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5. Es kam eins zum anderen
ОглавлениеEr hatte nur Hauptschulabschluss. K. merkte aber im Gespräch, dass es auch zur Mittleren Reife oder zum Abitur gereicht hätte. Lohner, so hieß der Patient, antwortete auf Fragen K.s klar und differenziert. Sein zeitliches Erinnerungsvermögen war tadellos. Er verhielt sich der Befragungs- und Untersuchungssituation angemessen. Da schimmerte sogar so etwas wie Selbstironie durch, was K. sehr schätzte.
Lohner hatte eine Ausbildung zum Fachlandwirt absolviert und lange Zeit in einem renommierten Gestüt gearbeitet. Damit die Herrschaften ihr Pferd reiten können, ist eine aufwendige Betreuung der Tiere erforderlich, die großteils erhebliche Knochenarbeit für das Personal bedeutet. Es muss Futter und Wasser herangeschafft werden, im Winter bei zugefrorenen Leitungen viele hundert Liter auch eimerweise. Ställe sind auszumisten, Koppeln anzulegen und zu reparieren und der Fuhrpark muss technisch gewartet werden. Als ihn ein Islandpony von hinten ansprang und umriss und er sich dabei eine schwerwiegende Verrenkung der Lendenwirbelsäule zuzog, war es erst mal aus mit der schweren körperlichen Arbeit auf dem Gestüt.
Glücklicherweise kam er beruflich bei einem Freund unter, der eine Autovermietung betrieb. Dort kümmerte er sich um die technische Abnahme der Mietwagen. Und dann wagte er nach ein paar Jahren den Sprung in die Selbständigkeit. Er wurde Servicepartner eines großen Brief- und Paketversenders. Dazu musste er kräftig in seinen LKW-Fuhrpark investieren. Teilweise beschäftigte er über vierzig Leute, weil auch noch Logistik und Lagerhaltung mit hinzukamen. Er fuhr selber einen Vierzig-Tonner. Lohner war also den Großteil seiner Arbeitszeit auf der Piste. Um den Bürokram kümmerte sich seine Gattin. Es ist alles in Ordnung, sagte sie zwanzig Jahre lang, und er glaubte ihr. Er war froh, dass solche unangenehmen Sachen wie Bilanzen, Steuerbescheide, offen stehende Rechnungen usw. vermeintlich zuverlässig von der eigenen Ehefrau erledigt wurden.
Doch am Ende stand die Insolvenz, für Lohner völlig überraschend. Es würden vierhunderttausend Euro in der Kasse fehlen, sagte der Steuerberater. Jetzt war er nicht nur seinen Betrieb los, sondern auch die Ehefrau. „Sie ist mit meinem besten Freund auf und davon. Sie lebt von Hartz IV. Wo das Geld geblieben ist, weiß keiner so richtig. Ich brauchte also neue Arbeit. Da bin ich wieder bei einem Gestüt gelandet“, berichtete Lohner knapp und bündig. Doch K. merkte, wie sehr ihn diese Affäre immer noch belastete. „Die Scheidung ist seit zwei Monaten rechtlich durch.“
„Das ist bitter, sich als selbständiger Unternehmer wieder in Reih und Glied einzuordnen.“
„Ich will mich nicht beklagen. Die Arbeit im Gestüt ist zwar hart, aber es ist ein gutes Gefühl, wenn man am Ende des Tages weiß, was man getan hat.“
Er zeigte K. seine Handinnenflächen. Es waren kabeldicke Verhärtungen im Mittelhandstrahl beider Ringfinger zu sehen.
„Hier, das kommt von der Knochenarbeit“, sagte er.
„Nein“, sagte K., „das kommt von Ihrer Dupuytrenschen Kontaktur. Schauen Sie nur, Sie können beide Ringfinger nicht mehr vollständig strecken. Die dicke Hornhaut, die ist allerdings auf die harte Arbeit zurückzuführen.“
„Okay. Jedenfalls habe ich mir dann eine starke Verrenkung der linken Schulter zugezogen. Mit einem Arbeitskollegen habe ich Eisenpfähle für eine Koppel in den Erdboden gestoßen. Dafür haben wir eine Ramme verwendet. Die besteht aus einem dreißig Kilogramm schweren Metallblock mit vier Griffen. Mein Kollege geriet beim Rammen aus dem Gleichgewicht. Er ließ los, und die Ramme bewegte sich über meine rechte Schulter. Weil ich sie festhielt, wurde mir der rechte Arm nach hinten gerissen. Es tat höllisch weh. Ich konnte den Arm kaum mehr bewegen. Der Orthopäde sagte, es würde sich um eine Ruptur der Rotatorenmanschette handeln. Dadurch würde die Kugel des Oberarmknochens nach oben treten und den Raum unter dem Schulterdach einengen.“
„Also ein Impingementsyndrom.“
„Genau. Es hieß, das müsse operiert werden, weil bei mir durch eine Formvariante des Schulterdaches von vornherein der darunter liegende Raum verschmälert sei. Die Supraspinatussehne sei bereits hochgradig degeneriert.“
„Und, ist schon operiert worden?“
„Nein. Bei der präoperativen Vorbereitung zeigte sich im EKG und der nachfolgenden Myokardszintigraphie eine Minderdurchblutung des Herzmuskels, obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt niemals Beschwerden gehabt hatte. Es wurde ein Herzkatheter geschoben. Dabei stellten sich erhebliche Verengungen an drei Herzkranzgefäßen dar. Man setzte mir zwei Stents ein. Doch die brachten nichts, weil das Gefäß aufgespalten war und sich die Stents nicht voll entfalten konnten.“
„Ja, das kann vorkommen. Man nennt das Gefäßdissektion.“
„Nach diesem Eingriff ging es mir schlechter denn je. Aus dem orthopädischen Patient war ein kardiologischer Patient geworden. Bereits bei geringsten körperlichen Belastungen wurde ich kurzluftig. Eine zweite Herzkatheteruntersuchung nach einem Monat zeigte eine Verschlimmerung der Gefäßverschlüsse. Jetzt würde nur noch eine Bypassoperation helfen, sagte mir der Herzchirurg.“
„Und, haben Sie die machen lassen?“
„Ja, einen Monat später. Seitdem bin ich körperlich wieder voll leistungsfähig. Schweres Heben und Tragen geht aber immer noch nicht, obwohl die Operation schon vier Monate her ist. Ich habe Schmerzen im Brustbein. Das haben sie mir bei der Operation durchtrennt. Die Drähte liegen noch. Dadurch kann ich auch die krankengymnastischen Übungen für meine rechte Schulter nicht richtig durchführen.“
„Sie haben Ihr rechtes Bein nachgezogen, als Sie bei mir rein gekommen sind.“
„Ja, seit der Herzoperation bestehen bei mir starke Bewegungsschmerzen im rechten Hüftgelenk. Der Orthopäde redet von Umformungen des Gelenkkopfes. Das sei ein Arthrosevorstadium. Ohne Schmerzmittel kann ich kaum laufen.“
„Das gibt es häufig, dass die Schwere des Röntgenbefundes nicht mit dem Ausmaß der Gelenkbeschwerden übereinstimmt. Summa summarum liegt bei Ihnen Berufsunfähigkeit vor. Mit der Coxarthrose, dem Impingementsyndrom und dem Morbus Dupuytren können Sie Ihren Beruf als Landwirt auf nicht absehbare Zeit nicht mehr ausüben. Es steht in den Sternen, ob eine Schulteroperation und ein künstliches Hüftgelenk hier Abhilfe schaffen können. Leider kann ich Ihnen keine bessere Botschaft übermitteln.“
„Ich habe mir so was schon gedacht. Was bedeutet das dann für mich?“, fragte Lohner.
„Das bedeutet, dass Sie Ihr Krankentagegeld noch drei Monate lang bekommen. Und dann werden Sie bei der Kasse ausgesteuert. Wie viel kriegen Sie denn?“
„Ich bekomme fünfzehn Euro pro Tag. Das reicht weder zum leben noch zum sterben.“