Читать книгу Emmentaler Alpträume - Paul Lascaux - Страница 12
Mittwoch, 15.5.2019
Оглавление»Ich kann mich jetzt daran erinnern, dass ich etwas gesucht habe«, erklärte Nicole Himmel.
Endlich waren sie erneut zu fünft im Gastraum des Schwarzen Katers. Nicole war sozusagen aus der Verbannung zurückgekehrt. Der Körper arbeitete wieder, die Restschmerzen der Wunde wurden mit Tabletten verjagt. Sie musste sich nur vor abrupten Bewegungen hüten. Die andern vier taten alles, um ihr die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern.
»Man hat dich bei der Hornbach-Pinte hinter dem Restaurant auf der Platzgeranlage gefunden«, sagte Heinrich.
»Sagt mir gar nichts.«
»Wasen im Emmental? Sumiswald? Hornbach?«
Nicole überlegte und verneinte.
»Warst du allein unterwegs?«, fragte Phoebe.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Nicole. »Es ist alles ausgelöscht. Ich versuche, irgendetwas zu finden. Die Leere ist groß genug. Aber da ist nichts. Ziemlich anstrengend, dieses Nichts.«
»Kein Stress«, dozierte Müller. »Der Arzt hat gesagt, die Erinnerung komme zurück, manchmal schritt-, manchmal stoßweise. Ob du jemals wieder an alles zurückdenken kannst, das hat er nicht garantiert. Nehmen wir, was wir haben. Du bist irgendwie aus irgendeinem Grund bis zum Hornbach gekommen.«
Melinda sagte mit erhobenem Zeigefinger: »Willkommen im Ministerium für Wahrheitsfindung, Spekulationen und Verschwörungstheorien.«
Dann leckte sie den Paprika von den Pommes-Chips, bevor sie diese der bettelnden Lucy zu fressen gab.
Gwendolin hatte derweil die Fahrpläne abgerufen. »Die S 44 fährt tagsüber jeweils zehn Minuten vor der vollen Stunde ab Bern nach Sumiswald-Grünen, wo man direkten Anschluss an den Bus nach Wasen hat. Den ehemaligen Bahnhof erreicht man eine gute Stunde später. Endstation. In die Täler und auf die Hügel rundherum führt kein öffentlicher Verkehr.«
»Könnte man für eine ausgedehnte Frühjahrswanderung nutzen«, sagte Melinda.
»Keine Wanderung«, erklärte Nicole, »ganz sicher nicht.« Dann versank sie in verzweifeltes Brüten.
Heinrich sagte: »Im Sommerhalbjahr gibt’s am Wochenende eine Verbindung nach Langnau und mit dem Postauto auf die Lüderenalp. Dort könnte man übernachten. Und auf der andern Seite geht es direkt runter nach Wasen.«
Phoebe gab zu bedenken: »Wenn Nicole von jemandem hingefahren wurde, kann man sie natürlich irgendwo abgesetzt haben.«
Sie hatte die Fünfundzwanzigtausender-Karte »Napf« vom Bundesamt für Landestopografie swisstopo auf den Knien und fragte: »Warum Hornbach?«
Dann gab sie die Antwort gleich selbst: »Die Hauptstrasse führt hoch zur Fritzenfluh und weiter nach Huttwil. Bei der Abzweigung Hornbach finden wir die Hornbach-Pinte, ein Restaurant mit Gästezimmern – aber der oder die Täterin wird Nicole wohl nicht gerade neben dem Hotel abgelegt haben, wo sie übernachtet hätte. Weiter geht es ins Tal hinein, vorbei an einsamen Bauernhöfen bis Riedbad, über dem die Krähenbühlalp thront, der hinterste Hof, zu dem ein Sträßchen führt. Dann geht es, gemessen an den eng aneinanderliegenden Höhenlinien, nur noch steil bergauf entweder zum Farnli-Esel und über die Oberlushütte zum Höchänzi und weiter zum Napf. Alles nur in Wanderausrüstung begehbar und sicher nicht mit einem Rollkoffer. Direkt bei der Hornbach-Pinte zweigt ein Sträßchen zu einem Hof namens Kohlgrube, Richtung Wasen ein weiteres in den Wyttenbachgraben. Für den ganzen Rest ist Vierradantrieb angesagt, überall steiles Gelände und nicht asphaltierte Wege.«
»Das könnte den Schmutz an Nicoles Kleidung und unter ihren Fingernägeln erklären«, sagte der Detektiv.
Gwendolin beendete ihr Fingerspiel auf der Tastatur und sagte: »Riedbad. Den Gasthof nennt man ›Häxehüsli‹, weil die Wirtin alles mit Hexen dekoriert hat, draußen hängen sie an der Fassade, drinnen von der Decke.«
»Das Emmental ist bekannt als Land der Stündeler*«, sagte Müller. »Die dürften an Hexen wenig Freude haben.«
Gwendolin ergänzte: »Das Mobilfunknetz weist in der Gegend noch einige Lücken auf, vor allem in den kleinen Tälern und im hinteren Hornbach.«
Phoebe wirkte ungeduldig. »In Wasen zweigt die Straße zur Lüderenalp ab, im Talboden jedoch führt sie in den Churzeneigraben. Die Hauptstraße allerdings bringt einen nach Sumiswald.«
»Ich glaube nicht, dass diese Täler infrage kommen«, überlegte Heinrich, »denn es muss einen Grund geben, warum man Nicole dort abgelegt hat, wo man sie gefunden hat. Der Täter wollte nicht gesehen werden, also wird er kaum durch größere Dörfer gefahren sein, denn selbst dort gibt es irgendwo eine Überwachungskamera, die auf die Straßen oder ein Gebäude gerichtet ist. Das Risiko, erkannt zu werden, wird er nicht eingegangen sein.«
Phoebe merkte an: »Das ganze Gebiet sieht von oben aus wie ein großer Kessel mit zwei Seitenarmen und vielen Nebentälern, die von Bächen im Laufe der Zeit gegraben wurden. Hornbach steht zuoberst auf der Prioritätenliste.«
Gwendolin hatte weiter recherchiert. »Gehört alles zur Gemeinde Sumiswald, mit fünftausendneunhundertdreiunddreißig Hektaren eine der größten im Kanton Bern. Rund fünftausend Einwohner. Liegt auf siebenhundert Metern an der Grünen, gespeist von Hornbach, Churzeneibach und Griesbach, fließt in Ramsei in die Emme. Leicht erhöht steht das Schloss Sumiswald, und die um 1510 vom Deutschritterorden erbaute Kirche hat einen markanten Käsbissenturm …«, sie stockte, »was auch immer das ist.«
»Wer misst denn noch in Hektaren?«, fragte Gwendolin.
Phoebe hatte inzwischen gegoogelt: »Käsbisse nennt man ein steiles Satteldach als Turmabschluss, vorwiegend zu finden an Kirchtürmen. Was man um euch herum alles lernt.«
»Der Deutschritterorden sagt euch etwas?«, fragte Müller.
»Irgendwo im Hinterstübchen klingelt’s«, antwortete Melinda. »Der spielt doch eine Rolle in Jeremias Gotthelfs Erzählung ›Die schwarze Spinne‹?«
»Genau. Der unmenschliche Ritter zwang die Bewohner des Tals von Sumiswald, eine Allee von Bäumen zu errichten. Dabei ließen sich die Leute vom Teufel helfen. Die Deutschritter waren im Mittelalter in der Kirche Köniz auch für Bern zuständig, bis die Stadt 1276 zu einer eigenen Pfarrei erhoben wurde.«
»Die Kinder kamen von einem Kostümfest«, sagte Nicole unvermittelt, »die Mutter hatte sie hergerichtet wie Gnomen.«
Alle schauten sie überrascht an.
Phoebe fragte: »Welche Kinder?«
»Keine Ahnung. Drei Kinder mit verdreckten Kleidern und verschmierten Gesichtern.«
»Wie sah das aus?«, fragte Melinda.
»Na, wie Erdgeister eben aussehen: graue Kapuzenpullover, braune Baumwollhosen, farblich auf den Dreck abgestimmt, der überall an ihnen klebte, sogar im Gesicht.«
Heinrich erkannte: »Das waren keine Gnomen.« Er stürzte zum PC und googelte nach den Kobalt-Minen im Kongo. Es erschienen Fotos von Kindern, die einem schmalen Erdschacht entstiegen, ausgemergelte Jungs in Lumpen und voller Dreck. Müller drehte den Bildschirm: »Sahen die Kinder etwa so aus?«
»Ähnlich«, sagte Nicole, »einfach anders bekleidet.«
»Sie graben im Emmental, da ist es kälter«, sagte der Detektiv.
»Du meinst, die kommen aus einer Mine?«, fragte Phoebe. »Wie die sieben Zwerge aus dem Märchen?«
»Sieht so aus«, brummte Heinrich. »Vielleicht finden wir die Mine und das, was sie dort rausholen.«
»Und Schneewittchen«, sagte Gwendolin, »ist die Profiteurin.«
Melinda meinte: »Immerhin ein Ansatz. Wenn jemand irgendwo gräbt, dann wird das jemand anderem aufgefallen sein.«
Phoebe dämpfte die Euphorie: »Was, wenn sie einfach nur im Schlamm ausgerutscht oder in einen Bach gefallen sind? Bäche gibt es ja genug.«
»Und Höhlen?«, fragte Gwendolin, die nicht locker ließ.
Heinrich sagte: »Soviel ich weiß, besteht das Napfgebiet hauptsächlich aus Nagelfluh. Ungeeignet für Höhlen, die würden einstürzen. Von Minen habe ich auch noch nie gehört. Und das wenige Gold wird aus den Bächen gewaschen. Höhlen gibt es vor allem in Karstgegenden, da muss man allerdings bis zur Schrattenfluh fahren, dort existieren ausgedehnte Höhlensysteme wie auch auf der gegen den Thunersee hin abfallenden Niederhorn-Region. Alles zu weit weg.«
* Freikirchler