Читать книгу Mein Leben begann 1918 in Weimar - Paul Kübler - Страница 5
1922
ОглавлениеEs muss Januar oder Februar gewesen sein, wurde ich wach und war allein im Schlafzimmer. Schüchtern ging ich barfuß und im Nachthemd in das Wohnzimmer. Alles war dunkel, die Fensterläden waren noch zu und meine Mutter saß mit den vier anderen Geschwistern um den Tisch herum und alle heulten. Ich schaute unwissend meine Mutter an und schmiegte mich an sie. Sie nahm mich auf den Schoß und sagte: »Papa kommt nicht wieder«.
Warum, erfuhr ich später – er war in dieser Nacht auf dem Weg zur Arbeit auf dem Viadukt von einer außerplanmäßig eingesetzten Lokomotive überfahren worden. Der Tod unseres Vaters änderte unser ganzes Leben.
Meine Mutter begann im Hotel »Russischer Hof« als Zimmerfrau zu arbeiten. Wir Kinder beschäftigten uns so gut es ging. Die Größeren gingen zur Schule und nachmittags unternahmen wir etwas gemeinsam. Zwischen uns Kindern kann ich mich nicht an Zänkereien erinnern. Unsere Mutter brachte manchmal in einem Eimer Reste vom Essen mit. Ich weiß noch, dass die »Großen« immer versuchten, etwas zu Essen zu besorgen. Eines Tages sagte Männe (Hermann): »Ich habe im Keller gesehen, dass unser Nachbar große Kartoffeln hat.« Schon machte Alfred mit ihm einen Plan, wie man an einige herankommen konnte. Wie, weiß ich nicht, jedenfalls hatten wir dann fünf bis sechs große Kartoffeln. Die wurden geschält und gerieben und davon eine Suppe gekocht. Fett hatten wir nicht, aber etwas Salz. Selbstgemachtes schmeckt eben immer!
An manchen Tagen gingen wir »alle fünf« auf´s Dorf, um zu »fechten«. So nannten wir das Betteln. Das war für uns eine zusätzliche Nahrungsquelle. Eines Tages war meine Mutter zu Hause. Die Großen drängten wieder ins Dorf zu gehen. Meine Mutter gab die Erlaubnis und sagte: »Der Kleine bleibt aber bei mir.« »Nein, der muss mit, den brauchen wir doch«, sagte meine Schwester Rosa. »Wieso?«, fragte meine Mutter. »Ihr seid doch zu viert und groß genug, warum braucht ihr den Kleinen?“ Meine Schwester erklärte, dass die Bauern doch auch manchmal geizig seien und Alfred haue dann dem Kleinen richtig den Arsch voll, damit der brülle. Meistens fragten dann die Leute, warum denn der Kleine heule. Und wir dann: »Na ja, der hat doch Hunger. Und schon bekommen wir immer etwas mehr.« Man muss sich vorstellen, ich war damals vier und wurde erst im Dezember fünf Jahre alt. Diesen Vorfall erzählte mir meine Mutter. Sie wurde krank und musste operiert werden.