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Freitag, 10.5.2019

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Nicole erkennt das Gebäude wieder. Es ist ein Stöckli, und da treibt sich auch ihre Freundin Claudia rum. Die erklärt der furnierten Holzwand, dass im Emmental früher der jüngste Sohn der Erbe des Bauernhofes war, die älteren gingen leer aus und mussten zum Söldnerdienst oder sich andernorts ein Heimetli suchen, weshalb die Töchter besonders begehrt waren, wenn der Bauer keine Söhne gezeugt hatte.

Wie ein Geist schwebt Claudias Gestalt nun durch die Stube und erklärt weiter. Wenn der Älteste volljährig war, waren die Eltern erst um die vierzig und noch zu jung, um sich zurückzuziehen. Beim jüngsten waren sie zwischen fünfzig und sechzig, und die Eltern konnten ihm noch ein paar Jahre zur Hand gehen, zogen jedoch aus dem großen Bauernhaus hinüber ins kleinere, ins Stöckli.

Davor sitzen nun Nicole und Sandra auf einer Bank an der Sonne, wie ein altes Bäuerinnenpaar. Plötzlich sagt Claudia in den Nachmittag hinein: »Wir müssen noch einmal zum Wasserfall.«

Nicole erinnert sich, wie sie am frühen Morgen beglückt durchs taufrische Gras gerannt ist. Irgendwo plätschert ein Bach, dem sie nach oben folgt, bis sie in einer Geländemulde anlangt. Dort fällt das Wasser über eine Fluh und hat ein Becken ausgespült. Nicole hat Claudia geholt, die noch gejammert hat, sie habe kein Badekleid mit. Aber es ist keiner zu sehen, also hüpfen sie nackt ins erfrischende Wasser.

Plötzlich ruft Claudia: »Achtung, eine Schlange!«

Und wirklich, Nicole sieht eine Schlange, packt sie aus Spaß hinter dem Kopf, legt sie auf der andern Uferseite ins Gras, weil sie doch nicht recht glaubt, dass es hier Wasserschlangen geben soll.

Und nun sagt Claudia, sie müssten nachsehen, ob das Reptil immer noch vor Ort sei. Mit einem leicht mulmigen Gefühl machen sie sich auf den kurzen Weg. Tatsächlich sitzt die Schlange wie eine Kobra an genau der Stelle, an der Nicole sie abgelegt hat. Sie überwindet ihre Angst, nähert sich dem Tier, packt es, und als es keinen Widerstand leistet, beginnt sie es zu streicheln. Die braun gefleckte Schlange züngelt.

Nicole denkt an ein Märchen und küsst sie, Zunge an Zunge, hält sie sehr fest, damit sie nicht beißen kann. Da geht sie unter Zischen in einer Rauchschwade auf. Nicole erschrickt und flüchtet ans andere Ufer zu Claudia. Sie stehen vor Schreck wie gebannt dort, umarmen sich gegenseitig und warten darauf, was weiter passiert. Dann wird Claudia ungeduldig und ruft: »Wenn du schon Action machen willst, dann bitte richtig!«

Da verwandelt sich der Rauch in eine Bocksfigur. Der Leibhaftige selbst? Nicole redet ihn an und lobt ihn für die coole Vorstellung. Man kommt ins Gespräch, freundet sich an und erfährt Folgendes: Er komme aus der vierten Dimension. Diese sei eine Paralleldimension zu unserer dritten wie die dritte zur zweiten und die zweite zur ersten. Die vierte Dimension sei die Stufe, von der man durch Umstülpen seiner selbst eine Gestalt in der nächstniedrigeren annehmen könne, aber man müsse auch in die nächsthöhere blicken können.

Der Rauch, der nun körperlos über dem Wasser wabert und auf dem die Tropfen im Sonnenlicht glitzern, verspricht den beiden Frauen, Wünsche zu erfüllen, was sie aber mit der Behauptung ablehnen, sie seien wunschlos glücklich. So lässt der Rauch sie einen Blick in die vierte Dimension werfen. Erst sehen sie nur ein Farbchaos, dann mehrere gestaffelte Farbtöne, die sich irgendwie unterscheiden. Aber sie merken bald, dass sie nicht fähig sind, diese Dimension zu erfassen.

Dann spricht eine nicht näher lokalisierbare Stimme: »Weißt du, jenes Clownsgesicht, über und über bemalt mit fröhlichen Farben, das Weiß um den Mund und das saftige Himbeerrot der Lippen, lange, feine, zarte Wimpern und blauviolette Lider, die Brauen ein dicker schwarzer Strich und die Wangen leicht gerötet, pointillistisch auslaufend bis zu den Ohren, jene geschmückt mit zwei langen Silberstäben, die leicht klirren. Und jetzt ist dieses Mädchengesicht entstellt von Trauer, das heißt, entstellt ist es nicht, es ist in eine neue Sphäre noch größerer Schönheit gehoben. Und jene Träne, die die Wange hinab eine Furche ins Weiß gräbt und darunter reine, von Schmerzen geküsste Haut sehen lässt. Und die Augen weit offen, die Lippen schließen einen Hohlraum ein, der eine Erbse knapp durchschlüpfen ließe. Und über allem jene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger, ausgeschnitten aus irgendeiner Zeitung, der auf die in Mundwinkelhöhe stecken gebliebene Träne weist.«

Durch ihre Lider dringt das Morgenlicht. Nicole Himmel öffnet zaghaft ihre Augen. Sie schreckt zurück. Da steht jemand in der Tür!

Sofort schließt sie die Lider, als ob sie damit alles ungeschehen machen könnte. Dann schießt der Gedanke durchs Gehirn, dass sie sich wehren muss, dass sie nicht einfach hilflos liegen bleiben kann. Also öffnet sie vorsichtig die Augen.

Da ist keiner. Aber hinter der offenen Schlafzimmertür, im Eingangsbereich der Wohnung, steht der Garderobenständer und daran hängt ein schwarzer Mantel, der sich leicht bewegt. Als Nicole den Kopf ein wenig hebt, erkennt sie, dass Lucy mit den Schößen spielt. Nicole ist wieder zu Hause!

Erleichtert sinkt sie auf das Kissen zurück. Sie schwebt noch zwischen Traum und Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit kämpft sich langsam zurück. Über diesen Gedanken nickt Nicole noch einmal ein.

Emmentaler Alpträume

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