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Die Pflegefamilie

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Das heißt, ich wurde nicht erwartet, sondern war nur eine Zugabe. Karl Weber, ein Mann so um die 50, war Gemeindeschrift- und Rechnungsführer, bediente nebenbei die Poststelle, kassierte die Sozialversicherungsbeiträge der freiwillig Versicherten und zahlte auch die Renten aus. Im Sommer bis Herbst pachtete er die Obstbestände an den Straßen und im »Großen Garten«, eine Obstplantage des Rittergutes. Das geerntete Obst schafften die Tochter Theresa, genannt Tessi, und der Schwiegersohn Otto Schmidt auf den Markt nach Weimar und in einzelne Obstgeschäfte. Die Landwirtschaft wurde durch die Tochter und den Schwiegersohn bewältigt. Der Hof war nicht groß und die Familie zählte so zu den »Rucksackbauern«. Das ist kein Schimpfwort, sondern die Bezeichnung für solche Höfe, die zur Ernährung einer Familie nicht ausreichten und ein oder zwei Kräfte durch andere Arbeiten Geld dazu verdienen mussten. Der Schwiegersohn Otto war gelernter Zimmermann. Im Sommer arbeitete er auf Baustellen. Nur wenn in der Landwirtschaft seine Kraft gebraucht wurde, blieb er vorübergehend zu Hause. Das betraf im Frühjahr die Aussaat und im Spätsommer und Herbst die Ernte sowie die Vorbereitung der Äcker für den Winter. Im Winter arbeitete er zudem als Holzfäller im Wald. In der Zwischenzeit wurde die Pflege der heranwachsenden Saaten und Frucht durch die Frauen, Berta Weber und Tochter Tessi, bewältigt. Für diese Arbeit brauchten sie Unterstützung. Deshalb forderten sie vom Jugendamt Jungen so im Alter von 12 bis13 Jahren an. Der angeforderte war Alfred. Er war 13 Jahre alt und hatte ein gutes Jahr Zeit, bis er aus der Schule kam. Bei unserer Ankunft wurden wir von den Frauen empfangen.

Natürlich waren sie nicht erfreut, dass ich als Anhängsel mitkam. Die Schwester vom Jugendamt erklärte die Situation. Bei unseren Aufenthalten in den Kinderheimen war es zweckmäßig, mir den großen Bruder an der Seite zu lassen, damit ich die Trennung von der Familie besser verkraften konnte – es war ja immer noch einer bei mir. Außerdem sagte die Schwester: »Ach, der wird doch auch groß und kann ihnen dann noch mehr helfen.« Zum Schluss waren sie sich einig.

Mein Pflegeonkel Karl Weber bekam für jeden Jungen im Monat 20 Reichsmark. Kleidung bezahlte das Jugendamt. Nur die Arbeitssachen mussten die Pflegeeltern bezahlen. Das waren aber nur Holzpantinen, sonst bekam ich abgetragene Sachen. So hatte ich im Frühjahr und Herbst eine Jacke und Stiefel vom Schwiegersohn, Herrn Schmidt. Um Geld für Schulhefte, Schreib- und Zeichenmaterial musste ich immer bei Onkel Karl um Geld bitten. Auch um Geld für das Haare schneiden: Glatze kostete 10 Pfennige, dass reichte. Am meisten freute sich Anni. Sie war drei Jahre alt und die Tochter von Tessi und Otto. Sie ging dauernd um meinen Stuhl herum, sah mich an und sagte: »Ach, ein kleiner Junge, gell, Mama, da brauche ich nicht mehr mit Birnstiels Hans zu spielen?!« Zur Begrüßung gab es Kirschkuchen. Mir hat er geschmeckt. Auf einmal sagte die Schwester vom Jugendamt: »Aber Paul, wo hast du denn deine Steine?« Ich wusste gar nicht, was sie wollte. Ich hatte noch nie solch einen Kuchen gegessen und hatte die Kerne einfach mit geschluckt. Am nächsten Tag begann der Ernst des Lebens. Alfred wurde in seine Arbeit eingewiesen und ich bekam auch bestimmte Aufgaben. So musste ich die Wärmesteine rechtzeitig in die Betten bringen. Die Nachtgeschirre früh leeren und abends wieder unter die Betten stellen. Später kam dazu, dass an jedem Ofen immer ausreichend Holz und Kohlen vorhanden sein mussten.

Ich hatte wenig Zeit mit Anni zu spielen, weil ich meine Aufgaben sehr ernst nahm. Am 30. März 1925 bekam Anni ein Schwesterchen. Herta war nun meine nächste Aufgabe. Jede freie Minute musste ich auf sie aufpassen. Im Sommer musste ich sie im Kinderwagen fahren. Das war ein Ding. Große Räder, von den Achsen schwungvolle Stahlfedern, die über die Räder gingen und darauf saß der Korb. Der Griff mit Porzellanrollen war noch höher als der Korb. Wenn ich von der Seite in den Korb schauen wollte, musste ich auf Zehenspitzen stehen. Ich schaute einfach unter dem Korb nach vorn, damit ich sah, wohin der Wagen rollte. Stedten war ein Dorf mit 200 Einwohnern. Ein Rittergut, eine Kirche, daneben die Schule. Der Pfarrer kam aus dem Nachbarort Ottmannshausen. Im Dorf war ein kleiner Tante-Emma-Laden. Da gab es alles, was zum täglichen Bedarf gehörte.

In der Diele stand das Petroleumfass mit Pumpe und Messeinrichtung, zum Laden führte eine extra Tür. Links auf dem Ladentisch stand immer eine große Büchse mit Bratheringen. Alles andere war in Regalen. Gemüse gab es nicht, denn das ernteten alle Bewohner vom Feld oder Garten. Petroleum war wichtig, denn es gab noch keinen elektrischen Strom. So wurde mit Petroleum- und Stalllaternen alles beleuchtet. Es gab auch keine Wasserleitung. Drei Dorfbrunnen und einige private Brunnen in den einzelnen Höfen sorgten für das notwendige Nass. Einen Bäcker gab es auch. Donnerstags wurde Brot gebacken. Die Bauersfrauen bereiteten den Teig selbst und brachten ihn in so genannten Brotkörbchen aus Stroh oder aus Weiden geflochten, lang oder rund, wie es die Leute wünschten, zum Bäcker. Der Ofen wurde mit Buchenreisig geheizt. Der Bäcker kippte den Teig aus den Formen auf den Schieber und schob ihn in den Ofen. Am Nachmittag wurden die fertigen Brote abgeholt. Das Brot war so bemessen, dass es eine Woche reichte. Am Freitag wurden Kuchen gebacken. Der Vorgang ähnelte dem am Donnerstag, nur wurden die Kuchen so in den Ofen geschoben, wie sie gebracht wurden, auf Blechen oder in Kuchenformen. Zur Abwechslung kam ab und zu ein Auto von Grenzdörfer, einem Bäcker und Konditor aus Weimar. Auch ein Pferdewagen mit Fisch, Kochfisch und Salzheringen fuhr vor und sorgte für Abwechslung im Speiseplan. Auch zwei Gaststätten gab es. Besonders gern wurde der Gasthof mit Saal und Kegelbahn besucht. Dort kegelten die Männer jeden Sonntag. Die Bahn war nach heutigen Maßstäben sehr primitiv. Eine Sandbahn mit einer breiten Aufsetzbohle, dann ganz lockerer Sand. Nur die Fläche für die neun Kegel war befestigt und der Aufenthaltsraum für die Kegler auch. Alles war überdacht und die Seiten waren offen. Kirmes, Kinderfeste, Sportler- und andere Feste wurden hier gefeiert. Bei Tanzveranstaltungen standen die Männer meist an der Theke. Diese befand sich gleich am Ausgang an der schmalen Seite des Saales. Die Seite gegenüber war für die Musiker. Die Längsseiten des Saales waren den Frauen vorbehalten. Auf der einen Seite saßen die Mamas und Omas - die Älteren meist mit Strickstrumpf. Auf der anderen Seite saßen die ledigen Frauen und jungen Mädchen.

Sobald die Musik ertönte, stürzten die Burschen auf die Tanzfläche und holten sich ihre Tänzerinnen. Die Mütter und Omas beobachteten natürlich, wer mit wem und wie oft tanzte.

Der Wirt, Herr Kaiser, schlachtete fast jedes Wochenende, besonders im Frühjahr und Herbst, wenn die Bauern ihren Vorrat vom Schlachten langsam aufgezehrt hatten und im Herbst noch nicht schlachten konnten, weil noch Erntearbeiten zu machen waren und auch die Temperatur noch zu warm war. Einmal sollte ich ein Kilo Gehacktes holen. Der Herr Kaiser war immer zu einem Späßchen aufgelegt. Er sagte zu mir: »Gehacktes gibt es nicht.« Ich sah es aber auf dem Tisch, da sagte ich: »Ach, Herr Kaiser, das macht nichts, da geben Sie mir eben ein Kilo von dem Geleierten.« Im Dorf hatte es sich herumgesprochen, dass ich nicht auf den Mund gefallen war. Am 1. April begann der Ernst des Lebens auch für mich. Ich kam in die Schule! Wir waren sechs Schulanfänger, drei Mädchen und drei Jungen. Käte Ludwig, Helga Henkel, Irmgard Axthelm, Kurt Ludwig. Alle hatten hier ihre Eltern. Hans Mengs war bei Familie Birnstiel in Pflege - aber privat. Ich hatte den Vorteil vom Jugendamt betreut zu werden. Wir hatten einen Lehrer, Arno Gebhart. Er war Ende 30. Seinen 40. Geburtstag konnte ich noch mitfeiern. Er unterrichtete alle acht Klassen und war Organist beim Gottesdienst in der Kirche. Auch den Religionsunterricht führte er durch. Er besaß als erster im Dorf ein Radio und er fotografierte alle schulischen Ereignisse. Ich ging gern in die Schule und nutzte jede freie Minute, um meine Hausarbeiten in der Schule zu machen, denn ich war ja nun älter und etwas größer geworden. Alfred ging nach Weimar in die Lehre zu einem Tischlermeister. Ich wurde allmählich in die landwirtschaftliche Arbeit einbezogen. In der Schule machte ich gute Fortschritte. Ich durfte in Geometrie schon an dem Unterricht der nächsthöheren Klasse teilnehmen. Das war eine Anerkennung. Wir hatten im Musikunterricht einen Chor aufgebaut. Ich sang die zweite Stimme und konnte am schnellsten die richtigen Töne halten. Wir sangen in der Kirche bei Beerdigungen und Hochzeiten. Das war aber nur eine Nebenbeschäftigung. In den letzten Schuljahren habe ich meine Hausaufgaben überwiegend in der Schule gemacht und meine Gedichte in der Scheune gelernt. Wir hatten einen Mauersims. Da lag mein Buch und beim Häckselschneiden und Rübenzerkleinern habe ich immer in das Buch geguckt. Auf Grund dessen, dass im Klassenraum meist vier Klassen anwesend waren, gab es natürlich bestimmte Freiräume. Die siebente und achte Klasse hatte das gleiche Unterrichtsthema und auch die Stunden gemeinsam. Auch die fünfte und sechste sowie die dritte und vierte Klasse lernten zusammen Nur die erste und zweite Klasse wurden jeweils allein unterrichtet. Wenn sich der Lehrer mit den unteren Klassen beschäftigte, hatten die anderen bestimmte Aufgaben zu lösen. In dieser Zeit hatte ich Reserven. Die gestellten Aufgaben schaffte ich in kürzester Zeit und anschließend machte ich meine Hausaufgaben.

Mein Leben begann 1918 in Weimar

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