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Als ich fast zum Mörder wurde

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Schon vergessen? Wir sind (Fußball-) Weltmeister! Zugegeben, nur Weltmeister der Herzen. Darauf kommt es nicht an in Zeiten, da wir schließlich auch alle Deutschland sind. Papst sowieso. Fußball, Papst und Deutschland. Ich konzentriere mich zunächst auf das Wesentliche, den Fußball. Genau gesagt auf jenen denkwürdigen, ja bereits historischen 4. Juli dieses Jahres. Als die ganze Nation Weltmeister wurde – und ich zum Mörder. Fast.

Jedenfalls fasste ich an diesem Tag den festen Vorsatz, meinen Nachbarn zu meucheln. Jenen Nachbarn, das nur zur Erinnerung, der seit geraumer Zeit regelmäßig aufreizend fit an meinem Grundstück vorbeigaloppiert und mir in Plapperpausen am Jägerzaun das hohe Lied des Laufens, Joggens, Rennens singt. Hochgeistig unterfüttert, wie er meint – tatsächlich in jenem selbstgefälligen Ton, der eher dem Zwecke dienen soll, mir mein unsportliches Herz endgültig bis zum Infarkt zu triezen.

Aber zur Sache. Es war also jener 4. Juli 2006, die 117. Minute beim WM-Halbfinale Deutschland – Italien. In Erwartung des anstehenden Elfmeterschießens, das wir so sicher gewonnen hätten, wie unser Papst in Rom regelmäßig Amen sagt, hatte ich drei Minuten vor Schluss der Verlängerung gerade mein Pikkolöchen Sekt vorbereitet. Ein Prösterchen auf Klinsis grandiose Burschen war mir Ehrensache. Da läutete es. Natürlich reagierte ich nicht. Die 118. Minute. Wieder läutete es, geradezu penetrant bediente jemand die Glocke am Tor des Jägerzaunes. Ein Unfall, eine Katastrophe, eine Art Weltuntergang, den ich verhindern musste? Geringeres hätte ich als Anlass für die Störung in diesem Moment nicht gelten lassen. Ich also hastig raus, zum Jägerzaun. Und wer steht da? Der Nachbar, offenkundig auf dem Rückweg seiner was weiß ich wie viel Kilometer langen Tour. Entspannt, leichte gymnastische Übungen andeutend, ohne jedes Anzeichen für irgendeine Katastrophe im Anmarsch, haucht er rüber: „Wollte nur mal horchen, ob alles in Ordnung ist. Haben uns ja fast vier Wochen nicht mehr gesehen.“ Dabei zupft er, zweifellos um mich zu reizen, an der am Zaun befestigten schwarz-rot-goldenen Fahne rum.

„Finger weg“, raunze ich ihn an. Das Folgende brülle ich ihm in einem Tempo entgegen, dass nur von einem verbalen Sprint gesprochen werden kann (schließlich dürfte Jens Lehmann jeden Augenblick seinen Spickzettel mit den Vorlieben der italienischen Elfmeterschützen in seinen Stutzen stecken, ich musste also schleunigst zurück): „Herr Nachbar, sind Sie des Läuferwahnsinns fette Beute? Natürlich haben wir uns länger nicht gesehen. Es ist WM, es ist Aufbruch im Lande, Optimismus, Freude, Zuversicht, seit vier Wochen geht ein Ruck durchs Land, um es mal mit einem ehemaligen Bundespräsidenten zu sagen. Da habe ich wahrlich Besseres zu tun, als mir ihre Suada über die Körper-, Geist-, Seele oder was immer erquickende Lauferei anzuhören.“

Dann ließ ich ihn stehen und raste zurück ins Haus. Wieder vor dem Fernseher – Minute 119 des Spiels – bekam ich gerade noch die Zeitlupenwiederholung jenes Tores mit, das ein gewisser Italiener namens Grosso geschossen hatte. Eine Minute darauf das 0:2. Das Ende. Wie ferngelenkt von dem Schock ging ich noch einmal raus zum Eingang (das Wort Tor wird fortan vermieden, da mir jenes von Grosso Geschossene wieder zu schmerzhaft vors innere Auge käme, auch noch in Zeitlupe).

Und da sitzt der Herr Nachbar einen Meter hinter meinem Jägerzaun wie ein abgemagerter Buddha im Schneidersitz. Als er mich wahrnimmt – mit weit rausgestreckter Brust und nach zwei Aaahs und Hommms – sagt er seelenruhig: „Spiel endlich zu Ende? Ich laufe immer pünktlich zum Anstoß los, versuche, nach Möglichkeit nicht vorm Schlusspfiff zurück zu sein. Wie ist es denn ausgegangen?“

„Wie es ausgegangen ist? Es ist aus. Wir sind ausgeschieden!“

„Sehen Sie“, sagt er, noch immer seelenruhig, „mit dem Fußball ist eben kein Staat zu machen, bei allem patriotischen Gezeter. Wie oft habe ich Ihnen gesagt, im Laufen liegt die Kraft!“

„Zu oft, Herr Nachbar, einmal zu oft. Sie Ignorant, Sie Monomane des Rumrennens, die Nation heult und Sie, Sie …“ Weiter kam ich nicht. Aller Frust über die Niederlage von Ballack, Poldi und Co. lähmte mir die Zunge. Alle Wut auf den sich jetzt dynamisch selbstzufrieden erhebenden Herrn Nachbarn bündelte sich. Ja, und in diesem Augenblick spürte ich den unbedingten Wunsch nach Mord. Wie eine heilige Aufgabe und stellvertretend für alle im Lande, die da trauerten: Würgen würde ich ihn, bis ihm seine austrainierte Lunge den Dienst versagte.

Dass daraus nichts wurde, das nun hat mit einem Umstand zu tun, der mir später doch zu denken gab. Als ich mich nämlich in Gang gesetzt hatte und hinter dem Nachbarn herspurtete, der seinerseits nur in einem mittleren Tempo den Restweg bis nach Hause angetreten war, da ging mir nach wenigen Metern die Puste aus. Nur das, ich schwöre es, rettete dem Kerl das Leben.

Zurück ging ich langsam. Und vier Tage später, beim Spiel um Platz drei, wusste dann inzwischen die ganze Nation, dass wir eben doch Weltmeister geworden waren. Weltmeister der Herzen. Wie schwach und untrainiert dies Organ beim einen oder anderen auch sein möge; dass mir dies ausgerechnet bei einem gescheiterten Mordversuch bewusst wurde, damit hatte ich nicht gerechnet. Sollte ich vielleicht doch mal die Laufschuhe …?

Lasse Laufen

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