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2. Sternhagel

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Der Mann war groß, kräftig und braun gebrannt. Die leicht gelockten brunetten Haare hatte er streng nach hinten gekämmt. Durch die tiefen Geheimratsecken entstand der Eindruck einer flach gelegten Irokesenfrisur. Der Bart war nach Manier eines D’Artagnan gestutzt. Er hatte eng anliegende Handschuhe an, blau und teilweise mit abgeschnittenen Fingerenden. Er trug nagelneue Sneaker von Ascis und lief irgendwie schwer.

„Wir wohnen direkt am Waldrand“, sagte er. „Das ist ideal für unsere Hündin, ein Weimaranerweibchen. Nur ein paar Schritte, und sie ist in der Natur. Sie ist die ganze Zeit dabei herumzuschnüffeln und Fährten aufzunehmen. Ein Paradies. Und dann kam die kälteste Nacht des Jahres. Es hatte noch dazu ausgiebig geschneit. Der Schnee, das war etwas völlig Neues für sie. Sie spielte damit, warf Schneeschollen mit ihrer Schnauze nach oben, leckte das Eis und war außer Rand und Band. Als ich in unser Haus zurückkehrte, hatte sich meine Frau bereits zu Bett begeben. Sie hatte schon den ganzen Tag lang über Migräne geklagt. Ich setzte mich vor den Fernseher, es lief Wetten dass. Als die Sendung rum war, ging ich auf die Terrasse, um noch eine zu rauchen. Ich schaute hinauf zum Himmel und war überwältigt von der Sternenpracht. Noch nie hatte ich so viele Lichter am Firmament gesehen. Die Streustrahlung der zwei Großstädte in der näheren Umgebung war in dieser Nacht geringer als sonst. Ich schaute auf das Außenthermometer. Es zeigte minus 21 Grad an. Und da kam mir die romantische Idee, in dieser hinreißenden Nacht noch einen Spaziergang zu machen. Ich zog mich also warm an und nahm einen Schluck aus der Flasche, um sozusagen auch etwas innere Wärme zu tanken.“

„Was war das denn für eine Flasche?“

„Es war ein Zwetschgenschnaps. Die Flasche stand schon ewig bei uns in der Vitrine. Ich trinke so gut wie nichts, höchstens zu Geburtstagen oder zu Weihnachten, aber auch dann nicht mehr als ein, zwei Gläser Bier oder Wein.“

„Und was war Ihr Plan?“

„Ich hatte keinen richtigen Plan. Da war nur das Bedürfnis nach Naturerleben. Mein Vater war Angler und mein Großvater war Jäger. Die Naturverbundenheit liegt mir im Blut. Ich nahm also noch einmal den Weg, den ich vorher mit dem Hund gegangen war. Der Himmel war unbeschreiblich.“

„Und wo war die Schnapsflasche?“

„Die hatte ich in die Manteltasche gesteckt, für unterwegs. Vielleicht noch einen Schluck zum Aufwärmen.“

„Was war das denn für eine Flasche, ein kleiner Flachmann?“

„Nö, wie soll ich sagen, das war eine normale Schnapsflasche mit 0,33 Litern Inhalt.“

„Okay, eine ungewöhnliche Größe. Und was passierte dann?“

„Am Ende des Parcours befindet sich eine Bank. Auf die habe ich mich gesetzt und fasziniert den Sternenhimmel betrachtet.“

„Wie viele Kilometer ist denn die Bank von Ihrem Haus aus entfernt?“

„Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht einen Kilometer oder zwei.“

„So, und dann haben Sie noch einmal in die Flasche geschaut.“

„Kann sein, dass ich einen weiteren Schluck genommen habe. Jedenfalls ist die Bank das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Erst drei Tage später wachte ich auf. Ich lag auf der Intensivstation.“

„Was war in der Zwischenzeit passiert?“

„Ich weiß es nicht genau. Ich kann mich nur auf die Aussagen von anderen Personen stützen. Ein Spaziergänger fand mich am nächsten Morgen im Wald. Ich lag im Schnee. Auf meiner Jacke fand sich Erbrochenes. Das sprach für eine Gehirnerschütterung.“

„Eine Gehirnerschütterung? Hat man denn eine Kopfverletzung gesehen?“

„Da war gar nicht nachgeschaut worden.“

„Mh, wissen Sie, was eine ziemlich sichere Methode ist, einiger maßen kommod aus dem Leben zu scheiden?“

„Nein.“

„Sie lassen sich volllaufen und gehen dann in die Kälte hinaus. Zunächst sorgt der Alkohol dafür, dass Ihre Haut besser durchblutet wird. Sie fühlen sich trotz Minustemperaturen behaglich. Die Wärmezufuhr aus dem Körperinneren erschöpft sich aber. Im weitern Verlauf kommt es unweigerlich zur Unterkühlung. Müdigkeit und Benommenheit begünstigen einen unkritischen Umgang mit der prekären Situation. Man legt sich hin und wenn man aufwacht, ist man tot.“

„Interessant, das wusste ich bislang noch nicht. In der Klinik stellten sie aber fest, dass ich mir große Blutergüsse an meiner linken Flanke zugezogen hatte. Zusammen mit der Gehirnerschütterung sprach das alles für einen Sturz. Irgendeine Spurrinne oder ein Ast unter der Schneedecke.“

„Wie auch immer, es ist nicht meine Aufgabe Kausalanalysen durchzuführen. Wie ging es weiter?“

„Der Spaziergänger informierte die Notrufzentrale. Der Notarzt versuchte, mich zu reanimieren, beziehungsweise meinen darniederliegenden Kreislauf wieder anzukurbeln. Es kam zu Komplikationen, weil vermehrt kaltes peripheres Blut in die zentrale Blutbahn gelangte. Das senkte die Körperkerntemperatur noch weiter ab. Sie sagten mir, dass die bei 23 Grad gelegen hätte. Es trat mehrfach Kammerflimmern auf. In der Intensivstation wurde ich in ein künstliches Koma versetzt und an so eine Art Herz-Lungen-Maschine angeschlossen.“

„Das war sicherlich die extrakorporale Membranoxygenierung. Damit kann man den Körper mit Sauerstoff versorgen und das angefallene Kohlendioxid ableiten. Außerdem gelingt die langsame Steigerung der Körperkerntemperatur. Da haben Sie aber Glück gehabt, dass die in der Klinik eine solche Maschine parat hatten.“

„Ja, da habe ich großes Glück gehabt. Und dann hatte ich noch mal Glück. Als ich nach vier Tagen von der Intensivstation auf die normale Station verlegt wurde, sagten mir die Ärzte, dass mir wahrscheinlich beide Hände und beide Füße abgenommen werden müssten. Ich hatte mir Erfrierungen dritten Grades zugezogen. Die letzte Entscheidung bezüglich der Amputationen würde man aber gerne den Kollegen in der Klinik für Schwerbrandverletzte überlassen, sagten sie. Also wurde ich verlegt. In der Spezialklinik lag ich dann insgesamt zwei Monate.“

„Tja, das ist schon paradox, dass die Behandlungsmethoden von schweren Verbrennungen ähnlich denjenigen bei Erfrierungen sind.—Na, dann zeigen Sie doch mal, was da rausgekommen ist.“

Der Mann hatte große Mühe, die Handschuhe abzustreifen. Er arbeitete vorrangig mit den Daumen. Die Greiffunktion der Finger war stark eingeschränkt.

„Das sind speziell angefertigte Kompressionshandschuhe“, keuchte er. „Die habe ich auch noch in schwarz.“

Zum Vorschein kamen Finger mit Beuge- und Streckkontrakturen, teilweise ihrer Endglieder beraubt und mit unterschiedlich pigmentierten Hautarealen.

„Es musste Einiges amputiert werden. Es waren zahlreiche Spaltlappenübertragungen erforderlich. Die Haut haben sie am Oberschenkel abgehobelt.“

Er versuchte die Finger zu beugen und zu strecken. Das gelang nur gegen erhöhte innere Widerstände und verursachte offensichtlich Schmerzen. Der rechte Mittelfinger war am Kuppenstumpf prall aufgetrieben. Er drückte auf die Schwellung. Es entleerte sich gelblicher Eiter.

„Hier riechen Sie mal.“ Er hielt K. den Finger unter die Nase. „Stinkt, oder?“

„Da steckt eine Infektion drin. Da muss dringend was gemacht werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sich die Entzündung über die ganze Hand ausbreitet“, mahnte K. und wandte sich leicht angeekelt ab.

„Und das Schlimmste sind die Phantomschmerzen, teilweise schrill wie elektrischer Strom und dann wieder dumpf, wie ein Hammerschlag. Sie kommen immer dann besonders stark, wenn ich mich hinlege. Ich kann dann stundenlang nicht einschlafen. Einige Stellen sind auch weitgehend gefühllos.“

Er konnte für jeden einzelnen Abschnitt seiner malträtierten Finger einen sensorischen Zustandbericht abgeben. Endlich schlugen ihm die Aufmerksamkeit und Fürsorge entgegen, die er sich immer erträumt hatte. Man hörte ihm zu, der Physiotherapeut kümmerte sich zweimal die Woche um ihn, bei den Nachschauterminen in der Spezialklinik hatte der Chefarzt immer Zeit für ihn. In der Vorlesung über Wiederherstellungschirurgie war er ein Starpatient, den man gerne als Profiteur der modernen Medizin präsentierte.

„Und wie sehen die Füße aus?“, fragte K.

Es war ein Elend, ihn zu beobachten, wie er mit seinen starren und kraftlosen Fingern versuchte, die äußerst straff anliegenden Kompressionssocken abzustreifen.

„Die Zehen hat es nicht so stark erwischt. Es mussten nur die Endglieder an den beiden Großzehen abgenommen werden. Auch die Beweglichkeit aller Zehen ist deutlich besser, als an den Fingern.“

„Okay, dann können Sie Strümpfe und Handschuhe wieder anziehen.“

„Die Socken kriege ich hier nicht an. Das geht zu Hause nur an einer ganz bestimmten Stelle, wo ich die Füße hoch setzen kann.“

„Wie sieht es denn mit Schreiben aus?“

„Das geht nur schwer.“

„Hier haben Sie Papier und Kugelschreiber. Schreiben Sie: Ich kann nur schwer schreiben.“

Er fasste den Kuli nur mit Daumen und Zeigefinger, sondern er setzte alle Finger der rechten Hand ein. Schwerfällig führte er das Schreibgerät über das Papier und bekam nur eine krakelige, kaum lesbare Schrift hin.

„Und wie steht es mit der Bedienung der PC-Tastatur? Als IT-Systemberater ist das Ihr Instrument, was Sie vorrangig bespielen müssen.“

„Das geht nur mit den Daumen.“

„Und dann gibt es da—verzeihen Sie, aber auch darüber müssen wir reden—ästhetische Vorbehalte. Wenn Sie mit Ihren blauen oder schwarzen Handschuhen auftreten, wird sich jeder fragen, was der zu verbergen hat. Und wenn Sie die Handschuhe ausziehen, dann assoziiert man die Verunstaltungen Ihrer Finger mit Krankheit und Verfall, wie bei einem Leprakranken. Bei jedem Bewerbungsgespräch werden Ihre Hände im Mittelpunkt stehen. 70 Prozent der zwischenmenschlichen Kommunikation verlaufen nonverbal. Mimik und Gestik und hier wiederum die Hände bestimmen den Informationsaustausch.“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

„Klar, verstehe ich, momentan sind Sie noch voll und ganz damit beschäftigt, den entstandenen Körperschaden wieder einigermaßen zu beheben. Aber Sie sind jetzt 53 Jahre. Das ist ein Alter, in dem man in Ihrer Branche bereits zum alten Eisen zählt.“

Er hatte seine Firma aufgeben müssen. Die Auftragslage hatte sich miserabel entwickelt. Nicht, dass es in seinem Geschäftsfeld nicht genug zu tun gegeben hätte, aber gegenüber den großen IT-Beratungsfirmen verlor er immer mehr Land. Die Lösungen wurden immer komplexer und es wurde überregionale Präsenz gefordert. Da konnte er nicht mehr mithalten und schmiss hin. Froh war er gewesen, als er nur wenige Wochen später bei einem der Großen in der Branche eine Anstellung fand.

Doch Fortuna war ihm nicht lange hold. Er faxte seiner privaten Krankenversicherung ein Attest seines Hausarztes, in dem eine Erkrankung nach dem ICD-Code mit F 32.2 verschlüsselt worden war. Dummerweise verwendete er dazu das Faxgerät in der Firma. Irgendwie fiel das in einem Faxprotokoll auf und sein Vorgesetzter entschlüsselte den Code. Der stand für eine depressive Episode mit Verlust des Selbstwertgefühls sowie Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld mit häufig auftretenden Suizidhandlungen. Noch in der Probezeit wurde ihm gekündigt. Vorgeworfen wurde ihm Untreue gegenüber dem Arbeitgeber. Der eigentliche Kündigungsgrund aber war natürlich die fatale Diagnose. So einer macht auf Dauer nur Probleme. Tatsächlich war bei ihm in Zusammenhang mit seinem vorangegangenen beruflichen Crash ein depressiver Schub aufgetreten. Sein Vater hatte sich mit Anfang vierzig umgebracht. Da bestand wohl eine familiäre Prädisposition.

Erschwerend kam hinzu, dass seine Ehe schon lange kaputt war. Zunächst wahrte man die heile Fassade noch, wegen der schulpflichtigen Kinder. Doch als die aus dem Haus waren, brachen die Dämme und die jahrelang angestaute Beziehungsgülle ergoss sich in ihre bürgerliche Idylle. Darüber hinaus hatte ihn die erst sechs Monate alte Hündin gebissen. Ein unglücklicher Zufall, sicherlich keine böse Absicht. Es passte aber in die anschwellende Negativstimmung.

Seine Frau hatte ihm mitgeteilt, dass da ein anderer Mann in ihrem Leben existieren würde. Sie wolle sich scheiden lassen. Er hatte diese Botschaft in Demut entgegen genommen. Er war nicht ausgerastet, sondern hatte ihr mit knappen Worten mitgeteilt, dass er das schon länger wüsste. Sie war froh, dass es nicht den großen Eklat gegeben hatte und ging darauf hin sofort schlafen.

Es war gegen Mitternacht. Er ging zur Vitrine und holte die Flasche mit dem Pflaumenschnaps raus. Sein Berufsleben und sein Privatleben waren ein Scherbenhaufen. Er trank aus der Flasche, bis die leer war. Es war tatsächlich die kälteste Nacht des Jahres. Das Außenthermometer zeigte minus 21 Grad. Das verhängnisvolle Zusammenspiel zwischen Suff und Kälte war ihm sehr wohl bekannt. Immer wieder hatte er sich mit Methoden des Suizids auseinandergesetzt. Die eiskalte Nacht war da wie ein Wink des Schicksals, grausam schön.

Ob nun der Wille bestand unwiederbringlich aus dem Leben zu scheiden, sei dahingestellt. Er war einfach nur lebensmüde. Zwar war sein Gleichgewichtsorgan durch den Alkohol erheblich irritiert. Seine Performance reichte aber noch aus, um den Einstieg in seine Uggs zu finden und sich die Lammfelljacke überzustreifen. Handschuhe zog er keine an. Er wankte hinaus in die sternenklare Nacht. Das fahle Licht des Vollmonds produzierte eine gespenstische schwarz-weiße Landschaft mit langen grauen Schatten. Das alles sah er nicht. Sein Blick war nach unten gerichtet. Da war der jungfräuliche Pulverschnee, der alles eingezuckert hatte. Beim Stapfen durch die weiße Unendlichkeit keimte in ihm eine tiefe Sehnsucht auf, mit diesem Weiß eins zu werden und in ihm zu verschwinden. Er musste kotzen. Die Kotze landete teilweise auf dem Fellkragen. Er stolperte und fiel hin, auf die linke Flanke, ungebremst. Die Schmerzen wurden durch die analgetische Wirkung des Alkohols gemildert. Der Versuch, wieder hochzukommen, misslang. Der Gleichgewichtssinn war jetzt doch nachhaltig gestört. Ein unwiderstehliches Verlangen nach Ruhe überfiel ihn. Der Schlaf kam mit Macht und er machte keinerlei Anstalten sich dagegen zu wehren.

Könnenwollen I

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