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Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft.

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Mein Nachbar ist ein Glücksfall. Für mich persönlich ist er ein moralisches Desaster. Etwas wie das mal trabende, mal spurtende Symbol meines schlechten Gewissens. Ein Glücksfall ist er für die Gilde der Jogger, der Traber, Renner und Walker – also für die Gesamtheit der Läufer und artverwandten Spezies. Er liefert die intellektuelle Unterfütterung (das Wort zählt zu seinen Lieblingsvokabeln) für diese in Zeiten des A 380 und des Transrapid doch eher anachronistische Form der Fortbewegung.

Dem Laufen mangele es an der „motivationsfördernden, der geistigen Unterfütterung“. Ganz anders als etwa dem Boxen. Dazu habe sich bekanntermaßen jeder Dichter und Denker seit der Antike geäußert. Von Seneca bis Brecht, Sokrates bis Hemingway; von Verse schmiedenden Modepoeten wie Wolf Wondratschek ganz abgesehen. Nichts dergleichen beim Laufen, dieser „schönsten aller sportlichen Disziplinen“. So der Herr Nachbar.

Jeden zweiten Tag joggt er kaum schnaubend mit geradezu aufreizender Vitalität am Jägerzaun meines Gartens vorbei. Seit einem halben Jahr. Vorher war er anderswo gerannt. Dass er seinen regelmäßigen Streckenverlauf geändert hat, habe ich mir selbst zuzuschreiben. Als er nämlich in Abänderung der bis da üblichen Strecke erstmals auf dem seine Gelenke schonenden Feldweg auftauchte und ante portas meines Grundstücks eine Pause einlegte, sprach ich ihn an. Aus Höflichkeit, als Form des Grußes. Vielleicht noch, weil sich hinter dem schweißigen, dünnen Firnis seines Antlitzes dezent der Wunsch abzeichnete, sich auszutauschen. Über das Laufen. Ein insbesondere dem Hobbyläufer wesensimmanenter Zug, wie ich inzwischen gelernt habe.

„Sie joggen, Herr Nachbar!?“, sagte ich. Aus Höflichkeit, wie schon erwähnt. Situationsbedingt wohl auch mangels alternativer Themen. Wer käme schließlich auf die Idee, einen, wie ich dachte, nur eine kurze Verschnaufpause einlegenden Läufer auf die neuen alarmierenden Arbeitsmarktzahlen, die Staatsverschuldung oder ein Sonett von Shakespeare anzusprechen? Beispielsweise.

„Ja, ich laufe!!“ Mehr antwortete der Nachbar nicht. Aber in beiden Augen blitzte ein Ausrufungszeichen auf. Wie bei einem Börsenmakler die Dollar-Zeichen, spricht man das Wort Hausse aus.

„Sollte ich auch mal wieder machen“, merkte ich höchst fahrlässig an. Die Ausrufungszeichen in den Augen des Herrn blitzten mich weiter ohne Unterlass an. Meine Interpretation dessen war fatal. Quasi als Aufforderung, mich in die kurze Schilderung meiner anhaltenden sportlichen Untätigkeit, meiner Antriebslosigkeit zu begeben wie ein reuiger Sünder in den Beichtstuhl.

„Sie laufen also nicht!“ Der Tonfall des Herrn Nachbarn traf mich wie ein lucky punch den unaufmerksamen Boxer. Absolution war hier nicht zu erwarten, wurde mir augenblicklich klar. Da holte mein Gegenüber zum nächsten Schlag aus: „Das sollten Sie in der Tat!“

Nun taumelte ich in die Seile. Wurde zurückgeschleudert von der Kraft der Einsicht in die mangelnde Fürsorge meiner Gesundheit, der fahrlässigen Unterminierung meiner einst anständigen Fitness, der durch Zigaretten und manch Bierchen völlig aus der Balance geratenen Harmonie von Körper, Geist und Seele. Letztlich durch die Erkenntnis, im Grunde ein Wrack zu sein. Wider meine Natur unhöflich, ließ ich den Nachbarn grußlos zurück und schleppte mich ins Haus wie der Boxer in die Ringecke.

Der Gong zur nächsten Runde ertönte zwei Tage darauf. Es kam, wie es kommen musste. Der Herr Nachbar – Lehrer für Sport, Religion und Gemeinschaftskunde – tauchte wieder auf, wie seitdem stets im Zweitagesrhythmus. Er winkte schon von Weitem. Der Mann wollte reden, logisch. So kalt aber wollte ich mich nicht wieder erwischen lassen. Also attackieren, selbst in die Offensive gehen. Noch bevor er seinen zügigen Trab auf Schritttempo gedrosselt hatte, fragte ich unaufgefordert und zugegeben etwas aggressiv: „Warum sollte ich mich dieser langweiligen Lauferei hingeben, dieser monotonsten aller sportlichen Betätigungen?“

Wie erwartet, ließ sich der sportlich, religiös und gemeinschaftskundlich geschulte Pädagoge nicht provozieren. Ruhig parierte er mit einer Gegenfrage: „Welche Begründung wäre Ihnen lieber. Die laufhistorisch pointierte oder die, na …“, er machte eine Kunstpause, „die geisteswissenschaftlich unterfütterte?“

„Nennen Sie mir die lustigste, man will schließlich unterhalten werden!“

Keine Schweißperle war auf dem Gesicht des Nachbarn auszumachen. Trotzdem strich er sich über die Stirn, als wolle er auf sein durch das Laufen leistungsfähig gehaltenes, zerebrales Kraftwerk hinweisen. „Verehrter Herr Nachbar“, hob er an, „die laufhistorisch pointierte Begründung lautet so:

‚Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft!‘“

„Hübsch“, sagte ich. „Wer beansprucht die Urheberschaft für dies erfrischende Aperçu?“

„Emil Zátopek!“

„Ach, Zátopek“, stellte ich halb fragend fest. „Die alte, tschechische Lokomotive. Der Emil-Dampf in allen Stadien der fünfziger Jahre. Der begnadet radebrechende Dampfplauderer in sämtlichen Sprachen diesseits des Urals.“

„Genau der, mein Herr. Der olympische Meister des Langlaufes. Der sportanthropologisch und soziophilosophisch unbesiegte Titan läuferischer Tiefenerkenntnis – aber dazu mehr demnächst an diesem Jägerzaun …“ Dann trabte der Herr Nachbar von dannen, elastisch wie eine gummitwistende Maid im Mai.

Lasse Laufen

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