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Jetzt erst recht

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Für dieses Nicht-ganz-dazugehören wollten weder Markus noch ich Mitleid. Aufgeben war auch keine Option. Im Gegenteil. Wir wollten so schnell wie möglich den Deutschen das Wasser reichen können, wollten deutsche Lieder auswendig mitsingen können, gute Noten schreiben, zu deutschen Freunden zum Mittagessen eingeladen werden und wissen, welche Klamotten und welche Musik in sind. Das war der Plan und er wurde Schritt für Schritt umgesetzt.

Markus sprach bald nur noch Deutsch mit mir und auch mit seinen Mitschülern. Er – athletisch, groß, sportlich – wurde fester Bestandteil der lokalen Basketball-Mannschaft und die Diktate blieben immer häufiger tintenblau statt rot. Zwar entdeckte er nicht unbedingt seine Liebe für deutsche Literatur, dafür aber für Naturwissenschaften. Er schaffte es problemlos aufs Gymnasium, bestand sein Abitur und studierte anschließend Maschinenbau.

Ich selbst hätte Werbung für »Wie werde ich schnellstmöglich zu 100 Prozent Deutsch?« machen können. Ich feierte wie meine deutschen Freunde meinen Geburtstag bei McDonalds, schaute die Sesamstraße, kannte alle Folgen von Bibi Blocksberg und lernte die dazu gehörenden Zaubersprüche auswendig. Als ich älter war, las ich, wie alle meine Freunde, Die drei ???, obwohl ich insgeheim TKKG noch ein Stück spannender fand. Ich wusste genau, was in welchem Alter angesagt war: Radlerhosen mit Neonstreifen tragen, sich Plastikschnuller in den verschiedensten Farben und Größen um den Hals hängen, Kinderüberraschungsfiguren und Telefonkarten aus aller Welt sammeln, Spanisch lernen, weil Englisch als zu mainstreamig galt. Ich zwang meine Eltern, die Lokalzeitung zu abonnieren, nachdem ich gesehen hatte, dass bei all meinen Freunden der Südkurier auf dem Küchentisch lag.

Polnische Literatur oder Unterhaltung? Fehlanzeige. Je weniger polnische Präsenz im Alltag, desto besser, war meine Devise. Da gab es aber ein Problem.

Meine Eltern. Liebevolle Eltern, die ich noch heute Mamulka, Mamalein, und Bobski, eine Mischung aus seinem Vornamen Bogusław und unserem Nachnamen Czarkowski, nenne.

Eltern, die ich als Kind und Jugendliche nicht ausreichend wertschätzte, wie mir im Nachhinein bewusst geworden ist. Denn ich empfand meine Eltern als Störfaktoren, was meine reibungslose Integration – oder was ich damals für eine reibungslose Integration in Deutschland hielt – anging. Meine Eltern lernten schnell passables Deutsch und fügten sich anstandslos den deutschen Regeln und Gesetzen. Sie schätzten sowohl die wirtschaftlichen Vorteile als auch die neu gewonnene Freiheit hier. Doch durch ihre, in meinen Augen, schwerwiegenden Fehler bewiesen sie regelmäßig, dass wir Ausländer waren. Sie sprachen Deutsch mit polnischem Akzent, bestellten »Lungenbrezeln« statt Laugenbrezeln, sie traten in Fettnäpfchen, weil sie viele deutsche Gepflogenheiten nicht kannten. Bei einem Gespräch über Sketche von Loriot fragten meine Eltern: »Wer ist Loriot?«.

Mich störte außerdem, dass im Kreis der Familie die polnische Sprache heilig und unantastbar war. Ich war gegen diesen Zuhause-Außerhalb-Kontrast, ich wollte ein deutsches Gesamtkonzept und nicht immer daran erinnert werden, dass wir in Deutschland nicht so verankert waren wie andere Familien.

Das klingt hart, böse und ungerecht. Schließlich waren es meine Eltern, die den Schritt gewagt hatten, Polen zu verlassen, um etwas Neues und Besseres aufzubauen.

Wie schwer sie es besonders am Anfang hatten, womit sie im Alltag kämpfen mussten, war mir nie aufgefallen. Ich sah nur, was meine Eltern im Gegensatz zu »richtig deutschen Eltern« nicht hatten: keine oder kaum deutsche Freunde, keine nennenswerten Hobbys, keinen Beruf wie Arzt oder Architekt, mit dem ich meine Freunde hätte beeindrucken können. Dass sie Freunde, Familie und ihre Anstellung in Polen zurückgelassen hatten, von Null anfangen mussten und darunter gelitten haben, habe ich mir nie bewusst gemacht.

»To był dramat – es war ein einziges Drama«, fasst mein Vater die Anfangszeit rückblickend zusammen.

Er sei sehr motiviert gewesen, schnell Deutsch zu lernen, Arbeit zu finden, soziale Kontakte aufzubauen. In allem jedoch wurde er anfangs gebremst. Deutsch konnten meine Eltern nur in der Sprachschule und beim Einkaufen üben, weil sie keine Deutschen kannten. Unsere ersten Nachbarn in Schwäbisch Gmünd, wo wir nach unserer Ankunft in Deutschland vier Jahre lang wohnten, waren Rumänen, Polen oder Russendeutsche. Auf die ersten Bewerbungen meines Vaters folgten nur Absagen, selbst für Stellen, für die er keine Deutschkenntnisse brauchte.

Eine Absage schmerzt ihn noch heute: bei Daimler in Untertürkheim. Über einen polnischen Bekannten hatte er erfahren, dass Mercedes-Benz Montage-Arbeiter suchte. Er setzte sich noch am selben Abend an den Küchentisch, schrieb so gut er konnte einen Lebenslauf und ein Bewerbungsschreiben. Am nächsten Tag ließ er sich beide Schreiben von unserer polnischen Bekannten Danuta korrigieren, der die besten Deutschkenntnisse in der ganzen Gegend nachgesagt wurden.

Es half nichts.

Weder mein Vater noch Danuta wusste, dass die Techniker-Ausbildung, die mein Vater im Lebenslauf wahrheitsgemäß angegeben hatte, dazu führen würde, dass er für die ausgeschriebene Stelle als überqualifiziert eingestuft werden würde. Andere polnische Aussiedler bekamen die Stelle, weil sie angegeben hatten, weder eine Ausbildung noch Erfahrung in der Produktion zu haben.

Mein Vater bekam nie einen Fuß in die Tür von Mercedes-Benz, dem Unternehmen, für das er heute noch, mit Ende 60, schwärmt. Seine erste Arbeitsstelle fand er schließlich bei einer Umzugsfirma. 10-Stunden-Tage. Knochenarbeit. Mein Vater spricht ungern über diese Zeit.

Meine Mutter kümmerte sich in den ersten Jahren vor allem um mich und um den Haushalt. Als ich sechs Jahre alt war, wurde meine Schwester geboren. In ihren erlernten Beruf als Hotelfachfrau, den meine Mutter so liebte, kehrte sie nie mehr zurück. Stattdessen nahm sie verschiedene Aushilfsjobs an.

»Warum hast du nicht probiert, wieder in einem Hotel zu arbeiten?«, frage ich sie erst, als ich dieses Buch schreibe.

»Das habe ich anfangs noch versucht. Aber in Polen habe ich nur Russisch als Fremdsprache gelernt. Mit Polnisch und Russisch und dem wenigen Deutsch, das ich damals konnte, hatte ich als Hotelfachfrau keine Chance. Je mehr Zeit verging, desto weniger glaubte ich daran, dass mich jemand einstellen würde«, antwortet meine Mutter in einem ungewohnt bedrückten Ton.

Von all diesen Niederlagen, zerplatzten Träumen und ungewollten Ausweichlösungen wusste ich jahrelang nichts.

Die Polnische Mitgift

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