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3. Das teuerste Hobby der Welt
ОглавлениеMotorradfahren an sich ist nicht so teuer. Es gibt bereits für unter 10.000 Euro ordentlich motorisierte Zweiräder. Steuer und KfZ-Versicherung sind ebenfalls erschwinglich. Und ein Risikozuschlag auf die Prämien für die Kranken- und Unfallversicherung wird bislang noch nicht erhoben, was befremdlich anmutet.
Motorradfahren kann aber ganz schnell zum teuersten Hobby der Welt werden, dann nämlich, wenn man durch das Ding seine körperliche Unversehrtheit einbüßt. Und das geht oftmals schneller, als man denkt. Wenn man nicht mit dem Leben zahlt, so doch mit der Lebensqualität. Auf einmal ist die Welt eine andere. Es fehlen Gliedmaßen, Gelenke funktionieren nicht mehr, Muskeln und Sehnen sind gerissen, Schädelknochen gespalten, Halbseitenlähmungen persistieren, innere Organe sind zerquetscht und müssen geflickt oder herausgenommen werden, Symphysen sind gesprengt, das Riechen oder das Sehen funktionieren nicht mehr richtig, die Schmerzen sind nur noch mit hoch dosierten Analgetika zu ertragen. Das ist die Währung in der der havarierte Motorradfahrer zahlt: Krankheit, Leid, beschnittene Teilhabe, sozialer Abstieg. Aber natürlich kostet ein solches Ereignis auch Geld. Die Kosten für die medizinische Versorgung erreichen schnell fünfstellige Summen, ausreichend um einen gebrauchten und gut erhaltenen Ferrari zu erstehen.
Gerne belohnt sich der Erfolgreiche oder der Erbe mit der Erfüllung des Jugendtraums, der Maschine, die Freiheit, Abenteuer aber auch neue Freunde verspricht. Dabei kann es schon mal vorkommen, dass die neuen Freunde nicht die anderen Motorradkumpels sind, sondern das Pflegepersonal in der Spezialabteilung für Tetraplegiker.
Herr Mast war so einer, noch dazu einer, der es hätte wissen müssen. Er arbeitete sehr erfolgreich als Kraftfahrzeug-Sachverständiger. Die Bewertung von Unfallschäden auch bei Motorradcrashs gehörte mit zu seinem Aufgabenspektrum. Trotzdem gönnte er sich eine BMW R 1200 GS, mit einem Zweizylinder-Boxermotor, der 110 PS auf die Straße brachte. Dass das Krad über 200 km/h schnell sein konnte, spielte für Mast nicht die entscheidende Rolle. Er wollte nicht rasen, sondern cruisen.
Das Motorrad kostete reichlich 13.000 Euro. Für die komplette Motorradkluft aus dem Hause BMW—Lederkombi mit Protektoren, Helm, Handschuhe, Stiefel—legte er noch mal 1.500 Euro hin. Er meinte, dass ihn seine jahrelange Erfahrung vor Unfällen schützen würde. Die fehlende Knautschzone würde er durch umsichtiges und defensives Verhalten auf der Straße ersetzen.
Es sollte ein wunderschöner milder Sonnentag werden, noch dazu ein Samstag. Unter guten Freunden charakterisierte Mast solche gnadenvollen Tage als Tage, an denen man den besten Freund auch über der Hose tragen könnte. Das Frühstück fiel kürzer aus als sonst. Seine Frau hatte Müsli mit vorgeschroteten Getreidekörnern serviert. Mast löffelte die Pampe brav aus, stürzte den Kaffee hinunter und war die ganze Zeit schon in Gedanken bei seiner großen neuen Liebe, die er in wenigen Minuten zwischen seine Oberschenkel zwängen würde. Die Motorradkombi hing schon bereit. Sie roch nach Leder, aber auch ein wenig nach Aqua di Parma, dem Eau de Cologne, welches mit seinem Schweiß eine sehr individuelle und private biochemische Verbindung eingegangen war. Er konnte sich gut riechen.
Mit dem schwarzen Spezialoutfit und dem hochgeklappten Visier sah er aus wie der Hauptdarsteller in einem Science-Fiction-Film, und er fühlte sich auch ein wenig so. Die Harleyfahrer auf ihren antiquierten und überteuerten Maschinen, mit ihren pubertären Rockerwesten und den zu eng erscheinenden Wehrmachtshelmen, die in Wahrheit ihren kleinen und leeren Schädeln entsprachen, waren für ihn Phänomene aus der Zweirad-Steinzeit. Er war mehr der Jedi-Ritter, der jetzt gleich mit seiner High-Tech-Maschine interstellare Pfade befahren würde. Ein Endpunkt existierte nicht. Die Fortbewegung war das Ziel. Wer weiß, vielleicht würde am Rande des Weges Prinzessin Leia Amidala Skywalker erscheinen. Sie würde ihm huldvoll zuwinken und er würde zurück grüßen, indem er die gespreitzte linke Hand kurz vom Lenker nehmen würde, so als wollte ein Stückchen vom Gegenwind auffangen.
Das Blubbern des robusten Zweizylinders brachte ihn wieder in die Gegenwart. Er legte den ersten Gang ein. Ein sattes Klackgeräusch meldete Vollzug. Langsam ließ er die Kupplung kommen und gab ganz vorsichtig Gas. Die Maschine setzte sich in Bewegung. Zeitverzögert zog er seine Füße auf die Fußrasten hoch. Er bog nach rechts in die Hauptstraße ab. Ordnungsgemäß hatte er den Blinker gesetzt, der seinen Funktionszustand durch einen Piepton rückmeldete. Erst jetzt klappte er sein Helmvisier nach unten.
Samstagmorgen gegen 9.00 Uhr war noch nicht so viel los auf den Straßen. Frau G., Mutter dreier schulpflichtiger Kinder, nutzte die Ruhe vor dem Sturm, um sich mit dem Auto auf den Weg zu ihrem Supermarkt zu machen. Ihr Mann beaufsichtigte derweil die Rasselbande zu Hause. Doch der gewohnte Weg war wegen Bauarbeiten gesperrt. Sie musste eine Umleitung fahren. Sie war voll konzentriert, jedoch nicht auf die Straße, sondern auf ihre geplanten Einkäufe. Sicherlich würde auch diesmal ein Einkaufswagen nicht reichen, um den Bedarf für eine Woche abzutransportieren.
Der Schlag von der Seite war gewaltig. Der Kopf der Frau G. wurde dadurch derartig beschleunigt, dass er gegen den Innenspiegel prallte. Sie sah einen Schatten über die Windschutzscheibe fliegen. Dann krachte es noch einmal. Sie war gegen eine Hausmauer gefahren. Der Lenkradairbag hatte sich Gott sei Dank ausgelöst und Schlimmeres verhindert.
Herr Mast befand sich auf der Vorfahrt berechtigten Straße. Den auf der Kreuzung von links kommenden silbermetallicfarbenen 5er-Touring-BMW der Frau G. sah er erst in allerletzter Sekunde, zu spät, um noch bremsen zu können. Mit einer Geschwindigkeit von gerade mal 40 km/h kollidierte er mit dem gegnerischen Fahrzeug in Höhe der vorderen Tür. Dabei versetzte es seine Maschine. Das rechte Bein wurde zwischen dem Motorrad und der Autokarosserie eingeklemmt. Sodann hob Mast ab, gefolgt von seinem Motorrad. Noch im Fliegen beschlich ihn die Furcht, dass ihn die Maschine treffen könnte. Doch das passierte nicht. Vielmehr landete er nach ungefähr zehn Metern Flug auf dem Asphalt. Dabei knallte sein Helm nach hinten auf, was eine kurze Benommenheit verursachte. Als er hoch schaute, sah er seinen rechten Unterschenkel grotesk verdreht und in etwa 90 Grad-Position nach außen abgeknickt.
Erstaunlich rasch waren Rettungssanitäter zur Stelle. Sie untersuchten ihn grobneurologisch und testeten seine Vitalfunktionen. Da war alles okay. Sie gaben ihm eine starke Schmerzspritze und brachten das Bein wieder weitgehend in Normalstellung. Dann wurde eine pneumatische Schiene angelegt. Herr Mast entdeckte durch seinen Analgetikum-Schleier die Fahrerin des gegnerischen Fahrzeugs nur wenige Meter entfernt. Es war nicht die schöne Prinzessin Leia, sondern die eher biedere Hausfrau und Mutter, Frau G. Ein Sanitäter kümmerte sich auch um sie. Man hatte ihr eine Decke über die Schultern gelegt. Sie machte einen verwirrten Eindruck. An der rechten Gesichtshälfte rann eine Blutspur hinunter, die sich am Hals verlor.
Mast wurde mit Blaulicht in die nahe gelegene Unfallchirurgie gefahren. Es ist nur ein Bruch, das kriegen die wieder hin, sonst ist ja alles in Ordnung, dachte sich der Verunfallte. Ob er jemals wieder auf ein motorisiertes Zweirad steigen würde, da war er sich nicht so sicher.
Noch am Unfalltag wurde Mast operiert. Das Schienbein wies eine Trümmerfraktur auf. Seitlich war ein dreieckiges Fragment herausgesprengt. Das Wadenbein hingegen war glatt durchgebrochen. Also insgesamt eine Routinesituation für eine osteosynthetische Versorgung mit Platten und Schrauben. Im Rahmen der Eingangsdiagnostik war jedoch ein weiterer Körperschaden übersehen worden. Bei der Erstmobilisierung wenige Tage nach der Operation klappte der rechte Fuß nach unten und konnte aktiv nicht mehr angehoben werden. Zunächst vermutete man eine Peronäuslähmung. Dann aber stellte sich heraus, dass Herr Mast den vor dem Schienbein seitlich befindlichen Musculus tibialis anterior zwar anspannen konnte, sich dies aber nicht in einer Fußhebung niederschlug. Dies sprach eindeutig für einen Riss der entsprechenden Sehne und zwar einen kompletten. Parallel dazu hatte sich im Unterschenkel- und Sprunggelenkbereich eine Reflexdystrophie entwickelt, auch Morbus Sudeck genannt. Die Gegend war heiß, gerötet und geschwollen, der Haarwuchs auf den Zehenrücken und die Schweißabsonderung nahmen zu, es traten Dauerschmerzen auf. Die Röntgenkontrollen zeigten eine regelrechte Position der Metallplatten und eine ausgezeichnete achsengerechte Stellung der Frakturenden. Eins jedoch fehlte, und das war die knöcherne Durchbauung des Bruchspaltes im Schienbein. Es bildete sich ein Pseudogelenk aus, ein beständiger Fokus für Instabilität und aseptische Entzündung.
Deswegen wurde nach reichlich vier Monaten eine operative Revision erforderlich. Herr Mast selber kümmerte sich um einen entsprechenden Operationstermin, diesmal jedoch in einer berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Dort wurde die Metallplatte am Schienbein entfernt. Die Bruchenden wurden angefrischt, es wurde Knochenmaterial aus dem Beckenkamm eingebracht und dann wurde eine neue Metallschiene an der Außenseite des Schienbeins verschraubt. Eine Schraube spießte sich in den Frakturbereich. Dadurch wurde auf der anderen Knochenseite eine große Kortikalisplatte abgesprengt. In gleicher Sitzung versuchte man, die Kontinuität der rupturierten Fußhebersehne wieder herzustellen. Vergeblich, wie sich erst sechs Wochen später nach Abnahme des Unterschenkelgipses herausstellte. Die CT-Aufnahmen zeigten außerdem eine ausgeprägte Inaktivitäts-Osteoporose in den Fußwurzelknochen.
Infolge des dramatisch vergrößerten Frakturbereichs am Schienbein verzögerte sich die knöcherne Konsolidierung. Es bildete sich ein monströser Kallus heraus. Auf dem Röntgenbild nicht schön anzuschauen, nach außen hin jedoch nicht sichtbar. Dieser Knochenwulst würde in Zukunft keine Beschwerden machen. Dort würde garantiert auch nichts mehr brechen. Aber die Fußheberschwäche, die würde ihn bis ins Grab begleiten.
Herr Mast war eine sportliche und gepflegte Erscheinung im besten Mannesalter mit einem angenehm einnehmenden Wesen. Der rechtsseitig schlurfende Gang mit dem Aufplatschen der Schuhsohle auf dem Parkett zog aber mitleidige Blicke magisch an. Schade, dass der hinkt. Mast litt unter diesem, wie er fand, falschen Mitleid. Seine ursprüngliche Selbstsicherheit war weg. Er fühlte sich innerlich wie äußerlich als Krüppel. Immer wieder kamen Selbstzweifel und Existenzangst hoch. Aber es ist doch nur der eine Fuß, sagte er sich, antizipierte diese Erkenntnis aber nicht. Er schlief schlecht. Sein Hausarzt faselte irgendetwas von einer posttraumatischen Belastungsstörung oder doch zumindest einer reaktiven Depression. Er verfluchte das Motorradfahren. Er verfluchte die BMW. Und er verfluchte den Tag, an dem er dieses Ding erstanden hatte. Dieses Hobby hatte ihm einen erklecklichen Teil seines Seelenfriedens und seiner Lebensqualität genommen.