Читать книгу Die Polnische Mitgift - Patricia Verne - Страница 11
Scham und Gram
ОглавлениеIch wusste nur eines: Es war mir peinlich, wenn meine Eltern als Nicht-Deutsche auffielen, wenn meine Freunde bei unseren selbst programmierten Sendern das Wort »Wideo« entdeckten (nicht wissend, dass es im Polnischen kein »V« gibt) und annahmen, meine Eltern seien Legastheniker, oder wenn ich wegen der Entscheidungen meiner Eltern in Verlegenheit gebracht wurde, wie bei meiner Kommunion: Ich hatte als einzige ein derart rüschenbeladenes Kleid an, dass alle dachten, ich sei dem Barock entsprungen.
Mein Cousin Markus kann sich ein Lachen nicht verkneifen, wenn er an das Kommunionskleid mit den Puffärmeln und den unzähligen Tüll-Lagen zurückdenkt.
»Weißt du, was mich an meinen Eltern damals am meisten gestört hat?«, fragt er und wartet dabei meine Antwort gar nicht erst ab. »Ich weiß noch, wie unangenehm es mir war, Freunde zu mir nach Hause zum Mittagessen einzuladen.« Er macht eine Pause, als wäre er nicht ganz sicher, ob er weitererzählen soll.
»Am Essen kann es nicht gelegen haben, da bin ich mir sicher«, sage ich, um das Gespräch am Laufen zu halten. Meine Tante Stasia ist eine hervorragende Köchin. Vor allem cielęcina z kluskami, Kalbsfleisch mit Klößen, und rolady wołowe faszerowane, gefüllte Rinderrouladen, schmecken bei ihr so hervorragend, dass meine Mutter jahrelang nur Kaffee-und-Kuchen-Einladungen pflegte, um den direkten Vergleich mit ihr zu vermeiden.
»Nein, es war nicht das Essen. Es lag daran, dass meine Eltern keine Unterhaltung auf Deutsch führen konnten. Wir saßen am Tisch und diese Mischung aus unangenehmer Stille und gebrochenen Halbsätzen fand ich entsetzlich.«
Die Defizite unserer Eltern, dieses Nicht-verbergen-können, dass wir aus einem anderen Land stammen, dieses ständige Sich-beweisen-müssen, begleitete mich jahrelang. Als Kind und Jugendliche habe ich mir mehr als einmal gewünscht, meine Familie wäre nicht aus Polen.
Die Schriftstellerin Alexandra Tobor ist zwei Jahre jünger als ich, auch sie kam als Aussiedlerin nach Deutschland. In ihrem Debütroman Sitzen vier Polen im Auto erzählt sie humorvoll die fiktive, aber mit biografischen Elementen gespickte Geschichte einer polnischen Familie, die in Deutschland Fuß fasst. Ihr Buch umfasst vieles, mit dem polnische Zuwanderer in Deutschland zu kämpfen hatten, mit Klischees, Alltagsproblemen und Missverständnissen. So schämt sich die Hauptfigur etwa, als sie bemerkt, dass ihre Mitschüler viel moderner angezogen sind als sie selbst; ihr Vater versucht in der Anfangszeit, einen polnischen Arzt zu bestechen, um endlich behandelt zu werden und von ihrem Umfeld wird ihren Eltern schnell bewusst gemacht, dass nur deutsch zu sein als erstrebenswert gilt.
Ein paar Jahre nach Erscheinen ihres Buches sucht Tobor in ihrem Artikel Made in Poland, den sie auf ihrem Blog veröffentlicht hat, Antworten darauf, warum das Polnische immer wieder zum Fallstrick wurde und warum Zuwanderer sich dafür schämten, aus Polen zu stammen.
Ein Grund für dieses Phänomen sei das Fehlen der »Marke Polen«.
»Für russische Themen lässt sich mit einer formschönen, farbenprächtigen Matryoschka oder dem roten Stern des Kommunismus werben. Russland ist eine Marke wie Italien, das visuell ebenso wirkmächtig auftrumpfen kann, allein schon mit seiner Stiefelform. Polen hat keine Logos, abgesehen von der Fahne der Solidarność vielleicht, die aber weder Assoziationen mit gelungenem Urlaub noch mit osteuropäischer Exotik weckt. Solche Kleinigkeiten mag man wegen ihrer kapitalistischen Natur als unbedeutsam verwerfen, aber ich glaube, dass sie eine große Rolle für die öffentliche Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Polen spielen«, schreibt Tobor.
Recht hat sie, denke ich und merke gleichzeitig: Ich selbst hatte jahrelang keine Vorstellung davon, was Polen als Land ausmacht, wie der Alltag der Menschen aussieht, was sie prägt. So sehr war ich damit beschäftigt, Deutsche zu sein. Zu keinem Zeitpunkt hätte ich sagen können, was meiner gleichaltrigen Cousine Małgorzata, kurz Gosia, deren Familie in Oberschlesien geblieben war, damals wichtig war. Dabei telefonierten wir regelmäßig miteinander.
Da Konstanz direkt an der Schweizer Grenze liegt, fuhren mein Vater und ich einmal im Monat in die Schweiz, um dort von einer Telefonzelle bei unserer polnischen Familie anzurufen – und das, obwohl wir zuhause ein Telefon hatten. Der Grund dafür: Mein Vater war überzeugt davon, dass es aus dem Schweizer Netz einfacher war, nach Polen durchzukommen.
»Vom deutschen Festnetz aus hat es teilweise stundenlang gedauert, bis ein Anruf zustande kam, weil zu viele polnische Migranten gleichzeitig in ihrer Heimat angerufen haben«, erklärt er mir.
Kann die Begründung meines Vaters stimmen, frage ich mich im Nachhinein? Warum sollte das polnische Netz weniger überlastet gewesen sein, wenn jemand aus der Schweiz anrief und alle anderen gleichzeitig aus Deutschland? In der Summe machte das doch keinen Unterschied.
Meine Tante Irena – die die Schwester meiner Großmutter ist, aber mir so nahe steht, dass ich sie Tante nenne – gibt mir eine andere Erklärung.
»Früher wurden viele Anrufe aus Deutschland aus politischen Gründen gar nicht erst durchgestellt. Ich glaube, dass Anrufe aus der Schweiz, dem damals politisch neutralen Land, weniger streng behandelt wurden.«
Was auch immer der Grund gewesen sein mag, es stimmte: Von der Schweiz aus hörten wir schon nach rund zehn Minuten die Stimme meiner Oma väterlicherseits, für mich nur babcia Stasia, die sich mit dem mir so vertrauten tak, sucham – ja, ich höre – meldete.
Bei einem dieser Telefonate verkündete meine Oma, dass sie, meine Tante Irena und deren Kinder Gosia und Rafal eine Reiseerlaubnis zu uns nach Deutschland bekommen hätten. Der Urlaub war für August 1986 geplant und sollte zu unserem ersten Wiedersehen nach unserer Ausreise werden.
Es war ein Sommer, mit dem ich vor allem die Farbe Dunkelblau verbinde. Wir waren jeden Tag schwimmen. Egal, ob die Sonne schien oder ob es regnete, wir waren stundenlang im Wasser, selbst dann noch, wenn unsere Lippen längst dunkelblau angelaufen waren. Auf dem Rückweg vom Freibad sammelten meine Cousine Gosia, ihr Bruder und ich am Waldrand körbeweise Blaubeeren. Zu Hause wartete meine Tante schon mit dem ausgerollten Piroggen-Teig auf uns, füllte die pierogi mit den Blaubeeren und schlug dazu Unmengen von Schlagsahne steif. Noch Stunden später hatte ich einen kugelrunden Bauch und eine dunkelblaue Zunge.
Und was ist von diesem Sommer, der mittlerweile mehr als 30 Jahre zurückliegt, bei meiner Cousine in Erinnerungen geblieben?
Gosia wohnt und arbeitet seit sie von zu Hause ausgezogen ist in Krakau – die lebendige Stadt mit ihren vielen Festivals und Kulturveranstaltungen passt perfekt zu meiner aufgeschlossenen Cousine. Als ich Gosia anrufe, ist sie noch bei der Arbeit und hat nur kurz Zeit für mich. Ich stelle ihr meine Frage und biete ihr an, mich zu einem anderen Zeitpunkt zurückzurufen, wenn sie Bedenkzeit brauchen sollte.
»Da muss ich gar nicht lange überlegen«, antwortet sie. »Ich weiß noch, wie fasziniert ich von deinem Riesenstapel Micky-Maus-Heften war. Und natürlich von deiner Radiergummi-Sammlung, du hattest sogar Radiergummis in Form einer Pizza oder eines Elefanten. Ich werde auch nie vergessen, dass wir schon vor dem Frühstück deine Lieblingszeichentrickserien angeschaut haben.«
Duck Tales, He-Man und Die Gummibärenbande, zählt sie so problemlos auf, als hätte man sie nach ihren Lieblingseissorten gefragt.
Ich selbst wusste nicht, was Gosia damals gerne las oder wofür sie sich interessierte. So sehr ich mich auch anstrengte, mir kam nichts in den Sinn, was ihr damals wichtig war. Die Tatsache, dass es damals ihr erster Besuch in der glitzernden und bunten Welt – wie sie Deutschland nannte – war, lasse ich mir selbst nicht als Erklärung dafür durchgehen, dass ich mich so wenig für ihr Leben interessierte. Nach dem Sommerurlaub 1986 sahen wir uns zwar bis zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht, danach dafür umso häufiger. Ich besuchte sie mindestens zweimal im Jahr, schlief auf einer Matratze in ihrem Zimmer, inmitten von ihren Büchern und Spielzeugen.
Ich kann mich nicht erinnern, diese auch nur eines Blickes gewürdigt zu haben.