Читать книгу Könnenwollen I - Paul Hartmann Hermann - Страница 9

6. TUR-P

Оглавление

Kahler hatte gerne in der Klinik gearbeitet, als Assistenzarzt. Als Patient war er noch nie im Krankenhaus gewesen. Jetzt war es so weit, er hatte einen Termin in der Urologie. Die Perspektive veränderte sich radikal. Er wurde vom Handelnden zum Behandelten. Dabei lernt man einige Dinge neu, z. B. Geduld, Demut und Vertrauen in das Tun anderer. Man lernt auch eine Menge neue Leute kennen, denen man Sachen erzählt, die man normalerweise niemals preisgeben würde, z. B. beantwortet man die Frage nach dem Zeitpunkt des letzten Geschlechtsverkehr oder nach der Dicke des Urinstrahls.

Wenn Kahler seinen Klinikaufenthalt rekapitulierte, dann standen zwei Sachen im Vordergrund. Das eine war die Farbe seines Urins als sensibler Indikator für den Zustand seines Epithels in den ableitenden Harnwegen, und das andere waren die Menschen, die dafür sorgten, dass sich Dunkelrot in Hellgelb verwandelte. Diese Klinikmitarbeiter sind Menschen wie du und ich. Vielleicht bestand bei dem einen oder anderen das Bedürfnis, anderen helfen zu wollen. Dieses Motiv findet man aber auch in anderen Berufsfeldern.

In der Anmeldung zur urologischen Abteilung, einem fensterlosen und nur spärlich beleuchteten Raum saß eine Dicke und bewachte die Formulare. „Sie dürfen jetzt reinkommen“, sagte sie.

Dieses Sie dürfen begleitete Kahler bei allen persönlichen Kontakten mit dem Klinikpersonal. Ausgenommen die Ärzte, die bevorzugten eine andere Diktion. Sie sagten einfach würden Sie bitte mal oder so ähnlich. Die Schwestern und Labormäuse gaben sich mit ihrem Dürfen den Anstrich der Servicefreundlichkeit, artikulierten aber das glatte Gegenteil. Sie dürfen bedeutet, ich erlaube dir etwas zu tun. In der Klinik aber ist doch sicherlich gemeint, ich würde mich freuen, wenn du das jetzt machst.

„Sie dürfen jetzt reinkommen“, schallte das Echo in Kahlers Kopf. Sei nicht so pingelig, sagte er sich, die weiß es nicht anders. Kahler setzte sich behutsam auf den Stuhl. Er spürte den Dauerkatheter in seiner Harnröhre. Er reichte seine Versicherungskarte rüber. Die Dame war wahrhaft mächtig. Sie hantierte im Halbdunkel mit einem Wust von Papieren. Dann gab sie Kahlers Personendaten ins System ein. Der Drucker spuckte einen Bogen mit selbstklebenden Minietiketten aus. Die Etiketten zupfte sie sehr routiniert vom Papier ab und pflasterte damit ihren linken Unterarm. Der verschwand fast vollständig hinter dem Schilderwald. Hier hat die Arbeit die Arbeiterin gefunden, dachte sich Kahler. Nur ein derartig mächtiger Körper mit einer Armoberfläche, groß wie eine Pinwand, ist in der Lage, eine solche Dokumentationstechnik umzusetzen. Wie bei einer Etikettiermaschine flogen dann die kleinen Schildchen auf die Formulare. Als alle Papiere gekennzeichnet waren, stauchte sie den Stapel und schob ihn über den Tisch. „Wo ein Kreuz ist, bitte unterschreiben.“

Mit Wohlgefallen sah Kahler, dass Titel und Name vollständig und korrekt wiedergegeben waren: Prof. Dr. P. H. Kahler stand da. Er legte zwar keinen übersteigerten Wert auf die akademischen Würden, freute sich aber, wenn sie doch zumindest wahrgenommen wurden. Kahler unterschrieb blind diverse Einverständnis- und Garantieerklärungen. Das konnte man unmöglich in der gebotenen Kürze der Zeit alles durchlesen. Es ging wohl in erster Linie um die Kostenerstattung.

Die nächste Station war die Erhebung der Eingangsanamnese. Ein Jungkollege, der eine noch jüngere Ärztin im Praktikum im Schlepptau hatte, übernahm diese Aufgabe. Kahler log, dass sich die Balken bogen.

„Rauchen Sie?“—„Och, gelegentlich, maximal fünf am Tag.“

„Und wie steht es mit Alkohol?“—„Ein Glas Wein zum guten Essen, vielleicht auch zwei.“

„Was ist mit Sport?“—„Na klar, regelmäßig.“—„Und was machen Sie da?“—„Ich spiele Golf.“—„Oh.“

Kahler ärgerte sich, dass er das mit dem Golf rausgelassen hatte, der hierzulande weniger als Sportart und mehr als Bewegungsart wahrgenommen wird. Bei der nachfolgenden Sonographie—das war jetzt bereits die vierte innerhalb von zwei Wochen—meinte Kahler, dass es ihm der Jungmediziner heimzahlen würde, seine schnöselige Golfaffinität. Der steckt mir mehr als einen Finger in den Arsch. So fühlte sich die Untersuchung an. Und nach getaner Arbeit ließ er Kahler mit dicken Schichten von Sonographiegel am Bauch und in der Kimme einfach so liegen. „Sie dürfen sich dann wieder anziehen“, sagte er und outete sich als Mitglied der unteren Servicekaste.

Kahler fand eine Kleenexrolle und versuchte, mit dem Papier das Gel loszuwerden. Bei seinen hektischen Wischbewegungen schien es aber so, als wenn das glibberige Zeug immer mehr werden würde. Es war jetzt überall. Frustriert zog er sich die Hosen hoch und hatte in der nächsten Zeit das Gefühl, unter sich gelassen zu haben.

Die Ambulanzschwester drückte ihm einen Stapel Formulare in die Hand und forderte ihn auf, sich auf Station anzumelden. Die befände sich in der zweiten Etage. Prompt erwischte Kahler den falschen Fahrstuhl. Auch die moderneren Krankenhausbauten haben eine unergründliche Logistik und Topographie. Schließlich fand er sie aber doch, die urologische Station, sein Zuhause für voraussichtlich sieben Tage. In einer Art Slalomlauf um die auf dem Gang geparkten Betten erreichte er die Stationszentrale. Er traf dort eine Schwester, die ihre etwas reservierte Haltung ab dem Zeitpunkt änderte, als sie Kahlers Status als Privatpatient erkannte.

„Sie dürfen den Fragebogen ausfüllen, aber nur die grünen Stellen.“

Nachdem er getan, wie ihm geheißen, kämpfte sich Kahler wieder durch den Hauptgang zurück in den Wartebereich. Dort fand er einen freien Sitzplatz zwischen einem älteren Herrn im Rollstuhl und einem älteren Herrn, der in einem Bett lag, das man offensichtlich von der OP-Liege bis zum Sandkasten morphen konnte. Überall lugten Schläuche hervor. Alle Gesichter waren kalkweiß. Die Mimiken waren starr. Bald gehörst du dazu.

Der Fragebogen umfasste sechzehn Seiten. Jetzt wurde noch mal alles abgefragt und wieder log Kahler bei Alkohol und Nikotin. Genauso bescheißen dich deine Patienten, stellte er fest. Das Bronchialkarzinom hat nie geraucht, die Leberzirrhose hat nie gesoffen und der Fettsack hält schon immer Diät ein. Neu waren die Fragen nach Art der Rasur, ob man Gebissträger sei und unter welche Pflegestufe man fallen würde. Als Kahler den Fragebogen wieder bei der Schwester abgab, sagte sie, dass man Bademantel und Toilettenutensilien bei der Wahlleistung Einzelzimmer zur Verfügung gestellt bekommen würde. Wichtig sei aber, dass man eigene Hausschuhe mitbrächte.

Es vergingen einige wenige Tage, und es kam der Sonntagabend. Kahler quartierte sich in sein Einzelzimmer auf der Urologie ein. Die Henkersmahlzeit ließ er stehen. Eine Adumbran sorgte für Entspannung und ruhigen Schlaf, ein Zäpfchen Dulcolax für die letzte Entleerung vor der Operation.

„Schwester, bleiben Sie da. Sie müssen aufpassen, dass ich das Ding nicht schlucke.“

Am nächsten Morgen musste sich Kahler das OP-Hemdchen anziehen. Dieses Kleidungsstück ist nicht nur praktisch, sondern es erfüllt auch die Funktion einer Art Fußfessel, wie Häftlingskleidung. Versuche, mit dem kurzen und hinten offenen Teil zu fliehen, werden in der Regel bereits am Klinikausgang unterbunden.

Er legte sich in das bereit gestellte High-Tech-Bett und wurde aus dem Zimmer gefahren. An dem Bett ließ sich buchstäblich alles verstellen, Höhe, Neigung, Beinwinkel, alles elektromotorisch, versteht sich. Nur der Ortswechsel geschah nach wie vor mit Körperkraft. Die kleine Stationshilfe kämpfte, um nicht mit dem schweren Gefährt anzuecken. Es konnten auch seitliche Planken hochgefahren werden, um ein Verlassen der Liegestatt zu verhindern und aus dem Bett ein kleines Gefängnis zu machen.

„Was kostet denn so ein Ding?“, fragte Kahler einen Pfleger, der im Aufzug mitfuhr. „Mindestens 5.000“, sagt der, „aber nur, weil Medizin dran steht. Selbst die einfachen Sitzwagen kosten schon 3.000 Euro.“

Geparkt wurde zunächst im Aufwachraum. Die Atmosphäre war freundlich, fast familiär und das zahlreiche Personal wirkte relaxed, soweit man das bei angelegtem Mundschutz beurteilen konnte. Kahler wurde schon wieder danach gefragt, ob seine Zähne fest sitzen. Sein Bett wurde noch einen Raum weiter geschoben. Er näherte sich dem eigentlichen Tatort, dem Bereich, der den Operateuren, den Op-Schwestern und den Anästhesisten vorbehalten bleibt, wo der Arzt tatsächlich zum Herrscher über Leben und Tod, oder zumindest doch über Gesundheit und Krankheit wird. In einem späteren Gespräch sollte ihm der Chefarzt sagen, dass man eine so große Abteilung wie die seine, aus dem Operationssaal führen müsse. Und er würde auch sagen, dass Kahlers Wahl, zu ihm zu kommen richtig gewesen sei. Wir operieren doch viel mehr, als die in der Uniklinik, wurde Kahler aufgeklärt.

Ein Vollbart hinter dem Mundschutz stellte sich mit fremdländischem Akzent als Oberarzt der Anästhesie vor. Der Stich in die Handrückenvene schmerzte. „Jetzt geht es los“, hörte Kahler noch, und dann rückte die Umwelt in weite Ferne, bis sie ganz verschwunden war und die Erinnerung wurde ausgeknipst.

„Schön, dass wir uns jetzt persönlich sehen“, sagt der Chefarzt der Urologie. Vorher hatte nur telefonisch Kontakt bestanden.

Zwei Stunden waren vergangen. Die Teilresektion der Vorsteherdrüse über die Harnröhre mittels Endoskop und Elektroschlinge hatte eine Stunde gedauert, die Aufwachphase noch einmal genauso lange. Kahler blickte in ein Gesicht, das außer den wachen Augen keine Merkmale mit hohem Wiedererkennungswert enthielt. Charisma sieht anders aus. Was der Mann jedoch sagte, hatte Hand und Fuss. Er hatte eine natürliche Autorität, war also kein Mitglied der aufgeblasenen eminenzbasierten Chefarztfraktion, sondern ein evidenzbasierter Überzeugungstäter. Um dies festzustellen, genügte die kurze Unterhaltung. Kahler fühlte sich gut aufgehoben.

„Die Drüse war doch nicht so groß, vielleicht 65 Gramm. Ich habe nur 40 Gramm herausgenommen. Aber die Harnröhre war stark verengt.“

Der Chefarzt griff, mit blauen Kunststoffhandschuhen bewehrt, beherzt an Kahlers Pimmel und machte sich am Harnröhrenkatheter zu schaffen. Nachdem er ihn entblockt hatte, schob er ihn weiter rein. Der Ballon befand sich jetzt offensichtlich in der Blase und nicht mehr im operierten Prostatabereich. Jetzt spritzte er wieder Flüssigkeit in den Blockballon. „So sitzt er besser.“ Dann ließ er sich zwei Mullstreifen geben, band sie um das Schlauchende und brachte Zug auf den Schlauch. Kahler jaulte auf.

„Wir geben Ihnen ein Schmerzmittel. Es muss jetzt viel gespült werden. Die physiologische Kochsalzlösung läuft über den Bauchdeckenkatheter in die Blase und von dort über den Harnröhrenkatheter wieder raus.“

Die Ansage war kurz und knapp. Auf weitere vertrauensbildende Gesprächsinhalte ließ er sich nicht ein. Gar nicht so verkehrt, dachte sich Kahler, der Chirurg soll ja nicht labern, sondern durch richtiges Machen heilen. Die Entourage—Stationsärzte, Oberärztin, diensthabende Schwester—hielt respektvoll Abstand zu ihm, aber nicht so devot, wie Kahler das früher bei den Visiten der gottgleichen Medizinordinarien erlebt hatte.

Am Abend des OP-Tages verspürte Kahler plötzliche Übelkeit. Er hatte Angst vor dem Würgereiz. Das könnte den Urin wieder dunkelrot machen. Deswegen schluckte er den hoch drängenden Mageninhalt mehrmals wieder runter, bis es nicht mehr anders ging. „Schwester, mir ist schlecht“, rief er und erhielt umgehend einen langen weißen Plastikbeutel, welcher in etwa die Dimension eines Unterarmes hatte. „Ich wollte kein Präservativ, sondern einen Kotz-…“, Beutel bekam er nicht mehr raus. Das mit der Übelkeit war ein Makel der Anästhesie, das wusste er. Heutzutage kann man diese Nebenwirkung durch Feindosierung der verabreichten Narkotika weitgehend ausschließen. Aber sollte er sich beschweren? Was hätte das gebracht?

In den nächsten drei Tagen liefen so circa 80 Liter Flüssigkeit durch Kahlers Kanalisation. Dabei drehte sich alles um die Farbe des Urins. Ursprünglich dunkelrot, verlängerten sich die Phasen, in denen die Pisse klar blieb. Rückschläge gab es beim Husten und bei Körperwendungen mit Anspannung der Bauchmuskulatur. Sofort dominierte wieder die rote Farbe.

„Was mir nicht gefallen hat, das waren Ihre hohen, stark schwankenden Blutdruckwerte“, hatte der Chefarzt noch gesagt. „Während der OP bewegte sich der systolische Wert zwischen 100 und 220 mmHg. Ich werde meinen kardiologischen Kollegen informieren.“

Kahler war misstrauisch. Sagt der mir das als ausbeutbaren Privatpatienten oder als definitiven Hochdruckpatienten? Kahler war aber auch beunruhigt. Er kam sich mit den Katheterschläuchen vor, wie einst Laokoon im Kampf mit den Schlangen. Bei jeder Bewegung hatte er Angst, dass irgendein Schlauch herausgerissen werden könnte. Es ist der Stress, deswegen die Hypertonie, beruhigte er sich.

Die Langzeit-Blutdruckmessung strangulierte alle halbe Stunde seinen Oberarm. Der Arm wurde blau und die Venen am Handrücken schwollen bedrohlich an. Ist das in Ordnung? Seit jeher hatte er den automatischen Blutdruckmessgeräten misstraut. „Schwester, bitte kontrollieren Sie noch mal manuell“, bat er. Doch es half nichts, auch die Messung mit Manschette und Stethoskop ergab 190/110 mmHg. Ich gehe demoliert hier rein, es wird repariert, aber ich komme mit einem anderen Schaden zu Hause wieder an. Das kennt man eigentlich nur von der Autoreparaturwerkstatt.

Der kardiologische Oberarzt wirkte leicht genervt, wie jeder Oberarzt, der gerne Chef wäre oder niedergelassener Arzt in eigener Praxis, nur ohne die Verantwortung oder ohne die finanziellen Risiken tragen zu müssen. Er war gerade dabei, eine Kardiosonographie bei Kahler durchzuführen.

„Die Pumpe ist klein, aber kräftig. Die Wandstärke der linken Kammer ist grenzwertig: 13 Millimeter. Den Hochdruck haben Sie wahrscheinlich schon länger. Die Klappen sind okay, nur bei der Mitralklappe sieht man einen kleinen Jet. Nichts Schlimmes. Kommt von der Muskelhypertrophie.“

„Herr Kollege, darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“, hob Kahler mit dünner Stimme an.

„Nur zu, ich habe schon lange kein Geheimnis mehr verraten bekommen.“

„Ich habe in den Fragebögen gelogen.“

„?“

„Mein Alkoholkonsum in den letzten Monaten lag nicht unter einer Flasche Wein.“

Der Oberarzt reagierte weitgehend desinteressiert und ließ sich über die allgemeine kardioprotektive Wirkung des Alkohols aus. „Natürlich haben Sie ab 30 Gramm Alkohol pro Tag auch Nebenwirkungen. Das sind ungefähr 0,2 Liter Wein oder 0,5 Liter Bier. Sie kennen das ja, Leberprobleme, Polyneuropathie, die Bauchspeicheldrüse usw. Bluthochdruck steht da nicht im Vordergrund.“

Kahler kramte in seinem Oberstübchen nach den spärlichen Resten seines internistischen Basiswissens. Das mit dem Alkohol und dem Bluthochdruck hatte er sich anders gemerkt.

Die kleine junge Schwester, die ihm den Verband am Bauchkatheter wechselte, hatte ein Tatoo auf der Kopfhaut hinter dem rechten Ohrläppchen. Kahler sprach sie darauf an. Sie antwortete etwas verlegen. Ja, das G wäre der Anfangsbuchstabe ihres Vornamens. Und sie könne die Tätowierung dadurch verstecken, dass sie ihre Haare öffnet. Irgendwie goldig, fand Kahler, wenn man das Tatoo nicht sieht, dann braucht man es ja auch nicht, oder? Während sie sich weiter am neuen Verband zu schaffen machte, erzählte Kahler, dass er mal vor langer Zeit ein paar Monate als Musterungsarzt gearbeitet hätte. Da hätte er viele Tätowierungen gesehen. Eine sei ihm noch in besonderer Erinnerung geblieben. Dabei deutete er auf seine rasierte Schamregion. Da hätte in fetten schwarzen Lettern NUR FÜR DICH gestanden. In dem Moment, wo er das sagte, tat es ihm schon wieder leid. Aber sie reagierte sehr souverän. „Das passt ja immer“, sagte sie.

Eine Katastrophe war das Essen. Auf blassgelben Tabletts standen Teller, die mit einer blassgrauen Plastikhaube abgedeckt waren. Darunter befand sich alles, was böses Essen ausmacht: Faseriges Bratenfleisch, totes Gemüse, Kartoffelsalat aus dem Eimer und Salami mit 120 Prozent Fettgehalt, Fischbouletten mit einer Art Holzmehlsurrogat, absolut geschmackfreies Obst usw.. Die tiefer gelegte stämmige Stationshilfe, die für die Essensausgabe zuständig war, schaute Kahler vorwurfsvoll an, wenn er wieder mal sein Essen nicht angerührt, oder allenfalls ein paar Brocken vertilgt hatte.

Auf der Innenseite jeder Schranktüre befanden sich Warnhinweise, man solle Wertsachen sichern. Die Schwestern berichteten von üblen Raubzügen trotz abgeschlossener Zimmertüre. Kahler verstaute daher seine Wertsachen in dem windigen kleinen Tresor im Waschbeckenschrank. Den Schlüssel versteckte er hinter einem Bilderrahmen, der aus einem Aluminiumwinkelprofil bestand. Er kam sich unheimlich clever vor. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei aber um das unter Dieben bestens bekannte Standardversteck.

„Dann machen Sie mal das Professor-Doktor vor meinem Namen weg.“ Kahler meinte das Schild außen neben der Zimmertür. „Das könnte Gauner besonders anziehen.“

„Aber unser Chef legt großen Wert darauf, dass auch die Titel der Patienten dort erscheinen. Er sagt, dass man zu seinem erworbenen Titel stehen sollte.“

Das ist ein Mann der alten Schule, dachte sich Kahler, nicht so einer von der Piratenfraktion. Die wollen den alten Herrschaften doch nur im Generationenkampf—unter dem Mäntelchen von IT und Basisdemokratie—Status, Urheberrechte und Privilegien klauen.

Kahler stand in seinem OP-Hemdchen vor der versammelten Mannschaft der urologischen Abteilung. Jedenfalls waren alle Schwestern und Schwesternhelferinnen angetreten, die ihn versorgt hatten. „Ihr habt nun alle meinen Pimmel gesehen. Ich fände es nur fair, wenn ich auch etwas zu sehen bekomme“, sagte er in geschäftsmäßigem Ton.“ Bevor es auch nur ansatzweise zu dieser Aktion gekommen wäre, zerplatzte Kahlers frivole Traumblase in tausend Fetzen und er wachte stöhnend auf. Durch eine ruckartige Körperwendung hatte er einen starken schmerzhaften Zug auf seinen an der Haut angenähten suprapubischen Katheter bekommen. Nichts war es mit dem konspirativen Tipp des erstbehandelnden Urologen, dass man spätestens nach drei Tagen abhauen könnte. Kahler hing durch den Bauchkatheter wie am Angelhaken. Erst wenn der entfernt würde, könnte er wieder frei schwimmen.

Warum, verdammt noch mal, kümmert sich niemand um meinen Stuhlgang, fragte sich Kahler. Stuhlgang im Krankenhaus ist quasi Privatsache. Es wird ein Riesenbohei um Wahlessen, Zwischenmahlzeit, Obstteller und Schwarz- oder Weißbrot gemacht, dann aber werden Patient und Nahrung allein gelassen. Klar, das hier ist die Urologie und nicht die Bauchchirurgie oder die Gastroenterologie. Aber hallo Leute, der Darm ist größer und mächtiger als die ableitenden Harnwege. Die Oberfläche der Darmschleimhaut hat das Ausmaß der Grundstücksfläche eines Reiheneckhauses und im Darm residiert der größere Teil unseres Immunsystems. Fast das gesamte Serotonin des Körpers wird dort gebildet. Und dieses Organ ist sich auch seiner Macht bewusst. Jedenfalls war das bei Kahler so. Züchtigungsmittel waren massive Blähungen, welche seinen Bauch bizarr auftrieben, verbunden mit Völlegefühl, als wenn sich Findlinge in seinem Bauch eingenistet hätten.

„Wir führen ab dem zweiten postoperativen Tag ab, erst Bifiteral zum Weichmachen und dann Dulcolax. Das muss acht Stunden einwirken, bis die Darmtätigkeit anspringt“, sagte die Schwester zu Kahler. Er hatte sich hilfesuchend an sie gewendet: „Wenn das nichts bringt, dann könnt ihr mich auf die Geburtshilfe verlegen.“ Und es tat sich nichts. Durch die wochenlange Antibiotikum-Einnahme hatten sich die zwei Kilogramm Darmfauna gegen den Wirtsorganismus gewandt. Es halfen wiederum nur Suppositorien.

Am dritten Tag war es so weit. Der Chefarzt war mit der Urinfarbe zufrieden. Der Harnröhrenkatheter könne gezogen werden, sagte er. Kurze Zeit später hieß es: „Tief einatmen und nun kräftig husten“, und der Katheter war draußen. Natürlich hatte die Schwester vorher die Blockung aufgehoben.

Am nächsten Tag wurde der Bauchdeckenkatheter verstöpselt.

„Jetzt soll der Urin wieder ganz normal fließen“, sagte der Chefarzt.

Kahler hatte Bammel. Seit knapp vier Wochen war der Saft nicht mehr via naturalis abgegangen. Würde das funktionieren? Würde das weh tun? Wie justiert sich das Detrusorsystem neu?

„Sie messen bitte mit der Bettflasche die Urinmengen, die aus dem Harnröhrenkatheter und dem Bauchkatheter kommen.“

Es muss laufen, betete Kahler, sonst kriege ich wieder den verdammten Harnröhrenkatheter eingesetzt. Bloß das nicht. Er trank und trank, aber es stellte sich kein Harndrang ein. Er meinte zu spüren, wie sein instabiler Bluthochdruck wieder höher ging. Die Temperatur war bei schwüler Witterung schon am Vormittag über 25 Grad angestiegen. Er bekam Schweißausbrüche. Immer noch nichts. Läuft dieser wahrhaft schlechte Film jetzt rückwärts? Er schüttete noch einen halben Liter Wasser in sich hinein. Und dann hielt er die Urinflasche einfach an den Ausgangsstutzen, und siehe da, es bildete sich ein dünnes Rinnsal, ohne dass sich die Blase vorher gemeldet hätte. Der Lackmustest zur Rückgewinnung der urinalen Souveränität war positiv ausgefallen. Die ersten zweihundert Milliliter sammelten sich in der Flasche. Es tat überhaupt nicht weh. Glücklich sein kann so einfach sein.

Die Schwester zeigte ihm, wie der Restharn zu sammeln ist. Einfach nur den Stöpsel aus dem Bauchkatheter ziehen und in die Flasche laufen lassen, Menge ablesen, fertig. Die erste Restharnmenge lag bei 120 Milliliter. „Das ist noch zu viel“, sagte der Chefarzt. Doch innerhalb von 24 Stunden erreichte Kahler zweimal die magische Marke von 50 Milliliter, den Schlüssel zum Ziehen des Bauchwandkatheters.

Kurzum, der postoperative Verlauf hatte sich komplikationslos gestaltet. „Das hält die nächsten fünfzehn Jahre“, hatte der Chefarzt gesagt. Kahler war also ab heute kein Prostatapatient mehr. Dafür verließ er die Klinik als Hochdruckpatient. Er würde die Hypertonie-Leitlinien der Deutschen Hochdruckliga durcharbeiten und die nächsten Wochen und Monate nach der für ihn passenden antihypertensiven Therapie suchen. Vielleicht erledigte sich das Problem aber auch einfach dadurch, dass er seinen Alkoholkonsum auf Null runterschraubte. So oder so musste Kahler also letztendlich dankbar für die Prostataaffäre sein. Möglicherweise hatte sie ihn vor einem Leben als Halbseitengelähmter im Rollstuhl bewahrt und ihm die Option auf einige gesunde Lebensjahre mehr eröffnet.

Der Oberarzt der Urologie entließ Kahler an einem Samstagvormittag. Kahlers Stimme war in den Kopf gerutscht. Sie klang dünn und heiser. Seine Tuben waren angeschwollen. Er hatte das Gefühl, als wenn sich Wasser in beiden Ohren befände.

„Was ist denn mit Ihrer Stimme passiert?“, fragte der Oberarzt.

„Ich weiß nicht, vielleicht eine Nebenwirkung vom ACE-Hemmer. Hat mir Ihr Kardiologe verschrieben. Bei mir besteht eine Non-Dipper-Hypertonie.“

Der Oberarzt schaute Kahler leicht mitleidig an. „Na, vielleicht haben Sie etwas Zug bekommen. Die Nacht war recht kalt.“

„Sie dürfen mich hoffentlich in guter Erinnerung behalten“, sagte Kahler nach einer Woche stationärem Aufenthalt bei der Entlassung zur verdutzt schauenden Schwester. Sie wunderte sich, wie seltsam sich der Patient ausdrückte.

Ist das richtig, was du da machst, fragte er sich. Du teilst hier intimste Dinge mit, die niemand etwas angehen. Denk doch mal an deine Privatsphäre. Doch da gibt es natürlich auch die informationelle Selbstbestimmung. Kundtun kann ich, was ich für richtig halte. Und er hielt es für richtig, seine Erfahrungen und Erlebnisse auch anderen zuteil werden zu lassen. Auch er mit seinen Erfahrungen als Arzt hatte sich während der stationären Behandlung in eine Sphäre voller Überraschungen und Unwägbarkeiten hinein begeben müssen. Wie würde es da erst den anderen Patienten ergehen. Oder hatte sein medizinisches Dreiviertelwissen seine Ängste zusätzlich gespeist? Während die Menschen, die in der Klinik arbeiteten, die Aktionen und Abläufe als Routine empfanden, waren das für den Patienten singuläre Ereignisse. Vielleicht war es möglich, durch seine Schilderungen Ängste zu nehmen. Oder schürte er dadurch erst Recht Befürchtungen und Vorbehalte?

Nachspiel

Das Telefon klingelte. Der urologische Chefarzt war dran. „Ich wollte die frohe Botschaft selber überbringen. Ich habe das Ergebnis der Histologie vom Resektat. Es ist alles gutartig, genauso wie bei der Stanzbiopsie.“

„Vielen herzlichen Dank“, stammelte Kahler, und bevor er weiter reden konnte, hatte sich der Chefarzt mit einem Alles Gute auch schon wieder verabschiedet. Der hat viel um die Ohren, dachte sich Kahler. Sicherlich war er jetzt erleichtert, die Diagnose Krebs hatte aber für ihn bei der Prostata nicht das Schreckenspotential wie beispielsweise beim Pankreaskopfkarzinom. Zum einen ist der Prostatakrebs, rechtzeitig diagnostiziert, gut zu operieren und zum anderen wachsen die meisten Karzinome so langsam, dass das Gro der davon betroffenen Männer an anderen Krankheiten und Gebrechen vor dem eigentlichen Ausbruch des Krebses dahinscheidet. Warren Buffet hat Prostatakrebs. Ja und? Der Mann ist über achtzig.

Da war er wieder, der Verschluss im Abfluss. Es kam gar nichts mehr. Unmittelbar davor war die Entsaftung spärlich gewesen. Die Farbe des Saftes ähnelte der eines kräftigen Burgunders. Allein das trug erheblich zur Beunruhigung Kahlers bei. Jetzt aber hatte sich der Alarmmodus eingeschaltet. Der Harndrang blieb mächtig, bei versiegtem Strom. Erinnerungen an den akuten Harnverhalt vor sieben Wochen poppten in Kahlers Oberstübchen auf. Bitte nicht schon wieder! Der Stau verstärkte sich. Die Dehnungsrezeptoren in der Harnröhre meldeten sich mit einem stechenden Schmerz. Und dann löste sich der Korken im Flaschenhals. Das schwarze Blutgerinsel hatte den Ausgang gefunden und der dunkelrote Burgunder ergoss sich in einem Schwall in die weiße Keramik.

„Nach ungefähr drei Wochen lösen sich die Verschorfungen und Nekrosen in der Harnröhre“, hatte der urologische Chefarzt gesagt. „Das kann vorübergehend zu mehr Blut im Urin führen. Kann schon mal sein, dass es zu einer länger dauernden Blutung kommt, dann wenn ein Gefäß verletzt wird. Ist aber selten.“

„Das kriegen wir schon hin“, hatte Kahler heldenhaft erwidert. Und dann war er doch sehr über die elementare Wucht des Ereignisses überrascht. Keiner hatte ihn irgendwo darauf vorbereitet. Mag sein, dass er ein Sensibelchen war, aber ein wenig mehr Aufklärung wäre vielleicht doch panikprotektiv gewesen.

So viel Aufwand und Aufregung wegen ein paar Gramm vorwitzig wachsenden und nichtsnutzigen, ja überflüssigen Gewebes. In der Medizin stellt auch die gesunde Prostata neben dem Blinddarm das einzige Organ des Menschen dar, über das man beim besten Willen nichts Positives berichten kann. Das gibt dem Berufsstand der Urologen allerdings Arbeit und Brot. Und das sei ihnen neidlos gegönnt.

Könnenwollen I

Подняться наверх