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Der Herr Nachbar verlangt Genugtuung

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Tut mir leid, geneigte Leserschaft, aber ich muss diese launigen Zeilen mit einer Mitteilung beginnen, die Sie betrüben dürfte – so hoffe ich zumindest. Denn höchst wahrscheinlich ist bald Schluss mit meinen kleinen Geschichten über den rumrennenden Nachbarn, der mal hochgeistig daherkommt, mir ein andermal das Vergnügen an fast weltmeisterlichen Auftritten unserer heldenhaften Fußball-Nationalmannschaft raubt, dann wieder mein unsportliches Herz rührt, wenn er mit Spiridon, seinem laufmuffeligen Mops im Schlepptau auftaucht.

Er kommt nämlich nicht mehr. Seit Wochen schon nicht. Das wäre nicht weiter schlimm. Im Gegenteil (Achtung, gefährliche Formulierung). Ganz so einfach aber liegt die Sache nicht. Statt dass er wie bisher regelmäßig jeden zweiten Tag an meinem bescheidenen Grundstück erscheint, kam vor geraumer Zeit Post von ihm. „Ein Einschreiben!“, sagte die charmante Postbotin. Warum nicht, dachte ich mir, muss ja nichts Böses bedeuten. Schon etwas verwundet aber war ich, als ich auf den Absender sah. Das hoch offiziöse Schriftstück also kam vom durchtrainierten, laufverrückten … aber ich muss mich mäßigen. Schon das Wort lauf-„verrückt“ könnte für mich fatale Folgen haben. Jedenfalls hatte mir der ehrenwerte, der Respekt einflößende, dieser einfach nur wunderbare Mensch, der einige Hundert Meter neben mir wohnt, per Einschreiben einen Brief zukommen lassen.

Zunächst verwundert, dass er diesen Weg der Zustellung gewählt hatte – er hätte mir den Brief ja auch vorbeibringen können, gewissermaßen als laufender Bote –, riss ich den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und las noch am Tor Folgendes:

Sehr geehrter Herr Nachbar,

sozusagen negativ inspiriert durch die Lektüre einer ansonsten durchaus geschätzten Zeitschrift werde ich mich sprachlich auf ein Niveau herablassen, das ich sonst nicht schätze, das aber in etwa Ihrem entspricht. In besagter Zeitschrift, für die Sie offenkundig als eine Art Kolumnist tätig sind, unternehmen Sie es seit einigen Ausgaben, mich zu verhohnepiepeln. Als Mensch stehe ich selbstverständlich meilenweit darüber. Nicht aber als Läufer. Nebenbei bemerkt sprach mich neulich einer meiner Mitkonkurrenten auf die Sache an; bei einem Stadtlauf über 14 Kilometer, bei dem ich mit persönlicher Bestzeit als 298. von 6.814 Teilnehmern das Ziel erreichte. Besagter Mitkonkurrent, der nur 304. wurde, hatte mich als fragwürdigen Protagonisten Ihrer ebenso fragwürdigen Glosse identifiziert, als ich kurz hinter der Ziellinie überschwänglich von meinem treuen Hund empfangen worden war. Spiridon übrigens, auch das nur ganz nebenbei bemerkt, belegte jüngst bei einer kreisweiten Rassehundeausstellung in der Kategorie „Mops, männlich“ den zweiten Platz.

Doch zurück zum Wesentlichen. Ich fühle mich durch Ihre zotigen Anwandlungen, die sie wohl für witzig halten, in meinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Mit Verletzungen anderer Art hatte ich gelegentlich zu tun. Eine leichte Achillessehnenreizung etwa bekam ich mit Buttermilchumschlägen gut in den Griff. Bei schwierigeren Fällen konnte mir stets ein Arzt helfen. In der vorliegenden Angelegenheit wird der Rechtsanwalt gefragt sein. Denn was dem Arzt die Spritze, das ist dem Anwalt die Klage. Und genau solche kriegen Sie an den Hals, wenn der Zirkus nicht aufhört. Apropos Zirkus. Was im Zirkus der Löwe, also der König der Tiere, das ist im Sport das Laufen - die königliche Art der Leibesertüchtigung.

Ich räume Ihnen eine letzte Chance ein, einer Klage auf Unterlassung zu entgehen. Kommen Sie Ihrer journalistischen Pflicht nach und lassen Sie mir Genugtuung angedeihen - mir als Läufer, versteht sich. Dass es mir ernst ist, sehen Sie daran, dass ich Ihre zweifelhafte Gesellschaft seit Wochen meide.

In dem Sinne

Unterschrift

P.S.: Psychologisch ist Ihre Haltung übrigens ganz einfach zu erklären. Aus Ihren Auslassungen spricht der blanke Neid des degenerierten Schreibtischtäters, der schon einen Herzkasper kriegt, wenn er allzu zügig die acht Meter vom Arbeitsplatz zum Kühlschrank zurücklegt, um das nächste Bier zu holen.

Soweit das Schreiben. Mein Nachbar also liest „besagte Zeitschrift“, dachte ich mir. Selbstverständlich liest er sie, ging mir Augenblicke später ein Licht auf. Schließlich fressen alle Läufer Fachlektüre über ihre unheilbare Passion – so eifrig wie ein Priesterseminarist die Bibel oder ein Anwalt das Strafgesetzbuch.

Womit wir wieder beim Kernproblem wären. Der Nachbar droht mir tatsächlich mit Justizia, sollte ich ihm nicht Genugtuung angedeihen lassen. Nun denn, lieber Herr Nachbar: Ich beuge mich Ihrer durchsichtigen Erpressung. Räume insbesondere ein, dass Ihr Postskriptum möglicherweise nicht ganz bar jeden Wahrheitsgehaltes sein könnte.

Wenn Ihnen dies nicht genügt, dann machen Sie doch, was Sie wollen. Sollten Sie indes Ihre Drohung in die Tat umsetzen, würde meine Rache Sie da treffen, wo kein Arzt und kein Anwalt für Linderung sorgen könnte: in Ihrer Läuferseele. Denn statt weiterhin meiner Schreibtischtäterschaft zu frönen, würde ich die Laufschuhe schnüren. Und irgendwann, glauben Sie mir, würden Sie unvermutet meinen heißen Atem im Nacken spüren.

Jetzt aber muss ich erst in die Küche an den Kühlschrank. Mein Hals ist knochentrocken. Ich werde langsam gehen.

Lasse Laufen

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