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Laufen fördert nicht nur das Denken
ОглавлениеLogisch, der Herr Nachbar hat seinen Boykott nicht lange durchgehalten. Weiter in Begleitung seines drolligen Vierbeiners Spiridon, einem Mops, trabt er seit einiger Zeit wieder bei mir vorbei und hält in Pausen am Jägerzaun Vorträge über alle möglichen wundersamen Begleiterscheinungen der Rennerei. Neulich über die „fantastischen Auswirkungen“ des Langlaufens auf die – jawohl, auf die Libido. Verbesserte Durchblutung gewisser Körperpartien und so fort, muss hier nicht weiter vertieft werden. „Schönen Gruß übrigens an die verehrte Gemahlin“, beendete er seinen Exkurs zu dem Thema und grinste dabei in einer Weise, die ich dann doch schon als provokativ bis bösartig bezeichnen muss.
Wirklich treffen konnte er mich damit natürlich nicht. Auch weil mir die beste aller Ehefrauen – immerhin sind wir seit mittlerweile mehr als 15 Jahren glücklich verheiratet – längst versichert hatte, wie sehr sie es schätze, dass ich im Gegensatz zu ungezählten anderen Ehemännern nicht so fanatisch dem „Jugend- und Vitalitätswahn“ verfallen sei. So ihre Worte. Und Joggen oder Ähnliches müsse nun wirklich nicht sein. Zumal ich doch auch schon ohne diese enorme körperliche Anstrengung abends vor dem Fernseher häufig kaum die Augen aufhalten könne, geschweige denn später … Aber das ist nun wirklich ein ganz anderes Thema.
Selbstredend meinte sie, wer so viel arbeite wie ich, der brauche zu gegebener Zeit eben auch seine Ruhe. Mit viel Arbeit meinte sie natürlich die geistige Arbeit. „Mein kreatives Herzchen“, gehörte mal zu ihren lieblichen Kosungen, die sie mir gelegentlich zugeraunzt hatte. Gut, das war einige Jahre her. Und der Verweis auf mein im physischen Sinne doch eher durchschnittlich leistungsfähiges Herz musste auch nicht unbedingt sein. Aber wir verstanden uns, versteht sich. Verstehen uns immer noch, denn sie meinte selbstverständlich, dass die geistige, die kreative, also die schöpferische Ausdauer doch unstrittig bedeutsamer sei als die ordinäre körperliche.
Womit wir dann wieder beim Nachbarn wären, nolens volens. „Wussten Sie übrigens“, dozierte er nämlich unlängst nach seinem Ausritt auf Schusters Rappen, „wussten Sie, dass Laufen beim Denken hilft?“ Das fragte er in seiner bekannt aufreizenden Unangestrengtheit, obwohl er ein Dutzend Kilometer hinter sich hatte.
Kurz ärgerte ich mich, nicht schnell die Flucht ins Haus ergriffen zu haben, stand mir der Sinn doch nicht nach den bekannten Belehrungen. Aber zu spät. Das Thema hing da in der Luft, so wie ich argumentativ bald wieder in den Seilen. „Wusste ich nicht, verehrter Herr Nachbar. Glaube auch kaum, dass das wissenschaftlich fundiert ist. Beschäftige mich zwar mit anderen Dingen, aber …“
„Aber genau das ist es neuerdings, wissenschaftlich fundiert und unterfüttert. Lesen Sie die letzte Studie der Harvard-Universität. Eindeutig nachgewiesen ist eine signifikante geistige Leistungssteigerung bei 89 Prozent der Probanden, die mindestens zweimal pro Woche wenigstens 18 Minuten am Stück laufen. Will Sie da nicht zu sehr mit Einzelheiten behelligen.“ Er machte eine kurze Pause, sprach dann von den durch das Laufen „hyperaktivierten Synapsentätigkeiten“ und Ähnlichem; um sich wichtig zu machen, klar. Und dann kamen jene zwei Sätze, die er mir zweimal aufsagen musste, worum ich ihn bat, irgendwie von einer Ahnung gepackt, sie vielleicht noch mal gebrauchen zu können: „Die Domäne des Laufens im Kreativprozess ist die Inkubationsphase, die zum kreativen Sprung führt. Denn in dieser Phase ist divergentes Denken nötig.“
„Verstehe, Herr Nachbar“, sagte ich, kurz vor einem leichten Schwindelanfall stehend. „Irgendwie, Herr Nachbar, scheint mir, haben Sie vollkommen recht. Ich meine auch schon lange, dass der divergente Sprung, also die springende Inkubation der Kreativdomäne …, äh …“
Dann ging ich, den Nachbarn wohl selbstgefällig und überheblich grinsend zurücklassend, wenn ich mich recht entsinne. Im Haus schleppte ich mich gleich an den Schreibtisch. Als die beste aller Ehefrauen nach einer Stunde reinkam mit der Frage, ob ich denn vorankäme, hatte ich noch keine Zeile auf dem Papier.
„Nicht so richtig“, antwortete ich. „Irgendwie bin ich noch in der Inkubationsphase. Ich warte noch auf den kreativen Sprung. Momentan fehlt mir das divergente Denken.“
Sie sah mich etwas irritiert an, gelinde gesagt. „Du machst das schon, mein kreatives Herzchen, mein schöpferisches Knuddelchen“, sagte sie dann, erstmals nach Jahren diese Redewendungen nutzend.
Das half meiner Fantasie gewaltig auf die Sprünge. Als Erstes fielen mir die zwei Sätze des Nachbarn wieder vollständig und syntaktisch einwandfrei ein, Wort für Wort. Dann manch anderes, was er in der jüngeren Vergangenheit so von sich gegeben hatte. Die einzelnen Themen tun nichts zur Sache, rein gar nichts. Jedenfalls sagte ich wenig später zur besten aller Ehefrauen: „Ich glaube, ich sollte es doch mal wieder mit Laufen versuchen, man weiß nie, was man so an vielfältigem Nutzen daraus ziehen kann.“
„Meinst du, Herzchen?“
„Ich denke schon!“, sagte ich und schlug dann vor, an dem Abend einfach mal den blöden Fernseher auszulassen. „Schließlich kann man“, hauchte ich rüber zu ihr, „schließlich kann man doch auch mal wieder – ein gutes Buch lesen …!“