Читать книгу Könnenwollen I - Paul Hartmann Hermann - Страница 7

4. Sitzprotest

Оглавление

Sie war Busfahrerin in einem Unternehmen, welches im Auftrag der städtischen Verkehrsbetriebe im Linienverkehr fuhr. Das war für den kommunalen Betrieb billiger, als eigene Fahrzeuge und Mitarbeiter einzusetzen und steigerte die Flexibilität. So die Standardargumente, wie in allen Outsourcingprojekten.

Ihr Arbeitgeber, die Firma Alltrans, hatte ihr fristgerecht gekündigt. Darauf hin strengte Frau Albrecht, so hieß die Busfahrerin, eine Kündigungsschutzklage vor dem zuständigen Arbeitsgericht an. In der mündlichen Verhandlung begründete der Rechtsanwalt der Firma Alltrans den Rausschmiss mit den häufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten der Frau Albrecht. Es sei auch in Zukunft davon auszugehen, dass sie pro Jahr deutlich mehr als sechs Wochen krankheitsbedingte Fehlzeiten haben würde. Bestärkt wurde der Anwalt durch die Einschätzung des Integrationsamtes. Danach wäre das Interesse des Arbeitgebers an einer Kündigung höher einzuschätzen, als das Interesse der Klägerin an einer Weiterbeschäftigung.

Die Kündigungsschutzklage hatte Erfolg. Es seien keine prognoserelevanten Krankheiten zu erkennen, die längere Arbeitsunfähigkeitszeiten begründen könnten, erklärte das Gericht. Zwar hatte der Hausarzt der Frau Albrecht ein schwerwiegendes Wirbelsäulensyndrom und eine Immundefizienz mit gehäuft auftretenden Infekten der oberen Luftwege attestiert und dadurch entgegen der ursprünglichen Absicht dem Arbeitgeber Munition für die allerdings erfolglose krankheitsbedingte Kündigung geliefert. Das Arbeitsgericht stufte die bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankung aufgrund der deswegen aufgelaufenen Fehlzeiten aber als nicht so schwerwiegend ein. Und die anderen Erkrankungen wären unvermittelt und episodisch aufgetreten und könnten längere Fehlzeiten in der Zukunft nicht zuverlässig begründen. Frau Albrecht musste zu alten Konditionen wieder eingestellt werden.

Hiergegen legte die Firma Alltrans Berufung vor dem Landesarbeitsgericht ein. Immerhin waren in den vergangenen fünf Jahren zwischen 25 und 62 Tagen pro Jahr Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgelaufen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber hatte sich auf reichlich 30.000 Euro aufsummiert

K. wurde durch das Landesarbeitsgericht zum medizinischen Sachverständigen bestimmt. Als er die Gerichtsakten durchsah, fiel ihm auf, dass darin so gut wie keine ärztlichen Unterlagen enthalten waren. Das Vorgericht hatte sich in seinem Urteil ausschließlich auf das Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse gestützt. Daraufhin bat er die Rechtsanwältin von Frau Albrecht darum, möglichst alle Behandlungs- und Befundberichte zusammenzutragen. Er wolle sich ein umfassendes Bild über den Gesundheitszustand der Busfahrerin machen. Es dauerte sechs Wochen, bis er entsprechende Post erhielt. Übersandt worden waren einige belanglose Arztberichte u. a. über eine Krampfaderoperation und die Spaltung eines Schweißdrüsenabszesses. Unterlagen über die Haupterkrankung—angeblich mehrere Bandscheibenvorfälle, so stand es jedenfalls in den Schriftsätzen des Anwalts der Firma Alltrans—, wurden keine vorgelegt.

Einen ersten eingeräumten Untersuchungstermin ließ Frau Albrecht durch ihre Mutter absagen. Die Terminierung sei zu kurzfristig erfolgt, war die einzige Begründung. Zum zweiten Termin erschien sie überpünktlich. K. saß eine übergewichtige, distanzlos lächelnde 28-jährige Frau gegenüber. Die Erhebung der Vorgeschichte war durch selektive Erinnerungslücken der Probandin erheblich erschwert. Wegen der langen Antwortpausen war K. dicht dran, dass ihm der Gedultsfaden riss.

„Wann ging das denn los, mit den Rückenbeschwerden?“

„Das weiß ich nicht mehr.“

„Aber ein Bandscheibenvorfall kann ein derartig einschneidendes Ereignis sein, das merkt man sich doch, wo und wann der aufgetreten ist.“

Achselzucken.

„Sind Sie denn mal beim Orthopäden gewesen?“

„Nö. Mein Hausarzt hat mich behandelt.“

„Und, was hat der gemacht?“

„Spritzen, glaube ich und Tabletten.“

„Was für Spritzen?“

„Weiß ich nicht. Das ist schon so lange her.“

„Sind Bilder gemacht worden, also Röntgenaufnahmen oder CT- oder MRT-Bilder?“

Achselzucken und ein breites unplatziertes Lachen. Die verarscht mich, dachte sich K. Aber warte nur, dich kriege ich noch.

„Hier steht für das Jahr 2010 eine zweimonatige Arbeitsunfähigkeitszeit mit der Begründung somatoforme Störung. Was war denn da los?“

Schweigen und angestrengtes Grübeln. „Das ist schon so lange her.“

„Das ist gerade mal zwei Jahre her. An so etwas erinnert man sich doch.“

„Ich weiß nicht.“ Und wieder dieses unverschämte Grinsen. So dämlich ist die gar nicht. Die ist zwar ein bisschen doof, aber ein bisschen schlau ist sie auch, stellte K. fest.

Sie nahm ihr Smartphon zur Hand und öffnete den Bildspeicher. Und jetzt brach es aus ihr raus. „Das ist mein Arbeitsplatz im Bus.“ Das Bild zeigte einen einen normalen Fahrersitz. „Hier sehen Sie, wie ausgesessen der ist. Wenn man drauf saß, spürte man die Metallfedern. Und das hier, das bin ich.“ K. sah Frau Albrecht, wie sie auf der Vorderkante des Sitzes saß, ohne Kontakt zur Rückenlehne zu haben. „Der Sitz ließ sich nicht mehr verschieben. Und das ist ein verrutschter Hebel für die Verstellung des Lenkrads. Der bohrte sich in mein Knie, bis es blau war.“ Triumphierend schaute sie K. an. „Immer wieder habe ich darum gebeten, dass diese Sachen repariert werden. Aber es ist nichts passiert.“

„Und da haben Sie sich krank gemeldet?“

„Ja, mein Rücken tat mir weh. Außerdem wollte ich eine Befreiung vom Wochenenddienst haben. Die habe ich aber nicht gekriegt.“

„Warum waren Sie denn die letzten anderthalb Jahre nach Ihrer Wiedereinstellung nicht mehr wegen Ihrer Rückenbeschwerden krank?“

„Ich fahre jetzt geteilte Schicht, d. h. nach vier Stunden Fahrzeit habe ich sechs Stunden Pause. Außerdem kann ich an der Endhaltestelle den Bus für ein paar Minuten verlassen und rumlaufen.“

Als K. die Frau untersuchte, konnte er keinerlei Einschränkungen von Seiten der Wirbelsäule feststellen. Die hat niemals einen Bandscheibenvorfall gehabt. Was sein kann, ist, dass sie muskuläre Verspannungen auch wegen der unzulänglichen ergonomischen Bedingungen hatte. Die regelmäßigen mehrwöchigen Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen der Dorsalgien und Lumbalgien waren dadurch aber nicht plausibel zu machen. Es handelte sich vielmehr um ein protestbedingtes Krankfeiern, um den Arbeitgeber unter Druck zu setzen und günstigere Arbeitszeiten herauszuschlagen.

Die Beweisfrage des Landesarbeitsgerichts beantwortete K. dahingehend, dass zum Zeitpunkt der Kündigung längere Arbeitsunfähigkeitszeiten in der Zukunft nicht absehbar gewesen wären, das Urteil des Vorgerichts also sachlich begründbar sei. Dabei wurde so getan, als wenn das Stellglied für diese Einschätzung der Gesundheitszustand der Frau Albrecht wäre. Die eigentliche Ursache für die Fehlzeiten in der Vergangenheit war aber das zerrüttete Vertrauensverhältnis zwischen Frau Albrecht und ihrem Arbeitgeber. Der Arbeitgeber hatte ein schlechtes Gewissen wegen der technischen Defekte im Steuerungsbereich der Busse und Frau Albrecht hatte ihre Rückenschmerzen instrumentalisiert, assistiert durch ihren Hausarzt, um den Arbeitgeber für die Laxheit beim Reparieren und seine Rigidität bei Dienstplanänderungen zu bestrafen.

„Ich bin dabei, mir einen anderen Arbeitsplatz zu suchen“, sagte Frau Albrecht am Ende der Befragung durch K.

„Das halte ich für eine sehr kluge Entscheidung“, erwiderte K.

Könnenwollen I

Подняться наверх