so herzlichen Lächeln begrüßt, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Plötzlich konnte sie ihren Schmerz beiseite schieben, um einen Blick auf die schönen Dinge im Leben zu erhaschen. Es war ein wundervoller Sommertag, durch das geöffnete Fenster drang das fröhliche Gezwitscher der Vögel hinein, und von dem farbenprächtigen Blumenstrauß, der auf dem Tisch stand, ging ein betörender Duft nach sommerlicher Unbeschwertheit aus. Wie von selbst hoben sich Rosas Mundwinkel zu einem Lächeln, als sie sich setzte und in Richtung der Blumen schnupperte.
»Herrlich«, sagte sie begeistert.
»Nicht wahr?«, stimmte ihr Fee zu. »Ich habe sie gerade erst aus dem Garten geholt. So frisch geschnitten duften sie besonders intensiv.«
Wenig später gesellte sich auch Dési zu ihnen. Sie brachte ihren Guten Morgen-Gruß nur gähnend zustande und maulte: »Janni hat’s gut. Er kann heute ausschlafen.« Dankbar nahm sie den Kaffee entgegen, den Fee ihr anbot, und fragte dann Rosa: »Was machst du heute? Besuchst du wieder deine Nichte?«
»Ja, aber erst später. Heute Vormittag habe ich einen Termin beim Bestatter. Ich muss die Beerdigung organisieren. Ich hatte keine Ahnung, wie viel da auf mich zukommen würde.«
»Wenn du dabei Unterstützung brauchst …«
»Vielen Dank, Frau Norden«, sagte Rosa schnell. »Aber das wird nicht nötig sein. Sie machen so schon sehr viel für mich. Sie haben mich sogar in Ihr Heim aufgenommen und mir dadurch das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Dafür werde ich Ihnen auf ewig dankbar sein.«
»Das ist wirklich nicht nötig, Rosa. Wir freuen uns, wenn wir dir in dieser schweren Zeit ein wenig beistehen können.«
»Wir machen es gern«, bestätigte Daniel die Worte seiner Frau. »Scheu dich bitte nicht, um Hilfe zu bitten, wenn du sie brauchst. Betrachte uns einfach als Ersatz-Eltern, bis deine hier sein werden. Hast du noch mal mit ihnen gesprochen?«
»Ja, ich habe gestern Abend wieder mit ihnen telefoniert. Ich bin wirklich froh, dass sie ein Satellitentelefon an Bord haben und ich sie so erreichen kann. Sie sind mit ihrem Boot irgendwo auf dem Atlantik. Es wird noch eine knappe Woche dauern, bis sie Brasilien anlaufen. Dort werden sie dann den nächsten freien Flug nach Hause nehmen.«
»Und dann?«, fragte Fee behutsam nach. »Was wird dann geschehen? Was wird aus Lina? Bei wem wird sie leben?« Das waren die Fragen, die Fee beschäftigten, seit Lina ihre Patientin war. Daniel schien es nicht anders zu ergehen. Er stellte seine Kaffeetasse ab, ohne getrunken zu haben, und wartete gespannt auf Rosas Antwort.
»Ich habe darüber mit meinen Eltern gesprochen und sie gefragt, ob sie Lina zu sich nehmen möchten.«
»Deine Eltern sind jetzt Anfang Fünfzig. Warum eigentlich nicht?«, sinnierte Daniel. »Ich weiß, dass sie sehr fit sind, und sicher wollen sie ihre Enkelin gut versorgt wissen.«
»So einfach ist das leider nicht.« Rosa verzog in Erinnerung an das gestrige Telefonat den Mund. Sie war froh gewesen, mit ihren Eltern sprechen zu können. Nie hatte sie sie schmerzlicher vermisst als in diesen Tagen. Doch das Gespräch war anders verlaufen, als sie es sich erhofft hatte. »Meine Eltern werden Lina nicht aufnehmen. Sie haben ja das Boot und wollen damit weiter um die Welt segeln. Mit Lina wäre das nicht möglich. Sie würde sie zu sehr einschränken.«
Fee tat es leid, welche Last auf Rosas Schultern lag. Sie hatte nicht nur den Tod ihrer Schwestern zu verkraften, sondern kümmerte sich allein um alles, was damit zusammenhing. Zu wissen, dass sie nun auch noch für Lina ein neues Zuhause suchen musste, belastete sie sicher zusätzlich.
»Was ist mit Linas Vater?«, fragte Fee.
»Sie haben ihn ja selbst erlebt, Frau Norden. Hat Leo Glaser auf Sie den Eindruck gemacht, als würde ihm etwas an seiner Tochter liegen? Er liebt nur seine Musik. Etwas anderes findet in seinem Herzen keinen Platz.«
Dési, die der Unterhaltung bisher nur schweigend gefolgt war, stieß geräuschvoll die Luft aus. »Leo Glaser? Der Leo Glaser? Er ist Linas Vater?«
Fee und Daniel wechselten einen raschen Blick. »Dési, bitte versprich, dass du das für dich behältst«, sagte Fee ernst. »Es wäre nicht gut, wenn davon etwas an die Öffentlichkeit durchsickern würde. Das könnte uns einen Haufen Ärger einbringen.«
»Ja, das weiß ich doch.« Dési rollte mit den Augen. »Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich am Frühstückstisch von Klinikgeheimnissen erfahre. Von mir erfährt niemand auch nur ein Wort.« Sie tat, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluss verschließen, nur um gleich weiterzusprechen: »Ausgerechnet Leo Glaser! Der ist doch als Vater völlig ungeeignet!«
»Wie kommst du darauf?« Rosa sah Dési erstaunt an. »Kennst du ihn etwa?«
»Wer kennt ihn nicht? Er taucht doch im Moment in jeder Illustrierten auf und gibt ein Interview nach dem anderen. Und was er da von sich gibt, sagt mir alles, was ich zu ihm wissen muss: er ist selbstverliebt, unreif und egozentrisch. Und das sind noch die harmlosen Beschreibungen, die mir zu ihm einfallen.«
»Du scheinst ja keine gute Meinung von ihm zu haben, obwohl du ihn nie persönlich kennengelernt hast.« Auch wenn Désis Einschätzung zutreffend war, gefiel es Fee nicht, dass ihre Tochter so abwertend über jemanden sprach, den sie gar nicht kannte.
»Das brauche ich auch nicht. Seine Musik ist ganz nett, so typische Mainstream-Musik, auf die die meisten Teenies stehen. Sie ist wie er.« Sie schüttelte den Kopf. »Kein Charakter und kein Tiefgang!«
»Dési, ich glaube, das reicht«, mahnte nun auch Daniel leise. Zu Rosa sagte er: »Wahrscheinlich ist er gar nicht so schlimm, wenn man ihn näher kennenlernt.«
»Eigentlich ist er noch schlimmer. Dési hat vollkommen recht. Er wäre niemals in der Lage, für Lina zu sorgen, weil er sich selbst viel zu wichtig nimmt. Zum Glück scheint er auch kein Interesse an seiner Tochter zu haben. Das macht es mir leichter, das Sorgerecht für Lina zu beantragen.«
»Du willst Lina zu dir nehmen?«, fragte Fee überrascht, aber auch sichtlich erleichtert nach. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin. Die kleine Lina gehört einfach zu dir. Das habe ich sofort gesehen, als sie in deinen Armen lag.«
»Und ich habe es sofort gefühlt«, erwiderte Rosa mit einem seligen Lächeln. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Immerhin arbeite ich in einer Kinderkrippe. Es ist für mich völlig normal, mit Babys und Kleinkindern umzugehen. Ich liebe meinen Beruf aus tiefstem Herzen, aber das, was ich bei Lina fühle, habe ich noch bei keinem anderen Kind empfunden. Es ist fast so, als würde es eine besondere Verbindung zwischen uns geben.«
»Lina ist nicht irgendein Baby«, sagte Fee weich. »Zwischen euch gibt es eine familiäre Bindung, die sehr tief zu gehen scheint.«
»Ja, wahrscheinlich ist das der Grund dafür. Ich hoffe nur, dass mir das Jugendamt keine Probleme machen wird. Ein Kind zu adoptieren, wenn man alleinstehend ist, dürfte schwierig sein.«
Als Kinderärztin kannte sich Fee auch in diesen Dingen gut aus und konnte Rosa augenblicklich beruhigen.
»Du bist eine nahe Verwandte von Lina. Da wird das nicht so eng gesehen. Und wenn Leo als leiblicher Vater kein Interesse hat …«
Fee zog die Stirn kraus.
»Ich nehme doch an, dass er kein Interesse hat, oder? Hast du schon mit ihm darüber gesprochen?«
Rosa schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Das werde ich heute Abend machen. Wir gehen zusammen essen.«
»Du triffst dich mit ihm zum Abendessen?«, fragte Daniel überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch so gut versteht.«
»Tun wir auch nicht. Leo hat darauf bestanden. Und ich habe mich darauf eingelassen, weil das die einzige Möglichkeit ist, um mit ihm zu reden.«
*
Es war schon Mittag, als Rosa endlich in der Behnisch-Klinik ankam, um nach Lina zu sehen. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie zum Frühstück nicht mehr als den Kaffee herunterbekommen hatte. In der großzügigen Lobby der Klinik verharrte sie kurz, dann entschied sie, einen Abstecher in die Cafeteria zu machen, bevor sie zur Pädiatrie ging.
Die Cafeteria lag etwas abseits vom hektischen Treiben in der Empfangshalle. Rosa betrat sie und gratulierte sich augenblicklich zu ihrer Idee hierherzukommen. Dieser Ort war etwas ganz Besonderes. Das sah und das spürte sie. Tief beeindruckt schaute sie sich um. Ein grünes Paradies mit großen, exotisch anmutenden Kübelpflanzen und geschickt platzierten Sitzgruppen ließ die Besucher vergessen, dass sie in einer Klinik waren. Für den Augenblick der Illusion verschlug es sie in ein kleines Urlaubsdomizil unter Palmen, fernab von allen Sorgen und Kümmernissen.
Auf der Suche nach einem freien Platz sah sich Rosa um. Ihre Augen blieben an einem Tisch in ihrer Nähe hängen. Den Mann, der dort saß und die Speisekarte studierte, kannte sie: Niklas Harrmann. Er war Leos bester Freund und Rosas erste große Liebe gewesen. Eine heimliche Liebe, von der niemand gewusst hatte. Schon gar nicht Niklas. Als sie ihm das erste Mal begegnete, war sie vierzehn gewesen, er achtzehn. In seiner Welt hatte sie gar nicht existiert. Ein kleines unscheinbares Mädchen, das zu schüchtern war, um ein Wort über ihre Lippen zu bekommen, wurde von niemandem beachtet. Und so war ihr nur geblieben, ihn über die Jahre hinweg aus der Ferne anzuschmachten und sich auf die wenigen, seltenen Begegnungen mit ihm zu freuen. Später war die Freundschaft zwischen Niklas und Leo nicht mehr so eng gewesen, und zu Rosas großem Bedauern bekam sie ihren Schwarm kaum noch zu sehen. Dass sie ihn nun ausgerechnet hier wiedersehen würde, hätte sie nicht erwartet. Und dass ihre romantischen Gefühle von damals wieder aufwallten, überraschte sie noch mehr.
Niklas musste ihren Blick gespürt haben, denn plötzlich sah er auf und ihr direkt in die Augen. Seine waren von einem tiefen Grün, in dem nun der Funken des Wiedererkennens und der freudigen Überraschung aufblitzte. Rosa wunderte sich darüber. Ihre letzte Begegnung mit Niklas war lange her. Er hatte ihr nie seine Aufmerksamkeit geschenkt und siemeistens einfach ignoriert. Jetzt machte er den Eindruck, als hätte er nur auf sie gewartet. Er sprang auf und war mit zwei, drei langen Schritten bei ihr.
»Rosa! Wie schön dich hier zu sehen!« Er strahlte sie so offen an, dass Rosa davon überzeugt war, dass er sich ehrlich freute, sie getroffen zu haben. Jetzt war sie noch verwirrter als zuvor. Grenzte es doch schon an ein Wunder, dass er überhaupt noch wusste, wer sie war.
Das spontane Lächeln schwand aus seinem Gesicht und machte echter Betroffenheit Platz. »Ich bin gestern Leo begegnet. Er hat mir von deiner Schwester erzählt. Ich möchte dir sagen, wie leid es mir tut.«
»Danke, Niklas.« Rosa fühlte sich gehemmt und in ihre Jugendzeit zurückversetzt.
»Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen.«
»Bist du etwa meinetwegen in der Behnisch-Klinik?«
»Ja«, beantwortete er leicht verlegen ihre Frage. »Ich hatte hier in der Nähe zu tun und wollte es einfach versuchen. Ich wusste nicht, wie ich dich sonst erreichen sollte. Leo sagte mir, dass Lina hier behandelt wird. Leider konnte er mir nicht sagen, wie schwer ihre Verletzungen sind.«
»Wie denn auch«, sagte Rosa bitter. »Er hat sich ja noch nicht mal nach ihr erkundigt. In die Klinik ist er nur gekommen, weil ich ihn darum gebeten hatte.«
»Ja, das ist typisch für Leo.« Niklas zeigte zu seinem Tisch. »Leistest du mir Gesellschaft? Ich wollte mir gerade etwas bestellen. Vielleicht magst du auch?«
Rosa nickte und folgte ihm. Nur wenig später gab sie ihre Bestellung bei der freundlichen Bedienung auf.
Kaum waren sie wieder allein, fragte Niklas sorgenvoll: »Und wie geht es Lina nun?«
»Gut. Sie ist hier nur zur Beobachtung, aber so, wie es aussieht, ist sie unverletzt geblieben.«
»Da bin ich sehr froh drüber. Und Bianka wäre es auch. Sie hat ihre Kleine abgöttisch geliebt. Sie war ihr eine sehr gute Mutter.«
»Da weißt du mehr als ich«, erwiderte Rosa traurig. »Hast du sie oft gesehen?«
»Nein, sehr selten. Wenn, dann sind wir uns immer zufällig über den Weg gelaufen. Du kannst dir sicher denken, dass das in einer Großstadt wie München nicht häufig passierte. Aber wir haben dann immer Zeit für einen Kaffee und eine nette Unterhaltung gefunden.«
Rosa musste schlucken, als sie das hörte. Es schmerzte, dass ihr das versagt geblieben war, und dass es fremde Menschen gab, die ihrer Schwester nähergestanden hatten als sie.
»Ich wünschte …« Rosas Stimme brach plötzlich, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Niklas griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Das gab ihr die Kraft auszusprechen, was sie bewegte: »Ich wünschte, ich hätte noch mal mit ihr sprechen können. Ich hätte ihr gesagt, wie sehr ich unseren dummen Streit bereue.«
»Du darfst dich nicht damit belasten, Rosa«, sagte Niklas mitfühlend. »Das was geschehen ist, kannst du nicht mehr ändern.«
Rosa sah ihn an. »Hat sie dir von unserem Streit erzählt?«
»Ich kenne keine Einzelheiten«, entgegnete Niklas ausweichend. »Ich hatte mich mal nach dir erkundigt, und da meinte sie nur, dass ihr euch entzweit hättet. Den Grund dafür kenne ich nicht. Allerdings …« Er zögerte, bevor er weitersprach: »Weißt du, ich mochte Bianka. Sie war lustig und für jeden Spaß zu haben. Allerdings hatte sie auch einen ausgesprochenen Dickkopf, der es anderen nicht immer leicht gemacht hat, mit ihr klarzukommen.«
Ein feines Lächeln erschien um Rosas Mund. »Ja, das stimmt. Ihr Dickkopf war legendär. Mit dem hatte sie schon als kleines Mädchen unsere Eltern zur Verzweiflung getrieben.«
Während des Essens sprachen sie weiter über Bianka. Niklas erzählte ihr von dem, was Rosa in den letzten Jahren verpasst hatte. Sie freute sich, mit jemanden reden zu können, der Bianka gekannt hatte und der ihr so einen kleinen Einblick in ihr Leben gewährte. Niklas verstand es, so anschaulich zu erzählen, dass Rosa das Gefühl hatte, sie wäre dabei gewesen. Das machte es ihr leicht, sich ihrer Schwester nahe zu fühlen.
»Waren die beiden eigentlich noch ein Paar?«, fragte sie nachdenklich.
»Wer? Leo und Bianka? Natürlich, die ganzen Jahre. Warum fragst du?«
»Leo meinte, sie wären schon lange nicht mehr zusammen gewesen.«
Niklas lachte ungläubig auf. »Keine Ahnung, warum er dir so etwas erzählt hat, aber es entspricht nicht der Wahrheit. Mag sein, dass die Beziehung in letzter Zeit etwas abgekühlt war. Aber sie waren nach wie vor zusammen.«
»Dann ist Lina also Leos Tochter?«
»Natürlich ist sie es. Das hat nie jemand infrage gestellt.«
»Doch«, entgegnete Rosa. »Leo.«
»So ein Idiot!«, empörte sich Niklas. »Für Bianka hat es nie einen anderen gegeben als Leo. Wie kommt er nur dazu, so etwas zu behaupten?«
»Er wird seine Gründe haben. Und die wird er mir hoffentlich heute Abend erklären.«
»Heute Abend? Ihr trefft euch?«
»Ja, leider. Er hat dieses gemeinsame Abendessen zur Bedingung gemacht, um mit mir über alles zu sprechen.«
Rosa sah, wie Niklas verärgert die Augen zusammenkniff. »Du hättest nicht zustimmen sollen«, stellte er dann fest.
»Mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte in den letzten beiden Jahren keinen Kontakt zu Bianka. Im Grunde weiß ich gar nichts über sie – oder über Lina. Ich …« Rosa überlegte, ob sie Niklas wirklich alles anvertrauen sollte. Sie kannten sich doch kaum. Aber sie wusste von ihm, dass ihn mit Bianka eine Art Freundschaft verbunden hatte. Vielleicht konnte er dann auch für Rosa ein guter Freund sein? »Ich möchte das Sorgerecht für Lina beantragen«, sprach sie es schließlich aus. »Das Jugendamt wird dann sicherlich interessieren, wer der Vater ist. Seine Rechte gehen natürlich vor. Falls Leo also Lina nehmen möchte, hätte ich wohl keine Chancen.«
»Leo?«, schnaubte Niklas ungläubig auf. »Leo interessiert sich nur für seine Karriere. Von Bianka weiß ich, dass ihm Lina immer egal war. Und um ehrlich zu sein – mit dir wäre die Kleine wesentlich besser dran. Leo eignet sich nicht als Vater.«
In Rosa wurde der Wunsch, Lina zu sich zu nehmen, immer stärker. Dass sie es schaffen würde, allein für ein Kind zu sorgen, bezweifelte sie nicht. In der Kita, in der sie arbeitete, war sie für den Krippenbereich, also für die Kleinsten, zuständig. Es würde ihr keine Probleme bereiten, Lina in der eigenen Gruppe unterzubringen. So könnte sie sie jeden Morgen mitnehmen und wäre ständig in ihrer Nähe.
»Beantwortest du mir eine Frage?« Rosa schreckte auf, als Niklas sie ansprach und nickte stumm.
»Worum ging es bei dem Streit, den du mit Bianka hattest?«
»Warum willst du das wissen?«
»Weil es mich interessiert. Ich hatte irgendwann Bianka danach gefragt, aber sie hat es mir nicht verraten.« Er grinste, als er sagte: »Ich will nicht schlecht über Bianka reden. Ich konnte sie gut leiden, aber sie war manchmal etwas … speziell. Ich bin mir ziemlich sicher, sie hätte mir den Grund für euer Zerwürfnis genannt, wenn es an dir gelegen hätte.«
Rosa lächelte betrübt. »Es hat an mir gelegen. Ich hätte Bianka nicht erzählen sollen, dass Leo mich geküsst hat.«
»Leo hat dich geküsst?«, brauste Niklas auf und zog damit die neugierigen Blicke der anderen Gäste auf sich.
»Pst!«, sagte Rosa schnell. »Das muss nicht gleich die ganze Klinik erfahren!«
»Entschuldige. Ich … ich war nur so überrascht und … sauer. Leo ist und bleibt ein Riesendummkopf und Mistkerl! Von Treue hat er nie etwas gehalten, aber dass er sich sogar an die Schwester seiner Freundin ranmacht, ist einfach nur mies.«
»Für mich war Biankas Reaktion darauf viel schlimmer.« Rosa wurde traurig, als sie daran zurückdachte. »Ich hatte Leo eine gescheuert und bin anschließend zu Bianka gelaufen, um sie über ihren Freund aufzuklären. Ich war so naiv zu glauben, dass ihr das endlich die Augen öffnen würde. Doch plötzlich war ich die Böse. Ich hätte mich angeblich an ihn rangemacht, so wie die vielen anderen Mädchen, die hinter ihm her seien. Leo wäre das Opfer, nicht ich. Wir haben uns damals schrecklich gestritten. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander gesprochen haben. Wenn ich das gewusst hätte …« Plötzlich waren die Tränen wieder da, die ständig im Hintergrund lauerten, seit Rosa in München war. Sie schniefte leise und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.
»Du hast nichts falsch gemacht, sondern Leo. Und Bianka, weil sie in ihrer Liebe zu ihm immer die Wahrheit verdrängt hat. Sie wusste ganz genau von Leos Schwächen. Es war nicht richtig, sich schützend vor ihm zu stellen und sich seinetwegen mit dir zu überwerfen.«
»Aber vielleicht hätte ich einfach den Mund halten sollen?«
Niklas sah sie skeptisch an. »Den Mund halten und einfach nur zusehen, wie schlecht er Bianka behandelt? Du wärst ihr dann keine gute Schwester gewesen. Hör auf, dich mit Vorwürfen zu belasten. Du hast das Richtige getan, und Bianka hat ihre Entscheidung getroffen. Eine schlechte Entscheidung, in der sie zu Leo hielt und dich gehenließ.«
Es tat Rosa gut, mit Niklas zu sprechen. Er rückte ihre Welt wieder zurecht und vertrieb für kurze Zeit die Schuldgefühle, die sie seit Biankas Tod belasteten. Mit ihm zu reden, ließ sie für eine Weile vergessen, wie schwer die Trauer um ihre Schwester auf ihrer Seele lag.
Es war Niklas, der ihre Unterhaltung beendete. Bedauernd sagte er: »Meine Mittagspause ist schon seit einer Ewigkeit zu Ende. Ich muss jetzt leider zurück auf die Baustelle.«
»Ja, natürlich«, erwiderte Rosa schnell. »Ich wollte auch schon längst auf der Kinderstation sein.«
»Es wäre schön, wenn wir uns wiedersehen könnten. Heute Abend zum Beispiel.«
»Das geht nicht. Ich treffe mich doch mit Leo.«
Niklas lächelte. »Ich weiß. Was spricht eigentlich dagegen, dass ich dich begleite? Schließlich ist euer Treffen ja keine romantische Verabredung, oder?«
»Nein, ganz und gar nicht«, wies Rosa dies entschieden von sich. »Trotzdem werde ich allein hingehen. Ich bin dir sehr dankbar für dein Angebot, aber ich werde mit Leo Glaser schon fertigwerden.«
»Natürlich, Rosa. Ich hätte dich trotzdem gern begleitet.« Er holte sein Handy heraus. »Du bekommst meine Telefonnummer. Solltest du mich doch brauchen, reicht ein Anruf von dir, und ich komme. Und auch sonst – ich bin für dich da.«
»Danke, Niklas. Das ist sehr nett von dir. Und … und es gibt tatsächlich eine Sache, bei der ich etwas Hilfe gebrauchen könnte. Natürlich nur, wenn du wirklich möchtest.«
»Egal, was es ist, ich mache es.« Niklas lächelte sie so liebevoll an, dass Rosas Herz kurz ins Stocken geriet und dann laut zu hämmern begann.
»Ich muss in den nächsten Tagen in Biankas Wohnung, um ein paar Unterlagen rauszusuchen. Aber allein …«
»Kein Problem«, unterbrach Niklas sie sofort. »Ich begleite dich. Du musst da nicht allein hin. Und wenn du magst, könnten wir vielleicht anschließend noch etwas zusammen unternehmen.«
Das kam so unerwartet, dass es Rosa die Sprache verschlug und sie ihn nur verdutzt ansah.
»Nur wenn du möchtest«, sagte er schnell. »Wenn nicht, begleite ich dich natürlich trotzdem in Biankas Wohnung. Ich bin nicht Leo, der an sein Entgegenkommen Bedingungen knüpft.«
Rosa lächelte ihn an. »Nein, du bist nicht Leo. Und ich freue mich, dass du mich morgen begleitest … und auf die gemeinsame Zeit mit dir.«
*
Rosa verbrachte den Nachmittag mit Lina, die sich inzwischen auf der chirurgischen Kinderstation befand.
»Es gab keinen vernünftigen Grund mehr, sie weiter intensivmedizinisch zu bewachen«, erklärte Fee leise, um Lina nicht zu wecken, die gerade ein kleines Schläfchen hielt. Zusammen mit Rosa saß Fee am Kinderbett und beobachtete verzückt das schlafende Kind. »Ihr geht es wirklich hervorragend. Sie hat einen gesunden Appetit, ist fröhlich und unser aller Liebling. Lina ist gesund, da bin ich mir ganz sicher.«
»Mir fällt ein Stein vom Herzen. Es gibt nichts, was ich mir mehr für Lina wünsche. Bedeutet das, dass sie bald entlassen wird?« Rosa freute sich natürlich, dass es ihrer kleinen Nichte so gut ging und ein Klinikaufenthalt nicht mehr nötig war. Doch sie brauchte noch etwas Zeit, um alles zu regeln. Sollte Lina schon jetzt entlassen werden, würde das Jugendamt sie sicher bei Pflegeeltern unterbringen. Oder bei Leo. Beides war nicht das, was sie sich für Lina wünschte.
»Das kann ich noch hinauszögern, bis du alles geklärt hast«, beruhigte sie Fee. »Ein zehntägiger Klinikaufenthalt nach einem so schweren Unfall ist durchaus gerechtfertigt. Dir verschafft es etwas Zeit und mir das gute Gefühl, alles für die Kleine getan zu haben.«
»Danke, Frau Norden, aber das haben Sie doch bereits. Ich bin so froh, Lina in Ihrer Obhut zu wissen. Dadurch habe ich den Kopf für andere Dinge frei. Sie wissen ja, dass ich mich heute Abend mit Leo treffe, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubt. Doch er ist nun mal Linas Vater, und ihretwegen werde ich das schon irgendwie schaffen.«
»Vielleicht hättest du doch die Unterstützung von diesem Niklas annehmen sollen«, überlegte Fee. »Ich kenne ihn zwar nicht, aber nach allem, was du mir erzählt hast, scheint er ein netter junger Mann zu sein, auf den du dich verlassen kannst.«
Rosa nickte. »Ja, er ist wirklich einer von den Guten, und ich vertraue ihm.«
Sie lächelte betreten. »Das habe ich schon immer getan. Niklas ist ganz anders als Leo. Er ist verlässlich, verantwortungsbewusst, ehrlich, loyal und …«
»… und der Mann, dem du dein Herz geschenkt hast«, setzte Fee mit einem amüsierten Lachen die Aufzählung fort.
Rosa spürte, wie sich ihre Wangen vor Verlegenheit rot färbten. »Woher … wieso …«, stotterte sie so hilflos, dass Fee gar nicht anders konnte, als sie in ihre Arme zu schließen.
»Woher ich das weiß?«, fragte sie warmherzig. »Du hättest dich sehen sollen, als du mir von ihm berichtet hast. Deine Augen strahlten, und du hast die ganze Zeit gelächelt. Du bist verliebt, Rosa. Da gibt es für mich keinen Zweifel. Ich freue mich so für dich.«
»Danke, Frau Norden. Aber …« Rosa wurde ernst. Um ihren Mund erschien ein trauriger Zug. »Ich habe mich schon vor vielen Jahren in Niklas verliebt. Eine unglückliche und sehr heimliche Kleinmädchenliebe, von der niemand erfahren durfte. Ich dachte, ich hätte das längst überwunden. Aber als ich ihn dann wiedergesehen habe, waren diese Gefühle plötzlich wieder da. Nur viel, viel stärker als zuvor. Und dabei weiß ich noch nicht mal, ob es diesmal für mich Hoffnung gibt und ob er etwas für mich empfindet. Ich wünsche es mir, und wenn ich an seine Blicke denke, glaube ich es sogar fast.«
»Dann hast du allen Grund, dich zu freuen.«
Rosa schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist es ja gerade, was mir Sorgen macht, Frau Norden. Mein größter Wunsch scheint sich endlich zu erfüllen. Ich spüre dieses Glück in mir und weiß doch, dass es falsch ist. Ausgerechnet jetzt! Wie kann ich nur so glücklich sein, wenn … wenn ich eigentlich um meine Schwester trauern sollte.«
»Ich bin sicher, das machst du trotzdem. Aber manchmal ist auch beides möglich: trauern und glücklich sein. Niemand erwartet von dir, dass du dich zwischen beiden Gefühlen entscheidest. Unser Leben besteht nun mal aus schönen und weniger schönen Augenblicken. Eine bunte Mischung eben. Du darfst verliebt und glücklich sein und trotzdem auch traurig, weil Bianka nicht mehr da ist.« Fee drückte die junge Frau noch einmal und sagte: »Genieß diese Zeit, Rosa. Wenn du später daran zurückdenkst, sollen es vor allem die schönen Momente sein, an die du dich erinnerst.«
Dieser Moment war ganz sicher einer, an den sie immer wieder zurückdenken würde, dachte Rosa, als sie das Restaurant betrat, in dem sie sich mit Leo treffen wollte. Leider würde er nicht zu ihren schönen Erinnerungen zählen. Und das lag nicht an diesem bezaubernden thailändischen Lokal, sondern an ihrem Begleiter.
»Du siehst einfach umwerfend aus, Rosa«, sagte Leo mit einem gewinnenden Lächeln.
»Wir sind nicht hier, um Komplimente auszutauschen«, mahnte Rosa leise. »Wir müssen unbedingt über Lina sprechen.«
»Einverstanden. Sobald wir unser Essen bestellt haben.« Er zeigte auf die Speisekarte, die der Ober ihnen gereicht hatte und die Rosa sofort achtlos beiseitegelegt hatte. Ihr war nicht nach Essen, obwohl es hier verführerisch duftete. Sie wollte diese Unterhaltung einfach nur hinter sich bringen und schnell wieder verschwinden. Doch da es Leo offensichtlich wichtig war, während des Gesprächs zu essen, gab sie nach und griff zur Karte. Sie entschied sich für einen traditionellen Thaisalat mit Meeresfrüchten und akzeptierte den Wein, den Leo bereits bestellt hatte.
»Du hast mir erzählt, du seist nicht mehr mit Bianka zusammen gewesen«, begann sie ohne Umschweife. »Warum hast du mich angelogen?«
Leo verschluckte sich fast an seinem Wein. »Wie kommst du darauf, dass ich nicht die Wahrheit gesagt habe?«, fragte er dann lauernd.
Rosa überlegte, ob sie ihm von dem Gespräch mit Niklas erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. »Ich weiß es einfach. Woher, spielt keine Rolle. Also, rede schon! Warum?«
»Versteh doch! Wir waren nicht allein. Diese Kinderärztin hätte sicher alles weitererzählt, und schon hätten unschöne Schlagzeilen über mich in der Zeitung gestanden.«
»Frau Dr. Norden ist absolut vertrauenswürdig!«, erwiderte Rosa gereizt. »Und ich verstehe immer noch nicht, warum niemand von dir und Bianka erfahren durfte.«
»Das ist doch wohl klar! Ich habe meinen Erfolg im Musikgeschäft vor allem meinen weiblichen Fans zu verdanken. Gute Musiker gibt es wie Sand am Meer, und die meisten von ihnen haben es schwer, irgendwie über die Runden zu kommen. Dass ich es trotzdem so weit gebracht habe, liegt am Gesamtpaket.« Er lächelte Rosa mit falscher Bescheidenheit an. »Tolle Musik und ein nettes Aussehen, auf das die Mädchen stehen. Von meinem umwerfenden Charme ganz zu schweigen.« Das Letzte hatte er augenzwinkernd gesagt, so, als würde er es nicht ernst meinen, aber Rosa wusste, dass das nicht stimmte. Leo hielt sich tatsächlich für einen tollen Typ, der gut aussah und alle Mädchen um den Finger wickeln konnte.
»Natürlich«, erwiderte Rosa trocken. »Für deinen einzigartigen Charme bist du ja bekannt.«
»Leider bringt er mir nichts, wenn ich offiziell in einer festen Beziehung stecke und so meinen Verehrerinnen die Hoffnung auf ein Happy End mit mir nehme.«
»Soll das ein Scherz sein?«, fragte Rosa ungläubig.
»Nein, kein Scherz, sondern eine Tatsache. Die Weiber ticken nun mal so. Deine Musik kann noch so toll sein. Wenn du denen nicht als Mann zusagst, hast du keine Chance, nach ganz oben zu kommen. Ich kann’s nicht ändern, und ich wäre blöd, wenn ich es nicht ausnutzen würde. Zum Erfolg gehören auch Kompromisse und Opfer.«
»Kompromisse und Opfer für Bianka, aber nie für dich«, höhnte Rosa. »Klar, dass deine Tochter dann auch nicht in deinem Leben auftauchen darf. Das würde sicher kein gutes Licht auf dich werfen. Und zwangsläufig würden dann auch Fragen nach der Mutter des Kindes auftauchen. Da wir gerade von Lina reden: Hast du sie eigentlich schon in der Klinik besucht oder dich wenigstens nach ihrem Befinden erkundigt?« Rosa stellte die Frage, obwohl sie die Antwort kannte.
»Bis jetzt habe ich noch nicht zugegeben, dass Lina meine Tochter ist«, gab Leo störrisch zurück.
»Und? Ist sie es nun?« Nicht nur Rosas Ungeduld wuchs, sondern auch ihre Verärgerung. Sie hatte sich auf dieses gemeinsame Abendessen eingelassen, um endlich die Wahrheit von Leo zu hören. Doch nun musste sie einsehen, dass Leo ganz andere Pläne gehabt hatte. Der Tisch in einer lauschigen Nische, die roten Rosen, die er ihr mitgebracht hatte, und das romantische Kerzenlicht ließen keine Zweifel an seinen eigentlichen Absichten.
»Leo, nun sag es endlich, bist du Linas Vater? Ich habe morgen einen Termin beim Jugendamt und sollte wissen, was los ist.«
Leo setzte zu einer Erwiderung an, und Rosa hoffte, dass sie nun endlich ihre Antwort bekommen würde. Doch ausgerechnet jetzt wurde ihnen das Essen serviert. Was immer Leo auch sagen wollte, er behielt es für sich und griff stattdessen nach seinem Besteck.
»Wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen möchte, stehe ich auf und gehe«, presste Rosa wütend hervor. »Dann kann sich das Jugendamt mit dir in Verbindung setzen. Mal sehen, ob du bei denen etwas gesprächiger bist.«
Leo knallte das Besteck auf den Tisch. »Wozu willst du das denn unbedingt wissen? Geht es dir um Unterhalt? Willst du mein Geld?«
»Spinnst du jetzt total?«, fauchte sie ihn an. »Ich will dein blödes Geld nicht! Ich will Lina adoptieren! Und da Linas Vater ein Mitspracherecht hat, muss ich herausbekommen, wer das ist.«
So schnell, wie Leos Verärgerung gekommen war, so schnell verpuffte sie nun. Fast entspannt lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. Er lächelte, als er sagte: »Du möchtest also die kleine Lina adoptieren? Und dafür brauchst du meine Zustimmung?«
»Sofern du der Vater bist.«
»Nur mal angenommen, ich bin es. Dann müsstest du doch eigentlich jetzt besonders nett zu mir sein, damit ich dir deinen großen Wunsch erfülle, die Kleine zu adoptieren.« Sein Lächeln stieß sie ab. Es wirkte aufgesetzt und konnte über das lüsterne Funkeln in seinen kalten Augen nicht hinwegtäuschen.
Rosa griff nach ihrem Weinglas, um den Zorn, den sie als brennenden Schmerz in ihrer Kehle fühlte, hinunterzuspülen. Erst als sie es geräuschvoll auf den Tisch knallte, bemerkte sie, dass sie den Wein in einem Zug ausgetrunken hatte. Sie schob ihr unberührtes Essen von sich und stand auf.
»Du kannst mich mal!«, giftete sie ihn an. »Ich brauche dein Wohlwollen nicht, um Lina ein Zuhause zu geben. Ich brauche nur die richtigen Leute davon zu überzeugen, dass du ein gewissenloser Mistkerl und ein unfähiger Vater bist.«
»Wehe, du machst irgendetwas, das mir oder meiner Karriere schaden könnte!« Er drohte ihr leise, und das machte ihr mehr Angst, als wenn er seine Wut herausgebrüllt hätte. Doch sie hatte nicht vor, sich das anmerken zu lassen.
»Du bist der Einzige, der dir schaden könnte. Wenn du für Lina sorgen willst, dann geh gefälligst zum Jugendamt, erkenne die Vaterschaft an und kümmere dich endlich um dein Kind. Wenn nicht, solltest du einfach froh sein, dass ich für Lina da sein werde. Deine Karriere ist mir völlig egal, deine Tochter aber nicht. Ich werde Lina lieben, als wäre sie mein eigenes Kind. Das tue ich nicht nur für Lina, sondern auch für Bianka. Aber ganz bestimmt nicht für dich, du … du …«
Rosa hatte sich in Rage geredet, doch nun war es vorbei. Sie war erschöpft; körperlich und mental. Hier hielt sie nichts mehr. Sie wollte nur noch weg. Hastig zerrte sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche, zog einen Zwanziger heraus und warf ihn auf den Tisch. Dann drehte sie sich um und ging erhobenen Hauptes hinaus.
Wütend war Leo ihrem Abgang gefolgt. Nichts lief so, wie er es geplant hatte. Ihm wurde klar, dass Rosa es ihm nicht so leicht machen würde wie ihre Schwester. Bianka hatte ihn aus tiefstem Herzen geliebt. Nie konnte sie ihm lange böse sein, ganz egal, wie heftig er es auch manchmal trieb. Bei Rosa biss er auf Granit. Er hatte es mit Charme und Schmeicheleien versucht. Als das nichts brachte, hatte er probiert, sie einzuschüchtern. Und was hat Rosa getan? Sie hat den Spieß einfach umgedreht und ihm gedroht. Das Jugendamt machte Leo weniger Sorge als die Möglichkeit, dass die Öffentlichkeit von dem Kind erfahren könnte. Rosa hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Jeder würde sich natürlich für Linas Mutter interessieren. Es würde herauskommen, dass er seine Fans jahrelang belogen hatte. Würden sie ihm das verzeihen und darüber hinwegsehen? Nein, niemand durfte von Lina erfahren. Die Option, sie bei seinen Eltern unterzubringen und sich damit öffentlich zu ihr zu bekennen, hatte er deshalb längst verworfen.
Leo füllte sein Weinglas und trank hastig davon. Die Sache wuchs ihm gehörig über den Kopf. Er wusste einfach nicht weiter. Rosas Angebot, Lina zu sich zu nehmen, war verlockend. Und doch sträubte er sich dagegen. Lina war sein Kind! Und auch, wenn er ihr keine väterlichen Gefühle entgegenbringen konnte, gab es einen Funken Pflichtgefühl in seinem Körper, der sich immer wieder mahnend zu Wort meldete.
Leo musste an Bianka denken. Was würde sie dazu sagen? Und plötzlich fühlte er sich elend wie nie zuvor in seinem Leben. Bianka – sie fehlte ihm auf einmal entsetzlich. Er brauchte sie, er hatte sie immer gebraucht. Sie war sein Fels in der Brandung gewesen. Sie hatte ihn bedingungslos geliebt. Sie hatte zu ihm gehalten und ihm jeden seiner Fehler verziehen. Sogar den, ihre Schwester geküsst zu haben.
Keine hundert Meter vom Restaurant entfernt saß Rosa an einer Bushaltestelle. Ihr blieben zehn Minuten, bis der nächste Bus kam, um über den katastrophalen Abend nachzudenken. Sie hatte absolut nichts erreicht. Von ihrem Ziel, ein paar ehrliche Antworten zu bekommen, war sie weiter entfernt als zuvor. Schlimmer noch! Ihre Hoffnung, Lina adoptieren zu können, war auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft. Leo würde sich jetzt sicher stur stellen.
Rosa wünschte sich, sie könnte jetzt mit jemanden über ihre Sorgen reden. Ihr fiel Anneka ein, aber auch Fee und Daniel Norden. Doch die Nummer, die sie in ihrem Handy wählte, war die von Niklas.
Fast sofort nahm er ab. »Rosa? Was ist los? Brauchst du meine Hilfe?«
Rosa lächelte. Sie war froh, seine Stimme zu hören. »Ich brauche nur jemanden, mit dem ich sprechen kann, bis mein Bus kommt. Und da bist du mir als Erster eingefallen.«
»Ich bin also deine erste Wahl?« Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, wusste Rosa, dass er jetzt lächelte. Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern sprach ernster werdend weiter: »Es lief wohl nicht so gut mit Leo.«
»Nein, überhaupt nicht. Er hat es geschafft, dass ich wütend wurde und aus dem Restaurant gestürmt bin. Schlimm genug, dass ich mit Leo keinen Schritt weitergekommen bin, habe ich nun auch noch entsetzlichen Hunger. Ich habe nämlich in seiner Gesellschaft keinen Bissen herunterbekommen.«
Niklas gab ein leises Lachen von sich. »Wo genau bist du eigentlich?« Als Rosa ihm die Adresse nannte, sagte er erstaunt: »Das ist direkt bei mir um die Ecke. Wenn du magst, können wir zusammen irgendwo etwas essen. Ich wäre in fünf Minuten bei dir.«
Vor Freude machte Rosas Herz einen kleinen Hüpfer. »Fünf Minuten klingen gut. Dann wärst du schneller hier als mein Bus.«
»Ich beeile mich. Sollte dein Bus vor mir da sein, steig bitte nicht ein. Warte auf mich.«
*
Leo war wütend. Nichts klappte so, wie er es sich vorgestellt hatte, und die Musiker seiner Band sahen ihn an, als wäre das allein seine Schuld.
»Du hast schon wieder deinen Einsatz verpasst«, sagte nun auch noch Kai, sein Bassist, vorwurfsvoll. »Auch wenn das hier nur eine Probe ist, solltest du dich endlich konzentrieren. Was ist denn heute bloß los mit dir?«
»Nichts ist los mit mir!«, schnauzte Leo. »Ihr habt euch nicht ans Tempo gehalten. Das ist alles!«
»Spinnst du jetzt total? Du baust Mist und schiebst es uns dann in die Schuhe?«
»Kommt, beruhigt euch beide!« Wie immer war es Ole, der nun vermitteln wollte. Der Drummer kam hinter seinem Schlagzeug hervor. Er ging zu Leo und drückte mitfühlend seinen Arm. »Leo, wir haben alle Verständnis für deine Situation. Das mit Bianka ist schrecklich, und nichts spricht dagegen, dass du eine Pause einlegst. Wir machen in der Zwischenzeit allein weiter. Wenn du ein oder zwei Wochen …«
»Ein oder zwei Wochen?«, fuhr ihn Leo an. »Wie stellst du dir das vor? Wir wollen Anfang Juli ins Plattenstudio gehen und basteln bei den meisten Titeln immer noch an den Arrangements rum! Ich kann mir keine Pause leisten! Und ihr schon gar nicht. Ihr könnt ja noch nicht mal das Tempo halten!«
Sofort setzte ein lauter Protest der anderen Musiker ein, in den ein unerwarteter Besucher platzte. Harro Tesche, ihr Manager, kam mit einem dicken Grinsen im Gesicht herein.
»Was ist denn hier los? Schlechte Laune? Ich wette, ich habe die richtigen Neuigkeiten für euch, um die Stimmung nach oben zu treiben.« Er legte eine Pause ein und sah sich zufrieden um. Dann wedelte er mit einigen Papieren herum. »Hier, das kam gerade per Mail rein. Euer Vertrag!«
»Vertrag?«, fragte Ole, der wie alle anderen die Luft angehalten hatte. Harro sprach zwar von einem Vertrag, aber noch wagte niemand, daran zu glauben, dass ihr größter Traum tatsächlich wahr wurde. »Welcher Vertrag? Mensch, Harro, rück endlich mit der Sprache raus! Von welchem Vertrag redest du?«
Harro lachte laut und sehr, sehr glücklich auf. »Wir kriegen sie! Die Tour durch die Staaten! Wir sind dabei!«
Ein mehrstimmiger Jubel erklang. Diese Tour, auf die sie gehofft hatten, war ihre große Chance, auch international berühmt zu werden! Plötzlich lagen sich alle in den Armen. Vergessen war der kleine Streit. Sie lachten, schmiedeten Pläne und malten sich aus, mit wie viel Erfolg sie diese Tournee hinter sich bringen würden. Danach, das wussten sie, würde sich alles verändern.
Ole holte die Champagnerflaschen, die für solche Glücksmomente im Kühlschrank bereitstanden. Mit viel Gewese und einem lautstarken Knallen öffnete er die erste Flasche. Sie machten sich nicht die Mühe, Gläser zu besorgen, sondern tranken direkt aus der Flasche.
Trunken vor Freude und vom Alkohol kehrte erst Stunden später etwas Ruhe ein. Ruhe, um den eigenen Gedanken nachzuhängen und über das, was sie erwartete, nachzudenken.
Leo sah glücklich lächelnd in die Runde. Sie hatten den Olymp erreicht! Mit dieser Tournee würden sie zu Weltstars werden! Plötzlich verspürte er den großen Drang, dieses Glück mit jemanden zu teilen. Mit irgendjemandem, der ihn verstand und sich neidlos für ihn freuen konnte. Spontan zog er sein Handy aus der Hosentasche, um Bianka anzurufen. Doch im selben Moment fiel ihm ein, warum das nicht mehr möglich war. Er starrte auf sein Telefon und spürte auf einmal diesen scharfen Schmerz in seiner Brust. Bianka!
»He, Leo! Trink noch einen Schluck!« Kai torkelte auf ihn zu und hielt ihm die Flasche hin. »Du siehst aus, als könntest du das gut gebrauchen!«
»Ja …« Leo versuchte ein Lächeln und war erstaunt, wie gut ihm das gelang. »Gib schon her! Und dann lass uns endlich richtig feiern und diesen ganzen Mist hinter uns lassen!« Er hielt die Flasche hoch und brüllte laut: »Amerika, wir kommen!«
*
Rosa sah aus dem Fenster, während ihr Taxi durch die Münchner Innenstadt fuhr. Sie dachte über die vergangenen Tage nach und wusste nicht, dass sie zu lächeln begonnen hatte. Es war ein glückliches Lächeln, das sie vor allem Niklas zu verdanken hatte. Sie hatten sich täglich gesehen, entweder in seiner Mittagspause oder am Abend. Jedes Mal hatte sie das Zusammensein mit ihm genossen. Doch später, wenn sie in ihrem Bett im Haus der Nordens lag, quälte sie regelmäßig das schlechte Gewissen. Das schlechte Gewissen, das ihr zuflüsterte, dass es sich nicht gehörte, so glücklich zu sein. Dieses Glück, das sie empfand, war auf Biankas Tod gegründet. Wenn Bianka noch leben würde, wäre sie Niklas wahrscheinlich nie wieder begegnet. Sie würde jetzt in ihrer gemütlichen Wohnung in Kassel sitzen oder bei ihren Kindern in der Kita sein.
Doch nichts war mehr so, wie sie es kannte. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn und schwankten ständig zwischen purer Glückseligkeit und starken Schuldgefühlen hin und her. Fee Nordens Worte halfen ihr dann, damit klarzukommen. Wenn die negativen Gefühle zu heftig drückten, dachte sie an das Gespräch mit Fee zurück. Sie wusste, niemand verlangte von ihr, ständig zu trauern. Sie durfte traurig sein und sich trotzdem am Leben erfreuen. Wenn sie daran festhielt, ging es ihr immer etwas besser, zumindest für eine kurze Zeit.
Das Taxi fuhr zu der Adresse, die sie dem Fahrer genannt hatte. Niklas wartete bereits vor dem Haus auf sie. Als sie ausstieg, kam er auf sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Bist du bereit?«, erkundigte er sich dann leise.
»Bereit?«, fragte Rosa, noch völlig durcheinander von seinem Kuss, der Schmetterlinge in ihrem Bauch zum Flattern gebracht hatte.
»Ja, für das, was jetzt vor dir liegt. Es wird bestimmt nicht leicht für dich werden, einen Blick in das Leben deiner Schwester zu werfen.«
Rosa schüttelte bedrückt den Kopf. Vergessen war das süße Gefühl, das Niklas’ unschuldiger Begrüßungskuss in ihr hervorgerufen hatte. »Nein, das ist wirklich nicht leicht für mich. Deshalb bin ich dir auch so dankbar, dass du an meiner Seite bist und ich das nicht allein durchstehen muss.«
Niklas sah sie lange an. Dann strich er ihr sanft über eine Wange. »Ich werde immer für dich da sein, Rosa. Ich …« Er brach ab, als wüsste er nicht, wie er das, was ihm auf dem Herzen lag, in Worte fassen sollte. Schließlich sagte er nur: »Ich bin dein Freund.« Dann griff er nach ihrer Hand und ging aufs Haus zu.
Rosa war enttäuscht, obwohl sie sich sagte, dass es dafür keinen Grund gab. Immerhin hatte Niklas ihr gerade seine Freundschaft und Unterstützung angeboten. Konnte sie mehr von ihm verlangen? Ja, rief ihr sehnsuchtsvolles Herz sofort und ignorierte die Stimme der Vernunft, die es wieder zur Ordnung rufen wollte. Jetzt war nicht der richtige Moment, um alte Schwärmereien aufleben zu lassen oder auf eine Liebe zu hoffen.
Biankas Wohnung befand sich in einem ruhigen Stadtteil Münchens. Das Haus war gepflegt und besaß nur zwei Etagen mit jeweils zwei Wohnungen. Es gab wenig Autoverkehr, grüne Rasenflächen und einen Spielplatz in Sichtweite. Die richtige Gegend für eine Mutter und ihr Kind.
Rosas Hand zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Doch Niklas’ Nähe half ihr, das durchzustehen. Sie war nicht allein. Niklas war bei ihr, und gemeinsam würden sie es schaffen. Als sie die Wohnung betraten, drückte er ihre Hand, die er noch immer festhielt. Er konnte nicht wissen, wie viel Halt und Stärke er ihr damit gab.
Schweigend, fast andächtig, gingen sie die Räume ab, und Rosa fühlte sich ihrer großen Schwester ganz nahe. Es war ein schönes Gefühl. Keins, das ihr Angst machte, sondern eins, das sie hier willkommen hieß.
Die Wohnung war groß mit einem lichtdurchfluteten Wohnzimmer und einem geräumigen Schlafzimmer. Auf der anderen Flurseite befanden sich neben der Küche und dem Bad auch Linas Kinderzimmer. Farbenfrohe Bilder zierten die Wände, über dem Kinderbett hing ein buntes Mobile mit einer kleinen Spieluhr. Auf einer Kommode standen gerahmte Fotografien. Rosa trat näher, um sie zu betrachten. Es waren Aufnahmen von Lina, von der eine ihre besondere Aufmerksamkeit erregte. Sie nahm sie hoch und strich mit einem Finger zärtlich über das schützende Glas. Lina muss damals erst wenige Tage alt gewesen sein. Sie lag in Biankas Armen und schlief. Bianka sah ihre Tochter so liebevoll an, dass sich Rosas Augen vor Rührung mit Tränen füllten. Bianka hatte ihr Kind aus tiefstem Herzen geliebt, so, als müsste ihre Liebe für zwei reichen, weil Leo nicht dazu in der Lage war.
Niklas legte einen Arm um Rosas Taille und zog sie näher an sich ran. »Geht es dir gut?«, fragte er anteilnehmend. »Wird es zu viel für dich?«
»Nein! Nein … Überhaupt nicht. Ich wundere mich selbst, aber ich habe das Gefühl, als wäre dies genau der Ort, an dem ich jetzt sein sollte. Ich habe mich Bianka selten so verbunden gefühlt wie hier in diesem Augenblick. Noch nicht mal, als sie noch lebte.« Sie wusste, dass sich das verrückt anhörte. Doch offenbar nicht für Niklas. Er nickte nur verständnisvoll und blieb an ihrer Seite.
Als es dann Zeit wurde, die Schränke und Schubläden nach wichtigen Unterlagen abzusuchen, wurde es Rosa doch wieder schwer ums Herz.
»Wir müssen nicht alles heute erledigen, Rosa. Wenn du willst, hören wir auf und machen morgen weiter.«
»Nein, ich habe das schon viel zu lange hinausgezögert. Mir sitzen mehrere Ämter im Nacken, die die Sachen brauchen. Außerdem möchte ich das erledigt haben, bis meine Eltern in München eintreffen. Wenn sie in zwei Tagen ankommen, werden sie es auch so schon schwer genug haben, die Beerdigung ihrer Tochter durchzustehen.«
»Wo werden sie wohnen?«
»Ich habe auswärts eine Ferienwohnung für sie und mich gebucht. Da werden wir bleiben, bis die Beerdigung vorbei ist.«
»Wenn deine Eltern hier sind, wirst du mit ihnen zusammen sein wollen. Wir werden uns dann nicht mehr so häufig sehen können.«
Als Rosa das Bedauern in seinen Worten heraushörte, lächelte sie. »Bis dahin haben wir noch zwei Tage für uns.«
»Ja, nur noch zwei Tage …« Niklas griff nach ihrer Hand. »Rosa, bitte, geh heute Abend mit mir essen.«
Es war keine normale Verabredung zum Essen unter Freunden. Das wusste Rosa, als sie in seine Augen sah, die so viel mehr sagten als sein Mund. Der heutige Abend würde eine Entscheidung bringen. Heute Abend würde sie endlich wissen, ob Niklas ihre Gefühle erwiderte.
*
Fred Steinbach passierte gerade die Lobby der Behnisch-Klinik, als ihn eine vertraute Stimme aufhielt:
»Hast du uns wieder einen Patienten gebracht, Fred?«
»Ja. Leider ist das der einzige Grund, der mich herführt.«
Fred wartete, bis Daniel Norden ihn erreicht hatte. »Früher habe ich ja gern mal zwischendurch einen kleinen Abstecher in eure Cafeteria gemacht, aber dazu komme ich schon lange nicht mehr.«
Daniel musterte seinen alten Freund aufmerksam. Fred Steinbach hatte vor Kurzem seinen Sechzigsten gefeiert. Der stressreiche Beruf als Notarzt hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen. Die klugen, graublauen Augen blickten müder als sonst und verrieten, dass es in Freds Leben zu viel Arbeit und zu wenig Pausen gab. »Wie sieht’s jetzt mit einer kleinen Kaffeepause aus? Ich glaube, es wird mal wieder Zeit für ein Gespräch unter Freunden.«
Fred lachte. »Das klingt eher so, als wolltest du mir eine Standpauke halten.« Er drückte flüchtig Daniels Arm. »Sei unbesorgt. Bei mir ist alles in bester Ordnung. Außerdem gehe ich bald für drei Wochen in Urlaub und kann mich dann ausreichend erholen.«
»Das freut mich für dich. Ich denke, der Urlaub wird dir gut bekommen.«
Fred nickte. »Drei Wochen in unserem kleinen Häuschen am See, mit ganz viel Zeit zum Ausschlafen, Bootfahren und Angeln. Vielleicht kommst du mich ja mal mit Fee besuchen. Loni würde sich darüber genauso freuen wie ich.«
»Könnte sein, dass wir das wirklich machen. Irgendwie ist mir auch ein bisschen nach Urlaub.« Daniel lächelte, als er die adrette Blondine sah, die die Lobby mit eiligen Schritten durchquerte und direkt auf ihn zusteuerte. »Vielleicht sollte ich das sofort mit Fee besprechen, bevor meine Urlaubssehnsucht wieder verfliegt.«
Fee Norden erreichte die beiden Männer und schloss Fred Steinbach in eine herzliche Umarmung. Leider hatten weder Fred noch Fee die Zeit für ein längeres Gespräch. Als Fred nach ein paar kurzen Worten zu seinem Rettungswagen zurückkehrte, wollte auch Fee ihren Gang fortsetzen.
»Was ist los, Feelein? Hast du keine fünf Minuten für deinen Mann übrig?«, scherzte Daniel.
Fee ging nicht auf seinen Ton ein.
»Ich bin wirklich in Eile, Schatz. Rosa wartet in meinem Büro. Übrigens nicht allein. Niklas Harrmann, der Freund, von dem sie uns erzählt hat, ist bei ihr. Sie waren heute in Biankas Wohnung und anschließend beim Jugendamt. Rosa hat vorhin am Telefon sehr aufgeregt geklungen. Es soll interessante Neuigkeiten geben.«
Daniel nahm Fees Hand und ging mit ihr zusammen zum Fahrstuhl. »Interessante Neuigkeiten? Dann bin ich auf alle Fälle dabei. Außerdem muss ich mir den jungen Mann anschauen, der unserer Rosa den Kopf verdreht hat.«
Fee musste lachen. »Du hast es also auch bemerkt?«
Daniel zog eine Braue hoch. »Jeder hat es bemerkt. Es ist wohl niemanden entgangen, dass von Rosa ein glückliches Strahlen ausgeht – trotz ihrer Trauer. Besonders, wenn sie von Niklas Harrmann spricht, der anscheinend immer in ihrer Nähe ist.«
Sie fanden Rosa und Niklas nicht in Fees Büro, sondern auf der Kinderstation.
Schwester Gitta informierte sie: »Sie sind beide bei Lina. Ich war mir nicht ganz sicher, ob der Freund von Frau Makowski überhaupt zu der Kleinen darf, aber da er ja bald die Vaterrolle für Lina übernehmen wird, dachte ich mir …«
»Vaterrolle?«, fragte Fee verwundert nach. »Wie kommen Sie denn darauf, Gitta?«
»Äh … also nun ja … Wenn Frau Makowski das Baby adoptiert, dann ist ihr Freund doch irgendwie der Vater von Lina. Oder nicht?«
»Doch, natürlich, Gitta.« Fee sah schmunzelnd zu Daniel auf. Als sie Gitta verließen, raunte sie ihm leise zu: »Also Gitta hat es auch schon bemerkt.«
»Sag ich doch: Jeder hat es bemerkt. Rosa und Niklas sind ein Paar. Bin gespannt, wann sie das endlich begreifen.«
Fee lächelte, als sie vor Linas Tür ankamen und durch die Glasscheibe ins Zimmer blickte. »Sieh sie dir nur an«, flüsterte sie ergriffen.
Glücklich lächelnd standen Rosa und Niklas zusammen. Niklas hielt die schlafende Lina in seinen Armen und wiegte sie sanft. Niemand von ihnen ahnte, dass es zwei Zuschauer gab, die nur schwer ihre Rührung verbergen konnten.
Fee öffnete die Tür so leise wie möglich, um Lina nicht zu wecken. Sie machten sich mit Niklas bekannt, den sich insbesondere Daniel etwas genauer ansah. Er nahm seine Rolle als Gastvater für Rosa sehr ernst und hatte sich deshalb vorgenommen, dem jungen Mann ein wenig auf den Zahn fühlen. Schnell stellte er fest, dass es nichts an ihm auszusetzen gab. Niklas Harrmann war nicht nur ehrlich, sondern auch offenherzig und mitfühlend.
»Wollen wir in meinem Büro weitersprechen?«, fragte Fee. »Dann stören wir Linas Schlaf nicht.«
Niklas nickte und legte die Kleine behutsam in ihrem Bettchen ab. In Fees Büro überschlug er sich fast vor Begeisterung. »Ist sie nicht zauberhaft? Als wir zu ihr kamen, war sie noch wach gewesen. Sie hat uns sofort angelächelt. Ich glaube, sie hat sich gefreut, uns zu sehen. Und kaum lag sie in meinen Armen, ist sie eingeschlafen.« Er schüttelte fassungslos den Kopf, als er sagte: »Leo hat keine Ahnung, was ihm entgeht.«
Rosa nahm einen großen Briefumschlag aus ihrer Tasche und übergab ihn Fee und Daniel.
»Was ist das?«, fragte Fee und sah zu, wie Daniel den Inhalt herausholte.
»Das ist Biankas Testament. Wir haben es in ihrer Wohnung gefunden. Eigentlich war ich nur auf der Suche nach Linas Geburtsurkunde gewesen, und dabei sind wir auf dieses notariell beglaubigte Testament gestoßen. Die Geburtsurkunde haben wir übrigens auch dabei.« Sie nahm aus einer Mappe die Urkunde raus und gab sie Fee.
»Nun wissen wir wenigstens, wann unsere Süße Geburtstag hat«, stellte Fee mit einem kurzen Blick darauf fest. »Und - wie schon vermutet – Leo steht nicht als Vater drauf. Wenn er keine Klage zur Feststellung der Vaterschaft einreicht, hat er keine Chance, Lina zu bekommen.«
»Selbst dann würde es schlecht für ihn aussehen.« Daniel hielt das Testament in den Händen und überflog es. »Bianka hat hier für den Fall ihres Todes festgelegt, wer sich ihrer Tochter annehmen soll. Es ist Rosa, nicht Leo. Sie hält den Kindesvater für unreif und nicht vertrauenswürdig«, zitierte er.
»Obwohl sie ihn immer geliebt hat, wusste sie ihn richtig einzuschätzen«, sagte Niklas. »Mich wundert nur, dass es dieses Testament überhaupt gibt. Das ist doch sehr ungewöhnlich. Immerhin war Bianka jung und gesund. Wer denkt da schon an seinen Nachlass?«
»So ungewöhnlich ist das nicht«, erklärte Fee. »Viele Eltern machen sich Gedanken darüber, wer am besten geeignet wäre, sich um ihr Kind zu kümmern, falls sie es nicht mehr können, und halten das dann in einem Testament fest. Bianka hat das auch getan und damit dem Jugendamt die Arbeit sehr erleichtert. Es wird Biankas Wunsch auf jeden Fall berücksichtigen.«
»Ja, das wurde mir dort auch so gesagt. Ich bekomme jetzt erst mal das vorläufige Sorgerecht, bis die Adoption durch ist. Und was Biankas Motive anbelangt …« Rosa holte einen weiteren Briefumschlag aus ihrer Tasche, der noch ungeöffnet war. »Der Brief ist an mich adressiert und lag beim Testament. Er wird mir sicher helfen, das Ganze zu verstehen.« Der Brief zitterte in Rosas Händen, und sie legte ihn schnell auf dem Tisch ab. »Ich … ich konnte ihn noch nicht öffnen«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich schaffe das noch nicht.«
»Lass dir Zeit damit«, sagte Fee zu ihr. »Mach es erst, wenn du dazu bereit bist. Ich weiß zwar nicht, was in diesem Brief steht, aber ich bin mir sicher, dass er dir helfen wird, deinen Frieden mit Bianka zu finden. Sie muss dich sehr geliebt haben, wenn sie dir das Wertvollste, was eine Mutter besitzt, anvertraut.«
Als sich später Rosa und Niklas verabschiedeten, sagte Daniel zu ihnen: »Wir holen heute den Sohn meines Cousins vom Flughafen ab. In der nächsten Zeit wird Alexander bei uns leben. Zur Feier des Tages wollten wir alle zusammen essen gehen. Wir rechnen fest mit dir, Rosa. Und Sie, Herr Harrmann, sind auch herzlich eingeladen. Rosas Freunde sind uns immer willkommen.«
»Vielen Dank, Dr. Norden, aber…« Er druckste ein wenig herum, ehe er weitersprach. »Aber eigentlich hatte ich Rosa schon für heute eingeladen.« Er warf ihr einen unsicheren Blick zu. »Wenn du möchtest, storniere ich natürlich meine Reservierung in dem Restaurant, und wir verschieben unsere Verabredung auf einen anderen Tag.«
»Kommt überhaupt nicht infrage«, mischte sich Fee ein. »Wenn Sie für heute Abend schon eigene Pläne haben, sollten Sie die nicht unseretwegen über den Haufen werfen. Gehen Sie mit Rosa aus! Ich bin mir sicher, Sie haben sich viel zu sagen. Und morgen kommen Sie dann zu uns. Es ist Rosas letzter Abend in unserem Haus. Es wäre schön, wenn wir uns alle zu einem kleinen Abschiedsessen treffen würden.«
»Vielen Dank, Frau Norden. Ich nehme die Einladung sehr gern an.«
»Aber ums Essen kümmere ich mich«, sagte Rosa schnell. »Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um mich für die Gastfreundschaft zu bedanken.« Sie warf Niklas einen verschmitzten Blick zu. »Außerdem würde ich gern ein wenig mit meinen Kochkünsten angeben.«
»Einverstanden, Rosa«, erwiderte Fee lachend. »Dann sehen wir uns alle morgen. Und für heute wünschen wir euch einen wunderschönen Abend.«
*
Anneka beobachtete ihre Freundin kritisch, als sie ins Wohnzimmer kam. »Das willst du also zu deiner Verabredung anziehen?«
Rosa blieb stehen und sah an sich hinunter. Sie trug eine schwarze Baumwollhose und eine schwarze taillierte Bluse.
»Ich weiß«, stöhnte sie leise auf. »Das sind die Sachen, die ich für die Beerdigung eingepackt hatte. Ich konnte doch damals nicht ahnen, dass ich mich für ein Date schickmachen muss.«
Janni, der auf der Couch rumlümmelte, sah bei Rosas verzweifelten Worten auf und betrachtete sie von oben bis unten. Fachmännisch sagte er: »Was soll denn damit nicht stimmen? Sieht doch gut aus. Schwarz passt immer.«
»Manno, Professor!« Dési sah ihn genervt an. »Als ob du Ahnung von Mode hättest. Hier muss jemand helfen, der weiß, wovon er spricht.«
»Und damit meinst du natürlich dich«, griente Janni.
»Wen sonst?« Dési sprang aus ihrem Sessel auf, lief zu Rosa und zog sie mit sich nach oben. Als Rosa einen letzten hilflosen Blick zu Anneka warf, folgte diese ihr achselzuckend. »Dési findet sicher etwas Passendes für dich. In Modefragen darfst du dich auf ihr unfehlbares Urteil verlassen. Außerdem kannst du wirklich unmöglich so zu deiner Verabredung gehen. Niklas würde vor Ehrfurcht sicher kein Wort herausbekommen.«
»Eigentlich ist es ja nur ein Abendessen«, warf Rosa ein und hoffte, dass sie sich irrte. »Dass es ein Date ist, bilde ich mir vielleicht nur ein.«
»Machst du nicht!«, rief Janni ihnen hinterher. »Selbst ich weiß, dass das ein Date ist!« Désis spitze Antwort darauf konnte er nicht mehr hören. Die drei Mädchen waren in Désis Zimmer verschwunden und blieben dort für die nächste halbe Stunde. Als sie zurückkamen, stieß Janni einen anerkennenden Pfiff aus. Rosa trug jetzt eine ärmellose Shirtbluse mit einem floralen Druck in dezenten Farben. Von ihrer schwarzen Hose hatte sie sich nicht getrennt, aber in Kombination mit dem farbigen Oberteil hatte diese viel von ihrer Strenge verloren. Während Dési für die Kleiderfrage verantwortlich gewesen war, hatte sich Anneka um das Make-up ihrer Freundin gekümmert. Eine leichte Foundation, etwas Rouge und ein wenig Lipgloss hatten einen entscheidenden Anteil an Jannis Beifallsbekundungen gehabt.
»Du siehst toll aus, Rosa«, sagte Anneka leise zu ihr. »Niklas muss blind sein, wenn er das nicht bemerkt.«
»Es ist vielleicht doch nur ein Essen unter Freunden«, befürchtete Rosa wieder.
»Nein, ist es nicht.« Anneka umarmte Rosa. »Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend, Rosa. Du hast ihn dir verdient. Ich würde gern Niklas’ Gesicht gesehen, wenn er dich abholen kommt, aber wir müssen jetzt leider los.«
Fee und Daniel waren zum Flugplatz gefahren, um Alex von dort abzuholen. Die ganze Familie wollte sich dann in dem kleinen Lieblingsitaliener zum Essen treffen und Alexanders Ankunft gebührend feiern.
»Ich freue mich schon auf Alex«, sagte Dési. »Er ist bestimmt viel netter, charmanter, zuvorkommender als …« Sie machte eine kurze Pause und sah grinsend zu Janni hinüber. »… als jemand, den ich kenne, dessen Namen ich aber nicht nennen möchte.«
»Kannst du ruhig«, erwiderte Janni gelassen. »Stört mich nicht.«
»Müsst ihr euch eigentlich immer kabbeln?« Anneka sah ihre jüngeren Geschwister streng an.
»Wir müssen nicht«, gab Dési fröhlich zurück. »Aber wir machen’s trotzdem!«
Anneka schüttelte nur den Kopf, warf einen Blick zur Uhr, verabschiedete sich hastig von Rosa und verließ mit den Zwillingen im Schlepptau das Haus.
Nur Minuten später klingelte es an der Tür. Niklas war gekommen, um Rosa abzuholen. Auf einmal spürte Rosa ihre Nervosität und schalt sich dafür. Es gab überhaupt keinen Grund, so aufgeregt zu sein. Sie hatte Niklas in den vergangenen Tagen fast ständig gesehen, ohne jedes Mal weiche Knie bekommen zu haben. Und doch war es plötzlich anders. Als sie die Tür öffnete und in seine Augen sah, war sie sicher, dass er sie noch nie so angesehen hatte. In seinem Blick las sie so viel: Bewunderung, Zärtlichkeit, Verlangen - und Liebe.
Das brachte sie so durcheinander, dass sie kaum einen vernünftigen Satz zustande bekam.
»Ich … ich brauch nur noch meine Handtasche, äh … und dann können wir los.«
Niklas nickte stumm und sah ihr zu, wie sie nach ihrer Tasche griff, die Haustür hinter sich zuzog und abschloss. Als sie zu seinem Wagen gingen, sagte er noch immer nichts, und Rosas Aufregung nahm zu. Sie blieb an der Beifahrertür stehen und sah zu ihm auf. Plötzlich zog er sie in seine Arme und küsste sie. Das kam so überraschend, dass sie einen Moment erstarrte, bevor sie sich diesem Kuss hingeben konnte. Er war zärtlich und so liebevoll, dass er ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Doch viel zu schnell war er vorbei.
Niklas zog sich zurück und sagte leise: »Es tut mir leid. So war das nicht geplant gewesen.«
»Wie lautete denn dein Plan?«, fragte Rosa atemlos.
»Ich wollte einen wunderschönen Abend mit dir verbringen, dich anschließend zurückfahren und dann … erst dann wollte ich dich küssen. Aber ich konnte nicht so lange warten. Ich musste dich einfach schon jetzt küssen.«
Rosa lächelte. »Ich bin froh, dass du dich nicht an deinen ursprünglichen Plan gehalten hast.«
Erleichtert lachte Niklas auf. »Das ist gut. Ich hatte schon schreckliche Angst, dass ich es jetzt mit meiner stürmischen Art verdorben haben könnte.« Er wurde ernst. »Ich weiß, es ist nicht der passende Augenblick für romantische Gefühle. Du bist in Trauer wegen Bianka, hast so viele Dinge zu erledigen und bemühst dich außerdem um das Sorgerecht für Lina. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um sich zu verlieben. Aber ich habe es trotzdem getan. Ich habe mich in dich verliebt. Die Liebe war plötzlich da und ließ sich nicht auf später verschieben, wenn sie vielleicht besser gepasst hätte.« Er strich ihr andächtig die Haare zurück und legte seine Hände wie einen Rahmen um ihr Gesicht. »Ich liebe dich, Rosa. Ich liebe dich so sehr.«
»Ich liebe dich auch«, konnte sie nur noch flüstern, bevor er sie wieder küsste.
*
Rosa lächelte, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Sie hatte von Niklas geträumt. Er hatte sie in seinen Armen gehalten und ihr gesagt, dass er sie liebe. Sie rekelte sich wohlig in ihrem Bett und wollte wieder einschlafen, um weiter von ihm zu träumen. Doch dann fiel ihr ein, dass es nicht nur ein Traum gewesen war. Es war tatsächlich geschehen. Gestern Abend hatten sie sich ihre Liebe gestanden. Sie liebten sich, und Rosa war glücklicher als je zuvor in ihrem Leben. Es gab noch viele Dinge, über die sie reden mussten und für die sie gestern keine Zeit gefunden hatten. Rosas eigentliches Leben spielte sich in Kassel ab und nicht in München. Dort waren ihre Freunde, ihre Arbeit und die kleine Wohnung in der Altstadt. Obwohl sie die wohl bald aufgeben würde. Sie war viel zu klein, um dort mit einem Kind zu leben. Und dann gab es ja auch Niklas. Würde er nach Kassel kommen? Oder bat er sie, in München zu bleiben? Sie würde Ja sagen, sofort, ohne zu zögern. Schließlich liebte sie ihn, und von einer Fernbeziehung hielt sie nicht viel. Und er liebte sie auch. Das war das Wichtigste, entschied Rosa. Alles andere würde sich schon finden.
Mit einem glückseligen Lächeln schloss sie ihre Augen, dachte an die vielen süßen Küsse, die sie gestern getauscht hatten, und war im Nu wieder eingeschlafen.
Als sie das nächste Mal wach wurde, war es schon später Vormittag. Vor Schreck fuhr sie hoch und sprang aus dem Bett. Um elf musste sie beim Jugendamt sein, um die Papiere für das vorläufige Sorgerecht zu unterschreiben. Sie verzichtete auf die Dusche und den Kaffee, rief sich ein Taxi und betete, dass sie nicht zu spät kommen möge.
Ihr Gebet wurde erhört. Sie war pünktlich, unterschrieb alle Papiere und durfte nun ganz offiziell über die Geschicke ihrer Nichte verfügen. Vor dem Gebäude, in dem das Jugendamt untergebracht war, musste sie erst mal tief durchatmen, um wieder zur Ruhe zu kommen und ihr großes Glück fassen zu können. Lina gehörte nun endlich zu ihr! Sie lachte auf, als ihr einfiel, dass sie gerade Mutter geworden war. Und sie wurde traurig, als sie an Linas leibliche Mutter denken musste. Doch dann rief sie sich zur Ordnung. Es war Biankas Wunsch gewesen, ihre kleine Tochter in Rosas Obhut zu geben. Sie würde sich darüber freuen, dass sich ihr Wunsch erfüllt hatte. Und plötzlich wurde Rosa ganz leicht ums Herz, und die Trauer erdrückte sie nicht mehr.
Es war Mittag, als sie vor der Behnisch-Klinik stand, um Lina zu besuchen. Noch bevor sie hineingehen konnte, klingelte ihr Handy. Stirnrunzelnd sah sie auf die Nummer. Ihre gute Stimmung war schlagartig verschwunden. Es war Leo, der sie anrief. Seit dem katastrophalen Abendessen beim Thailänder hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet. Sie war darüber nicht traurig. Für sie war Leo kein Mensch, mit dem sie gern Zeit verbrachte. Und seit sie wusste, dass sie nicht mehr auf sein Wohlwollen angewiesen war, hatte sie ihn aus ihrem Gedächtnis verbannt. Dieses Telefonat musste sie nicht führen. Zwischen ihr und Leo gab es nichts mehr zu sagen.
Trotzdem ging sie ran. »Hallo, Leo.«
»He, Rosa«, brüllte Leo aufgekratzt und bester Stimmung durchs Telefon. »Stell dir vor: In vier Wochen geht’s für mich und die Band in die Staaten auf große Tour! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie happy ich bin!«
»Na dann, herzlichen Glückwunsch«, erwiderte Rosa spröde.
»Danke! Ach ja, eine Kleinigkeit noch. Deswegen ruf ich vor allem an: Die Kleine kannst du natürlich haben. Wäre ja echt blöd, sie mitzunehmen. Außerdem … du weißt schon … muss ja auch nicht jeder wissen, dass ich eine Tochter habe. Also, wenn du immer noch scharf bist, sie zu dir zu nehmen, meinen Segen hast du.«
»Aha.«
»Na dann … äh …« Seine Unbekümmertheit schwand.
Dass Rosa auf seine Mitteilung nicht so reagierte, wie er es vermutet hatte, brachte ihn aus dem Konzept. »Äh … Also, wenn dann alles geklärt ist … wünsch mir Glück für die Tour!«
»Leb wohl.« Rosa legte auf. Sie wusste, es war das letzte Mal gewesen, dass sie mit Leo Glaser gesprochen hatte. Mag sein, dass sie noch viel von ihm und seiner Musik hören würde. Schließlich war er auf dem besten Weg, ein weltbekannter Star zu werden. Aber zwischen ihnen war alles gesagt, und an dem Leben seiner Tochter hatte er keinen Anteil mehr. Wahrscheinlich vergaß er sie, sobald er im Flieger saß. Das hätte Rosa traurig stimmen müssen, doch sie wusste, dass es Lina an nichts fehlen würde. Rosa würde ihr die leibliche Mutter nach besten Kräften ersetzen, und Niklas … Niklas würde einen großartigen Vater abgeben. Falls er dazu bereit war.
Mit diesem Gedanken betrat Rosa die Behnisch-Klinik. Sie besuchte erst Fee Norden, um ihr von ihrem Erfolg beim Jugendamt zu berichten. Dann verbrachte sie zwei wundervolle Stunden bei Lina und schwatzte ein wenig mit Schwester Gitta, bevor es Zeit wurde, für das heutige Abendessen einzukaufen. Spontan beschloss sie, einen kleinen Umweg zu machen. Trotz der Freude, die sie in ihrem Herzen empfand, gab es etwas, was sie nicht länger vor sich herschieben konnte. In ihrer Handtasche lag immer noch Biankas ungeöffneter Brief, und heute wog er besonders schwer.
Sie stand vor Biankas Wohnungstür und musste erst ein paar Mal tief durchatmen, bevor sie den Mut fand hineinzugehen.
Hier, nur hier war der richtige Ort, um den Brief zu lesen und mit Bianka Frieden zu schließen.
Wieder spürte Rosa diese tiefe Verbindung zu ihrer Schwester und die friedvolle Atmosphäre, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie fühlte sich wohl, fast so, als wäre das ihr Zuhause. Ihr Zuhause … Sie ließ diese beiden Wörter in ihrem Innern nachklingen. Wo war ihr Zuhause eigentlich? In Kassel, wo es niemanden gab, den sie tief und innig liebte? Oder hier? Sofort fielen ihr Niklas ein und Lina - und natürlich auch Anneka mit ihren Eltern und Geschwistern. In Kassel gab es niemanden, für den sie nur annähernd so viel empfand wie für diese Menschen, mit denen sie die letzte Woche verbracht hatte.
Rosa setzte sich in den gemütlichen Sessel mit der hohen Lehne, der am Wohnzimmerfenster stand. Als sie mit einer Hand über den weichen Polsterstoff strich, wusste sie instinktiv, dass dies Biankas Lieblingsplatz gewesen war. Hier hatte sie gesessen, ihr Baby in den Armen gehalten und in den Schlaf gewiegt. Sie hatte aus dem Fenster gesehen und die Kinder auf dem Spielplatz bei ihrem fröhlichen Treiben beobachtet. Und vielleicht hatte sie sogar hier, an diesem Platz, den Brief für ihre kleine Schwester geschrieben.
Rosa nahm ihn aus der Tasche. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, riss sie den Umschlag auf und zog das weiße Briefpapier heraus. Es war Biankas Schrift, eindeutig und so überwältigend, dass sie Rosa die Tränen in die Augen trieb. Ihre Hände zitterten, als sie den Bogen auseinanderfaltete und die wenigen Zeilen las.
Meine liebe Rosa,
neben Lina, meinem kleinen Sonnenschein, gehörst du zu den liebsten und wertvollsten Menschen in meinem Leben. Bitte verzeih mir, dass ich das oft vergessen habe. Du warst immer für mich da, selbst, wenn ich es nicht wollte. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.
Bitte sei auch für meine Tochter da, sollte ich es nicht mehr können. Es gibt niemanden, dem ich sie lieber anvertrauen würde als dir.
In Liebe,
deine Bianka
Rosa lächelte, als sie das Blatt sinken ließ. Die vielen Tränen, die ihr dennoch über die Wangen liefen, schmerzten nun nicht mehr. Sie brachten Frieden und Erlösung und die Gewissheit, mit Bianka im Reinen zu sein.
*
In jeder Hand eine prall gefüllte Einkaufstasche, versuchte Rosa vergeblich, die Haustür der Nordens aufzuschließen, als sie plötzlich von innen aufgerissen wurde. Vor Schreck sprang sie einen Schritt zurück und starrte den jungen Mann vor sich mit offenem Mund an. Er mochte in ihrem Alter sein, wahrscheinlich etwas jünger, hatte dunkles, fast schwarzes Haar und überraschend blaue Augen. Er war eine auffallende Erscheinung, groß gewachsen und schlank, mit gut geschnittenen Gesichtszügen und vollen Lippen, die sich nun zu einem sympathischen Lächeln verzogen. »Ich würde dich ja reinlassen, aber vielleicht bist du eine Einbrecherin, die mich ausrauben will.«
»Einbrecherin?«, echote Rosa verwirrt. Dann endlich begriff sie. »Du musst Alexander sein, der Cousin von Fee und Daniel Norden.«
»Neffe zweiten Grades, um korrekt zu sein. Und du bist Rosa. Tante Fee hat mir von dir erzählt.« Er nahm ihr die Taschen aus den Händen und ging damit direkt in die Küche.
»Was hast du mitgebracht?«, wollte er wissen und warf einen neugierigen Blick auf den Einkauf. Er sprach mit ihr, als würden sie sich schon lange kennen, und Rosa fand das kein bisschen seltsam. Alexanders unkomplizierte, offene Art gefiel ihr.
»Ich koche heute. Es ist mein letzter Abend hier, und mit dem Essen möchte ich mich für die Gastfreundschaft bedanken.«
»Eine Frau, die nicht nur wunderschön ist, sondern auch noch kochen kann. Die Männer müssen Schlange stehen.«
»Nur einer«, erwiderte Rosa lachend.
»Wenn es der Richtige ist, reicht einer.« Alex sah auf die Lebensmittel, die Rosa nach und nach aus den Taschen holte. »Also dann, sag mir, was ich tun soll. Ich bin beim Kochen dabei.«
»Ein Mann, der nicht nur gut aussieht, sondern auch im Haushalt hilft. Die Frauen müssen Schlange stehen.«
»Noch nicht«, erwiderte Alex mit einem frechen Grinsen. »Aber ich bin ja auch erst gestern angekommen.«
In der nächsten Stunde erwies sich Alexander Norden als ein sehr fähiger Küchengehilfe. Mit einem Hauch Bewunderung schaute Rosa zu, wie er in atemberaubender Geschwindigkeit die Zwiebeln hackte. »Du machst das nicht zum ersten Mal«, stellte sie anerkennend fest.
Alex lächelte.
»Nein, ganz sicher nicht. Wir kochen zu Hause jeden Abend. Die ganze Familie trifft sich dann. Wir sitzen zusammen am großen Küchentisch, schneiden Gemüse, schälen Kartoffeln, erzählen, lachen, diskutieren. Für mich war es immer die schönste Zeit des Tages.«
»Klingt, als hättest du jetzt schon ein wenig Heimweh.«
»Klar«, erwiderte Alex lässig. »Wäre ja merkwürdig, wenn nicht. Aber ich freu mich auch auf das, was mich in München erwartet. Außerdem bin ich nicht allein. So wie es aussieht, habe ich hier eine tolle Ersatzfamilie gefunden.«
»Ja, das hast du«, sagte Rosa mit einem warmen Lächeln. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«
Es war eine große Runde, die später auf der Terrasse zusammensaß, sich Rosas Essen schmecken ließ, guten Wein trank und bis in die Nacht erzählte und lachte. Niemand mochte diesen zauberhaften, milden Sommerabend ausklingen lassen.
Mit etwas Wehmut sah sich Rosa um. Sie würde alle vermissen, wenn sie wieder in Kassel war. Morgen würden ihre Eltern in München eintreffen. Es verstand sich von selbst, dass Rosa dann ihre Zeit mit ihnen verbringen würde. Biankas Beerdigung würde noch mal viel Kraft kosten. Ihre Eltern wollten anschließend so schnell wie möglich zu ihrem Schiff zurück und ihre Weltreise fortsetzen. Und Rosa? Sollte sie auch aufbrechen und München den Rücken kehren? Oder sollte sie an der Idee festhalten, die sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte, seit sie heute in Biankas Sessel saß? Noch war es nur eine Idee, so vage, dass sie sie nicht zu Ende denken oder gar darüber sprechen konnte. Doch sie ließ sie nicht mehr los.
Niklas, der neben ihr saß, berührte sanft ihre Hand. Leise raunte er ihr zu: »Was hältst du von einem kleinen Spaziergang?«
Lächelnd nickte sie und stand mit ihm zusammen auf.
Fee sah ihnen nach und unterdrückte nur mit viel Mühe einen Seufzer. Morgen würde Rosa ihr Haus verlassen, und Fee stimmte das traurig. Daniel, der wieder einmal ahnte, was in ihr vorging, beugte sich zu ihr hinüber. »Sie wird dir fehlen, nicht wahr?«
»Ja, Dan, das wird sie. Nicht nur, weil ich sie liebgewonnen habe. Mir kommt unser Haus manchmal einfach so still und leer vor, trotz der Zwillinge. Weißt du noch, wie es hier früher war? Fünf lebhafte Kinder tobten durchs Haus. Ich war froh, dass wir unsere Lenni hatten, die mir half, mit der wilden Bande fertigzuwerden. Und nun?«
»In unserem Haus wird immer Leben sein, Feelein.« Er deutete mit dem Kopf zu Alex hinüber, der in einer eifrigen Diskussion mit Janni vertieft war. »Es wird immer wieder jemanden geben, den wir bei uns aufnehmen dürfen und der uns ein wenig auf Trab hält. Alex wird schon dafür sorgen, dass hier keine Langeweile aufkommt.«
»Aber nur solange er bei uns wohnt. Wenn er erstmal eine Unterkunft im Studentenwohnheim gefunden hat oder ein WG-Zimmer …«
Daniel unterbrach sie mit einem ungläubigen Lachen. »Hier in München? So schnell wird das bestimmt nicht passieren. Ich denke, an Alex werden wir noch lange unsere Freude haben. Er ist ein toller Junge.«
Fee konnte da nur mit einem glücklichen Lächeln zustimmen.
Und auch Rosa war glücklich. Hand in Hand schlenderte sie mit Niklas die Straße entlang.
»Du hast Biankas Brief gelesen, nicht wahr?«
Überrascht sah sie ihn an. »Ja, woher weißt du das?«
»Du siehst irgendwie anders aus. So, als hättest du deinen Frieden gefunden und kannst nun endlich nach vorn schauen.«
»Ich glaube, du hast recht. Es waren nur wenige Zeilen gewesen, aber sie haben mir unglaublich gutgetan.« Rosa erzählte ihm von ihrem Tag. Sie berichtete von dem Brief, von dem Besuch beim Jugendamt und von Leo, dem seine kleine Tochter völlig gleichgültig war und der nur noch an seine Amerikatournee dachte.
»Ich kann es nicht verstehen.« Niklas schüttelte den Kopf. »Lina ist sein Kind. Wie kann er sie nur im Stich lassen? Wer sie sieht, muss sie einfach lieben.«
»Ja, das stimmt«, sagte Rosa. »Ich hatte mich in der ersten Sekunde in sie verliebt.«
»Ich auch. In Lina und in dich.« Niklas blieb stehen und küsste sie zärtlich. »Ein Leben ohne euch kann ich mir nicht mehr vorstellen. Bitte, lass uns einen Weg finden zusammenzubleiben. Wenn du nicht in München bleiben möchtest, werde ich dir nach Kassel folgen. Du und Lina, ihr seid die Familie, nach der ich mich immer gesehnt habe.«
»Mir geht es nicht anders, Niklas. Auch ich möchte dich nie mehr verlassen. Deshalb …« Sie musste erst die Aufregung hinunterschlucken, bevor sie aussprechen konnte, was sie seit Stunden beschäftigte. Ihre Idee bekam nun Leben. »Deshalb möchte ich in München bleiben. Bei dir. Wir könnten Biankas Wohnung übernehmen. Sie wäre ideal. Dort wäre genügend Platz für uns alle, es gibt ein wunderschönes Kinderzimmer, einen Spielplatz in der Nähe, die Gegend ist ruhig und ich …« Rosa brach verlegen ab. »Tut mir leid, wahrscheinlich plane ich schon viel zu weit im Voraus und jage dir damit einen Riesenschrecken ein. Und das mit Biankas Wohnung ist möglicherweise doch keine so gute Idee. Also, wenn du dich da nicht wohlfühlst, dann …«
Diesmal war es Niklas, der Rosas Redefluss unterbrach. »Rosa, es ist mir ganz egal, wo wir leben werden.«
Er küsste sie auf die Nasenspitze und sagte dann: »Mir ist nur wichtig, dass wir uns nicht mehr trennen. Ich liebe dich und könnte keinen Tag mehr ohne dich sein. Ich werde immer für dich da sein. Für dich und für Lina.« Mit dem Kuss, den er ihr jetzt gab, besiegelte er sein Versprechen, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Rosa hätte ihm auch so geglaubt. Doch auf diesen wundervollen Kuss hätte sie trotzdem nicht verzichten mögen.