Читать книгу Die Rache des Don Wiggerl - Paul Kavaliro - Страница 4

Оглавление

Dahoam is dahoam

Sieben Wochen zuvor

Der Sommer gab dem Herbst die Klinke in die Hand. Die Sonne schickte noch einmal einen warmen Gruß auf die oberbayerische Landschaft. Schon lag bunt leuchtendes Laub unter einigen Bäumen – wie ein goldener Regen, den der Wind von den Zweigen geschüttelt hatte. Die glühenden Farben des Herbstes strahlten einfach atemberaubend!

Und seines Atems beraubt stand ein Mann inmitten von all der Pracht und staunte. Ludwig Donner ließ den Blick schweifen und der brachte tausend Erinnerungen zurück: Als Kind tobte er durch die Blätter und steckte sich die buntesten davon in die Jackentasche. Zu Hause wollte er sie sammeln, doch seine Mutter hielt ihm beim Anblick der total verdreckten Jacke stattdessen eine Gardinenpredigt. Dabei drohte sie, dass sie die Waschmaschine abschaffte und Ludwig das Waschen gern selber übernehmen könne – von Hand, wie in den guten alten Zeiten.

Ludwig verband noch eine andere Erinnerung mit dem bunten Laub: Dass es als Vorbote des Schnees ankam und dass er den Winter stets herbeigesehnt hatte, mit einer Begeisterung, wie sie nur eine reine, kindliche Seele hervorbrachte. Sie labte sich am Rodeln und an einer Schneeballschlacht. Was für eine Gaudi!

Diese Zeit der unbeschwerten Freuden lag für Ludwig schon lange zurück. Mittlerweile hatte er schon den 50. Geburtstag hinter sich gebracht. Er seufzte. Aber die Wehmut in Richtung der früheren Tage hielt nur kurz an. Wozu seine Gedanken gerade in diesem kostbaren Moment an sein Alter verschwenden?

Er hatte die Pracht der bayerischen Landschaft vor den Augen, den Reiz der Gegend um Genglkofen mit ihrer speziellen Mischung aus Wald, Ackerflächen und Wiesen. Das sanfte Auf und Ab der Hügellandschaft prägte sich ein und es hatte Ludwig in Gedanken nie losgelassen, egal wie weit entfernt er von zu Hause gelebt hatte.

So sah Heimat aus. Man konnte im totalen Genuss schwelgen, wenn man alle Sinne anspannte. Der Geruch frisch umgebrochener Erde vervollkommnete die Wahrnehmung der Farben und der Formen und steuerte eine Würze bei, die den Eindruck unverwechselbar machte.

Die Pracht der Kulisse war der eines Westerns würdig, wenn der Held über die Landschaft schaute und den Anblick genoss. Vor Ludwigs Augen breitete sich genau seine Prärie aus. Sein Herz hing an diesem Stück Land. Und hier stand er und er fühlte, dass er sich richtig entschieden hatte, hierher zurückzukehren.

Dieses Gefühl stellte das erste dar, das er seit langer Zeit genießen konnte, denn er kam nicht bloß hierher, um sich dem Anblick der Heimat hinzugeben, sondern aus Notwendigkeit. Und er kam außerdem aus Mangel an Aussichten anderswo.

Ludwig befand sich im mittleren Alter, auch wenn seine Jahreszahl bereits in Richtung von dessen oberer Schwelle driftete. Wenigstens hatte er noch alle Haare, was ihm einen Vorteil gegenüber manch anderem in diesem Lebensabschnitt verschaffte. Dunkel wallte sein Schopf unter der Baseballmütze hervor, durchzogen von ein paar grauen Strähnen, die wie Risse durch ein Baumaterial liefen und Unvollkommenheit andeuteten.

Das Basecap bildete für ihn eine Art Cowboyhut, nur moderner und praktischer – nicht so protzig und nicht so groß. Es wirkte unauffällig, wie auch der Rest an ihm unscheinbar ausfiel: durchschnittliche Jacke und Jeans, die Jedermanns-Hosen, die genauso populär wie praktisch waren. Ludwig stand auf Zweckmäßigkeit. Unnützer Luxus war nicht sein Ding. Auch wenn er damit auswechselbar wie Max Durchschnittsbürger aussah, so konnte er trotzdem gut damit leben.

Der Anblick des heimatlichen Genglkofens war zwar eine kurze Freude für Ludwig, aber sie vermochte kein Gefühl tiefer Zufriedenheit herbeizaubern, denn er kam als Gescheiterter hierher, als Gestrandeter. Er hatte einen langen Ritt hinter sich und erreicht hatte er: den Nullpunkt. Alles hatte er zurückgelassen – Frau und Tochter und von seinem Geld blieb auch nicht mehr viel übrig. Vom Schicksal mit Narben übersät, stand er jetzt in der bayerischen Sonne, die langsam dem Abend entgegen strebte.

Ludwig hatte bereits eine Weile nach einer Gelegenheit zum Neuanfang gesucht. Und die hatte an die Tür geklopft, als er vor ein paar Wochen einen Notruf seiner Schwester erhalten hatte. Sabine befand sich in totaler Auflösung. Ihre Tochter Iris war gestürzt. Nicht einfach so, wie man hinfiel und sich, wenn man Pech hatte, ein Knie aufschlug. Nein, ihr widerfuhr ein Sturz vom Pferd, ein ungewöhnlich schwerer, bei dem sie zwischen dem massigen Tier und der Bande der Reithalle eingequetscht wurde. Der Aufprall erfolgte mit solcher Wucht, dass Iris jetzt bewusstlos im Krankenhaus lag. Sabine konnte diese Bürde alleine einfach nicht tragen. Sie musste sich jemandem mitteilen – ihrem Bruder.

Er erschrak, vermochte seine Schwester kaum am Telefon zu trösten. Dieser Anruf kam wie ein Überfall und er war nicht darauf vorbereitet gewesen. Seine Instinkte signalisierten ihm aber, dass er etwas unternehmen musste. Also versprach er kurzerhand, dass er nach Deutschland kam. Er wollte Schwester und Nichte beistehen. „Familie verbindet doch“, sagte er, weil ihm gerade keine besseren Worte einfielen. Das war auch kein Wunder, denn der Anruf erreichte ihn in den USA, im ehemaligen Wilden Westen, neun Zeitzonen von hier entfernt. Deutsch bildete dort nicht mehr sein täglich Brot. Im Englischen konnte er sich gewandter ausdrücken nach den etlichen Jahren, die er im Silicon Valley verbracht hatte.

Und jetzt saß er hier in der Heimat und konnte sein Deutsch zurückgewinnen.

Doch die Sprache geriet zur Nebensache, denn so heftig wie die Horrornachricht von Sturz und Bewusstlosigkeit einschlug, so hatte sie für Ludwig doch auch eine Chance im Gepäck: Er konnte marode Brücken endgültig abbrechen und seine alten Probleme sowie seine gescheiterte Beziehung dahinter zurückzulassen.

Befand er sich am Start zum Neuanfang oder auf dem Absturzpfad zum Nullpunkt? Er hoffte auf Ersteres.

Jetzt stand er hier in der Sonne und die machte keinen Unterschied – sie schien für Gewinner genauso hell wie für Verlierer. Und heute empfing sie Ludwig mit angenehmer Wärme, nachdem er viele Jahre in der Ferne gelebt hatte.

War er immer noch der gleiche Mann oder war er inzwischen ein anderer? Er wusste es selbst nicht. Wie nahm man ihn hier auf? Als Rückkehrer oder als Fremden? Fiel er etwa sogar in den Zuagroasten-Status zurück?

Drüben in den USA hatte er genau den innegehabt, aber mit ihm zusammen auch noch viele andere um ihn herum. Also fiel er nicht auf, im Gegensatz zu seinem Namen. „Ludwig“ konnte kaum ein Ami halbwegs passabel aussprechen. Das klang kompliziert und war nicht einfach zu bewerkstelligen. Und somit passte es nicht so recht zur Schnelllebigkeit, die drüben den Takt vorgab, und dem verbreiteten Drang nach dem leicht errungenen Erfolg. Aber dafür zeichnete die Amis ihr findiges Wesen aus und wenn sie schon nicht seinen Vornamen erobern konnten, dann hielten sie sich eben am Nachnamen fest. Den verkürzten sie einfach zu „Don“ und schon war ein für die US-amerikanische Zunge aussprechbarer Name geboren: „Don“ – das klang doch gut! Eigentlich gebührte dieser Titel nur ehrwürdigen Familienoberhäuptern, aber Ludwig nahm ihn trotzdem an. Es gab Schlimmeres.

Manche riefen ihn allerdings genauso konsequent wie falsch in der Langform von Don – Donovan. Das war dann wirklich weit vom echten Namen entfernt und er wehrte sich dagegen.

In der bayerischen Kindheit rief man ihn hingegen oft bei seinem Spitznamen Wiggerl. Das passierte aber seltener in der eigenen Familie, die Ludwig sehr mochte, sondern vielmehr bei Leuten, die er weniger gut leiden konnte, wie zum Beispiel bei seinem gleichaltrigen Bekannten Toni Kohlbayr. „Don und Wiggerl, dazwischen liegen Welten“, dachte sich Ludwig. Und der Gedanke, dass man beides zu „Don Wiggerl“ kombinieren konnte, belustigte ihn. Don Wiggerl – so klangen Namen von Westernhelden.

Doch Ludwig fühlte sich jetzt nicht wie ein Held, sondern eher wie ein Gringo, den sie aus der Stadt gejagt hatten und der sein Glück deshalb woanders versuchen musste.

Und auch sein erster Auftritt hier in der „Alten Welt“ verlief wenig glücklich: Gestern stand er gemeinsam mit Sabine am Bett von Iris. Seine Schwester gab sich ihrer Verbitterung darüber hin, dass so ein Unglück überhaupt passieren konnte. Überall hielt der moderne Alltag Sicherheitsvorkehrungen bereit, die den Menschen von heute nahezu unangreifbar machten. Warum lief das nicht auch auf der „Ranch“ so, wie alle den hiesigen Pferdehof nannten und auf dem der Unfall passierte? Wie konnte Iris derart schwer stürzen, trotz Helm und Rückenpolstern? Hatte niemand aufgepasst?

Dieser Moment bot für Ludwig einfach nur die Gelegenheit, seine Hand tröstend auf die Schulter einer besorgten Mutter zu legen, um ihr dadurch etwas von der Last der Verbitterung zu nehmen. Doch er musste ja unbedingt etwas sagen, obwohl er die Antwort auf Sabines Frage gar nicht kannte. Dabei kam sein eher spaßig gemeinter Einwand heraus, dass die Leute im Western auch nicht sanft vom Pferd fielen.

Das war unpassend und kam folgerichtig auch schlecht an. „Lernt man sowas im Silicon Valley?“, bellte ihn Sabine an und Ludwig entschuldigte sich mit einem verunsicherten Achselzucken.

Ja, aus dem Silicon Valley kam er hierher. Aber dort arbeitete er nicht etwa als gut bezahlter Ingenieur, Software-Freak oder Netzwerk-Magier – nein, er diente sich als ein eher mittelmäßig entlohnter Sicherheitsmensch an. Er schützte Objekte, in denen Ingenieure, Software-Freaks und Netzwerk-Magier ihrer Zauberei nachgingen und neue Werte schufen. Er gewährte ihnen und ihren Reichtümern Schutz, mitten im Herzen des kalifornischen Jobmotors. Dafür durfte er drüben eine Pistole an seinem Gürtel tragen, ganz legal mit Erlaubnis. Für ihn fühlte sich das Schießeisen manchmal sogar wie der Colt eines Westernhelden an, als ein Ausdruck von Macht. Aber zum Glück musste er die nie von der Leine lassen. Er spielte sich nicht gerne auf. Ein Dienst ohne Vorkommnisse passte ihm am besten in den Kram.

Und nun fragte ihn seine Schwester, ob er nicht was auf der Ranch unternehmen könnte, Nachforschungen anstellte, Schuldige dingfest machte und sie ihrer Bestrafung zuführte.

Ludwig schaute abwechselnd zu Sabine und auf Iris. Er begriff, dass einer Mutter in einer derartigen Lage zwangsläufig solche Fragen durch den Kopf schwirrten, wenn sie vor ihrem Kind stand, aus dessen kraftlosem Körper Schläuche herausragten wie aus einer kaputten Maschine.

Da gab es kein Vertun: Die Lage war angespannt. Sabines und Ludwigs normales Bild von Iris zeigte ein aufgewecktes junges Mädchen. Doch jetzt lag sie hier, angeschlossen an Geräte, ohne jede Regung, nicht ansprechbar. Und keiner wusste, wie lange das noch so weiterging. Die Ärzte wollten sie bis auf weiteres im künstlichen Koma halten. Und eine Verschlimmerung des Zustandes wollte man sich gar nicht ausmalen! Die war aber im Angebot. Daher nahm hier im Krankenhaus auch keiner die Situation auf die leichte Schulter. Iris erhielt den vollen Einsatz des Personals und den hatte sie auch verdient, weil sie in diesem Bett ein Stück ihrer wertvollen Jugend verpasste, während draußen das Leben tobte.

Und sie hätte auch Ludwigs vollen Einsatz verdient gehabt. Aber was hatte er anzubieten? Auf unerfüllbare Versprechungen wollte er keinesfalls einsteigen. Das konnte seine Schwester doch als Letztes gebrauchen. Also wich Ludwig aus und sagte ihr, dass es nach allen verfügbaren Informationen ein tragischer und seltener Unfall gewesen war.

Ja, er kannte zwar den Inhaber der Ranch, eben jenen Toni Kohlbayr. Aber gleichzeitig verband die beiden auch eine innige Abneigung, deren Wurzeln weit auf dem Zeitstrahl zurückreichten. Ein Schuldeingeständnis der Ranch erwartete Ludwig jedenfalls nicht. Das war nicht Tonis Art. Die Versicherungen würden ja sonst auch die Messer wetzen, woran keiner auf der Ranch ein Interesse hatte.

Und wenn es Sabine gar nicht um das Eingeständnis von Schuld oder Versäumnissen ging? Wollte sie vielmehr Vergeltung? Sollte er einfach Rache nehmen, wie er es im Westernfilm schon oft gesehen hatte?

Vielleicht erwartete Sabine das wirklich, denn sie war auf sich allein gestellt, erzog Iris im Alleingang und erbrachte im Solo den Lebensunterhalt. Kein „starker“ Mann stand an ihrer Seite. Niemand war da, der die Beschützerrolle übernehmen konnte, der ihr zur Seite sprang, vor allem wenn Iris bleibende Schäden behielt und Sabine gar nicht wusste, wie es weitergehen sollte.

Doch diese Beschützerrolle war ein Paar zu großer Schuhe für Ludwig. Er zog sie sich deshalb nicht an. Er versprach nichts.

Sabine konnte ihre Enttäuschung nicht verhehlen. Aber wenigstens hatte sie ihren Bruder hier. Es war ja nicht so, dass er mal schnell mit dem Fahrrad aus nächster Nachbarschaft herüberkam. Er hatte vielmehr den ganzen langen Weg über den Großen Teich auf sich genommen.

Sie hatte sich ihrerseits lediglich in Telefonseelsorge geübt, als er sich damals drüben in den Staaten von seiner Frau trennte und es ihm schlecht ging.

Sabine ließ es darauf beruhen. Irgendwie waren die beiden quitt, allerdings auf einem arg niedrigen Niveau des Gebens und Nehmens.

Sie hatten beide ihr Terrain abgesteckt. Und dass plötzlich ein Wunder vom Himmel fiel und dieses Gleichgewicht der Untätigkeit und der Langeweile durcheinanderbrachte, daran glaubten beide nicht. Das Leben ließ nicht einfach solche Überraschungen herabregnen. Aber da sollten sie sich täuschen.

Die Rache des Don Wiggerl

Подняться наверх