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Montag, 29.4.2019

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»Kaumückenanzüge.«

Nicole atmet auf. Endlich kann sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Hat sie laut gesprochen?

Dann spürt sie einen heftigen Stich in ihrer Körpermitte und sie dämmert wieder weg, bevor sie das Rasseln und Röcheln aus ihrer Lunge hören kann.

Sie blickt vom Strand über das Meer und fühlt die Nässe, als die Wellen an ihre Beine klatschen. Sie steht im Wasser und sie weiß, dass sie auf einer Unterwasserfelsplatte, die in etwa einem Meter Tiefe liegt, zu jener Insel gelangen kann, deren bizarres Gestein gelbbraun leuchtet. Es ist diese Farbe, die sie zu ihr hinzieht, denn die Insel selbst ist bar jeder Vegetation, sie kocht in der Hitze des Nachmittags.

Neben ihr steht ein junger Mann, bereit, mit ihr zur Insel zu waten. Ist es das Ferienlager aus der Gymnasialzeit? Sie ist verwirrt, aber der Kerl lacht sie an, als ob er noch etwas mit ihr vorhätte. Sie ist selber erstaunt darüber, dass sie dieser Gedanke beruhigt.

Sie kommen vom Mittagessen, die Bäuche voll und kein günstiger Zeitpunkt zum Baden, denn bei der vorgelagerten Felsspitze hätten sie, um einen größeren Umweg zu vermeiden, ein paar Meter durch eine Wasserrinne schwimmen müssen, die den Fischerbooten den Zugang zum Hafen ermöglicht. Aber da sie vollständig bekleidet sind, bleibt ihnen keine Wahl. Er trägt hellblaue Jeans, die ein bisschen aus der Mode sind und um die Hüften spannen. Ein zerschlissenes blaues T-Shirt mit Salzwasserflecken schlackert um seinen Oberkörper. Seine braunen Haare stehen etwas wirr vom Kopf ab. Sein schalkhaftes Lächeln macht alles wieder wett.

»Verheiratetenhöhle«, sagt sie und zeigt auf halbem Wege auf ein schwarzes Loch in einer der Klippen.

»Ein Schlafplatz für Jugendliche, denen kein eigenes Zimmer zur Verfügung steht«, erklärt er.

Als ob damit alles gesagt wäre.

Bald suchen sie vom Inselstrand aus den Weg zur Höhle, benutzen beide Hände, um nicht abzurutschen, und finden einen tiefer gelegenen Eingang, der durch eine kurze Röhre im Felsinnern zur eigentlichen Höhle führt. Wie befürchtet sehen sie das idyllische Plätzchen – durch einen Spalt im Gestein von der Sonne beleuchtet – bereits besetzt. Drei Beinpaare in schmutzigen Jeans liegen übereinander. Die beiden drehen sich ab und nehmen den Hauptausgang. Dort wartet bereits ein Pärchen, das hineinwill.

»Einen Platz gibt es nur, wenn ihr vorbestellt habt«, sagt Nicole zum Abschied.

Wie sie zum Festland zurückgekommen sind, kann sie nicht sagen. Jedenfalls gibt es dort einen Caravanpark. Jeder Wohnwagen ist in vier Räume mit je einem separaten Eingang aufgeteilt. Sie hat eine Freundin, die ihr Zimmer für einen solchen Fall zur Verfügung stellt. Obwohl sie nicht genau weiß, was mit diesem »Fall« gemeint ist, sucht sie mit ihrem Kumpel die 608. Dummerweise sind die Wohnwagen nicht den Nummern nach eingereiht, sie müssen also bei jedem die Zahlen ablesen, wenn sie ihr Zimmer finden wollen. Irgendwie drehen sie sich im Kreis. Plötzlich steht ein Briefträger vor den beiden. Sofort ist der Wagen gefunden. Aber der Mann ist schon wieder weg, bevor man ihn fragen kann, wie er das gemacht hat. Sie gehen hinein: ein weißer Raum, ein helles Fenster ohne Vorhänge, ein Tisch, ein Stuhl, ein bequemes Bett ohne Decke. Alles ist angerichtet.

Übergangslos steht sie mit drei Kollegen auf einer Klippe, von wo man die Insel direkt sehen kann. Dort oben befindet sich ein Schulhaus, fast vollständig aus Glas gebaut, zwei Etagen mit etwa acht Zimmern. Durch einen getrennten Eingang erreicht man im zweiten Stock die Bäckerei, wo sie das Brot holt. Sie will welches kaufen, weiß aber nicht, wie viel. Sie stellt sich an den Abriss der Klippe, wo der Fels fünfzig Meter bis zum schmalen Kieselstrand abfällt. Sie wartet, bis einer der Höhlengänger auf der Insel dasselbe tut. Zuerst will sie einfach nur »Brot« schreien, aber wenn sie ein »Ja« zur Antwort bekäme, wüsste sie immer noch nicht, wie viel sie kaufen sollte. Deshalb macht sie pantomimische Zeichen, mit denen sie Brot darstellt, Brot, das sie schneiden und essen will. Der Kollege antwortet, indem er viermal die Revolutionsfaust in den Himmel streckt. Also steigt sie die Treppe hinauf und kauft vier Kilo Brot.

Was die Kaumückenanzüge damit zu tun haben, ist ihr noch nicht klar. Auf jeden Fall machen diese Mücken sehr viel Lärm. Und sie reden in mehreren Zungen, sagen Dinge wie »Lungendurchschuss«, »lebenserhaltende Maßnahmen« und »Intensivpflege«, was sie diesen Insekten gar nicht zugetraut hätte. Dann steht plötzlich eine dieser Kaumücken direkt vor ihr, schiebt Nicoles Lid in die Höhe und betrachtet sie durch ein Vergrößerungsglas.

Schon verrückt, diese Welt, denkt sie, als sie für einen Moment die Augen aufschlägt und über sich einen Himmel in stechendem Weiß erkennt. Dann sackt sie zusammen, übermannt von Schmerz und Anstrengung.

Emmentaler Alpträume

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