Читать книгу Sie wartet schon vor deiner Tür - Paul J. Kohtes - Страница 14
Vom Festhalten und Loslassen
ОглавлениеEin Besucher kommt in das Kloster des seinerzeit berühmten Zen-Meisters Joshu und fragt ihn, unter welchem Leitmotiv er dieses Kloster führe. Joshu schüttelt den Kopf und sagt: „Hier gibt es kein Leitmotiv.“ Der Besucher ist etwas erstaunt: „Aber Ihr seid doch der Abt hier, oder? Da wird doch bestimmt irgendeine Redewendung aus dem Zitatenschatz Buddhas über Eurem Kloster stehen?“ Joshu wiederholt: „Hier gibt es kein Leitmotiv. Und das einzige Wort, das ich in meinem Kloster nicht gerne höre, ist das Wort Buddha.“
Auch das Fixiertsein auf heilige Worte, heilige Begriffe ist schon eine Form des Festhaltens. Nun gilt ja das Festhalten als eine der Grundtugenden des Menschen. Wir halten alles fest, was uns im Leben begegnet, vor allem in unseren Erinnerungen. Auch auf der materiellen Ebene versuchen wir, so viel wie möglich festzuhalten. Dahinter steckt natürlich die Erfahrung, die jeder Mensch irgendwann realisiert, nämlich dass letztlich alles flüchtig ist. Trotzdem sind wir redlich bemüht, diesem Trend etwas entgegensetzen zu wollen in der Hoffnung, eine Permanenz zu erzeugen, die es letztlich nicht gibt.
Weil diese Praxis des Festhaltens soweit in aller Welt verbreitet ist, gibt es als Gegenpol eine Fülle von Ratgeberbüchern über das Loslassen. Denn Loslassen soll das Geheimnis sein, mit dem wir das Festhalten überwinden können. Das ist allerdings eine schier übermenschliche Aufgabe. Denn das Wichtigste, das wir versuchen festzuhalten, ist das Leben selbst. Deshalb könnte man einwenden: Wer wird schon gerne loslassen – und dabei sterben? Weil das so ist, haben wir, jeder Mensch, tief in uns gelernt, dass wir festhalten, weil wir nicht sterben wollen.
Festhalten ist zum Inbegriff dafür geworden, dass wir glauben, überleben zu können. Das ist das Dilemma der wirklichen Welt, die eben nicht transzendent ist, sondern real; und in dieser Realität versuchen wir, der Dualität dadurch zu entkommen, dass wir die jeweils andere Seite betonen. Dabei übersehen wir, dass es in dieser Dualität ein Festhalten nur gibt, wenn wir auch loslassen können. Aber das ist natürlich ein Teufelskreis, aus dem wir uns nur schwer befreien können.
Es war eine der zentralen Erkenntnisse Buddhas, dass allein durch den Willen, leben zu wollen, Leid entsteht. Und weil die Liste der Dinge, die wir halten wollen, unendlich groß ist, gibt es keinen menschlichen Bereich, in dem wir die leidvollen Auswirkungen des Festhaltens nicht erfahren könnten.
Auf der Ebene des Körpers spiegelt sich beispielsweise unser Festhalten in Verstopfung, überregten Nerven, Infarkten oder beim Blutdruck, der in die Höhe schnellt. Auch Verspannungen, Muskelkater und all die verschiedenen Erschöpfungssymptome zeigen, dass wir mit dem Körper auf der Ebene des Festhaltens bis hin zur Verklammerung, zur Verkrampfung gekommen sind.
Auf der gedanklichen Ebene ist es so, dass wir an den Konstrukten unseres Hirns festzuhalten versuchen, um ihnen dadurch eine höhere Realität zu geben. Oder um uns dadurch vorzugaukeln, dass wir in einer höheren Sicherheit leben. So halten wir unsere Konzepte fest, mit denen wir meinen, das Leben habe so und so zu sein. Auch ethische Vorstellungen und Moral sind nichts anderes als derartige Fixierungen. Die mögen eine gute Absicht haben, ursprünglich einen guten Zweck verfolgen, doch letztlich sind sie nur eine Programmierung des Hirns. Dass es auch bei den uns so wichtigen Werten keine wirkliche Stabilität gibt, sehen wir in den unterschiedlichen Kulturen mit ihren teilweise völlig konträren Vorstellungen von dem, was gut und falsch, was moralisch einwandfrei und nicht einwandfrei ist.
Auf der materiellen Ebene ist die menschliche Grundtendenz zum Festhalten natürlich besonders offensichtlich. Anhäufung von Besitz in jeder Form: Geld, Schmuck, Möbel, Kleider, Aktien, Lagerhaltung, Vorratshaltung und so weiter.
Doch Gleiches gilt ebenso für die sehr sensible emotionale Seite. Wir versuchen genauso, Gefühle festzuhalten, etwa indem wir einen Partner an uns zu binden versuchen oder alte Kränkungen, Verletzungen, Enttäuschungen einfach nicht loslassen wollen. Warum wohl? Vielleicht weil wir glauben, dass ein Teil unserer existenziellen Sicherheit verloren geht, wenn wir alte Gefühle loslassen?
Damit sind wir schon beim Kern des ganzen Kapitels. Wir alle haben die Sorge, dass uns mit dem Loslassen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wo soll das hinführen? Dazu gibt es eine schöne Geschichte:
Ein Mensch läuft vor einem Tiger davon. Er rennt um sein Leben, kommt an einen großen Felsvorsprung, schwingt sich hinüber und hängt dort an einer Wurzel, die aus dem Felsen herauswächst. Er klammert sich an diese Wurzel. Über ihm versucht der Tiger mit geiferndem Maul, ihn zu schnappen. Unter ihm klafft eine Schlucht. Wie tief sie ist, kann er nicht sehen, denn es ist schon dunkel. Nun hängt er zwischen beiden Bereichen. Lässt er los, fällt er in den unermesslichen Abgrund. Klettert er wieder zurück nach oben, frisst ihn der Tiger. Eine ausweglose Situation.
Was macht der Mensch? Er hält sich nahe liegender Weise weiter verkrampft fest. Da fällt ihm ein, dass es ja einen „lieben Gott“ gibt, der ihn retten könnte. Und so fleht er immer lauter: „Gott, nun musst du mir helfen. Jetzt ist der Moment, in dem du beweisen kannst, dass du wirklich ein Menschenfreund bist. Hier hänge ich hoffnungslos zwischen dem Tiger und dem Abgrund; du kannst mir Hoffnung geben! Ich weiß, ich habe dich nicht genug beachtet, aber jetzt werde ich mich endgültig zu dir bekennen. Hilf mir, Gott!“
Und tatsächlich, zu seinem eigenen großen Erstaunen tönt eine Stimme vom Himmel: „Ja, ich will dir helfen.“ „Was soll ich tun?“, fleht der arme Kerl, der dort hängt. „Ich bin bereit zu allem, was du mir sagst.“ Die Stimme antwortet: „Es ist ganz einfach: Du musst nur loslassen.“ Der Mann ist entsetzt: „Niemals, bin ich denn verrückt?!“
So hält er sich die ganze Nacht hindurch an der Baumwurzel fest. In der Morgendämmerung erkennt er, dass nur wenige Meter unter ihm ein großer Felsvorsprung ist…
Spätestens wenn wir sterben, sind wir gezwungen, endgültig loszulassen. Das macht den Vorgang des Sterbens so „unakzeptabel“. Tatsächlich jedoch kann jeder erfahren, dass es höchst entspannend ist zu sterben. Wer einmal einen Kurs in Entspannungstechnik gemacht hat, sei es autogenes Training, Yoga oder Qi Gong, der weiß, wie wunderbar es ist, einmal alles loszulassen: sich selbst, seinen Körper, seine Gedanken, seine Gefühle – und in ein Nichts einzutauchen, in dem nichts mehr festgehalten werden muss. Das ist dann wie ein kleines Sterben.
Vielleicht ist es gut, sich daran zu erinnern, dass sogar unsere erste Lebenserfahrung gleich mit einem Loslassen begonnen hat. Wenn sich alle Umstehenden so herzlich darüber freuen, dass ein Neugeborenes den ersten Schrei tut, dann applaudieren sie im Grunde, dass es erstmalig von der Abhängigkeit, vom Festhalten an der Mutter losgelassen hat. Und es passt dazu, dass dieses mit einem Atemzug geschieht, nämlich mit dem Ausatmen. Das erste Schreien ist ein heftiges Ausatmen. Auch der letzte Atemzug, der Sprichwörtliche, führt uns dann erneut zu einem großen Loslassen.
Wie schon gesagt, mangelt es nicht an klugen Ratschlägen zum Loslassen. Warum ist es so schwer, das Loslassen zu erlernen, obwohl es doch einerseits so angenehme Folgen haben kann und gleichzeitig so existenziell notwendig ist? Wenn wir einmal die beiden vermutlich größten Weisheitslehrer der Geschichte befragen, nämlich Buddha und Jesus, so können wir überraschende Erkenntnisse zum Thema gewinnen, auch wenn ihre Biografien unterschiedlicher nicht sein könnten.
Als Buddha sich nach langen Entbehrungen, Kasteiungen und unendlichen Mühen schließlich dazu durchrang, derartige Übungen loszulassen, setzte er sich bekanntlich unter den berühmten Bodhibaum um zu warten, bis er erkannte, warum das Leid in dieser Welt existiert. Das war dann die Erfahrung, dass er nur im Wechsel von Anspannung und Loslassen diese Welt wirklich erkennen kann. Es war nicht die ultimative Lösung des Loslassens, mit der er aus der Welt hätte scheiden müssen, sondern es war die Erfahrung, dass er in dieser Welt das Geheimnis der Spannung und ihrer Amplituden, also die Dynamik des permanenten Wechsels durchschauen musste.
Ähnlich erging es auch Jesus. Er nannte Gott „Vater“. „Vater“ bedeutet im Orient mehr als die genetische Verwandtschaft oder eine hierarchische Position. Vater steht hier auch für Ganzheit, für das Allumfassende, also für das, was wir Gott nennen. Wenn Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins“, dann bringt er damit zum Ausdruck, dass er das bisherige „Entweder-Oder“ überwunden hat. Jesus konnte von dieser Welt loslassen und zugleich ganz in dieser Welt sein.
Das große Geheimnis des Lebens ist nicht etwa zu lernen, wie man die Dinge noch besser managen und festhalten kann. Es ist aber auch nicht zu lernen, wie man das Leben möglichst schnell wieder loswird. Die Aufgabe des Menschen in dieser Welt liegt darin, im Wechsel zwischen Festhalten und Loslassen pendeln zu lernen. Unterschiedliche Experimente, wie Sie diese Grundidee in die Tat umsetzen können, werden Sie übrigens in allen Kapiteln dieses Buches finden.
Zwischen den Polen wechseln oder schwingen zu können ist das, was Buddha und Jesus trotz ihrer völlig verschiedenen Lebensgeschichte auf wunderbare Weise verbindet. An ihren Lebenswegen können wir auch entdecken, dass sich die beiden Pole wechselseitig bedingen. Wer leben möchte, holt sich „automatisch“ den Tod mit ins Haus. Und umgekehrt gilt: Tod ist Leben. Genauso wie es auch gilt: Wer den Tag festhalten will, müsste die Nacht verleugnen. So ist jeweils die andere Seite in dem einen verborgen. Der Tag bedingt die Nacht und die Nacht ist nur durch den Tag möglich. In diesem Wechsel ist die ganze Dynamik der Welt erkennbar. Es ist ein Kommen und Gehen, das sich wechselseitig bedingt. Auf den Menschen übertragen heißt das: Wir können nur loslassen, was wir auch festhalten können. Und umgekehrt. Es ist niemals nur das eine oder nur das andere. Es ist immer beides.
Deshalb kann die Lösung für den armen Kerl, der da an der Wurzel zwischen Tiger und Abgrund hängt, nur noch Loslassen sein. Festhalten tut er ja schon.
Damit sind wir bei der praktischen Seite dieses Kapitels angekommen, dem Atem. Der Atem zeigt uns unmissverständlich: Wir können nicht eine Seite der Polarität aussparen, sondern müssen immer beide Seiten erfahren. Wenn wir immer nur einatmen, werden wir sehr bald ersticken. Das Gleiche geschieht, wenn wir immer nur ausatmen. Wir können also nur gesund und glücklich leben, wenn der Wechsel von Einatmen und Ausatmen reibungslos funktioniert.
Wenn wir uns einmal kritisch überprüfen, werden wir feststellen, dass unser Atem nur selten wirklich fließend, reibungslos, schwingend ist. Meistens ist es so, dass wir eine der beiden Atemseiten stärker betonen. Entweder das Einatmen, nämlich dann, wenn wir nicht genug bekommen, wenn wir das Gefühl haben, es reicht nicht. Oder das Ausatmen, wenn wir schnell alles wieder loswerden wollen, weil wir es nicht bei uns behalten können.
Unser ganzes Atemverhalten ist immer ein Verweis auf unser eigenes psychisches, ja sogar existenzielles Verhalten. Deshalb kommt dem Atem bei der Frage von Festhalten und Loslassen eine so zentrale Bedeutung zu. Wir können es auch anders nennen, weil die Begriffe austauschbar sind und doch zum gleichen Erkenntnisstand führen: Der Atem ist das bedeutendste Symbol für das ständige Kommen und Gehen im Universum. Im „Zazen-Lied“ von Hakuin (s. S. 176) heißt es deshalb sinngemäß: Kommen und Gehen, das macht keinen Unterschied.
Es ist die Erfahrung der Erleuchtung, bei der das Gehen nicht mehr der Gegensatz von Kommen ist, sondern wo die beiden Pole miteinander so verschmelzen, dass sie in Harmonie kommen. Wenn wir mit dem Atem vollständig in Harmonie sind, im Einklang, dann fühlen wir uns wohl. So sollte das ganze Leben sein! Wann immer wir zwischen Kommen und Gehen, zwischen Annehmen und Abgeben im Einklang sind, sind wir mit „Gott und der Welt im Reinen“.
Gerade die Erfahrung vom Annehmen und Abgeben ist das beste Beispiel, an dem man ablesen kann, wie weit wir tatsächlich vom Schwingen, vom Einklang entfernt sind. Erst wenn wir in der Lage sind, genauso gut abzugeben, wie wir gerne annehmen, dann erst sind wir vollständig in Harmonie. Bekanntlich fällt es uns allen sehr viel schwerer abzugeben. Es scheint leichter, etwas anzunehmen, insbesondere das, was wir gerne haben möchten. Es ist dagegen sehr schwer, etwas anzunehmen, was wir nicht gerne haben möchten. Das klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber für das Verständnis dessen, was das Leben eigentlich von uns will, von zentraler Bedeutung. Denn in dem Augenblick, in dem wir beginnen auszusuchen, was wir annehmen möchten, oder wenn wir das behalten möchten, was wir abgeben sollen, wird das ganze Leben ziemlich kompliziert und verwirrend.
Im Allgemeinen versuchen wir deshalb, das Leben auf unsere Weise zu steuern. Das ist jedoch so, als ob wir versuchen wollten, ständig unseren Atem zu kontrollieren und zu steuern – und zwar auf Dauer. Natürlich werden wir den Atem trainieren müssen, um vollkommen abgeben und wirklich annehmen zu lernen. Es geht nun keineswegs darum – wie wir das sonst gerne machen – auf Leistung zu trainieren und beispielsweise einseitig den Atem für längere Zeit behalten zu lernen, oder zu trainieren, nach dem Ausatmen ohne Atem so lange wie möglich überleben zu können.
Auf das Leben übertragen heißt das: Es ist nicht notwendig zu erlernen, alles abzugeben. Vielmehr ist es notwendig zu erlernen, alles abgeben zu können. Weil: Tatsächlich alles abzugeben ist in diesem Leben, ist in dieser Welt unmöglich. Um zu leben müssen wir irgendetwas behalten, sei es Essen oder Wärme oder Schlaf oder Beziehungen.
Entscheidend ist jedoch, dass wir innerlich bereit sind, alles abzugeben, und zwar ausnahmslos. Das wird uns bei dem einen oder dem anderen sehr schwer fallen, beispielsweise wenn wir einen lieben Angehörigen verlieren. Dieses Abgeben ist eine große Übungsaufgabe. Auf der anderen Seite kann es auch ein großes Problem sein, etwas anzunehmen, was uns zunächst nicht so recht passen möchte. Das Schicksal bietet uns immer wieder neue Herausforderungen an, mit denen wir lernen können, auch das Annehmen von Unangenehmem zu üben.
Sogar das Angenehme anzunehmen fällt uns manchmal schwer. Wer hat nicht schon bei sich selbst erfahren, wie schwer es sein kann, selbst Freundlichkeit anzunehmen. Oft sind wir abweisend und nicht auf Empfang, sondern nur auf Sendung gestellt. Dann wollen wir nur abgeben, wollen wir nur von uns reden, über uns reden und uns sozusagen den anderen vom Leib halten, indem wir ihn mit Worten zuschütten. Das Zuhören ist dagegen die Übung des Annehmens und des Loslassens unseres Widerstandes. Da jeder Mensch gerne selbst bestimmt, was er behalten möchte oder abgibt, versuchen wir das ganze Leben über, daran zu manipulieren.
Auch hier können wir wieder vom Atem lernen. Tatsächlich ist der Atem eine Einrichtung des Körpers, die sowohl voll automatisch funktioniert als auch dem freien Willen unterliegt. Das heißt, theoretisch können wir einatmen und ausatmen oder den Atem halten, wann immer wir wollen. Aber der Rahmen der Möglichkeiten ist bei jedem – wie wir schon als Kind erfahren – stark eingegrenzt. Gleiches gilt tatsächlich auch für unser ganzes Leben. Wir haben immer nur kleine Freiräume, innerhalb derer wir wirklich autonom entscheiden können. Auch wenn wir in der Lage sind, diese durch Üben, wie beim Atem, zu vergrößern, so bleiben immer noch überwiegend Bereiche, in denen es uns nicht möglich ist, das Leben so zu bestimmen und zu beeinflussen, dass wir tatsächlich nur das annehmen, was wir annehmen möchten – oder das abgeben, was wir abgeben möchten. Allerdings ist das Leben eine unentwegte Aufforderung, genau dieses zu lernen. Tolstoi sagt das so: „Glück ist nicht, immer nur das zu tun, was wir gerne tun. Glück ist, immer das gerne zu tun, was wir tun.“
Wann immer uns unangenehme Dinge entgegenkommen im Leben, ist das nichts anderes als der Versuch des Lebens, uns zu zeigen, dass wir hier das Annehmen oder das Abgeben lernen können. Wenn wir diesen Mechanismus einmal durchschaut haben – und zwar nur für ein einziges Mal – dann werden wir erleben, dass es sehr viel leichter wird, mit dem Leben und seinen Anforderungen umzugehen. Wir werden nämlich nicht mehr versuchen, gegen die Grenzen unserer Freiheit anzukämpfen und zu versuchen, das Unmögliche möglich zu machen, sondern Wege finden, wie wir uns mit Leichtigkeit innerhalb unserer Spielräume so frei wie möglich bewegen können. Auch hier ist wieder der Atem die Entsprechung.
Wenn wir unseren Atem wirklich voll nutzen, dann entdecken wir große Freiräume im Atem, sogar erstaunliche Freiräume, den Atem zu halten, ihn loszulassen oder ihn kommen zu lassen. Wenn wir uns jedoch diese Freiräume erzwingen wollen, sind wir ständig „außer Atem“. Es ist wie beim Yoga, bei dem durch das Üben des Anspannens und des Entspannens nichts anderes versucht wird, als unsere Spielräume zu erweitern. Wenn wir unsere Spielräume erweitern, dann nennen wir das Vergrößern unseres Freiraums.
Meister Eckhardt schreibt in seinem Traktat „Vom Nutzen des Lassens“: So gibt es wenige Menschen, die nicht gefunden hätten, dass sie sich noch mehr lassen könnten. Warum legen alle Weisheitslehren so viel Wert auf das Lassen und auf die Übung des Loslassens? Nun, das Festhalten haben wir doch alle schon drauf, das können wir relativ gut. Das Loslassen können wir weniger gut, und deswegen hat es seine Berechtigung, dass wir es stärker üben. Wenn wir dann jedoch einseitig nur das Loslassen üben, wird nichts daraus. Immer wieder müssen wir zurückschwingen: nach dem Ablegen auch wieder das Zupacken und umgekehrt nach der Geschäftigkeit die Stille.
Es geht nämlich nicht darum, der Welt zu entsagen und auf einem einsamen Berg in stiller Meditation alles zurückzulassen. Es geht darum, dass Leben in seiner ganzen Fülle, in seiner ganzen Kreativität, in seiner ganzen Dynamik und in seiner ganzen Beweglichkeit zu leben, und das ist eben immer der Wechsel von annehmen und abgeben, von kommen und gehen, von halten und lassen. Warum ist das so?
Selbst das Weltall atmet. Galaxien fliegen auseinander und ziehen sich wieder zusammen zu schwarzen Löchern. Die Erde ist unentwegt in Bewegung, dreht sich um die Sonne, dreht sich um ihre eigene Achse. Der Mond dreht sich um die Erde. Das Kommen und Gehen der Natur ist für jeden sofort erkennbar. Woher kommt diese Dynamik?
Dahinter muss ja eine Kraft stecken, die das Ganze in Gang hält. Wer christlich erzogen ist, wird das mit dem Schöpfergott gleichsetzen. Wer nicht aus dieser Tradition ist, kann sich vielleicht mit einem anderen Versuch der Beschreibung anfreunden.
In den östlichen Kulturen wird diese Kraft die Ki-Kraft genannt. Nach dieser Vorstellung ist das die Power, die das ganze System in Gang hält. Sobald wir uns an diese Kraft harmonisch anschließen können, sind wir voll universaler Power. Wenn wir es wenigstens ab und zu einmal schaffen, ein wenig davon zu kosten und mit dieser Kraft zu schwingen, mitzugehen, dann erfahren wir uns in Harmonie mit dem ganzen Kosmos.
Natürlich wird das nicht so ganz einfach und immer wieder gelingen, weil wir ständig durch unseren Eigenwillen Störungen hervorrufen. Aber wir können doch wenigstens versuchen, uns mit in Schwingung versetzen zu lassen, so wie unser Trommelfell im Ohr, das ja selbst nicht klingt, sondern lediglich als Resonanzebene dient. Jede Musik klingt erst dadurch, dass sie Resonanz erzeugt. Wenn wir sie beispielsweise einmal ganzheitlich wahrnehmen, also nicht nur akustisch hören, sondern mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen, dann können wir auch in der Musik Ki-Kraft erfahren.
Die folgende Atemübung wird auch die „Ki-Kraft-Übung“ genannt. Letztlich ist es natürlich nicht wichtig, wie die Übung heißt oder wie sie entstanden ist. Viel wichtiger ist, ob sie wirkt. Viele Erfahrungsberichte bezeugen, dass diese Übung eine wunderbare, ebenso energetisierende wie ausgleichende Wirkung haben kann.
Nun muss hier gleich eine Warnung vorweg gestellt werden. Wie bei allen diesen Übungen handelt es sich nicht um Anweisungen zum Sport, sondern es geht um Erfahrungen, die uns in die Ganzheitlichkeit führen können. Und diese ist eben nicht mit dem üblichen Ehrgeiz zu machen oder zu gestalten. Sie ergibt sich, sobald die Voraussetzungen dafür von uns geschaffen wurden. Eine gute Voraussetzung für alle Übungen ist die innere Haltung der „entschiedenen Sanftheit“ oder wie es auf Chinesisch heißt: Wu-Wei.