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5. Natorps immanente Weiterentwicklung nach Allgemeine Psychologie hin zum Spätwerk Philosophische Systematik
ОглавлениеNatorp hat das in der AP groß angelegte, ehrgeizige Projekt niemals durchgeführt; die Veröffentlichung der weiteren angekündigten Bände erfolgte nicht. Stattdessen hat Natorp in seinem Spätwerk eine Wende vollzogen, für die die AP in Wahrheit ein Übergangsstadium bildet. Was waren die Gründe für die Aufgabe des ursprünglichen Projekts und in welche Richtung bewegte sich Natorps Denken in seiner letzten Phase? Die Beantwortung dieser Fragen muss sich auf kurze Andeutungen beschränken.
Natorps Denkbewegung ging nach der Veröffentlichung der AP ungehemmt weiter. Zwischen 1912 und seinem Todesjahr war Natorp mit zahlreichen Projekten parallel beschäftigt; am meisten jedoch galten seine Bemühungen der systematischen Aus- und Zusammenführung seines Denkens. Diese Bemühungen enden über Zwischenstationen in seinem letzten Werk, der Philosophischen Systematik, die kurz vor seinem Tod fertiggestellt, aber im Jahre 1954 erstmals herausgegeben wurde. So gering war das Interesse an Natorp bzw. dem Neukantianismus im Allgemeinen zur Zeit von Natorps Tod. Die Wellen der neueren Philosophie, vor allem der Phänomenologie, aber auch der positivistischen Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises – der sich in seinen Bemühungen vornehmlich vom Kantianismus der Marburger Variante abgrenzte –, spülten gleichsam über die Neukantianer hinweg. Hierbei war oftmals als Motivation der eigenen Denkanstrengungen die Abgrenzung von der etablierten „Wilhelminischen“ Philosophie. Das mit der Regierung der Nationalsozialisten in Deutschland einsetzende Schisma in der deutschen Kultur im Allgemeinen ließ den Neukantianismus, der inzwischen als „liberale“, von Juden propagierte Philosophie des Kaiserreiches verunglimpft wurde, vollends in Vergessenheit geraten. Eine systematische Rückbesinnung auf den Neukantianismus begann in Deutschland erst gut fünfzig nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Dass die AP in Wahrheit ein Übergangswerk statt eines Neubeginns war, lässt sich bereits zum Ende der AP sehen. Natorp endet das Werk mit einer ausführlichen, auf zwei Kapitel verteilten Auseinandersetzung mit konkurrierenden Theorien, also Wundt, Lipps, Husserl, Dilthey, Münsterberg, und Bergson. Diese Zusammenfassungen lassen sich, bevor Natorp zur Kritik schreitet, durchaus als kurze Einleitung zu den Forschungsprogrammen dieser damals äußerst populären Denker lesen. Während Bergson, Husserl und Dilthey nie ganz aus dem Blickfeld nachfolgender Philosophie verschwunden sind, gilt dies sicher nicht für Wilhelm Wundt und Theodor Lipps sowie den nach Amerika ausgewanderten, in Harvard lehrenden Deutschen Hugo Münsterberg. Ironischer Weise aber endet Natorp sein Werk mit einer ausführlichen Würdigung des Franzosen Henri Bergson – der längsten Darstellung aller sonstigen Theorien, die Natorp darstellt. Natorp selbst erkennt Bergsons Wendung zum Mystizismus an und, was noch entscheidender ist, würdigt sie positiv (vgl. S. 303f.). Natorp schließt die AP mit dem Hinweis, dass für ihn selbst „immer nur das ewige Streben zur Gottheit“ (S. 304) anerkannt werden muss, d.h. dass die Gottheit im gut Kantischen Stil lediglich eine regulative Idee sein kann, sowie dass er darauf verzichten muss, „etwas wie eine ‚mystische Vergottung‘ als Menschen erreicht zu haben oder je erreichen zu können oder zu sollen“ (ebd.). Obwohl man sich also vor einer „Vergottung“ des Menschen hüten muss, bekundet Natorp, wenn auch etwas verklausuliert, durchaus Sympathie mit Bergsons „religiösen Zug“ (ebd.). Die Ironie besteht darin, dass Natorp als strenger Wissenschaftler im Sinne des Wissenschaftsideals der Marburger Schule anfängt, aber eigentlich in der AP in eine Dimension vorstößt – des urkonkreten Lebens –, die nicht mehr Gegenstand einer Wissen-schaft sein kann, was ihn an den Mystizismus grenzen lässt. Weiter entfernt von der „Urstiftungsidee“ der Marburger Schule kann man eigentlich nicht sein. Dennoch aber kommt Natorps Denken genau an dieser Stelle zur Ruhe und der Mystizismus wird das letzte Wort des Philosophen sein25.
Während Natorp am Ende der AP noch schwankt, besteht die weitere Entwicklung seines Denkens im Wesentlichen darin, dieses mystische Element nicht nur zuzulassen, sondern voll zum Ausdruck zu bringen. Die Grundidee ist kurz darzustellen, auch wenn Natorp in seinen letzten Jahren extensiv hieran gearbeitet und geschrieben hat. Wenn die Methode des Objektivierens und deren Gegenbewegung hin zum Subjektiven nichts anderes als gegenläufige Richtungen auf einer Skala sind, dann kann man spekulieren, ob nicht beide widerläufigen Methoden hinsichtlich einer ihnen zugrundeliegenden „Einheitsmethode“ überwunden werden können. Gibt es eine „Dimension“, die beiden Tendenzen nochmals ursprünglicher ist? Natorp sieht diese Ursprungsdimension in dem, was man, noch ursprünglicher als Subjekt oder Objekt, schlichtweg als „Leben“ bezeichnen kann. Dieses Leben bezeichnet Natorp auch als „Poiesis“, als „ursprünglich leistende, kreative Kraft“. Hierbei ist Natorp eindeutig von der Lebensphilosophie beeinflusst, die ebenfalls das Denken des jungen Heidegger beeinflusste. Dieser Schritt hat bei Natorp aber schließlich eine noch radikalere Konsequenz zur Folge, von der man auch vermuten kann, dass sie für den Heidegger von Sein und Zeit – welches in Marburg entstand – entscheidend wurde. Liegt nämlich diese ursprüngliche Poiesis noch vor aller „abgeleiteten“ Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, dann ist diese Ursprungsdimension weder mit Begriffen des Objektiven und Subjektiven fassbar. Während Natorp in AP noch das Urkonkrete des Lebens subjektivitätstheoretisch zu fassen versucht, ist die Poiesis in Natorps letzter Phase nicht mehr in subjektiven Begriffen zu begreifen. Die Dimension, die noch tiefer als subjektives Leben liegt, sondern als „lebensbejahende Kraft“ gefasst wird, bezeichnet Natorp in seiner Philosophischen Systematik als Sein, Sein schlechthin, reines Sein. Ob hier ein noch zu wenig gewürdigter Einfluss auf Heideggers Seinsfrage vorliegt, mag hier lediglich nahegelegt werden.