Читать книгу Mein Leben begann 1918 in Weimar - Paul Kübler - Страница 9
Feldarbeit
ОглавлениеAls ich so etwa neun oder zehn Jahre alt war, gab es für mich auch in der Landwirtschaft genug zu tun. Rüben ziehen ging schon mit sechs Jahren. Auch Hädrich raufen. Der musste aus den Getreidefeldern herausgezogen werden, wenn die Frucht schon so 25 bis 30 Zentimeter hoch war. Das Pferd musste beim Ackern für eine halbwegs gerade Furche geführt werden. Mein erster Versuch war schrecklich. Ich war ja nur so knapp ein Meter groß, aber das Pferd war kein Pony. Um die Zügel zu halten, musste ich mich ganz schön strecken. Hob das Pferd den Kopf etwas höher, rutschten mir die Zügel aus der Hand oder ich wurde hochgezogen. Und ich hatte Angst, es könnte mir auf die Füße treten. Ich war doch barfuß und hatte nicht so harte Zehen wie die Hufe des Pferdes. Außerdem waren die mit Eisen (Hufeisen) beschlagen. Wenn Kühe eingespannt wurden, war alles bequemer. Die waren nicht so hoch und sie waren auch langsamer. Schlimm waren auch die Fliegen und die Bremsen. Die verwechselten mich oft mit den Zugtieren. Daran und an vieles mehr musste ich mich erst gewöhnen. Aber der Mensch ist ja ein Gewohnheitstier, sagt man. Als ich mit dieser Feldarbeit begann, war ich ja auch erst neun Jahre. Und es war ja nicht nur das Führen des Pferdes, was von mir zu bewältigen war. Im Frühjahr begann die Arbeit zur Frühjahresbestellung. Da wurden die Felder aufgelockert, das Getreide zur Aussaat vorbereitet z.B. Beizen und mit Giftweizen mischen gegen Mäuse und andere Schädlinge. Interessant war die Drillmaschine, die bediente der Schwiegersohn Herr Schmidt.
Diese Anrede habe ich während meiner ganzen Schulzeit benutzt und niemand hat mir je erlaubt eine andere Anrede zu benutzen. Beim Kartoffellegen musste ich wieder das Pferd führen, denn wir hatten nur eine Flugschar, die wurde gegen den Riefenzieher ausgetauscht. Manchmal wurden die Kartoffeln hinter den Pflug in die Furche gelegt. Ich musste erst den Mist einharken, ehe der Pflug wieder an die gleiche Stelle kam. Das war ganz schön anstrengend. War alles in der Erde, begannen die Pflegearbeiten. Zuerst wurde der Winterweizen und Roggen durchgehackt und so vom Unkraut gereinigt. Natürlich wuchs das wieder nach, aber für ein zweites Hacken war dann die Frucht zu groß. Gleiches geschah später mit Gerste und Hafer. Die Kartoffeln und Rüben wurden zweimal gehackt. Eine Arbeit zum Ausreißen war das Rübenverziehen. Die Pflänzchen waren doch erst so zwei bis drei Zentimeter hoch. Um große Rüben zu ernten, mussten diese vereinzelt werden, so dass alle zehn bis 12 Zentimeter nur eine Pflanze stehen blieb. Wir rutschten und bückten uns und das eine ganze Woche lang bis die Felder durchgearbeitet waren. Ich war der Jüngste in der Kolonne. Einmal habe ich mich so richtig gereckt und meinen Rücken durchgedrückt. Gleich wurde ich gefragt, ob ich etwa Pause mache. »Nee«, sagte ich, »mein Kreuz schmerzt.« »Ach, du hast doch noch gar kein Kreuz, das ist doch nur so ein Ding, wo dein Arsch dranhängt«, meckerte Tessi. Bei der Heuernte war ich hauptsächlich beteiligt beim Wenden und beim Einfahren von Heu. Mein Bauer hatte noch keine modernen Maschinen. Die ganze Arbeit war hauptsächlich Handarbeit. Für die Frühjahresbestellung hatten wir eine Drillmaschine, für die Ernte nur die Sense und Sichel. Um das Getreide zu dreschen, hatten wir die Dreschflegel und einen Göbel. Das war so ein Tisch mit einem Aufsatz, da waren Walzen mit Dornen, umgeben von einem gusseisernen Gehäuse. An der oberen Seite waren auch Dornen angebracht, so dass die Dornen der Walze dazwischen durchkonnten. Angetrieben wurden die Maschinen durch ein großes Zahnrad im Garten, darauf ein großer Balken. An dem anderen Ende wurde ein Pferd eingespannt, das das Rad zog. Wie im Karussell musste das Pferd im Kreis laufen. Zuerst habe ich das Pferd lenken und später habe ich das Stroh wegmachen müssen.
Der Dreschplatz war oben so etwa in der ersten Etage, damit das Ausgedroschene nach unten fallen konnte. Das war eine große Dreckarbeit und es dauerte fast den ganzen Winter bis die Scheune leer gedroschen war. Nach dem Dreschen musste das Getreide gereinigt werden. Dazu hatten wir die so genannte Klapper. Die machte einen Krach und noch einmal großen Dreck. Diese Maschine musste mit der Hand geleiert werden. Im Vorderteil war ein Windrad und an dessen Achse war die Handleier befestigt. Auf der Maschine war ein Kasten mit Öffnung nach hinten, so dass das gedroschene Getreide durch die Öffnung auf Siebe fallen konnte. Mehrere Siebe mit unterschiedlicher Maschenweite waren übereinander angebracht. Jedes Sieb hatte bestimmte Körner durchzulassen. Durch das Windrad wurde zuerst alles Leichte hinten hinausgeblasen, so dass nur das in der Maschine blieb, was schwer war. An verschiedenen Öffnungen kam das gereinigte Getreide sowie das Unkraut heraus.
Insgesamt war es eine mühselige Arbeit. Diese Prozedur habe ich etwa drei Jahre mitgemacht. Dann bekamen wir Hilfe, denn aus Ottmannshausen kam ein Großbauer, Herr Röder, mit einem Mähbinder. Wir brauchten nur die Felder vorzubereiten, z.B. eine Maschinenbreite mit der Sense hauen, dass die Maschine nicht auf das Nachbarfeld fahren musste. In unserem Dorf hatte ein Herr Necke eine Dreschmaschine, mit der er von Hof zu Hof zog und so die Arbeit der Bauern erleichterte. So haben wir die große Scheune an einem Tag leer gedroschen. Wir brauchten das Getreide nicht mehr von dem Tennenboden aufzuschaufeln, sondern an die Öffnungen wurden die Säcke gehängt und alles lief wie gewünscht hinein. So ein Dreschtag war ein halbes Fest. Die Feldarbeit wurde für mich von Jahr zu Jahr interessanter. Ich lernte alle Arbeiten: Mit Getreide Seile machen, Garben binden, die verschiedenen Getreidepuppen aufstellen. Jede Getreideart hatte eine andere Form in der Zusammenstellung der Puppen, wir sagten Stauchen. Ich lernte das richtige Beladen der Getreidefuhren. Auch das Abharken der abgeernteten Felder mit dem Hungerrechen.
Das war ein großer Holzrechen, so circa eineinhalb Meter breit, ihn zog ich Strich für Strich über die Felder und das Zusammengeharkte nahm ich mit dem Handwagen mit nach Hause. Mistfahren und streuen bis zum Einackern, auch das Ackern selbst habe ich gelernt. Auch mit der Sense konnte ich umgehen und noch vieles mehr. Im Hof gab es ja auch noch andere Arbeiten, die auf mich warteten. So musste ich täglich Futter für die Rinder, Ziegen und für das Pferd vorbereiten sowie Stall und Hof sauber halten. Das genannte Vieh musste ich rechtzeitig tränken und füttern. Auch den Haushalt mit Brunnenwasser versorgen war meine Aufgabe. Das Wasserholen war eine schwere Arbeit. Am Stall stand ein ausgedientes Heringsfass. 200 Liter Wasser waren sein Fassungsvermögen. Etwa 50 Meter vom Hof entfernt war ein Dorfbrunnen. Insgesamt gab es drei solcher Brunnen. Das Wasser war einwandfrei und schmeckte sehr gut. Ich hatte für den Stall zwei Zinkeimer mit je 10 Liter, für den Haushalt zwei Emaille-Eimer auch mit je 10 Liter. Das Fass musste früh und abends gefüllt werden, damit das Wasser etwas abgestanden war. Im Winter wurde es in den Stall gestellt. Ich habe jahraus, jahrein täglich ca. 26 Eimer Wasser für den Stall und acht bis zehn Eimer für den Haushalt tragen müssen. Wenn große Wäsche war oder geschlachtet wurde, wurde natürlich mehr gebraucht. Das Problem bestand darin, dass ich zu klein war und immer meine Schultern hochziehen musste, damit meine Eimer nicht an etwas herausragenden Steinen aneckten. 1928 hat mich das Jugendamt für sechs Wochen in ein Kinderheim im Ettersberg bei Weimar zur Erholung geschickt. Besonders Tessy war nicht erbaut, weil ich ja in der Feldarbeit fehlte. Aber das Jugendamt hatte ja die Vormundschaft über uns und da gab es keine Widerrede. Für mich waren diese Wochen eine wirkliche Erholung. Ich bin die ersten Tage dort wie ein Verwundeter herumgelaufen. Die rechte Hand dick verbunden und auf dem Kopf einen Turban. Warum? Mir waren die Haare geschnitten - natürlich Glatze, denn die kostete ja nur zehn Pfennige. Es war Juni und beim Arbeiten auf dem Feld knallte die Sonne erbarmungslos auf meine Birne und natürlich hatte ich einen Sonnenbrand. Wenn es denn juckte, habe ich bestimmt auch mal gekratzt und meine Hände konnte ich ja erst waschen, wenn wir zu Hause waren. Die Folge: Meine ganze Schädeldecke war eine große Wundfläche und wenn ich darauf drückte, war meine Hand gelb vom Eiter. Meine Hand war ebenfalls vereitert. Jede kleine Verletzung eiterte. Zur Heilung bekam ich jede Woche einen Tag nur Rohkost. Das war immer der Donnerstag. Früh eine Suppenschüssel dicke Milch. Das war eine Qual. Wenn die anderen Kinder spielen durften, musste ich mich mit meiner dicken Milch abquälen. Bis zum zweiten Frühstück war ich beschäftigt, dann gab es Obst oder Beeren. Mittag nur gedämpftes Gemüse, nachmittags wieder Obst und am Abend auch Obst. Dieser Rohkosttag wurde bis Ende meines Aufenthalts beibehalten. Und es hat sich gelohnt: Mein Blut wurde dadurch gereinigt. Bis heute habe ich nie wieder solche Entzündungen gehabt. Ich denke gern an diese Zeit zurück. Wir gingen wandern und lernten Lieder. Zwei Lieder aus dieser Zeit kann ich heute noch. Zum Beispiel das Lied »Es wollt`ein Schneider wandern, am Montag in der früh`« oder das lustige Lied »In Regensburg auf der Kirchturmspitz`«. Beide Liedtexte finden Sie am Ende dieses Buches. Nach dem Mittagessen war Ruhe. Unsere Betreuerinnen lasen uns aus Sagen oder Märchen vor. Die Zeit verging wie im Fluge - Post kam täglich - für mich nichts. Alle Kinder hatten ein Taschengeld - ich nicht. Da habe ich mir von einer Tante, wie wir die Erzieherinnen nannten, Briefpapier und Umschlag erbettelt und von einem anderen Schüler eine Briefmarke geborgt, damit ich meiner Mutter schreiben konnte. Sie schickte mir dann zwei Reichsmark. Dann kam der Tag der Trennung. Es gab Tränen und Umarmungen. Viele der Kinder wurden von ihren Eltern abgeholt.
Ich musste allein mit meinem Köfferchen die circa acht Kilometer nach Stedten laufen. Dort angekommen habe ich etwas gegessen und Tessy stand in der Tür und rief: «Mär dich aus, wir wollen ins Feld.« Da habe ich nur gedacht: «Ein schöner Empfang.« In der Schule wurde ich freudiger begrüßt. Mein Lehrer, Herr Gebhard, sagte: »Gott sei dank, dass du wieder da bist. Beim Singen habe ich drei für die zweite Stimme einsetzen müssen um dich zu ersetzen.« So ging der alte Trott weiter. Nur im Hof wurden meine Aufgaben allmählich erweitert. Ich war so langsam in den Rang eines erwachsenen Stallknechts avanciert. Mit dem Übergang vom 11. zum 12. Lebensjahr wurde mein Tagesablauf ungefähr so: Früh vor Schulbeginn musste ich den Stall ausmisten und das Vieh füttern. Dazu gehörten Kühe, Ziegen und Pferde. Dann in Schnellaktion waschen, Bemme auf die Hand und ab in die Schule. Meistens kam ich zu spät. Mein Name stand fast täglich an der Tafel in der Reihe derer, die nachsitzen mussten. Für jedes zu spät kommen musste ich 50 Mal den Satz schreiben »Ich muss pünktlich in der Schule sein«. Der Lehrer kannte meine Situation und ich nutzte die Zeit im Unterricht, in der wir Aufgabe lösen sollten und der Lehrer sich mit den Jüngeren beschäftigte, um in einem besonderen Heft diesen Satz vorzuschreiben. Nach 15 Minuten Nachsitzen meldete ich mich beim Lehrer, er strich 50 Mal den von mir geschriebenen Satz ab und ich konnte gehen. Meine Brüder Hermann und Alois besuchten mich wieder einmal. Alois hatte die rechte Hand dick verbunden in einer Schlinge. Beim Futterschneiden wollte er auch einmal das große Schwungrad drehen. Hermann verweigerte dies, er sei ja noch zu klein. Hermann war genau so groß, aber zwei Jahre älter. Aus Wut wollte Alois die Maschine anhalten und griff in Transportwalzen, die das eingelegte Stroh zum Messer befördern mussten. Natürlich wurde seine Hand hinein gezogen. Die Maschine musste auseinander geschraubt werden, denn bei einem Zurückdrehen wäre die Hand noch einmal gequetscht worden. Alois wurde verbunden und nach Jena in die Uni-Klinik gebracht. Der Daumen wurde amputiert und die ganze Hand wieder gerichtet. Es blieb eine Hand mit vielen Narben.
Vom Jugendamt Weimar war eine evangelische Schwester zur Betreuung der Kinder, die in »Pflege« waren, eingesetzt. Sie kam einmal im Jahr, um nach dem Rechten zu sehen. Im Sommer
1930 traf ich diese Schwester auf der Dorfstraße. Wir unterhielten uns über meinen Aufenthalt. Auf einmal sagte die Schwester zu mir: »Stell Dich doch mal gerade hin!« Ich meinte: »Ich stehe doch gerade.« Da griff sie meine beiden Oberarme und bog mich so, dass sie mich gerade sah. Ich hatte Schmerzen im Rücken und sagte: »AU«
Wochen später musste ich zum Kreisarzt nach Weimar zur Untersuchung. Er stellte den Beginn einer Rückgratkrümmung fest und verordnete orthopädische Gymnastik. In Weimar in der Amalienstraße gab es dafür ein Institut. Bei Frau Wilke, einer älteren Dame, schlank und sehr nett, stellte ich mich vor und die Schwester vom Jugendamt meldete mich offiziell an. Ich bekam meinen Übungsplan und musste zweimal die Woche, dienstags und donnerstags, zum Üben kommen. Wir waren in der Gruppe acht bis zehn Schüler. Das Programm war abwechslungsreich. Wir machten Bodengymnastik, Turnen an der Sprossenwand - Nackenschaukel. Jedes Mal Rückenmassage und andere Übungen. Es gab natürlich Ärger, denn ich fehlte zwei Nachmittage in der Woche bei der Arbeit. Insgesamt bin ich drei Jahre in dieses Institut gegangen. Die Kosten übernahm das Jugendamt. Ich musste von Stedten nach Ramsta laufen, denn der Bus kam von Kölleda und in Ramsta konnte ich zusteigen. Für die Hin und Rückfahrt bezahlte ich 80 Pfennige. Am Hauptbahnhof, vor dem Hotel Kaiserin Augusta, war die Bushaltestelle. 15 Uhr begann meine Übungsstunde, gegen 14.30 Uhr war ich in Weimar, so dass ich bequem durch die Stadt laufen konnte. Zurück fuhr der Bus kurz nach 17 Uhr. Es war natürlich für mich ein schönes Gefühl zwei Nachmittage in der Woche keine Feldarbeit leisten zu müssen. Das Vieh war getränkt und gefüttert. Ich konnte mich gleich an mein kleines Tischchen setzen. Ja, wir waren sechs Personen in der Familie. Die Wohnküche war nicht sehr groß. Der Tisch stand an der Wand. So konnten nur drei Seiten besetzt werden. An der Stirnseite saß Herr Schmidt, die Längsseite besetzten Frau Schmidt und Frau Weber, die Oma, meine eigentliche Pflegetante. An der anderen schmalen Seite saßen die Kinder Anni und später noch Herta. An der Tür rechts war eine kleine Ecke mit einem Tischchen, so 50 x 30 Zentimeter. Darüber hing die Garderobe und an diesem Tisch war mein Platz. Die große Petroleumlampe stand natürlich auf dem großen Tisch. Wenn ich noch etwas haben wollte, habe ich immer gewartet, bis ich gefragt wurde. Ich habe mich in den acht Jahren meines Aufenthaltes in Stedten nie zu Hause gefühlt. Ich war immer ein Fremder. Ich war ein Kind, wurde aber nie so behandelt. Kein liebes Wort, kein Streicheln oder andere Liebkosungen. Ich wurde nach dem Kinderheim in Stadtroda nicht einmal in den Arm genommen und gedrückt.
Meine Arbeit war selbstverständlich. Statt Lob wurde ich oft »fauler Hund« geschimpft. Das färbte sich sogar auf Anni ab. Sie schimpfte mich »Ziehwanst«. Das ließ ich mir nicht gefallen und legte sie über das Knie und versohlte ihr den Hintern, sie rannte zu ihrem Opa und schrie: »Paul hat mich geschlagen!«. Der sagte nur: »Na, da hast du ihn bestimmt sehr geärgert.«
Das Gefühl fremd zu sein, drückte sich auch im Verhalten der jungen Leute Schmidt mir gegenüber aus. Wenn Obst in die Stadt gebracht wurde, brachten sie den Kindern eine Kleinigkeit mit. Ich habe nie etwas bekommen. Wenn ich gerade dazu kam, sagte Tessi: »Na, dann gebt nur dem Paul ab, sonst kriegt der ja ein Kälbchen.« Ich nahm es nur mit Widerwillen an und ging schnell wieder in die Scheune. Das war besonders in den Monaten, wo keine Feldarbeit gemacht wurde, mein zweites Zuhause. Wenn es kalt war ging ich in den Stall zwischen die Kühe.
Meine Fahrten nach Weimar hatten auch sonst noch etwas Gutes. Unser Lehrer war froh, dass ich die Schreibwaren mitbringen konnte, denn er verkaufte an die Schüler u.a. Schreibhefte. Für mich waren die zwei Nachmittage in der Woche wie ein Kurzurlaub. Die Fahrt mit dem Bus war ein schönes Erlebnis. Dann der Bummel durch die Stadt war auch immer schön. Da konnte ich in die Schaufenster sehen. Fasziniert war ich immer an der Fischhalle am Graben, so hieß die Straße. Da war ein Becken wie ein Aquarium, in dem die Karpfen herum schwammen. Auch konnte ich meinen Bruder Alois besuchen, der beim Landschafts- und Friedhofsgärtner lernte. Meine Schwester war auch in Weimar in einem Blumengeschäft am Theaterplatz. So hatte ich immer Abwechslung und manchmal auch Überraschungen.
Meine Mutter besuchte mich in Stedten. Sie schlug mir vor bei meinem nächsten Gymnastiknachmittag meine Großeltern zu besuchen. Ich hatte sie ja schon über sieben Jahre nicht gesehen. Sie holte mich vom Bus ab und wir gingen in das Institut und baten die Leiterin Frau Wilke mir für diesen Tag frei zu geben. Sie hat sofort zugestimmt und wir liefen nach Oberweimar. Meine Großeltern wohnten in der Merketalstraße. Das war so eine Seitenstraße, die etwas anstrengend war. Meine Großmutter war eine kleine gutmütige Frau, immer ein Lächeln auf dem Lippen und trotz ihres Alters flink wie ein Wiesel. Mein Großvater, ein Riese im Verhältnis zu seiner Frau, von Beruf Bierkutscher, jetzt aber Rentner. Er rauchte sein langes Pfeifchen und wenn die nicht schmeckte, war er krank. Mit 75 Jahren fuhr er noch mit dem Handwagen in den Wald, ca. zehn Kilometer weit und holte Holz. Nicht weit vom Hause hatten beide einen kleinen Garten.
Ich war natürlich sehr schüchtern. Zu meiner Großmutter sagte ich »Sie«. Der Nachmittag verging mit Fragen und Antworten. Langsam fühlte ich mich heimisch. Diesen Besuch wiederholte ich dann öfter. Auch mit den anderen Gymnastikteilnehmern verstand ich mich gut. Ich habe nie mit jemanden Streit gehabt. Ein Mädchen namens Elfriede kümmerte sich sehr um mich. Sie ging mit mir oft nach der Turnstunde den Weg Richtung Bahnhof, weil sie in dieser Gegend wohnte. Ich staunte über ihre Selbstständigkeit und staunte, wie sie im Kaufhaus »Hermann Dietz« den Fahrstuhl in Anspruch nahm. Sie kannte sich eben in der Stadt aus. Ich hatte Geburtstag und musste wieder nach Weimar. Mein Geburtstag wurde ja in Stedten nie gefeiert und so war mir das ganz recht. An diesem Tag führte Elfriede mich direkt in das Kaufhaus, in die Süßwarenecke. Sie kaufte
Schokolade und Pralinen. Dann gab sie alles mir und sagte:
»Ich habe meiner Mutter von Dir erzählt und ihr auch gesagt, dass Du heute Geburtstag hast. Sie gab mir Geld damit ich Dir etwas schenken kann.« Wann habe ich jemals was geschenkt bekommen? Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat mir einmal von ihrem wenigen Verdienst fünf Reichsmark geschickt. Davon habe ich nichts gesehen. So nebenbei sagte mein Pflegeonkel Karl: »Paul, deine Mutter hatte fünf Mark geschickt. Dafür habe ich dir die Holzpantoffeln gekauft, für den Winter brauchst du ein paar Pantoffeln. Für Schreibzeug habe ich dir auch Geld gegeben und jetzt ist noch ein Groschen übrig, dafür kannst du dir die Haare schneiden lassen.« Er hat nicht gesehen, dass ich mit Tränen in den Augen sein Zimmer verlassen habe. Für mich war es immer eine Freude, wenn im Omnibus Herr Fischer, der Besitzer, kassierte. Wenn ich ihm 80 Pfennige gab, gab er mir die Fahrkarte und zehn Pfennige dazu. Da konnte ich mir auch mal eine Orange oder eine Banane kaufen. Wenn ich Hunger hatte, sogar eine Groschensemmel. Die war dreiteilig und auch am Nachmittag noch frisch und knusprig. Das alles war der Grund, dass ich immer darauf achtete, nie eine Gymnastikstunde zu versäumen. Einmal bin ich mit meinen Onkel Karl nach Weimar gefahren. In der Ettersburger Straße war ein Gasthaus mit »Ausspanne«. Dort haben wir Pferde und Wagen untergestellt und sind zu Fuß in die Stadt gelaufen. Ich kann mich noch erinnern, dass wir am Herderplatz in einer Gaststätte, gegenüber der Herderkirche Mittag gegessen haben. An der Wand hing eine Tafel, auf der stand: »Trink dich satt und iss dich dick, sprich hier aber nicht von Politik.« Auf dem Rückweg haben wir in der Gaststätte noch Abendbrot gegessen. Das war frisches Brot und frische Hausmacher-Knackwurst. Das war so reichlich, dass ich die Wurst nicht ganz essen konnte. Ich nahm den Rest mit. Den Geschmack dieser Wurst habe ich heute noch auf der Zunge. Ich habe natürlich den Rest noch am Abend gegessen. Am anderen Tag sagte Onkel Karl, ich solle nicht vergessen, den Rest Wurst aus der Tasche zu nehmen. Onkel Karl war sehr sparsam. Er war ja für die Finanzen der Gemeinde verantwortlich. Am Monatsende rief er mich in sein Büro. Das war hauptsächlich in den letzten drei Jahren. Auf seinem Schreibtisch hatte er Geld in Scheinen und Münzen ausgebreitet und ich musste alles zählen. Onkel Karl war der einzige, der mir auch einmal einen Groschen in die Hand drückte. Wenn einmal Besuch kam stellte er mich vor als »unser Hofmeister«. Mittlerweile war ich schon solange in Stedten, dass ich in die Konfirmandenstunde musste. Die fand in Ottmannshausen statt. Ich musste öfter in dieses Nachbardorf, denn Herr Schmitt stammte von dort. Seine Mutter lebte noch und der Großbauer, der uns mit dem Mähdrescher aushalf, und der Fleischer, der immer zum Schlachten kam, waren auch aus diesem Dorf. Dem Pfarrer lieferte ich öfter ein Stück Butter ab. Die Butter machten wir selbst.
Im Winter 1932 habe ich wie immer in der Scheune Häcksel geschnitten, da hörte ich in der äußersten Ecke ein Huhn gackern. Ich kletterte gleich hinauf und fand auch ein Nest. In jede Hand nahm ich zwei Eier. Nun musste ich über die Scheunentenne vier Meter über der Erde zur Heuecke laufen. Den letzten Meter musste ich auf einem 12 bis 14 Zentimeter breiten Balken balancieren und das mit Holzpantoffeln. Natürlich ging das schief. Ich rutschte ab und segelte kopfüber in die Tiefe, streifte die Heuecke und warf dabei die Leiter um, landete unten auf der Tenne, mit dem Kopf genau auf der unteren Sprosse der umgestürzten Leiter. Zum Glück hatte ich eine Baskenmütze auf, die etwas geschützt hat. In den Händen hatte ich die Eier, aber als Rührei. Meine Stirn hat gebrannt und als ich die Mütze abnahm lief, mir Blut über das Gesicht. Im Ort war ein Sanitäter, der mich verband. Mit einem Turban bin ich dann nach Ottmannshausen in die Konfirmandenstunde. Ich saß in der zweiten Reihe, neben mir mein Freund Kurt. Natürlich musste ich erst erzählen, warum ich den Verband am Kopf trug. Der Pfarrer, Herr Stieb, hat gleich gefragt ob ich noch Schmerzen habe, aber ich habe verneint. Wenn der Herr Pfarrer hinter unserer Bank war stöhnte Kurt und jammerte »Oh mein Kopf, Oh mein Kopf.« Der Herr Pfarrer: »Kübler hast Du Schmerzen?« »Es geht«, sagte ich. Kurt jammerte wieder. Da sagte der Herr Pfarrer: »Es hat keinen Zweck, geh nach Hause!«
Mein Arbeitspensum hatte sich nun so ausgedehnt, dass ich für alles, was zum Stallsauberhalten, Füttern und Tränken sowie Hof- und Strassen kehren gehörte, verantwortlich war. In der Landwirtschaft war ich eine volle Arbeitskraft. Freizeit hatte ich wenig. Spielen konnte ich nur in Verbindung mit meiner Arbeit. Da habe ich mit meiner Rübenleier eine Verbindung mit anderen Geräten hergestellt, so dass diese sich mitdrehten, wenn ich arbeitete. Die unterschiedlichen Eggehaken habe ich so aufgehängt, dass ich eine Tonleiter hatte. Ich bin musikalisch und liebe alles, was schön klingt. Zum Beispiel verlief ein Sonntag im Sommer so: Früh füttern und ausmisten, Futter für den Abend und den nächsten Morgen vorbereiten, Tränkwasser ranschaffen, Hof kehren und dann war Mittag. Nach dem Essen Schularbeiten soweit notwendig. Dann waschen und Sonntagsanzug anziehen. Zwischen 15 und 16 Uhr Freizeit. 16 Uhr Stalldienst: tränken und füttern, alles wieder ordnen und dann Feierabend.