Читать книгу Emmentaler Alpträume - Paul Lascaux - Страница 10
Samstag, 11.5.2019
Оглавление»Kommt sie runter?«, fragte Gwendolin Rauch besorgt. Nicole war gestern aus dem Spital entlassen und nach Hause gebracht worden, aber die drei Grazien hatten sie noch nicht gesehen.
»Nein«, antwortete Heinrich Müller. »Der Arzt hat gesagt, sie sei erst in ein paar Tagen wieder teilweise belastbar.«
Phoebe Helbling schlug vor: »Wir könnten ihr ein paar Fragen schriftlich stellen, sonst wissen wir überhaupt nicht, wo wir anfangen sollen.«
»Leider auch nicht«, sagte der Detektiv. »Nicole hat eine komplette Amnesie, was die Ereignisse und die Tage davor betrifft. Wie lange sie zurückreicht, wissen wir erst, wenn wir mit ihr sprechen können.«
»An die Tage im Koma wird sie sich auch nicht erinnern«, mutmaßte Melinda Käsbleich. »Also fehlen ihr mindestens zwei Wochen ihres Lebens.«
»Kann man das behandeln?«, wollte Phoebe wissen. »Hypnose?«
»Der Arzt hat mir erklärt, dass retrograde Amnesien oft bei Unfällen und plötzlich eintretenden Ereignissen vorkommen. Schusswunden werden nicht separat erfasst, da sie nicht besonders häufig sind. Er hat betont, dass sich die meisten Amnesien zumindest teilweise zurückbilden, also dass die Erinnerung wieder zurückkehrt, am ehesten durch Bilder und Gegenstände aus der fraglichen Zeit. Allerdings braucht es viel Zeit und Ruhe.«
Phoebe erkannte: »Wir haben das Opfer eines Verbrechens im Haus. Es kann sich jedoch nicht an das Geschehen erinnern. Und wir tappen im Dunkeln, als ob wir die Person gar nicht kennen würden.«
»So in etwa«, seufzte Heinrich. »Fangen wir an mit dem, was wir wissen. Nicole Himmel verlässt vor genau zwei Wochen das Haus, um einen Kurs zu besuchen, wofür sie wahrscheinlich irgendwo in die nördliche Napfregion reist. Was hat sie mitgenommen?«
Die vier hatten sich im Büro der Detektei Müller & Himmel auf die wenigen Sitzplätze verteilt, während Nicole ein Stockwerk höher in ihrem Bett lag und immer noch wenig von all dem mitbekam, was um sie herum passierte.
»Was man halt für ein paar Tage außer Haus mitnimmt«, sagte Phoebe.
»Das wäre?«, fragte Heinrich Müller.
»Eine Reisetasche oder einen kleinen Rollkoffer mit den persönlichen Effekten, jedenfalls nichts Großes. Ihr Portemonnaie mit Ausweisen, Kreditkarten. Das Handy.«
»Das Notebook?«, fragte Heinrich Melinda, die an Nicoles Arbeitsplatz saß, während ihr Lucy, die Schildpattkatzendame mit dem schwarzen Fell und dem rotgoldenen stehenden Dreieck über der Nase, über die Tastatur rannte.
»Ist nicht an seinem Platz.«
Müller erklärte: »Das wissen wir zwar bereits seit Tagen, aber es ist wichtig, sich noch einmal daran zu erinnern, denn irgendwo müssen die Dinge ja geblieben sein. Markus Forrer hat eine Handyortung in Auftrag gegeben. Ohne Erfolg. Man konnte nachverfolgen, dass Nicole wirklich unterwegs in den Hornbach gewesen ist, aber kurz vor Wasen hat sie das Handy ausgeschaltet. Und seither blieb es stumm. Haben wir noch einen Anhaltspunkt?«
Phoebe fragte: »Sagt uns die Ortung auch, mit welchem Verkehrsmittel sie unterwegs war?«
»Nein. Sie sagt uns noch nicht einmal, ob wirklich Nicole das Handy bei sich gehabt oder ob es jemand anders mitgetragen hat. Aber da Nicole hinter der Hornbach-Pinte gefunden wurde, gehen wir davon aus, dass sie es selbst bei sich hatte.«
»Eventuell hatte sie einen Fotoapparat mitgenommen«, sagte Gwendolin.
Melinda zweifelte: »Zusätzlich zum Handy?«
»Also wahrscheinlich nichts weiter«, schloss Heinrich. »Ihr habt eure Laptops startbereit? Das Passwort für die Detektei lautet …«
»›Beverly Negril‹«, sagten die drei wie aus einem Munde. »Ist bekannt. Immer etwas aus einem der letzten Fälle.«
Müller war überrascht. »Das für Nicoles soziale Netzwerke kennt ihr auch?«
»Wahrscheinlich ›Magdalena im Ager‹«, riet Phoebe, denn sie hatte eine sentimentale Ader.
»Bingo«, sagte Gwendolin. »Ich bin in ihrem Facebook-Account drin. Seit Mittwoch lauter Geburtstagswünsche.« Sie scrollte enttäuscht weiter.
»Sie hat doch gar nicht Geburtstag«, sagte Heinrich erstaunt.
Phoebe erwiderte kopfschüttelnd: »Gehörst du zu den Menschen, die bei Facebook ihr echtes Geburtsdatum angeben, eventuell mit dem richtigen Jahr? Und welche Daten verschenkst du sonst noch?«
Melinda doppelte nach: »Wenn man sich heutzutage in den Netzwerken tummelt, stellt man mit Erstaunen fest, wie viele Menschen mit Vornamen ›Arschloch‹ heißen. Gut, der Geburtskanal liegt nicht weit davon entfernt …«
Der Detektiv fasste sich wieder und sagte: »Hat Nicole an jenem Samstag über den Laptop auf irgendetwas zugegriffen?«
»Sieht nicht so aus«, antwortete Gwendolin. »Die letzten Einträge stammen vom Tag davor.«
»Ein Hinweis auf den Kurs?«
»Nein.«
Heinrich fragte: »Wir können also nicht feststellen, auf welchem Weg sie zu diesem Kurs gekommen ist?«
»Nein«, sagte Gwendolin noch einmal, »ohne den Laptop läuft gar nichts. Wir können natürlich auf gut Glück im Internet suchen: Kurs, Emmental, Datum. Ich gebe es ein.«
Es dauerte nicht lange, bis sie aufgab.
»Melinda, schaust du bitte am Arbeitsplatz nach schriftlichen Unterlagen?«, sagte Heinrich. »Es muss doch etwas zu finden sein.«
»Was, wenn es gar keinen Kurs gibt?«, sagte Phoebe.
»Wie meinst du das?«, fragte Melinda.
»Nun, sie hat uns allen einen Bären aufgebunden und hat gar keine Veranstaltung besucht, sondern einen Liebhaber getroffen.«
Gwendolin lachte. »Einen Emmentaler Bergbauern, den sie uns monatelang verheimlicht hat?«
»Dann mach halt einen besseren Vorschlag«, sagte Phoebe beleidigt.
Heinrich intervenierte: »Die Detektei hat im Moment keinen Auftrag. Könnte es sein, dass Nicole dennoch an irgendetwas gearbeitet hat? Mir schien, dass sie leicht unruhig war, was ich einer verständlichen Besorgnis über das weitere Schicksal der Detektei zugeschrieben habe. Schließlich gehe ich bald in Rente, da weiß man nie. Wenn nun so etwas der Grund dafür war?«
»Ich habe eine Idee«, sagte Melinda. Ihr Wühlen unter den Papieren auf dem Tisch und in den Schubladen war auch nicht erfolgreich. »Die Detektei hat doch ein kleines Netzwerk, an das alle Computer angeschlossen sind?«
»Ja«, bestätigte Müller. »Das Passwort …«
»Ist dasselbe«, echoten alle drei.
»Schon gut«, brummte der Detektiv.
»Also, da hätten wir den Browserverlauf von uns allen«, sagte Gwendolin. »Ihr wollt nicht wissen, was Melinda …«
»Vergiss es«, sagte die Angesprochene.
»Mal sehen. Verdammt, der geht nur bis letzten Montag zurück. Habt ihr einen Löschautomatismus?«
Heinrich fragte: »Wie meinst du das?«
»Na, den Browser so eingestellt, dass er nach einer gewissen Zahl von Tagen den Verlauf automatisch löscht, damit man nicht nachvollziehen kann, was ihr recherchiert. Wäre eigentlich vernünftig. Außer gerade jetzt.«
»Nicht dass ich wüsste«, sagte Müller. »Aber dafür wäre sowieso Nicole zuständig.«
»Oder hast du den Verlauf gelöscht?«, fragte Melinda.
Der Detektiv schlug sich an die Stirn, bevor er antwortete: »Alles klar. Am letzten Montag habe ich Online-Banking erledigt. Anschließend lösche ich die Eingabedaten.«
Gwendolin klickte in Safari auf »Verlauf löschen« und zeigte Heinrich das Dialogfeld: »Worauf klickst du?«
»Hier«, zeigte Müller. »›Gesamten Verlauf löschen‹.«
»Ein Sechser im Lotto«, stöhnte Phoebe. »Kein Laptop, keine nachverfolgbaren Daten, keine Kursunterlagen, ein stummes Handy und eine angeschossene Detektivin. Ich verkrieche mich in meinem Depressionenkämmerchen.«