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3. Der Komödiant
ОглавлениеGraham Greene machte zwar immer wieder seinen Widerwillen gegen die Korruption in Haiti deutlich, schrieb empörte Briefe an Zeitungen zum Thema Haiti und sogar selbst einen Zeitungsartikel, aber die »Albtraum-Republik«, wie er sie nannte, war eigentlich perfekt für ihn. Als Reisender bevorzugte er Albtraum-Republiken gegenüber gesunden Demokratien, wenngleich die Wahl seiner Wohnorte dann doch auf bessere Gegenden fiel: die Insel Capri, ein schickes Viertel in Paris und Antibes. Er zog 1966 nach Südfrankreich, als Steuerflüchtling, im Jahr der Veröffentlichung von Die Stunde der Komödianten.
An den Wänden seiner Wohnung in Antibes hingen wertvolle Gemälde der haitianischen Künstler Salnave Philippe-Auguste und Rigaud Benoit. Auch Brown, der Erzähler in Die Stunde der Komödianten, besitzt Gemälde dieser Künstler. Brown beschreibt die makabren Details des Bildes von Philippe-Auguste und fügt dann hinzu: »Wo auch immer dieses Bild hing, dachte ich, würde ich mich Haiti nahe fühlen.« Greene muss diese Nostalgie unter den feinen Leuten in Antibes empfunden haben. Aber er war ja keineswegs der erste Schriftsteller, der sich mit bildender Kunst und Gourmetrestaurants umgab, um dann Horrorgeschichten zu schreiben. Viele seiner Nachbarn, die sich am Bücherschreiben versuchten, taten genau das Gleiche. Die ordentliche und saubere Côte d’Azur ist genau der richtige Ort, um nostalgie de la boue hervorzurufen, die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wobei boue, der Matsch, in diesem Fall (wieder mit den Worten Greenes) ein »schäbiges Land des Terrors« ist.
Greene reiste 1954 zum ersten Mal nach Haiti. Er ging immer wieder zurück, bis ein Dutzend Jahre später Die Stunde der Komödianten die Wut des Präsidenten Haitis, François »Papa Doc« Duvalier, auf sich zog. Dass Schriftsteller in repressiven Regimen verboten werden, kommt häufiger vor, aber welcher andere Autor wurde je als Gast eines Landes von dessen Staatsoberhaupt persönlich angegriffen mit einer Rezension seines Buches, weil er das Land als Schauplatz für einen Roman gewählt hatte? Greene gab vor, verärgert zu sein, aber seine Freude über Papa Docs Streitschrift »Graham Greene: Finally Exposed« (Graham Greene: Endlich entlarvt) war unverkennbar; es ist klar, dass Greene den Angriff als Ehrung begriff.
Haiti schien ihm auch durch den Einfluss der USA verdorben. Duvaliers Regime gab es, so Greenes Einschätzung, nur aufgrund der Unterstützung durch die US-Regierung. Für Greene, der in Interviews gerne mit antiamerikanischen Bemerkungen provozierte, war das nur zusätzliche Motivation. (1960 fragte ihn ein französischer Journalist: »Was missfällt Ihnen an der Zivilisation der Gegenwart?« Greenes Antwort: »Amerika.«) Die US-Regierung erwiderte die Abneigung. Nach Greenes Tod wurde bekannt, dass das FBI ihn vierzig Jahre lang beobachtet hatte und seine Aufenthaltsorte und provokativen Aussagen in Geheimberichten festhielt.
Obwohl er als Auslandsberichterstatter unterwegs war und über Krisen in Vietnam, Malaya und Afrika berichtete, war Greene eigentlich kein geborener Journalist, da er für die andauernde Plackerei, die Warterei und die täglichen Artikel nicht den Nerv hatte. Er erwähnte oft, dass er Journalisten nicht mochte. Die Form, die ihm am meisten lag, war der gedankenreiche Essay. Er war auf der Suche nach tiefergehenden Erfahrungen, nicht nach Scoops. Im Allgemeinen waren seine Reportagen nicht besonders herausragend. So schrieb er seinen Artikel über Haiti nicht als Berichterstattung über Neuigkeiten oder als Erzählung über große Ereignisse, sondern eher als eine Art Stimmungsgemälde. Dieses Porträt eines kleinen, elenden Landes mit dem Titel »Nightmare Republic« wurde 1963 im Londoner Sunday Telegraph veröffentlicht, drei Jahre vor Erscheinen des Buches Die Stunde der Komödianten. (Im Roman macht er sich über genau diese Art von Journalismus lustig und zitiert sogar abfällig den Titel seines eigenen Artikels). Für jeden, der Greenes persönliche Einstellung zu Haiti verstehen möchte – im Gegensatz zu seiner scheinbaren Unparteilichkeit als Romanschriftsteller –, ist dieser Text sehr aufschlussreich.
Von den ersten Sätzen an, in denen ein Houngan, ein Voodoo-Priester, einem Huhn den Kopf abbeißt, bis zu den Beschreibungen der Armut und des Verfalls, der Gewalt und des Terrors, ist offensichtlich, dass viele Details allein aufgrund ihrer Drastik Eingang in den Text fanden. »Irgendein seltsamer Fluch lastete auf den befreiten Sklaven von Hispaniola«, schreibt Greene und fährt fort: »Sie leben in der Welt von Hieronymus Bosch.« Der erste Eindruck beim Lesen solcher Sätze ist die Überraschung darüber, dass Greene angeblich Journalismus nicht mochte, sind sie doch Beispiele für die reißerischsten Exzesse des Boulevards.
Aber »Nightmare Republic« enthält auch subtilere Stellen. Relativ früh im Text schreibt Greene: »In Terrorregimes herrscht oft auch die Atmosphäre einer Farce«, und man ahnt sofort, dass es die Farce ist – die Absurdität des Bösen –, die Greene attraktiv findet. Von Papa Doc zeichnet er das Bild eines Tyrannen, eines Folterers, eines Betrügers und Voodoo-Anhängers und eines Teilzeit-Gespensts. »Baron Samedi, in Frack und Zylinder, der auf Friedhöfen herumgeistert mit Zigarre und dunkler Brille, verbringt seine Tage, so glauben einige, im Präsidentenpalast, und sein anderer Name ist dort Dr. Duvalier.«
Greene zählt die verschiedenen farcenhaften Seiten auf – die leeren Hotels, die exzentrischen Gerüchte, die tyrannischen Posten an den Straßensperren. »Alles kann passieren, jederzeit und überall.« In der Kathedrale von Port-au-Prince wird die Messe gefeiert, aber »wenn der exkommunizierte Präsident einmal in die Messe geht, kommen die Tontons bewaffnet mit Maschinenpistolen und suchen sogar hinter dem Altar«. Und »selbst der religiöse Konflikt wird zu einer Art böser Farce«. Im Kampf gegen Voodoo forderte ein prominenter Bischof, dass Voodoo-Amulette eingesammelt werden sollten, und »man warf ihm vor, das Land seiner archäologischen Schätze zu berauben«.
Der Handel liegt darnieder, die Landwirtschaft ist am Boden, selbst die Rebellion ist gescheitert. »Jeder ist eine Art Gefangener in Port-au-Prince.« Hunger ist die Regel. »Es ist unmöglich, bei der Armut in Haiti zu übertreiben.« Und als Greene sich fragt, ob es Hoffnung für dieses »schöne und verteufelte Land« gibt, scheint ihm nichts einzufallen, was dafür spräche, außer dass »haitianischer Stolz nie unterschätzt werden« sollte. Nach Greenes verheerender Darstellung dieses verlorenen Ortes kommt man nicht umhin, sich zu fragen: Stolz auf was?
Entwaldet, voller Slums, tyrannisiert, ausgebeutet, geschändet, gespalten und im Krieg mit sich selbst, und ein Schrecken für die Menschen, die dort leben, ist Haiti für Greene ein Geschenk. Als regelmäßiger Besucher sah er, wie es sich über die Zeit mehrerer Regime veränderte, und vielleicht gelangte er beim Schreiben des Artikels »Nightmare Republic«, in dem er das Land als Apotheose des Scheiterns darstellte, zu der Überzeugung, dass man es am besten im Roman abbilden könne. In Die Stunde der Komödianten trägt Haiti viele Züge, die er auch in dem Artikel beschrieb, und die Stimmung des Essays beherrscht auch den Roman, die dunkle Mischung aus Terror und Farce.
Greene entwarf und schrieb Die Stunde der Komödianten, als er gerade in einer Lebenskrise steckte. Er hatte durch die Misswirtschaft seines Buchhalters einen schweren finanziellen Rückschlag erlitten. Er hatte beschlossen, nach Frankreich zu ziehen, unter dem Vorwand gesundheitlicher Probleme, tatsächlich aber, um der Steuer zu entkommen. Wegen seiner finanziellen Notlage nahm er wieder, wie schon früher im Leben, Aufträge für Texte des Geldes wegen an. Er hatte seine Verbindungen zu England abgebrochen, sein Haus in London verkauft und eine Bestandsaufnahme seines Liebeslebens gemacht. Er hatte sich in eine verheiratete Frau verliebt, die in Frankreich lebte. Obwohl sie verheiratet blieb, und er auch (wenngleich seine Ehe praktisch seit fünfundzwanzig Jahren vorbei war), konnte er in Südfrankreich mit ihr zusammen sein. Er war Anfang sechzig, nicht so wohlhabend wie früher, entwurzelt und unruhig.
Diese Umstände gehen in das Buch ein. Alles an Die Stunde der Komödianten ist krisenhaft: der Schauplatz, die verfallende Republik Haiti, und genauso die Figuren, von denen jede vor einem unlösbaren Problem steht. Es ist ein Roman der Unsicherheiten. Haiti ist ohne Hoffnung, die Haitianer sind ohne Hoffnung. Es gibt keine Lebensmittel. Die Regierung ist parasitär und repressiv. Nichts funktioniert. Was gibt es noch zu tun? Nun, es gibt Sex – das funktioniert. Es gibt den Glauben – Voodoo hat seinen Reiz, und für die Katholiken sitzt Gott oben in seinem Himmel und verspricht Erlösung. Es gibt die Liebe – allerdings nicht besonders viel von ihr. Es gibt die Komödie – eine ganze Menge davon; auf sie wird nachdrücklich bestanden. Die Tragödie ist der Farce ziemlich nahe, schrieb Greene einmal. Wenn alles andere scheitert – und es ist ein Roman, in dem alles andere scheitert –, bleibt immer noch das Lachen.
Von Beginn an scheint keine der Figuren wirklich der oder die zu sein, die sie zu sein scheinen. Auf dem Frachtschiff Medea nach Haiti erweisen sich die wenigen zahlenden Passagiere alle als Verstellungskünstler, im großen und kleinen Maßstab. »Die Erscheinungen liegen in uns«, lautet eine Verszeile des dem Buch vorangestellten Mottos. Wer diese Menschen sind, stellt sich im Laufe des Buches heraus. Mit einem Wort, so tragisch oder gebeutelt sie auch erscheinen mögen, fast alle sind Komiker.
Der erste Absatz ist einer der besten Romananfänge Greenes, indem er die gesamten Ambiguitäten des Buches mit einer Art gespielter Eloquenz vorführt. Er konzentriert sich ganz auf Jones, der offenkundig ein Lügner, Opportunist und Schmeichler ist, mit einem Talent zur Verdunklung. Angeblich ist die Figur lose dem Buchhalter nachempfunden, der Greene in finanzielle Schwierigkeiten gebracht hatte. Greene schreibt im Vorwort, dass sein Vorbild für Mr. und Mrs. Smith ein liebenswürdiges amerikanisches Paar gewesen sei, das er auf einer seiner Reisen kennengelernt hatte – sie waren kunstinteressiert und hatten es sich zum Anliegen gemacht, Kunst in die Klassenzimmer Haitis zu bringen. Das ist nicht uninteressant, und Kunstunterricht mag auch ein sinnvolleres Anliegen sein als die Besessenheit der Smiths von der Idee des Vegetarismus. Wenn man aber Vegetarier in der Geschichte hat und es sich um eine dunkle Komödie handelt, lassen sich auch abgepackte vegetarische Mahlzeiten mit Namen wie Barmenol und Hefrol unterbringen, die Greene offenbar sehr amüsant fand.
Die Figur des Petit Pierre beruht auf einem lausbübischen Journalisten und Lebemann aus Port-au-Prince namens Aubelin Jolicœur – zumindest rühmte der sich damit in einem Interview, und es scheint Ähnlichkeiten gegeben zu haben. Browns Hotel, das Trianon, war einem wirklichen Hotel mit dem Namen Oloffson nachempfunden, das genauso leer und heruntergekommen und überladen mit Verzierungen war. Das Bordell heißt Mère Catherine, und Catherine hieß auch die Frau, die Greene geliebt und verloren hatte, bevor er nach Frankreich zog. Greene hatte die Angewohnheit, in seinen Büchern Insiderwitze zu machen. Aber haben diese Entsprechungen zu Greenes Leben irgendeine Bedeutung? Meiner Meinung nach nicht.
Die Reise mit der Medea ist eine wunderbar ausgedehnte Episode mit Hinweisen und Charakterzeichnungen, die für Spannung sorgen. Greene schrieb selten über Situationen an Bord von Schiffen, lediglich in Gesetzlose Straßen gibt es noch eine Schiffsreise in Mexiko. Die Medea mit ihren dichtbevölkerten Kajüten und ihren Späßen ist eine Art sonniger Prolog zur Dunkelheit, die in Haiti folgen wird. Die Isolation einer Überfahrt auf dem Meer ist perfekt als Szene für Enthüllungen und für den Kitzel, um Zweifel zu säen und die Handlung des Buches vorzubereiten. Die zentralen Figuren werden vorgestellt. Sie heißen schlicht Smith, Jones und Brown, und Greene scheint ihre Namen als eine Art Scherz zu verwenden, wie am Anfang der Erzählung eines längeren Witzes: »Okay, es gab mal drei Männer – Smith, Jones und Brown …«
Der Roman gehört nicht zu Greenes besten und ist auch keines seiner ihm liebsten eigenen Bücher gewesen (zu denen beispielsweise Die Kraft und die Herrlichkeit und Der Honorarkonsul gehörten), aber es ist eines seiner für ihn typischsten Bücher, mit vielen seiner Stärken und Schwächen. Die Handlung ist schnell erzählt. Brown kehrt zurück zu dem heruntergekommenen Hotel, das er von seiner schlampigen Mutter geerbt hat. Jones ist in ein Abenteuer verwickelt. Die Smiths sind missionarische Vegetarier und waren früher Teilnehmer der Freedom Rides in den Südstaaten, Idealisten der Bürgerrechtsbewegung Ende der 1950er Jahre. Mr. Smith war 1952 als Kandidat bei der Präsidentschaftswahl angetreten, Hauptanliegen seiner Kampagne war der Vegetarismus.
Nach der Ankunft in Port-au-Prince scheinen die Figuren zunächst ihrer Wege zu gehen, aber da es ein kleines und inzestuöses Land in einer politischen Krisenzeit ist, kreuzen sich schon bald wieder ihre Wege. Nachdem die Leiche eines Haitianers, Dr. Philipot, in Browns leerem Swimmingpool gefunden wird, offenbar ein Selbstmord, tauchen die Figuren verschiedener Haitianer auf: die dauertratschende Nervensäge Petit Pierre, der schulmeisterhafte Dr. Magiot, Hauptmann Concasseur (französisch für »Dampfwalze«) und die brutalen Tontons Macoute. Obwohl er selber nicht auftritt, ist die Figur des Papa Doc ständig präsent. Brown ist durchweg zynisch; der Idealismus der Smiths wird auf die Probe gestellt; Jones erweist sich als der ultimative Opportunist, was sein Verderben ist. Die zentralen Orte der Handlung und Treffpunkte sind Browns Hotel und Mère Catherines Bordell. Man erfährt, dass Dr. Philipot sich die Kehle durchgeschnitten hat, um den Tontons Macoute zu entkommen. Nach der Teilnahme an einer Voodoo-Zeremonie, die Greene direkt aus seinem Zeitungsartikel entnommen hat, werden Philipots Sohn und Browns Mitarbeiter zu Rebellen. Um den aufschneiderischen Jones von seiner Geliebten zu entfernen, lockt Brown ihn in die Guerilla-Opposition. Die Rebellion scheitert, aber Jones wird ihr Held. Browns Liebesaffäre endet. Die Smiths brechen wieder auf, trauriger, aber weiser. Brown wird am Ende Leichenbestatter. Haiti bleibt wie es war.
Von Beginn der Reise an denkt der unablässig selbstreferenzielle Brown (seinen Vornamen erfährt man nicht) über seine Wurzellosigkeit nach, passend zum Element des Meeres. Paradoxerweise erkennt er – je bewusster er sich dessen wird – immer klarer seine Ähnlichkeit mit Jones. »Vielleicht ist er wie ich und weiß nicht, wohin er sonst gehen soll«, sagt Brown. »Ich teile die Welt in zwei Kategorien ein: die Fatzkes und die Flittchen«, sagt Jones und fügt hinzu, dass er sich selbst zu den Flittchen zähle. Was lächerlich klingt, bis wir erfahren, dass Flittchen sich dadurch auszeichnen, dass sie sich durchzuschlagen wissen, auf der Hut sind, die Ohren spitzen und Sachen aufschnappen und so über die Runden kommen, eine Beschreibung, die auch auf Brown zutrifft. Auch wenn Jones’ Humor ihn von Brown unterscheidet, teilen die Charaktere gewisse Ähnlichkeiten. Jones wird sogar ein Hausfreund von Browns Geliebter Martha, der deutschen Frau eines südamerikanischen Botschafters. Als eine Frau, die ihre Affären hat, dabei aber mit ihrem nachsichtigen Ehemann verheiratet bleibt, ist Martha eine Standardfigur aus Greenes fiktivem Repertoire. Zu Browns Verärgerung findet Martha in Jones einen amüsanteren Gefährten als Brown mit seiner unablässig düsteren Stimmung.
Jones ist »Ausländer« und offenbart am Ende des Romans, dass er halb indischer Abstammung ist, und behauptet, ein britischer Kriegsheld zu sein. Er ist ein Mann mit einer dunklen Vergangenheit und darum bemüht, sie in seinen Lügengeschichten zu verschleiern. Brown ist genauso nachdrücklich ein Mann ohne Herkunft, der, als er von Jones’ Abstammung erfährt, sagt: »Es war, als begegne man einem unbekannten Bruder.« Jones wurde in Assam geboren, Brown in Monaco: »Das ist beinahe so, als wäre man Staatsbürger von Nirgendwo.« An einer anderen Stelle sagt Brown: »Kein Bereich der Erde [hat] mir die Heimat ersetzt.«
»Ich hätte niemals in dieses Land kommen sollen, ich war ein Fremder«, sagt er auch. »Meine Mutter hatte sich einen schwarzen Liebhaber genommen, sie hatte sich auf das alles eingelassen, aber ich wusste seit Jahren nicht mehr, wie man sich auf irgend etwas einlässt. Irgendwie, irgendwo hatte ich die Fähigkeit, an etwas Anteil nehmen zu können, völlig eingebüßt.«
Über sich als Hotelier in seinem leeren Hotel auf Haiti sagt er: »Ein stärkeres Band fühlte ich hier in diesem schäbigen Land des Terrors, vom Zufall für mich erwählt.« Nur versteht man nie, worin diese Bindung Browns an das Land bestehen soll. Er war ja sogar nach New York gefahren, um sein Hotel zu verkaufen, auch wenn er begreiflicherweise keinen Käufer fand.
Eine Eigenschaft, die der entwurzelte Brown nicht erwähnt, ist seine gewaltige Egozentrik. Immer um das eigene Wohl bemüht, denkt er obsessiv nur an sich selbst. Man fragt sich, warum Brown sich ausgerechnet in dieser desolaten Diktatur aufhält, da seine Ichbezogenheit ihn davon abhält, sich auf das Drama Haitis einzulassen und daran teilzunehmen. Einen Grund, warum er dort lebt, deutet Brown zumindest an, dass nämlich der Vorteil der Heimatlosigkeit darin bestünde, dass man »leichter erträgt, was auch kommt […] Wir haben nichts anderes erwählt, als nur weiterzuleben, ›rundum der Erde Tageslauf, mit Fels und Stein und Baum‹«.
Aber mit diesen Worten Wordsworths wird er als leidenschaftsloser Beobachter zu einem Unbeteiligten. Seine Sorgen sind flüchtiger Natur. Die Dinge stoßen ihm zu; er handelt nicht. Ist das eine Form von Existenzialismus? Nein, es ist Egotismus.
Brown hat keine Loyalitäten zu enthüllen; Jones ist ein Egotist des Verschleierns. Doch Jones’ Prahlerei wirkt auf andere so überzeugend, dass er zum Handeln gezwungen ist. Als Brown ihn in die Falle lockt und zwingt, Farbe zu bekennen, ist seine Verwandlung vom Aufschneider zum Guerillaführer der Lohn für den Witz seines Imponiergehabes. Von allen Komödianten des Romans ist Jones der komischste. Es ist unmöglich, dieses Motiv zu übersehen – dass der Terror die Farce hervorbringt. »Das Leben war eine Komödie und nicht die Tragödie, auf die ich vorbereitet worden war«, denkt Brown an Bord der Medea, als es um seinen Glauben an Gott geht, »und mir schien, als würden wir alle auf diesem Schiff […] von einem gebieterischen Possenreißer bis an die äußerste Grenze der Komödie getrieben.«
Man braucht Humor, um an Gott zu glauben, sagt er, aber Humor ist auch auf Haiti nützlich. Humor tritt an die Stelle des Engagements: die Smiths sind Witzfiguren wegen ihres Vegetarismus und ihrer Ideale, Jones wegen der Zwickmühle, in die er sich bringt. Was ist aber mit den Haitianern? Sie sind guter Dinge, zählen aber im Grunde nicht, da es ein Roman über Europäer ist, die in einer heillosen Tyrannei auseinanderfallen, kein Roman über die Not Haitis. Haiti ist die grässliche Kulisse für die Darstellung von Untreue, Selbstzweifeln, häuslichen Tragödien und den Anmaßungen ausländischer Opportunisten.
Jede Figur wird irgendwann im Laufe des Romans als Komödiant oder Komödiantin beschrieben. Browns extravagante Mutter mit ihren Schulden und Täuschungen und Liebhabern ist eine von ihnen. »Ich wusste sehr wenig von ihr«, sagt Brown, »doch genug, um eine erstklassige Komödiantin in ihr zu erkennen.« Als Mr. Smith sagt: »Wir erscheinen Ihnen vielleicht ein wenig als komische Figuren, Mr. Brown«, widerspricht Brown zwar und sagt, er empfinde sie vielmehr als heroisch, findet aber in Wirklichkeit den Vegetarismus, die Präsidentschaftskandidatur und die Freedom Rides ziemlich albern. Die Smiths sind typische Amerikaner – Witzfiguren, Gegenstand des Gelächters. »Ich bin keine Komödiantin«, sagt Martha, wenngleich ihr Mann einwirft: »Vielleicht ist sogar Papa Doc ein Komödiant.« Als Brown das erste Mal Hauptmann Concasseur bei Mère Catherine begegnet, hält Concasseur ihm eine kleine Rede über den Humor, in der er sagt: »Sie haben Humor. Ich schätze Humor. Ich bin für Scherze. Sie haben ihren Wert in der Politik. Scherze sind ein Ventil für die Feigen und Machtlosen.«
Jones’ Komik ist seine Rettung. Jones bringt Martha zum Lachen; die Prostituierte bei Mère Catherine (ein weiteres Ärgernis, sie ist eine von Browns Lieblingsprostituierten: »Im Alter gibt man alten Freunden den Vorzug, sogar in einem Bordell.«) findet ihn lustig; als Führer der Rebellen ist er darum beliebt: »Die Leute liebten ihn. Er brachte sie zum Lachen.« Eine der wenigen wirklich lustigen Episoden im Buch ist die, als Jones von einem Schiff flieht, verkleidet als Frau. Er zieht es mit einem Elan durch, der nahelegt, dass er womöglich schon einmal in einer solchen Situation war. Er benutzt Rasierpuder als Make-up und trägt einen schwarzen Rock mit einer spanischen Bluse.
»›Am Fuß des Fallreeps‹, sagte er dem Zahlmeister, ›müssen Sie mich küssen. Das wird mir auch helfen, mein Gesicht zu verbergen.‹
›Warum küssen Sie nicht Mr. Brown?‹, fragte der Zahlmeister.
›Er bringt mich doch nach Hause. Es würde nicht natürlich wirken. Sie müssen sich vorstellen, dass wir einen Abend miteinander verbracht haben, wir drei.‹
›Was für eine Art Abend?‹
›Einen ganz toll ausgelassenen Abend‹, sagte Jones.
›Kommen Sie mit Ihrem Rock zurecht?‹, fragte ich.
›Natürlich, alter Freund.‹ Er fügte geheimnisvoll hinzu: ›Das ist nicht das erste Mal. Unter ganz anderen Umständen natürlich.‹«
Später, als uns mehrfach mitgeteilt wird, dass Jones’ unter Plattfüßen leidet, assoziiert man den watschelnden Gang zunehmend mit dem eines Clowns. Eine Grundannahme des Buches ist, dass die Komödie zwar sinnlos ist, aber wenigstens das Elend lindert. »Wir gehörten der Welt der Komödie und nicht der Tragödie an«, sagt Brown über sich und Martha. An einer früheren Stelle wehrt sich Martha dagegen, auch als Komödiantin zu gelten, aber Brown kommt zu dem Schluss, dass sie sich vielleicht »als der beste Komödiant von uns allen erwies«. Bei allem Gerede über die Komödie (und es gibt mehr Gerede über die Komödie als ihre tatsächliche Vorführung) erscheint die Liebesaffäre zwischen Brown und Martha weder komisch noch tragisch, sondern missmutig, leidenschaftslos, sexuell grob und geprägt von Eifersucht, Missverständnissen, Uneindeutigkeiten und Ressentiments. Es ist das Ende einer Affäre, das Nachlassen des Begehrens.
Als »halb-verbunden« bezeichnet Brown seine Liebesbeziehung zu Martha, und seine Beschreibung der Affäre gibt einen Einblick in die haitianische Welt des Romans. Ihr Leben als Liebespaar sei einmal wichtig gewesen, aber »schien jetzt ausschließlich zu Port-au-Prince zu gehören, zu dem Dunkel und Schrecken des Ausgehverbots, zu den Telefonen, die nicht funktionierten, zu den Tontons Macoute mit den schwarzen Brillen, zu Gewalttat, Ungerechtigkeit und Tortur«.
Aber indem er behauptet, dass die gescheiterte Liebesaffäre zum Zerfall Haitis passe, romantisiert er den ihr zugrundeliegenden Egoismus und setzt zugleich die Not der Millionen von Haitianern herab. Und er dramatisiert die Unordnung, ohne dieses gewöhnliche Wort zu verwenden; die verworrene Liebesaffäre findet ihre Entsprechung im Chaos und der beiläufigen Gewalt Haitis. Gut, und jetzt? Weil die Liebesaffäre an den Rändern eines viel größeren Chaos stattfindet, erfahren wir zu viel über Erstere und zu wenig über Zweiteres. Eines der Probleme des Romans ist, dass Greene – und sein Sprachrohr Brown – uns nie verständlich machen, warum wir uns für diese kleinlichen, humorlosen, egoistischen, untreuen und unzufriedenen Liebhaber interessieren sollten. Es reicht nicht, einfach zu sagen, dass wir alle Komödianten sind; der Punkt ist nicht bewiesen, wenngleich sich einige der Figuren in einem direkteren, grausameren Sinne wie Narren verhalten.
Ganz am Ende des Buches gesteht Brown, dass er sich innerlich leer fühle. Leser von Greenes Romanen sind mit diesem Geständnis bereits vertraut. Brown beneidet alle, die an etwas glauben oder von etwas überzeugt sind – Dr. Magiot beneidet er für seine politische Überzeugung. »Ich hatte mich nicht nur zur Liebe unfähig gefühlt […], sondern auch zur Schuld.« Das ganze Buch hindurch klingt Brown wie sediert, und selbst der Sex ist freudlos. »Ich stürzte mich in den Genuß, wie ein Selbstmörder sich aus dem Fenster stürzt«, sagt er über seinen Sex mit Martha. Sein eigentliches Problem mit Martha besteht seiner Ansicht nach darin, dass er keinen Humor hat, oder, wie er es ausdrückt, er »die Kunst des Lachens« nicht gelernt habe. Am Ende bewundert er schließlich Jones für seinen Humor, und dafür, dass er letztlich ein Mann der Tat wurde, also nicht nur ein vollendeter Komödiant blieb, sondern auch ein Held wurde. Der Roman beginnt mit einer Erinnerung an Jones und endet mit Browns Traum von ihm. Jones ist fraglos die zentrale Figur des Buches; das Problem ist nur, dass bei der Beschreibung der Schlichtheit Jones’ die Kompliziertheit Browns in die Quere gerät.
Greene sprach offen darüber, dass er Haiti nur oberflächlich kennengelernt hatte. In einem Zeitungsinterview von 1968 mit einem jungen und offensichtlich ehrfürchtigen V.S. Naipaul, sagte Greene: »Die politische Situation [in Die Stunde der Komödianten] ist korrekt beschrieben. Aber ich glaube, dass mein Wissen über das tägliche Leben und die Bräuche in Haiti oberflächlich war.« (Er fragte Naipaul auch spitz: »Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie geschrieben haben?«). Es ist wahr, die Textur des haitianischen Lebens wird nicht dargestellt. Und das Fehlen eines Augenzeugenberichts über den Aufstand macht den Roman lau. Das Ereignis, das der Höhepunkt der Erzählung ist, stottert irgendwo im Hintergrund herum, ohne zu überzeugen, berichtet in Versionen aus zweiter und dritter Hand, wie Szenenanweisungen bei Shakespeare (»Alarm. Fanfaren der Trompeten. Die Armeen treffen aufeinander.«), und es kommt kein einziges Gefecht vor. Wir müssen dem Autor einfach vertrauen, dass sich irgendwo hinter der Grenze zur Dominikanischen Republik bewaffnete Widerstandsgruppen gegen Papa Doc organisieren.
Die Schriftsteller, die Greene am meisten beeinflusst haben (sagte er), waren die Autoren von Büchern mit Spannung und Abenteuern – Anthony Hope, der Kipling von Kim und »Der Mann, der König sein wollte« – und er wurde nie müde, Marjorie Bowens Der Tyrann von Mailand (1906) zu loben. Umso seltsamer ist es, dass er nie selbst versucht hat, Spannung und Abenteuer zu schreiben und sich für gewöhnlich mit Zusammenfassungen begnügte. In Die Stunde der Komödianten, dessen Handlung während des Versuchs eines Aufstandes spielt, gibt es keinen Schusswechsel und im Grunde auch keinen Aufstand. Statt Action gibt es hier das Reden über Action. Das Buch besteht aus einer Serie von Epigrammen und Quasi-Epigrammen.
»Gewaltsame Tode sind hier natürlich«, sagt der sentenziöse Dr. Magiot. »Er starb an seiner Umgebung.« Und noch mal Magiot: »Hierzulande kann es einem Zeugen genauso schlecht ergehen wie dem Angeklagten.« Brown sagt: »Ein unschuldiges Opfer sieht fast immer schuldig aus«, »Sogar bei den Tapferen schläft der Mut vor dem Frühstück« und über Petit Pierre: »Er besaß den Mut und den Humor der Besiegten.« Oder: »Gewalt kann der Ausdruck von Liebe sein, Gleichgültigkeit niemals.« Und: »Der Tod ist ein Beweis für Aufrichtigkeit.« Diese Beobachtungen nimmt Greene als Ausgangspunkt für seine Ausführungen, aber über jede lässt sich streiten. In dem Roman wird die Republik des Aufstands und der Unruhen zu einer Republik des Redens, und die wortreichen Prätentionen verleihen dem Buch eine statische Qualität.
Und doch hat das Buch eine unverwechselbare Autorenstimme. Dieser Roman kann nur von Graham Greene geschrieben worden sein: eine zum Scheitern verurteilte Liebesaffäre in einem rückständigen Ort, die Ausführungen über den Glauben und insbesondere den Glauben an Prinzipien, das verfallende Hotel, das muntere Bordell, die starken Drinks – das alles ist Greene. Die Idee einer »Mätresse« fällt mir als veraltet ins Auge, und in gewisser Weise auch die Diskussionen über den Glauben an Gott. Auch ein Haiti ohne Aids gehört der Vergangenheit an. Seereisen, auf denen anzügliche Witze gerissen werden, sind Vergangenheit. Der Roman wurde vor nur gut vierzig Jahren geschrieben und wirkt bereits altmodisch.
Greene hätte wahrscheinlich nicht zugestimmt, aber die Fremdheit solcher Details macht auch einen Teil seines Reizes aus, da die Welt sich verändert hat und die Welt, über die Greene schrieb, verschwunden ist. Aber Greene hat Haiti zugänglich gemacht, ihm durch sein Buch eine sichtbare Landschaft verliehen – und indem er Papa Doc dämonisierte, dem armseligen Diktator überirdische Bedeutung (»Baron Samedi spukte auf allen unseren Friedhöfen herum.«) beimaß. Nach dem Tod von Papa Doc übernahm sein Sohn, der wegen seiner Fettleibigkeit und Dummheit »Korbkopf« genannt wurde, bis er durch einen Putsch abgesetzt wurde. Ein paar weitere Putsche später (es gab etwa dreißig in Haiti) wurde bei den ersten freien Wahlen des Landes ein Präsident gewählt.
Ich schreibe dies im März 2004, dem Jahr, in dem Haiti das zweihundertjährige Bestehen des Landes feiert. 1791 zog Haiti gegen sich selbst in den Krieg in dem berühmten Sklavenaufstand unter der Führung von Toussaint Louverture und seinem Kameraden Boukman (der ein Voodoo-Houngan war). Das Ergebnis war die Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1804. Zweihundert Jahre später ist Haiti wieder als Albtraumrepublik in den Nachrichten: Unruhen in den Straßen von Port-au-Prince, Chaos in den Provinzstädten, Tausende von Toten und – wie in Die Stunde der Komödianten – Haitianer in Gefahr, die Zuflucht in ausländischen Botschaften suchen. Der gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide verkündete aus dem Exil, dass er von US-Marines entführt und gegen seinen Willen nach Afrika geflogen worden sei. Es wurde ein Übergangspräsident eingesetzt. Ein Rebellenführer, bekannt für seine Gräueltaten als Anführer haitianischer Todesschwadronen, bringt sich derzeit in Stellung, um das nächste haitianische Staatsoberhaupt zu werden.
»Haiti war keine Ausnahme in einer sonst vernünftigen Welt: es war eine kleine Scheibe Alltäglichkeit, auf gut Glück abgeschnitten.« So muss es vor vierzig Jahren gewirkt haben. Es gibt Länder, die Haiti ähneln. Politische Geographen haben die Zahl auf etwa fünfundvierzig geschätzt, die meisten von ihnen in Afrika, Albanien gehört dazu, ebenso Afghanistan. Sie werden als Failed States bezeichnet. Manche waren früher Kolonien oder Königreiche oder Provinzen größerer Republiken, Länder die durch Bodenschätze oder Anbauprodukte, für die es heute keinen Bedarf mehr gibt, wohlhabend geworden waren. In Haiti wurden 1780 sechzig Prozent des weltweiten Kaffees angebaut. Gegenwärtig gibt es dort kaum noch Kaffeesträucher oder sonstige Arten von Sträuchern: Der Brennstoffbedarf Haitis hat zu seiner Abholzung geführt. Es ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.
Als Failed State hat Haiti wenig Hoffnung auf finanzielle Unabhängigkeit oder politische Stabilität und scheint dazu verdammt zu sein, einer der Slums der Welt zu bleiben. Greene verstand, dass Haiti ein Ort voller Probleme war – er hatte ein Gespür für solche Orte –, und entschied sich in den frühen 1960er Jahren, über das Land zu schreiben, als der Vietnamkrieg die Nachrichten beherrschte. Von so großem Wert ist Die Stunde der Komödianten weder aufgrund ihrer Theologie (ein jansenistisches Traktat, wie einige Kritiker es genannt haben) noch ihrer Philosophie, auch nicht ihrer Handlung. Das Buch liest sich wie ein ausgedehntes Stück Selbstkritik. Und auch wenn es von einem Mann geschrieben wurde, der behauptete, nicht viel über den Ort zu wissen, besteht sein größter Wert doch wohl in der Beschreibung des Schauplatzes. Greenes obsessive Liebe zu diesem Ort mit seiner ganzen grausamen Komik wirkt echt, auch wenn das aufgeführte Stück es nicht tut. Haiti hatte keine Erzählliteratur – und kaum ein Gesicht –, bis Greene dieses Buch schrieb.
(2004/2014)