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1. Lerchen-Syndrom

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Dieser Patient sammelte gleich am Anfang Minuspunkte bei K. Er schlurfte über das sorgsam gepflegte alte Eichenholzparkett. Man hörte und sah es ganz deutlich. Jeder Schritt bedeutete einen Kratzer in K.s Wertemuster, in dem der Respekt vor altehrwürdiger Bausubstanz einen hohen Stellenwert genoss.

Irgendwie bemerkte der Patient K.s skeptischen Blick und die hochgezogenen Augenbrauen. „Ich habe keinen Parkplatz gefunden. Ich musste ungefähr zweihundert Meter laufen“, sagte er und ließ sich in den Stuhl fallen.

Ja und, zweihundert Meter, was ist das schon, dachte sich K. und musterte den kleinen dürren Mann etwas näher. Luftnot schien ihn nicht zu plagen. Er hatte ein Kurzarmhemd an. Aus den Ärmeln ragten Ärmchen hervor, braun gebrannt, aber dünn, sehr dünn, wie Hähnchenschenkel. Die mickrigen Muskelpartien vibrierten.

„Ist Ihnen kalt?“, fragte K.

„Nein, eigentlich nicht.“

Der Mann kam K. eigenartig abwesend vor. Er schob ein paar Unterlagen rüber. „Ich habe ein Lerchen-Syndrom“, sagte er, so als würde er an einer Erkältungskrankheit leiden.

„Aha“, parierte K., ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, was ein Lerchen-Syndrom sein könnte.

„Warum sind Sie denn so klapperdürr?“, fragte K. mit gespielter Anteilnahme.

„Seit ein paar Monaten habe ich keinen Appetit. In der Zeit habe ich knapp zehn Kilo an Gewicht verloren.“

„Und das bei Ihrer Größe“, staunte K. Der Mann war gerade mal eins sechzig groß.

„Ja, und vorher kam das mit der Gehbehinderung, schon vor ein paar Jahren. Mir taten die Unterschenkel weh, auch die Oberschenkel. Es war so ein Ziehen. Ich musste nach immer kürzeren Gehstrecken stehen bleiben.“

„Also so eine Art Schaufensterkrankheit“, sagte K.

„Ja, so haben es die Ärzte genannt. Gaudiatio interruptus, oder so ähnlich.“

„Claudicatio intermittens meinen Sie sicherlich.“

„Ja, richtig.“

Zwischenzeitlich hatte K. nebenher Lerchen-Syndrom bei Wikipedia eingegeben. Er stieß auf Leriche-Syndrom. Er las, dass der Erstbeschreiber der französische Chirurg René Leriche gewesen war. Es handelte sich dabei um einen vollständigen Verschluss der Bauchschlagader und zwar oberhalb der Stelle, an der sich das wichtigste Blutgefäß beim Menschen in die zwei Beinarterien aufspaltet. Das ist aber mit dem Leben nur schlecht vereinbar, dachte sich K., dem Mann müssten zumindest die Beine abgefallen sein.

„Das kommt von Ihrem Leriche-Syndrom“, sagte K., nunmehr als Wissender.

Der Mann schaute ihn traurig an und wurde in seinen Bewegungen leicht fahrig.

„Rauchen Sie?“, fragte K.

Es kam ein unsicheres „Ja“ mit einer gequälten Verwindung des Oberkörpers. Natürlich wusste der Mann, dass das inhalative Tabakrauchen der wichtigste Risikofaktor für seine Grunderkrankung war.

„Wieviel?“ K.s Frage stand schneidend im Raum.

Der Mann tat so als, wenn er rechnen müsste. „Weniger als zwanzig“, antwortete er.

Alkohol und Nikotin rafft die halbe Menschheit hin. Aber: Ohne Schnaps und ohne Rauch stirbt die andere Hälfte auch, pflegte mein Großvater immer zu sagen, wenn er genüsslich an seinem Rotweinglas nippte und sich eine Zigarre anzündete.“ K. wollte mit diesem volkstümlichen Erfahrungsspruch versöhnlich stimmen und vorfühlen, wie es denn mit dem Saufen stand.

Der Mann reagierte hektisch. „Ich trinke keinen Schnaps.“

„Und wie sieht es aus es mit anderen alkoholischen Getränken?“

„Vor Jahren hatte ich mal eine Phase, private Schwierigkeiten, da war es etwas mehr.“

„Wieviel?“

Wieder sah es so aus, als wenn er ganz neu kalkulieren müsste. Zögernd kam die Antwort. „So acht bis zehn Flaschen waren es dann doch.“

„Bier pro Tag?“

„Ja, nur Bier. Aber nach sechs Wochen stationärem Entzug war ich über den Berg.“

„Sie meinen, Sie sind seitdem trocken.“

„Absolut.“

K. entdeckte in den spärlich vorhandenen medizinischen Unterlagen Angaben zu den Leberenzymaktivitäten. Sie waren leichtgradig erhöht, was nicht unbedingt für übermäßigen Alkoholkonsum sprechen musste. Das mittlere korpuskuläre Erythrozytenvolumen, kurz MCV, lag jedenfalls im oberen Streubereich der Norm. Erhöhungen dieses Parameters weisen auf einen schon länger bestehenden Alkoholabusus hin. Letztlich war es auch egal, ob der Mann soff. Entscheidend für die Gefäßerkrankung war das Rauchen.

Bei dem Patienten war nicht nur die Aorta verstopft, sondern auch eine Nierenarterie. Die Blutzufuhr zur kontralateralen Niere war nur dadurch einigermaßen gesichert, weil es sich hier um eine Gefäßanomalie mit einer arteriellen Doppelversorgung handelte.

„Sie haben noch etwas Glück im Unglück gehabt. Sie haben die chronische Variante des Leriche-Syndroms. Der Verschluss in der Bauchschlagader hat sich schleichend entwickelt. So hatte Ihr Arteriensystem Gelegenheit, Umgehungskreisläufe zu entwickeln. Der Radiologe beschreibt in seiner Magnetresonanz-Angiographie Kollateralenbildungen über die Bauchwand- und die Lumbalarterien. Das ist aber letztendlich so, als wenn es beim Wasserwerk keine Hauptleitung gibt, sondern das ganze Wasser ab dem Ursprungsort über dünne Rohre zum Verbraucher geleitet wird. Das kommt schon an, aber halt langsamer und mit weniger Druck.“

Als sich der Mann auszog, damit K. ihn untersuchen konnte, zeigte sich ein erbärmliches Bild. Der Patient stand wacklig auf den Beinen, dünn wie Streichhölzer. Die Schlüsselbeine traten hervor wie Haltegriffe . Die Halsmuskulatur existierte so gut wie gar nicht mehr. Er zitterte wie Espenlaub. Das Herz raste und der Blutdruck lag trotz Untergewicht bei 210/120 mmHg. Die Fußpulse waren nicht mehr tastbar.

Ich muss aufpassen, dass mir der hier nicht in meiner Praxis abschmiert, dachte sich K. und ging ganz behutsam vor. „Machen Sie langsam, ich habe viel Zeit“, beruhigte er.

Nachdem sich das Häuflein Elend wieder angezogen hatte, nahm der Mann die Stufen zwischen Untersuchungsraum im Souterrain und Besprechungszimmer im Erdgeschoss recht zügig. Das gelang aber nur dadurch, dass er sich am Handlauf hoch zog. Oben aber musste er sich sofort hinsetzen, weil ihm die Beine den Dienst versagten.

„Es ist völlig illusorisch, dass Sie wieder arbeitsfähig werden“, stellte K. fest. „Es ist für mich sowieso schleierhaft, wie Sie so lange Ihren Job als Lagerist durchhalten konnten. Da hilft nur noch eine Operation.“

„Die Wegstrecken im Lager waren nicht so lang. Ich bin auch viel Stapler gefahren. Wenn schwere Sachen zu heben waren, dann hat man mir geholfen.“

„Warum sind Sie denn erst so spät zum Spezialisten gegangen? Sie kennen doch schon seit Jahren Ihre Grunderkrankung.“

„Mein Hausarzt hat gesagt, dass wir das schon hinkriegen würden.“

„Wissen Sie was, möglicherweise ist es jetzt zu spät. Ihre Appetitlosigkeit kommt von der Minderdurchblutung Ihrer Darmgefäße. Sie sind dadurch an den Rand einer Kachexie gekommen, denkbar schlechte Voraussetzung dafür, eine Operation zu überstehen. Bei Ihnen muss eine sogenannte Y-Prothese eingesetzt werden, das heißt, es wird der verstopfte Teil der Aorta mit den daran hängenden Anfangspartien der Beinarterien durch ein künstliches Gefäßstück ersetzt. Was nicht ganz ungefährlich ist. Durch die plötzlich wieder ungehinderte Durchblutung kann sich ein sog. Postischämiesyndrom entwickeln. Dabei kommt es zum Schock oder zum Nierenversagen. Ich weiß nicht, ob Sie einen Gefäßchirurgen finden, der sich bei Ihrem Ernährungszustand an eine so schwierige Operation heran wagt.“

Obwohl, dachte sich K., irgendwo gibt es immer einen Chirurgen, der sich so mächtig fühlt, dass er das Risiko eingeht, der Patient muss nur ja sagen. Doch im vorliegenden Fall bezweifelte K., dass seitens des Patienten Bereitschaft für einen operativen Eingriff bestand. Der Mann würde sich draußen erst mal eine Zigarette anzünden und zu Hause einen Schluck aus der Pulle nehmen. Und K. konnte ihm das bei der schlechten Prognose auch gar nicht verübeln.

Wenn er doch nur die Fersen etwas anheben könnte, wünschte sich K., als der Mann aus der Praxis hinaus hatschte.

Könnenwollen I

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