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1. Paul Natorp – ein Public Intellectual und sein Werk
ОглавлениеWer war Paul Natorp (1854–1924)? Es ist für den heutigen Leser wahrscheinlich vollkommen verblüffend, wenn man darauf hinweist, dass Natorp vor einem Jahrhundert zu den herausragenden Intellektuellen Deutschlands gehörte; dass er – abgesehen davon, dass er ein weithin, auch international, bekannter Professor für Philosophie und Pädagogik und namhafter Vertreter des Neukantianismus der Marburger Schule war – auch ein wahrer öffentlicher Gelehrter war, jemand also, dessen Werk nicht in der Welt des philosophischen Elfenbeinturms verbleibt. Letzter Aspekt wird zumeist unterschlagen, wenn man ihn ausschließlich zur Marburger Schule und der deutschen Universitätslandschaft, zumal ihrer Wilhelminischen Ära, zählt, – einer Ära, die wir wähnen, weit hinter uns gelassen zu haben.
Zwar ist – um hier anzusetzen – das Klischee des mit preußischen Tugenden ausgestatteten, trockenen Universitätsprofessors nicht ganz von der Hand zu weisen, und Natorps Ruf beruhte sicherlich weder auf einer begeisternden Persönlichkeit, noch verbrachte er viel Zeit auf zelebrierten Vortragsreisen, um seine Gedanken zu verbreiten. Das leicht entzündbare, aber charismatische Temperament seines Mitstreiters in Marburg, Hermann Cohen (1842–1918), war ihm fremd, und im Vergleich zum ständig herumreisenden Cohen, den die Kleinstadtatmosphäre Marburgs zu ersticken drohte, blieb Natorp lieber in eben dieser kleinen Universitätsstadt (von Gadamer im Rückblick liebevoll als „kleine Weltstadt des Geistes“ bezeichnet) und arbeitete im Stillen.
Die Rolle des äußerlich stoischen, aber leidenschaftlich arbeitenden Hochschullehrers hielt ihn jedoch nicht davon ab, öffentlich Stellung zu beziehen zu verschiedenen Themen und zu allerlei Fragen des Lebens, nicht nur universitären oder intellektuellen, und das durchaus auf kontroverse Weise3. Seine in Pamphlets und Zeitungen veröffentlichten zahlreichen Stellungnahmen betreffen etwa das Bildungswesen, hier vor allem die Frage nach der Reform und Umwandlung der dreistufigen Sekundarschulen in Gesamtschulen (welche er befürwortete), verschiedene Aspekte der Soziologie (Sozialpädagogik und „Sozialidealismus“) und die Innen- wie Außenpolitik des Deutschen Reiches. Schließlich äußerten sich seine Meinungen auch in den – unbestreitbar ärgerlichen – „Kriegsschriften“ während und nach dem ersten Weltkrieg, auch wenn Natorps Einlassungen fern von der ansonsten üblichen Kriegstreiberei seiner auch philosophierenden Zeitgenossen war4. Dass Natorp trotz des äußeren Erscheinungsbildes nicht in seiner Rolle als trockener Gelehrter aufgeht, zeigt sich schließlich in seinem erstaunlich umfangreichen Oeuvre als Komponist heiterer wie düsterer Klavier- und Gesangskompositionen im Stile der Romantik5. Dennoch ist Natorp in erster Linie als Vertreter der Philosophie der „Marburger Schule“ – der neben der „südwestdeutschen“ Schule bekanntesten Gruppierung des Neukantianismus in Deutschland – in Erinnerung geblieben.
Wenden wir uns also seinem philosophischen Werk zu, dessen Eigenleistung aber ohne Natorps institutionelle Einbettung nicht verständlich wird. So sind zunächst einige institutionspolitische Worte zur sogenannten „Marburger Schule“ angebracht. Natorp und Hermann Cohen stehen für die Eckpfeiler dieser Schule. Um was für eine Philosophie bzw. um was für eine Schule handelt es sich hierbei? Die Marburger Schule ist – neben der Südwestdeutschen oder Badener Schule – als eine der zwei Hauptrichtungen des Neukantianismus in die Geschichte eingegangen. Der Neukantianismus im Allgemeinen kann als die weithin verzweigte Bemühung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen werden, zu Kant zurückzukehren und seine Philosophie wiederzubeleben. Innerhalb dieser allgemeinen Tendenz ist die Marburger Schule um Cohen und Natorp die geschlossenste und einheitlichste Schulbildung, die sich in dieser Phase der europäischen Philosophie gebildet hat. Die Marburger Schule hat damit, als wahrhaft zu nennende Schule, das klarste philosophische Profil aller durchaus diversen Bemühungen, „zu Kant zurückzugehen“. Obwohl es zahlreiche „Satelliten“ dieser Schule gab – am Bekanntesten etwa Ernst Cassirer –, bestand sie doch im Wesentlichen aus Cohen und Natorp mit ihrem Schülerkreis in Deutschland und aus dem Ausland6. Innerhalb der „imperialen Stellung“ (Habermas), die der Neukantianismus in Deutschland genoss, stand die Marburger Schule aufgrund ihrer thematischen und systematischen Einheitlichkeit an oberster Stelle und wurde somit Vorbild für andere Bewegungen. Ihre institutionspolitische Bedeutung und Macht kann nicht hoch genug geschätzt werden, auch wenn sich Cohen und Natorp als im ständigen Kampf gegen ihnen widrig gesinnte Kräfte aller Couleur empfanden. So kämpfte Cohen z.B. gegen den weitverbreiteten Antisemitismus, der auch vor dem Innenleben deutscher Universitäten nicht Halt machte. Gerade deshalb galt die Geschlossenheit der Schule über alles: Der junge Martin Heidegger, aus der Schule von Husserls Phänomenologie kommend, wusste, warum er, als er 1923 nach Marburg ging, einen „Stoßtrupp“7 eigener Schüler mitnahm.
Natorp stand lange im Schatten des unbestrittenen, jedoch streitbaren „Schuloberhaupts“ Cohen, der jedoch schon 1912 die hessische Kleinstadt verließ, um in Berlin zu leben und zu wirken8. Dennoch war trotz Cohens Weggang die „Marburger Schule“ weiterhin ein klar identifizierbarer Name. Die Organisation als „Schule“ mit einem inhaltlich definierten philosophischen „Kern“ – in diesem Fall einer Methode, die von den Schülern weitergetragen und Anwendung erfahren sollte – ist paradigmatisch für spätere diverse „Schulen“ oder „Bewegungen“ geworden. Zum Beispiel hat sich in ähnlicher Weise auch die „Phänomenologische Bewegung“ organisiert – zumindest nach der Vorstellung Husserls –, bis hin zu anderen ähnlich organisierten Schulen wie etwa (nach dem Zweiten Weltkrieg) die „Erlanger Schule“ um Lorenzen und Kamlah oder die „Heidelberger Schule“ um Henrich und Tugendhat. Solche und ähnliche Bemühungen um Schulbildungen, ungeachtet aller philosophischen Binnendifferenzen, kann man mit Fug und Recht als Anlehnungen an die Marburger Schule ansehen, sowohl in Form als auch in Organisation.
Der (nicht rein) philosophische Schulterschluss zwischen Cohen und Natorp war jedoch ein delikater. Obwohl in den philosophischen Kernpunkten mit Cohen einig, war Natorp doch ein eigenständiger Kopf und in mindestens drei Hinsichten philosophisch breiter als Cohen. Erstens war Natorp ausgebildeter klassischer Philologe, der sich in der griechischen Philosophie ausgezeichnet auskannte und überhaupt über eine beeindruckende philosophiehistorische Kenntnis verfügte. In dieser Funktion publizierte er Studien über Platon, Descartes und andere Figuren der westlichen Philosophie, die auch heute noch – vor allem im Falle Platons – zum Standardrepertoire der Forschung gehören; es war auch auf diesem Gebiet, worin sich Natorp als erstes einen Namen als Forscher und Gelehrter machte. Zweitens musste sich Natorp aufgrund der Zuweisung seiner Professur, die neben der Philosophie auch die Pädagogik abdeckte, in letztere einarbeiten und beschäftigte sich in dieser Kapazität vor allem mit dem Reformpädagogen Pestalozzi. Sein Interesse an universitäts- und schulpolitischen Fragen rührt daher. Drittens hatte Natorp ein besonderes Interesse für Psychologie, wie aus dem vorliegenden Buch hervorgeht. In diesem Gebiet lag Natorps besondere Originalität.
Die Frage einer Psychologie ist insofern eine Abweichung von Cohen, als dieser eine Psychologie im Rahmen der Philosophie – die natürlich in gut neukantianischer Manier Transzendentalphilosophie sein musste – nicht nur für problematisch hielt, sondern, ständig eine Einlassung auf den Psychologismus vermutend, heftig gegen sie wetterte. Freilich vertritt auch Natorp alles andere als einen Psychologismus, aber während es für Cohen keine Alternative zu einer psychologistischen – also reduktiven und damit zum Skeptizismus führenden – Betrachtung des Bewusstseinslebens gab, sah Natorp eine Chance für eine neuartige Psychologie „nach kritischer Methode“, also im Rahmen des Kantianismus der Marburger Schule. Natorp war sich bewusst, dass er hierin mit Cohen uneins war; die schulpolitische Zusammenarbeit jedoch übertrumpfte einen öffentlich ausgetragenen Dissens, und Natorp war klug genug, den äußerlichen Frieden zu wahren. Die eigentliche Provokation, die von Natorps AP ausging, wurde ironischer Weise von ihrem Autor selbst heruntergespielt.
Abgesehen von dieser Abweichung von der Hauptlinie der Marburger Schule war Natorp über alle Maßen linientreu: Parallel zu den Schriften zur Psychologie, die Natorp seit seinen Anfängen in Marburg verfasste, veröffentlichte er zu den Kernthemen der Marburger Schule – zu dem, was man heute als Wissenschaftstheorie bezeichnen würde –, sowie zur Logik anderer Kulturgestalten, etwa Ästhetik und Religionsphilosophie. Das theoretische Hauptwerk in dieser Hinsicht ist seine Schrift Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften (1910, 2. Aufl. 1921), die Cohens wissenschaftslogisches Programm einlöst, aber der aktuellen Wissenschaftsentwicklung seiner Zeit ungleich näher als Cohen selbst stand9. In seiner Schriftkomposition klarer und weniger ausschweifend als Cohen, war Natorp damit in besonderer Weise für die Breitenwirkung der Philosophie der Marburger Schule verantwortlich. Diese Tätigkeit als Popularisierer kommt vorläufig im Jahre 1911 zum Abschluss, als Natorp die kleine Schrift Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme veröffentlicht. Sie ist die einzige richtige Programmschrift des gesamten Neukantianismus10. Die Zeit zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist die Blütezeit der Marburger Schule.
Die Allgemeine Psychologie, die 1912 folgt und eigentlich „nur“ eine Neuauflage des kurzen Büchleins Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode von 1888 sein sollte, wächst aber im Vergleich zu dieser früheren Schrift auf über das Dreifache an und bildet, zumindest nach dem im Vorwort angekündigten Programm von 1912, ein neues, mehrere Bände umfassendes Projekt, von dem die AP lediglich der erste, einführende Band ist. Während Natorp im Kontext der Schule mit Cohen Schulter an Schulter steht, reift hier ein neues Interesse heran, dem Natorp im letzten Jahrzehnt seines Lebens zunehmend Zeit und Denkenergie widmet; ein Projekt, welches ihn über das, was traditionell den Namen „Psychologie“ trägt, weit hinausführt, wie unten (4. & 5.) diskutiert wird. Obwohl Natorp es im Blick auf die Schulgemeinschaft wohl nie zugegeben hätte, hat nicht zuletzt auch Cohens Weggang aus Marburg 1912 dazu beigetragen, ihn philosophisch freier atmen zu lassen. So traut sich Natorp etwa, seine Gedanken öffentlich in seinen Vorlesungen vorzutragen, und er diskutiert sie auch offenbar in seinen letzten Lebensjahren mit dem der Marburger Schule kritisch gegenüberstehenden Martin Heidegger.
Zu der von ihrem Autor selbst angekündigten Ausführung dieses Programms einer kritischen Psychologie kommt es allerdings nicht. Was als Neubeginn eines neuen Projekts gedacht war, entpuppt sich in Wahrheit als ein Anhieb zu Natorps Spätphilosophie, die zu neuen Ufern aufbricht und die mitunter als Abschied vom Neukantianismus im Stile der Marburger Schule angesehen wird. Entgegen ihrer Präsentation, als Beginn eines neuen Projekts, ist die AP in Wahrheit also das Werk eines Übergangs. Dieser Einschätzung der Natorp’schen Spätphilosophie als Abschieds vom Kantianismus, der sich im Nachlassmanuskript Allgemeine Logik sowie in den beiden Werken Vorlesungen über praktische Philosophie (1925) und Philosophische Systematik (von 1923, posthum 1954 erschienen) manifestiert, ist grundsätzlich zuzustimmen. Die systematische Position, die Natorps Spätwerk einnimmt, ist schwer zu bestimmen; ein Standpunkt im Rahmen des Kantianismus ist es sicher nicht, insofern sich Natorp über die Kantische Grundbestimmung der Transzendentalphilosophie, nicht über die Grenzen möglicher Erfahrung hinauszugehen, hinwegsetzt. Natorps Denkweg beginnt mit dem nüchternen Projekt der Rechtfertigung – ganz in Einklang mit Cohen – der exakten Wissenschaften und endet in einer Form von Mystizismus, der das „ewige Ja“11 zum Sein zelebriert. Es ist jedoch ein Denkweg, der in einer erstaunlich konsequenten Weise und stets in nüchterner Selbstrechtfertigung und transparenter Selbstkritik seitens eines Denkers auf höchstem Niveau seines Könnens erfolgt.
Gehen wir im Folgenden auf die Philosophie der Marburger Schule und das Natorp’sche Projekt einer Psychologie „nach kritischer Methode“ im Rahmen dieser Schule ein.