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Kapitel 2 - Die Schwester der Wölfe
ОглавлениеDer Geächtete erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Nur für Minuten war er eingenickt, ehe brennende Pein selbst diese kurze Ruhe missgönnend raubte. Das Gift hatte sich weiter ausgebreitet. Er konnte es verzögern, teils abschwächen, aber die Regenerationskräfte schienen doch zu versagen. Die Wunden verschlossen sich nicht oder nur viel zu langsam. Rot und weit klafften die beiden Löcher in seiner behaarten Brust. Wieder griff er nach der Schnapsflasche. Sie war schon fast leer.
Hier war er also nach der erfolgreichen Jagd, die ihm alles zu kosten drohte. Schwitzend, zitternd und dämmrig im Fieber saß an er der Seite eines umgefallenen Baums mitten im Wald, nicht allzu weit von der längst abgebrannten Raststätte. Beutel und Schwert lagen neben ihm. Hierher hatte er sich gerade noch schleppen können. Klein war die grasige Lichtung, fast frei vom Unterholz wucherten die Pilze eines Hexenrings vor ihm. Über ihm der klare Nachthimmel. Das Unwetter war längst weiter gezogen, aber kein Mond war von hier aus zu sehen. Die Kühle fühlte sich angenehm an, das Rauschen der Blätter und der Gesang des späten Getiers flüsterte beruhigend in seine Ohre. Aber der Geschmack des Sieges blieb äußerst bitter. Noch ein Schluck. Leer. In kurz aufbrausender Frustration und mit einem kaum unterdrückten Schrei warf er die Schnapsflasche mit aller Wucht gegen einen Baum. Sie lag schon zersplittert am Boden, aber er brüllte noch immer. Jäh ergriff ihn eine neue Welle schwer zu ertragender Schmerzes. Stöhnend sank er in sich zusammen.
Sollte es tatsächlich so enden? War nun seine Stunde gekommen? Gab er schon zu früh auf? Diese und andere Gedanken formten sich in nebliger Benommenheit. Eine seltsame Gleichgültigkeit befing ihn nach einer Weile. Kein Werkrieger des Allvaters fürchtete den Tod. Sie würden alle eingehen in das erlösende Reich der Geister, in die Verheißenen Lande jenseits der Zeit, so wie es einst versprochen wurde. Allerdings galt dies nicht für Geächtete, für aus den Klans des Wilden Heeres Verstoßene. Seit fünf Jahren lebte er mit diesem Schicksal. Eine Hölle würde ihn erwarten, so hieß es. Eine Hölle für Versager.
Aber manchmal glaubte er nicht mehr an die alten Lehren, an die endlosen Predigten der Matronen. Manchmal da glaubte er an gar nichts. Seine Gebete waren längst verstummt. Er hörte nur noch ein lautes, leeres Schweigen in der Welt. Nichts sprach mehr zu ihm, nichts offenbarte sich ihm mehr. Auch keine Träume mehr im Schlaf. Seine so lange andauernde, rastlose Jagd, die vielleicht schon sehr bald ihr endgültiges Ende finden würde, war längst zu einem selbst auferlegten Zwang ohne höheren Sinn geworden. Einzig die immer wieder neue Suche nach verderbter Beute, nach Gefallenen, nach Skrael, nach manifest gewordenen bösen Geistern, nach dämonischen Abkömmlingen des Einen Feindes und nach Menschen, die sich an keine Gebote mehr hielten und die Erde schändeten, hatte ihn in den letzten Jahren noch irgendwie mit einem Ziel weiter existieren lassen. Und deren Vernichtung hatte ihm Befriedigung verschafft. Zuerst war es ihm eine heilige Pflicht, aber später nur noch hohler Willensentscheid, denn wie sollte er sonst sein Sein noch fristen? War er nicht immer ein treuer Diener der Wilden Götter gewesen? Hatte er nicht stets das getan, wozu er bestimmt, ja geboren worden war? Hatte er seine Sünde nicht längst gesühnt?
Mehr und mehr war er zu einem Schatten seiner selbst verkommen. Ein stolzer Werkrieger dereinst, geehrt und gefürchtet, einer der Ersten in der Armee des Wilden Gottes Gorond. Sein Rudel, das er angeführt hatte, eiferte den Legenden nach, war hoch angesehen. Aber der Fall war tief. Die Vertreibung ein gerechtes Urteil. Zu groß war die Schande, die er über sich und die Seinen gebracht hatte. Zu schwerwiegend die Verfehlung, die Schreckliches für seinen Klan und für seinen Großen Vater Wolf bedeutete. Niemals wollte er dies, aber es war geschehen, weil er versagt hatte. Tödlich versagt. Und so war er verdammt diesen Weg zu beschreiten, abgeschnitten vom Geisterreich, alleine und ohne nur einen Einzigen seiner Brüder. Selbst die anderen Gestaltenwandler mussten ihn meiden, hatten sogar keinerlei Konsequenzen zu fürchten, sollten sie ihn töten. Auch den Schwestern der Matronen war es verboten, mit ihm zu sprechen oder bei zu stehen. Er war Freiwild. Weit weg musste fliehen er von jenem Ort, den er einst sein zu Hause nennen durfte. Seine einzig wahre Heimat, den Wald der Welt, wo sein Klan verweilte und Gottvater Wolf herrschte.
Und so war er hier irgendwann gelandet, in den Grenzlanden, wie hier in Dimbrag, eine heruntergekommene Provinz des östlichen Königreichs Talarun, wo dummes, ängstliches Volk ein lächerliches Dasein fristete. Menschen eben, im falschen Glauben. Erloschene. Mit seinen Taten wollte er weniger diese beschützen, wie es eigentlich das Gebot verlangte, als vielmehr all jenes mit seinem Zorn von der Erde tilgen, das falsch und verderbt die Allmutter bedrohte. Aber nun, war ihm selbst dies fast egal geworden. Hier lag er nun, mit blutigem, geschundenen Leib, kraftlos und müde, ohne Ziel, sich dem Schicksal hingebend. Vermutlich würde noch vor dem Morgengrauen entschieden sein, ob er es schaffte, das Gift zu besiegen und wieder zu heilen, oder nicht.
Er ließ los. Hörte auf zu kämpfen. Er hatte ohnehin getan was er konnte, so redete er sich ein. Nein, es war genug. Möge die Allmutter nun entscheiden, sofern diese sein Leben überhaupt noch als wichtig und wert erachtete. Möge die Welt ihren Lauf nehmen. Möge alles der Eine Feind verschlingen oder alles im Vergessen vergehen. Kurz kam ihm noch in den Sinn, dass er früher niemals so gedacht hätte, ja alle für zu schwach oder gar verderbt hielt, die auch nur im Ansatz die heilige Ordnung allen Seins hinterfragten, sich nicht an jedes Gebot eisern hielten. Er selbst hatte Ungläubige zur Strecke gebracht, zweifelnde Brüder verspottet und verhöhnt. Aber er wollte dies jetzt vergessen. So wie alles vielleicht schon sehr bald dem ewigen Vergessen anheim fallen würde. Immerhin die Gnade des Schlafes wurde ihm erneut erwiesen.
Er erwachte. Aber dieses Mal war es nicht die Qual, offenbar auch nicht der Tod. Ein Geräusch musste ihn geweckt haben. Die Sterne über ihm verrieten, dass er tatsächlich eine Stunde in dankbaren Schlummer verweilt war. Er fühlte sich etwas besser, auch wenn das Gift ohne Zweifel noch immer in ihm tobte. Jetzt hörte er tatsächlich ein Knacken im Unterholz. Etwas näherte sich. Ein irgendwie bekannter und zugleich wohliger Geruch drang in seine Nase. Er zog aber dennoch das Schwert an sich heran, selbst wenn er in diesem Zustand nicht viel an Widerstand zu leisten vermocht hätte. Kurz sah er zwei kleine, glänzende Augen vor sich im Unterholz. Wieder der Fuchs. Nein, eine Füchsin. Dann geschah etwas im Schatten zwischen den Bäumen. Das doppelte Funkeln verschwand kurz, zeigte sich wieder, nun größer und wanderte in die Höhe, erhob sich mit einer Gestalt.
Eine junge Frau trat auf die Lichtung. Haar, so rot wie der Morgen, nach hinten zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. Haut, so weiß wie Schnee, fast strahlend im Sternenlicht. Lidschatten um die grün glänzenden Augen. Rotbraune Kleidung aus Leder, dunkle Arm- und Beinstrümpfe. Bunte Federn im Haar und anderer Schmuck. Hie und da waren Tätowierungen am Körper zu erkennen. An den Gürteln trug sie Taschen und einen Dolch. Sie hatten einen langen, von Siegeln verzierten Stock in der Hand, der sich nach oben hin in einem Geäst auslief. Ein dunkelgrüner Kapuzenmantel mit Fell hing über ihren Schultern.
Auffällig schön war sie. Geschmeidig in ihren Bewegungen. Ganz offenbar eine Matrone mit einer für ihr Alter erstaunlichen Macht, die von ihr aus ging, die sie ihn fühlen ließ. Natürlich hatte sie die Geräusche zuvor ganz bewusst deutlich hörbar zugelassen, denn nun machte keiner ihrer Schritte den geringsten Laut. Vor dem Hexenkreis, der nun zwischen den beiden lag, hielt sie inne. So stand sie denn vor ihm, vorläufig ohne ein Wort.
Der Geächtete war äußerst überrascht von dieser Erscheinung. Einer wie ihr war es doch verboten, sich ihm überhaupt zu nähern. Oder hatte sie etwas Bestimmtes mit ihm vor? Da begriff er plötzlich, dass sie ihn gewiss schon viel länger verfolgt haben musste. Dass sie in Fuchsgestalt und vielleicht sogar vom Geisterreich aus seine Spur bereits vor Tagen gefunden hatte. Früher hätte er mit seinen Sinnen und seinem Instinkt darauf vertrauen können, dass er eine Häscherin wie sie schon viel eher bemerkt hätte. Aber sie war ohne Zweifel auch sehr gut und weit fortgeschritten im Umgang mit ihren Kräften. Gestaltenwandelnde Matronen, die allerlei kleineres Getier nachahmen konnten, wobei natürlich nicht die Werformen, erlernten diese Gabe der Allmutter meist erst in späten Jahren, wenn überhaupt. Das gemeinsame Spiel des Schweigens dauerte noch eine Weile an. Ihr Blick war sanft und zugleich mit einer gewissen Strenge. Er versuchte sie irgendwie einzuschätzen, ob denn tatsächlich Gefahr von ihr drohte. Vielleicht war sie gekommen, um seinem Leben ein Ende zu bereiten? Er hatte schon gehört von Matronen, die Geächtete nach einer Zeit zur Strecke brachten, weil sie zu einer Gefahr wurden oder ihre würdelose Existenz mit dem Tod besiegelt werden musste. Oder war sie eine Gefallene ihrer Zunft, die ihn mit grausamen Spiel vernichten wollte?
„Geächteter ohne Namen“, begann sie mit ruhiger, weicher Stimme. „Habt ihr euch schon entschieden? Leben oder Sterben?“
Ein Lächeln umspielte bei diesen Worten ihre Lippen, aber es hatte auf seltsame Art weder etwas Spöttisches noch Bösartiges an sich, fast im Gegenteil. Sie wartete ab, blickte interessiert auf den Lederbeutel, dann kurz etwas verblüfft auf das Schwert, ehe sie wieder den Werwolf auf dem Boden vor sich musterte. Sie wusste augenscheinlich um seinen Zustand, sah seinen Konflikt. Er hingegen konnte sich auf die ganze Situation hier noch keinen rechten Reim machen. Was wollte sie? Was sollte diese Frage überhaupt?
Er beobachtete sie für eine Weile, versuchte sie zu ergründen. Sinnlos, so dachte er. Diese junge Matrone war ihm im Moment überlegen und konnte tun und lassen was sie wollte. Er musste einfach antworten.
Mit zuerst brüchiger, dann gefasster Stimme sprach er: „Ja... Einen Geächteten ohne Namen seht ihr vor euch, einer, der dem Schattenreich gerade wohl näher ist als diesem. Gebrochen und in meinem Blut liege ich vor euch. Als eine von Ardas mächtigen Töchtern könnt ihr mit mir als Ausgestoßenen verfahren wie ihr wollt. Gerade jetzt habt ihr leichtes Spiel, aber seid gewiss, ich werde meine Klaue so lange gegen meine Feinde erheben, so lange ich es auch nur irgendwie vermag! Tut, was ihr tun müsst, aber verschont mich mit Geschwätz und sinnlosen Fragen.“
Sie ging überhaupt nicht auf seine Worte ein, sondern trat auf ihn zu und ging vor ihm in die Hocke. Abfällig blickte sie auf Glassplitter neben dem Baum. Sie rümpfte die Nase ob des starken Geruchs von Alkohol. Eine leise Scham stieg unerwartet in ihm hoch.
Sie sagte: „Ihr sauft gebranntes Gift, verschwendet euch bei der Jagd. Ihr heilt schlecht. Ihr riecht nicht mehr nach Wolf, sondern stinkt nach dreckigen, verwundetem und dahin siechendem Mensch. Aber ich weiß, ihr seid schon zu lange fort, verstoßen von Vater und Bruder, weit weg von der Heimat, abgeschnitten von den Geistern. Dies macht euch schwach. Aber ich fühle, dass ihr euch aufzugeben wagt. Ihr werdet wohl die eigentliche Schande darin erkennen können.“
Die junge Matrone unterstrich das Gesagte mit harter Miene, dann setzte sie fort: „Ein paar Stunden habt ihr noch, dann ist es für euch entschieden. Wenn ihr kämpft, könntet ihr es überleben. Wir sind alle die Werkzeuge der Allmutter. So oder so. Also, was jetzt Geächteter?“
Erneut ein sanft lächelnder Mund. Es wirkte zuerst beruhigend, was er nicht ganz verstehen konnte, aber dann stieg zunehmender Zorn in ihm hoch, dass sie weiterhin mit ihm spielte, mit Spott und Wahrheit so begegnete.
„Genug!“, bellte er laut, „Greift an oder verzieht euch, Weib!“
Ehe er mit knurrender Ankündigung noch mehr sagen konnte, sprach sie im beruhigenden Ton: „Ich bin nicht euer Feind. Ich werde euch nicht verletzen oder gar töten, ich werde euch helfen und ihr werdet mir folgen.“
Ihre Worte waren die reine Wahrheit, so war dem Geächteten sofort klar. Da erkannte er aus dem Schatten heraus ein Siegel über ihrer Brust, das kurz mit den Lichtern der Nacht glitzerte. Das silberne Haupt eines Wolfs.
So fragte er mit Verblüffung im Blick: „Wer seid ihr? Man hat euch zu mir geschickt, nicht wahr? Ihr habt mich verfolgt. Ihr wart es, die...“
Mit unterdrücktem Stöhnen brach er ab, als Schmerzen erneut seinen Leib durchfuhren.
Sie stand auf und dann antwortete sie: „Ich bin Sea Sanara, Tochter der Allmutter, Matronen-Adeptin aus dem Zirkel des Waldes der Welt und Schwester des Klans Wolf. Die Ehrwürdige Mutter Gava Meduna hat mich auf Geheiß des Großen Vaters Gorond mit einer Botschaft und einem Befehl zu euch geschickt. Hört meine Worte und hört sie wohl!“
Nach einer kurzen Pause neigte sie sich leicht nach vor, fuhr mit sanftem Klang fort: „Ich dürft wieder nach Hause, Geächteter.“
Erst nach einer Weile bemerkte er, dass er sie minutenlang mit ungläubigen Gesicht angestarrt hatte. Er konnte es nicht fassen. Er hatte in dieser Nacht mit allem gerechnet, sogar mit seinem endgültigen Untergang, aber was er nun von einer wie ihr vernahm, war eigentlich unmöglich. Kein Geächteter ist je aus dem Exil zurückgekehrt, außer vielleicht in kaum bekannten Legenden aus alter Zeit. So gut wie alle starben nach wenigen Jahren auf der Jagd durch die Hand des Feindes, durch zornige Brüder oder durch befohlene Matronen. Manche nahmen sich in schändlichster Weise sogar das Leben. Und er, er allein, sollte nun eine Ausnahme sein? Ihm sollte Gnade von seinem Gott gewährt worden sein? Wie hätte er dies jemals verdient? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf.
„Nein...“, flüsterte der Werwolf ungläubig.
Da durchfuhr ihn die bisher schlimmste Woge des Schmerzes. Er stöhnte laut, bäumte sich auf. „Nein!“, donnerte es in seinem Innern, doch dieses Widerwort erhob sich gegen sein drohendes Ende mit neuem Lebenswillen. Mit aller Macht zwang er seinen Leib erneut zur Heilung, aber das Gift brandete wie ein todbringendes Meer stärker denn je gegen ihn. Er durfte diesen Kampf nicht verlieren. Er hatte nun allen Grund zu leben.
Sie trat mit einem schnelle Schritt auf ihn zu, kniete an seiner Seite. Sie legte die Hand auf seine Brust. Bei der plötzlichen Berührung erschrak er fast, fühlte aber sofort eine Stärkung seiner Heilkräfte. Bäche von Schweiß vermengten sich mit Blut, er zitterte heftig und wand sich mit ersticktem Knurren. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er träumte. Undeutlich und nur sehr kurz, aber zum ersten Mal seit Jahren beschritt er wieder die Pfade des reichen Schlafes. Grüne und schwarze Schemen, so nahm er wahr, entferntes Heulen von Wölfen. Schließlich erwachte er und spürte sofort, dass sich seine Wunden verschlossen hatten und das Gift neutralisiert war. Mit Hilfe von Sea Sanara war er dem möglichen Untergang entflohen. Es war in der Tat eine Gnade, die ihm in dieser Nacht zuteil geworden war.
Er richtete sich auf, betrachtete seinen deutlich vernarbten, aber nunmehr tatsächlich geheilten Körper. Zwei große rote Flecken prangten an der Stelle, wo ihn Stunden zuvor der Wereber aufgespießt hatte. Nicht einmal mehr ein Brennen, so bemerkte er.
Der Morgen dämmerte im Osten. Im Angesicht des himmlischen Orange und Violett vergaß er für einen Augenblick alle Lasten, alle Schrecknisse. Alles fühlte sich für einen Moment sehr gut an. Da blickte er auf den Lederbeutel neben dem umgefallenen Baumstamm. Das silberne Schwert blitzte. Seine Miene wurde wieder ernst und entschlossen. Er musste auf zu Taten, seinem Schwur folgend.
Sanara lag auf weichem Boden in zusammengerollter Haltung genau im Hexenkreis. Matronen taten dies in der Wildnis nicht ungern. Für den Geächteten war dies ein durchaus friedvoller Anblick. Er stand nun in ihrer Schuld. Zuerst dachte er, sie würde noch schlafen, aber dann sah er ihre halb geöffneten Augen. Sie erwiderte seinen Blick, erhob sich langsam. Sie hatte ihn die ganze Zeit, während seines Heilungsprozesses, beobachtet.
„So bricht einer neuer Tag in der Schöpfung der Allmutter an“, sprach sie mit dem Blick zur Sonne und etwas gespieltem Lächeln, „Und es ist auch ein neuer Tag für euch, Geächteter.“
„Wahrhaftig!“, rief er, „Ich lebe! Auch dank euch, was ich nicht vergessen will.“
„Es war meine Pflicht euch zu retten. Wäre es meine Pflicht gewesen euch zu töten, dann hätte ich diese mit gleicher Freude erfüllt“, sagte sie mit klarem Ernst.
„Ich verstehe“, entgegnete er ohne Zögern, „An eurer Stelle würde ich nicht anders denken. In bin ein Geächteter, aber ich habe unsere Gesetze nicht vergessen. Das Gebot des Gottes geht über alles.“
„In der Tat. Ihr ehrt also noch, was heilig ist?“
„Ja, ja das tue ich“, Ohne weitere Umschweife setzte er fort: „Also, was für einen Befehl habt ihr nun? Ich will euch nach Hause folgen, aber sagt zuerst, was die Botschaft des Großen Vaters Wolf an mich ist.“
Zuerst antwortete sie nicht, sondern blickte kurz gen Himmel, dann sah sie sich im Wald um. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich.
Dann sagte die junge Matrone: „Nicht hier, Geächteter. Wir haben bereits viel an Zeit verloren. Wir sollten sofort aufbrechen.“
„Nein“, widersprach er nicht ohne Schärfe, „Ehe wir diese elende Provinz hinter uns lassen, gilt es für mich zuerst noch eine Sache zu tun. Die Jagd hat ist noch nicht ganz beendet.“
„Narr! Ihr wollt also doch noch den Anführer des Gefallenen Rudels zur Strecke bringen? Wir haben keine Zeit dafür! Er ist noch weiter gen Osten gezogen, in das Land der Feinde, aber wir müssen rasch gen Westen. Was glaubt ihr denn, weshalb der von euch erlegte Lakai der Verderbnis verwundet und vergiftet war?“
„Eine Falle, ich weiß“, knurrte er in später Einsicht.
„In der Tat. Ihr solltet aufgehalten werden, mit einer leichten Beute, auch wenn ihr doch schwer ringen musstet. Das Gift hatte bereits Teile vom Gehirn des Dings zerfressen, deshalb hat es sich unter Menschen versteckt, war feig und dumm geworden. Ich gebe zu, dass ihr einiges mit der fast vollständigen Auslöschung des Gefallenen Rudels gewonnen habt, so auch meinen Respekt, aber dieser eine da, er ist mächtiger und gefährlicher als alle anderen zuvor. Skrupellos hat er den Letzten der Seinen geopfert um euch entweder gleich feige mit Gift zur Strecke zu bringen oder wenigstens durch eure Schwächung einen Vorteil für die nächste Konfrontation zu haben. Er wartet nur darauf, dass ihr ihm blindem Zorn weiter hinterher hetzt.“
Er wurde laut: „Ich habe es geschworen! Auch wenn der Ruf von Klan und Gott mir sofortige Rückkehr gebietet, werde ich zuerst das beenden, was ein Ende finden muss! Mein Dank euch gegenüber ist unvergessen, aber egal was euer Befehl ist, ihr werdet mich nicht aufhalten. Die Rache wird mein sein, so habe ich es mir geschworen!“
„Geschworen habt ihr auch als Diener der Allmutter stets die Leben der Sterblichen zu schützen und euer wahres Wesen niemals der Welt zu offenbaren! Wäre ich nicht gewesen und hätte die Leute aus der Taverne mit einer Täuschung von falschem Feuer und größter Bedrohung im Dunkeln vertrieben, dann hättet ihr sie in eurem Kampf mit dem Gefallenen alle gefährdet und zugleich unser seit Jahrhunderten gehütetes Geheimnis um unsere Existenz gelüftet!“
„Ach! Eine schreckliche Geschichte mehr über irgendwelche Monster aus den Grenzprovinzen wird neben all den anderen Ammenmärchen keine Scheiterhaufen der Inquisition und keine weiteren Kreuzzüge herauf beschwören. Noch dazu kurz vor einem drohenden Krieg gegen die Skrael! Und geflohen wären diese paar verängstigten Erloschenen, die beim Anbruch der Nacht oder beim Heulen des Windes schon zittern, ohnehin rechtzeitig! Aber all dies ist jetzt ohne Bedeutung. Allein die Vernichtung dieses Dieners des Einen Feindes zählt jetzt. Allein sein Ende und sonst nichts!“
Es folgte angespanntes Schweigens zwischen den beiden. Blitzend grüne Augen starrten in das ungleiche Augenpaar. Aber anstatt weitere Widerworte vorzubringen, seufzte Sanara nach einer Weile. Sie zuckte mit den Schultern, blickte wie abwesend zur Seite.
So sprach sie in einem fast beiläufigen Ton: „Ach meine lieben Brüder, ihr verdammten Werwölfe, seid vielleicht die stursten Kreaturen unter Ardas Himmel. Und dass ihr als Geächteter trotz anderslautender Bekundungen auf heilige Gesetze kaum noch achtet, sollte mich nicht wundern. Gehorsamkeit kommt eurem Zorn auch nicht in die Quere. Vom Dank sprecht ihr, undankbar bleibt ihr. Egal was ich jetzt sagen würde, es würde euch ja doch nicht überzeugen. Und euch noch mehr antun als es der Wereber vermochte will ich keinesfalls, denn aufs Schleppen habe ich keine Lust. Dafür wärt ihr mir auch zu schwer.“
Er hörte ihren Hohn, er spürte seinen Zorn. Sie sprach so mit gezielter Absicht um ihn ein wenig zu provozieren, das war ihm klar. Eine Matrone wie sie dürfe er niemals unterschätzen.
Dann sagte er: „Weil ihr für mich getan habt, was ihr getan habt, will ich euren Spott vergessen, aber denkt nicht, dass ihr euch mit eurer jungen Zunge alles erlauben könnt. Auch wenn ich ein Geächteter bin, so habe ich immer noch meine Ehre!“
Sie machte eine abweisende Geste mit der Hand.
„Es bringt nichts zu streiten. Ihr seid wie ihr seid. Ihr habt euch entschieden. Ihr stellt euren Schwur von Rache über das Gebot eures Gottes. Ihr...“
„Das tue ich nicht!“, unterbrach er sie jäh, „Dies ist meine letzte Chance ihn zu stellen, ehe er im Osten verschwindet und eines Tages wieder gestärkt und noch mächtiger zurück kehren wird. Zuerst muss er sterben, dann...“ Jetzt unterbrach sieh ihn jäh und setzte fort, ohne weiter auf seine Argumentation einzugehen: „Ihr wisst denn, dass ich den Befehl habe euch lebend vor das Antlitz Goronds zu führen. Die eigentlichen Gründe sollen euch erst dort offenbart werden. Der Wald der Welt wird euch willkommen heißen und ihr werdet kein Geächteter mehr sein, ihr werdet wieder euren Namen haben.Wenn ihr eure Rache getilgt habt, gibt es nur noch einen Weg. Und weil ich bis zur Erfüllung meiner Aufgabe nicht von eurer Seite weichen werde, lasst uns gemeinsam gegen den Gefallenen ziehen.“
Sein Temperament war wieder gekühlt. Er hatte Respekt vor ihr, nicht nur weil sie eine Schwester seines Klans war und als Matrone im uralten Bund mit ihm vereint war. Allein mit ihren Worten hatte sie sich bereits bewiesen.
Schließlich sagte er: „So sei es denn. Jetzt heißt es mit größter Eile nach Osten! Auch wenn er wenigstens eine Nacht Vorsprung hat, so können wir ihn noch einholen. Außerdem kenne ich diesen da zu gut, kenne seine Schwäche. Er giert nach einem letzten Kampf mit mir, er will es auch entschieden wissen. Er wird sich etwas mehr Zeit lassen, wird im Lauf ins Feindesland ein wenig abwarten, ob ich ihm vielleicht nicht doch nachkommen kann.“
„Alle Gefallenen müssen fallen“, sprach sie.
„Alle Gefallenen müssen fallen!“, wiederholte er energisch.
Er marschierte hastig los. Während er sich den Beutel um den Rücken band, drehte er sich kurz um und fragte: „Werdet ihr denn in Fuchsgestalt schnell genug sein um mir zu folgen, wenn ich sogleich los haste?“
Sie feixte und sagte: „Ha! Ich vermag schnell wie der Wind zu sein, wenn ich es möchte.Wir könnten ja darauf wetten, wer schneller die Fährte des verderbten Untiers findet und kampfbereit vor ihm steht? Vielleicht erschlage ich ihn auch einfach vor euch.“
Er grinste über ihren neckischen Scherz. Das tat gut. Es war schon zu lange her, dass ihm jemand etwas Unbeschwertheit schenkte.
So begann er die Verwandlung. Sie tat es ihm auf ihre Weise gleich. Dieses Mal wählte er aber nicht die Kriegsgestalt, sondern die Tiergestalt, die gerade für langes Reisen von Vorteil war. Ein schwarzgrauer Wolf, größer wohl als seine Artgenossen, mit einem umgebundenen Beutel auf dem Rücken und einem silbernen Reif um seinen rechten Fuß, lief im eiligen Tempo über das Hügelland hinweg. Eine rote Krähe folgte ihm im tiefen Flug.