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Späte Reue

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Bin ich unbewusst davon ausgegangen, dass meine deutsche Lebensart Vorrang hat? Habe ich das Polnische in mir und um mich herum absichtlich oder unbewusst ausgeklammert und ignoriert?

Ich beschließe, dem Historiker Peter Oliver Loew meine Fragen zu stellen. Loew ist Autor des Buches Wir Unsichtbaren: Geschichte der Polen in Deutschland und befasst sich seit Jahrzehnten unter anderem mit der Geschichte Polens und Schlesiens sowie den deutschpolnischen Beziehungen in der Neuzeit. Als ich Loew interviewte war er stellvertretender Direktor des Deutschen Polen-Instituts, heute leitet er es. Bei unserem Telefongespräch konfrontiere ich ihn als erstes mit der Frage, die mir so auf der Seele brennt.

»Herr Loew, ist es ungewöhnlich, dass ich damals deutschland-fixiert war, dass ich wie mit Scheuklappen durch die Welt gelaufen bin?«

»Nein, der in unterschiedlichem Maße ausgeprägte Wunsch, sich rasch in die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, ist der kleinste gemeinsame Nenner bei Aussiedlerkindern. Dieser Wunsch, zu dem auch in gewissem Maße der Druck der Eltern hinzukam, ist bei keiner anderen Zuwanderergruppe so ausgeprägt wie bei den Polen«.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der Loew zufolge immer wieder bei Zuwanderern, die mit ihren Kindern nach Deutschland gekommen sind, beobachtet wird: Verlusterfahrungen. Durch die Entscheidung der Eltern, Polen zu verlassen, habe der Nachwuchs, oft ohne sich verabschieden zu können, sein gewohntes Umfeld, Freunde oder auch lieb gewonnenes Spielzeug zurücklassen müssen.

Zum Glück blieb mir das erspart, weil ich bei der Ausreise so jung war, dass ich mich nicht mehr an Polen erinnern kann. Mein Kinderzimmer mit den Wandregalen, in denen ich meine Kuscheltiere der Größe nach aufgestellt hatte und meine Spielkameradin aus dem Sandkasten, Kamila, kenne ich nur von Schwarz-Weiß-Fotos.

Noch eine zweite Frage treibt mich um. Warum waren polnische Zuwanderer stärker als andere darauf aus, sich möglichst schnell in Deutschland zu integrieren? Auch andere Migranten haben ihr Land doch aus wirtschaftlichen und politischen Gründen verlassen und sich nicht so stark darauf fixiert, ihre Herkunft zu kaschieren.

Loew sagt dazu: »Deutschland war für viele Polen das reiche und ersehnte Land, in dem alles besser funktionierte und das die Aussicht auf ein erfülltes Leben bot. Die Tatsache, dass polnische Aussiedler deutsche Papiere bekommen hatten, führte dazu, dass sie sich gegenüber der Aufnahmegesellschaft verpflichtet fühlten, sich auch so zu verhalten, wie es von ihnen erwartet wurde – nämlich wie Vertriebene, wie Aussiedler, wie Deutsche.«

Dazu muss man wissen, dass Vertriebene und Aussiedler im Gegensatz zu Asylbewerbern rechtlich bessergestellt waren, weil sie als Zuwanderer deutscher Abstammung galten und ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit hatten. Aussiedler wurden einerseits diejenigen genannt, die als deutsche Staatsangehörige in den früher deutschen Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie geboren wurden und bis nach 1945 dort geblieben sind, bevor sie nach Deutschland übersiedelten. Andererseits war der Begriff all denen vorbehalten, die als deutsche Volkszugehörige aus einem kommunistisch regierten Land über ein Aufnahmeverfahrens in die Bundesrepublik Deutschland auswanderten. Bei beiden Gruppen galt dies auch für die Ehepartner und Nachkommen. Bis Ende der 1980er Jahre kamen die meisten Aussiedler aus Polen und Rumänien, seit 1990 waren Aussiedler zunehmend Einwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Wie verbreitet das Vorgehen bei Kindern polnischer Migranten war, möglichst schnell und erfolgreich in Deutschland Fuß zu fassen, ist mir in meinen Gesprächen und Interviews immer wieder aufgefallen. Ganz gleich, ob die Befragten bei ihrer Ankunft im Kindergartenalter waren oder schon Teenager. Polen war damals out.

Es ging mir wie vielen anderen auch nicht nur um eine gelungene Integration in Deutschland, sondern regelrecht darum, unsere polnischen Wurzeln zu verbergen. Es war nicht nur ein Desinteresse gegenüber Polen, es war ein Leugnen der Herkunft. Ganz so, als wäre das Polnische ein Makel.

Zu Unrecht. Aber das sollte mir erst Jahre später bewusstwerden.

Mein Vater lud mich Ende 2019 zu seinem 67. Geburtstag nach Polen ein, wo er mittlerweile wieder wohnt. Es war zwar kein runder Geburtstag, aber er war noch einmal – nein, innerhalb eines Monats gleich zwei Mal – Opa geworden, und wollte es sich nicht nehmen lassen, seine beiden Enkelinnen mit einem großen Familienfest zu feiern.

Als mein Mann und ich mit den Kindern nach einer langen Reise endlich ankamen, waren alle anderen bereits beim Nachtisch. Ich setzte mich neben meine Cousine Gosia und nahm mir ein großes Stück ciasto z bakaliami, mein Lieblingskuchen mit Trockenobst, kandierten Zitrusschalen und Nüssen. Endlich stellte ich Gosia all die Fragen, die längst überfällig waren.

Welche Romanhelden, welche Fernsehserien, welche Sammelleidenschaften habe ich während ihrer Kindheit verpasst? Sie erzählte mir, dass sie früher kaum ferngesehen hat – einerseits, weil das Fernsehangebot zu sozialistischen Zeiten recht beschränkt war, andererseits, weil sie ohnehin viel lieber las. Zu ihren Lieblingscomics gehörten Kajko i Kokosz von Janusz Christa. Die beiden Helden sehen Asterix und Obelix auffällig ähnlich. Nicht nur in Polen war die Comic-Serie sehr erfolgreich, sie wurde auch ins Englische und Französische übersetzt. Jahrelang war Gosia zudem Fan der mindestens so populären Jugendbücher Jeżycjada der Autorin Małgorzata Musierowicz. Der Buchtitel leitet sich vom Stadtteil Jeżyce in Poznań ab. 1975 wurde der erste Band veröffentlicht, es folgten bisher mehr als 20 weitere, die auch im Ausland so beliebt sind, dass sie in dutzende Sprachen übersetzt wurden.

Ich bin mittlerweile bei meinem zweiten Stück Kuchen angekommen und meine Cousine bei den Büchern von Alfred Szklarski.

Spätestens jetzt wird mir klar, dass ich mein jahrelanges Desinteresse bereue. Indem ich früher alles Polnische kategorisch ablehnte, habe ich vieles verpasst, das mich begeistert hätte. So auch Szklarskis Cykl powieści o Tomku Wilmowskim (Die Abenteuer des Jungen Tomek Wilmowski).

»Ich fand die Bücher so spannend, dass ich die meisten Bände gleich zwei Mal durchgelesen habe, am besten haben mir die Abenteuer im Land der Kängurus und bei den Quellen des Amazonas gefallen«, sagte Gosia und versprach mir, die beiden Bände zuzuschicken.

Am Tag nach der Feier flogen wir zurück nach Deutschland. Im Flugzeug las ich noch einmal die Buchtitel durch, die ich mir während des Gesprächs mit Gosia notiert habe und kam ins Grübeln.

Wäre es damals nicht möglich gewesen wäre, meine polnische Herkunft zu akzeptieren statt sie zu verleugnen? Hätte ich nicht in Deutschland mein neues Leben aufbauen können, ohne das Polnische als minderwertig anzusehen?

Ich wünschte, ich könnte auf diese Fragen mit Ja antworten. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Es war tatsächlich unmöglich.

Vor allem eines hinderte mich daran: Scham. Diese Scham, die nicht nur vielfältig, sondern auch in jedem Lebensbereich präsent war.

Die Polnische Mitgift

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