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Werte und Gemeinschaft

Das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft eines Industriestaates wie Deutschland vollzieht sich heute in weitgehend friedlichen und reibungslosen Bahnen.

Möglich geworden ist dies durch organisatorische Strukturen, die sich im Laufe der Jahrhunderte, ja sogar der Jahrtausende allmählich herausgebildet und als nützlich erwiesen haben. Sie bestimmen die kulturellen Eigenarten, die sich in Staaten wie Deutschland, Frankreich, Spanien oder Schweden entwickelt haben. Zunächst als Notwendigkeit des Überlebens, abhängig von der Besonderheit des Klimas, der Verfügbarkeit von Tieren, dem Reichtum der Flüsse, Seen, Meere, der Beschaffenheit des Bodens in der Tiefebene oder im Gebirge, im Wald oder in der Steppe. Und weiter als Notwendigkeiten des sozialen Lebens in Architektur, Musik, den bildenden Künsten und der Sprache, der Literatur.

Dem einzelnen Menschen, der freiwillig oder gezwungen sein Leben aus einem Land in ein anderes, von einem Kontinent in einen anderen verlegt, gelang es früher und gelingt es auch heute aus einer organisatorischen Struktur in eine andere hinüber zu wechseln. Er wird sich den neuen Umständen anpassen und sich irgendwann auch heimisch fühlen. Je größer allerdings eine Menschengruppe ist, die sich geschlossen aus einer herkömmlichen Sozialkultur in eine andere, ihr fremde begibt, umso schwieriger wird der Übergang sein. Die alten Regeln des Miteinanders lassen sich von einzelnen Menschen ablegen. Sie haften einer Gruppe umso stärker an, je mehr Mitglieder sie hat. Je größer ihre Anzahl, umso mehr trägt die Gruppe die herkömmlichen Strukturen mit sich. Letztlich sind diese Strukturen der organisatorische Ausdruck von Grundwerten, die sich in der Auseinandersetzung mit der Natur und im Umgang mit anderen Menschen herausgebildet haben.

Es waren kleine Gemeinschaften mit vielleicht 60 bis 70 Personen, wie sie heute noch in Australien existieren, die in großer – bis zu Hunderten von Kilometern – weiter Entfernung zur nächsten Gemeinschaft lebten. So groß musste der Radius sein, um aus der kargen Natur genügend Lebensmittel zu gewinnen. Isoliert waren diese Gemeinschaften nicht. Dort, wo sich ein Fenster in ihre Lebenswelten öffnete, zeigten sich bereits früh weiträumige Verbindungen. Waren, wie Salz und Werkzeuge, die aus einem nur lokal vorhandenen Naturstoff gefertigt werden konnten, fanden den Weg über weite Entfernungen. Der Austausch verlangte sprachliche Verständigung. Bis in die jüngste Zeit und Gegenwart beherrschten die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft neben der Sprache des eigenen Clans noch mehrere andere Sprachen, die ihnen den regelmäßigen Kontakt mit den entfernt lebenden Nachbarn ermöglichten. Sollte er über lange Zeiten geordnet ablaufen, dann standen Leistung und Gegenleistung, Geben und Nehmen in einem komplexen Verhältnis zueinander.

Es entstanden Normen, die nicht allein innerhalb der eigenen Gemeinschaft die Partnersuche, den Umgang mit Jungen und Alten und die Übertragung von hierarchischer Herrschaftsmacht bis hin zum Konsum des an Lebensmitteln Verfügbaren regelten. Die Bildung von organisatorischen Strukturen, also einer Kultur, die das Überleben sicherte und das einigermaßen friedliche Miteinander von Generation zu Generation ermöglichte, erforderte eine Intelligenz für das Erforderliche und das Mögliche, die dem Beobachter aus dem «aufgeklärten» Europa lange Zeit verborgen blieb.

Ferdinand Tönnies hat in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft im Jahre 1887 als erster eingehend das Wesen solcher sozialen Verbünde als «Gemeinschaft» und die daraus später hervorgegangene Struktur der «Gesellschaft» beschrieben. Eine Gemeinschaft, so seine Definition, kann eine Gemeinschaft des Blutes, also von Verwandten sein. Es kann eine Gemeinschaft des Ortes sein, also in enger Nachbarschaft Lebender, und es kann eine Gemeinschaft des Geistes sein, also derer, die weder verwandt sind noch nahe beieinander leben, aber sich dennoch in Freundschaft verbunden fühlen. Hier sollen nur die beiden ersten Arten, verwandtschaftliche und nachbarliche Gemeinschaften, betrachtet werden.

In der familiären Clan-Struktur und auch dort, wo mehrere Familien oder Clans eine Gemeinschaft bildeten, kannte jeder jeden. Jedem war bewusst, wie er sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hatte. Um zu überleben, bildeten sich Normen des guten Verhaltens und Tabus des gefährlichen, also schlechten Verhaltens heraus. In diesen Normen und Verboten äußerten sich die Grundwerte der Gemeinschaft. Wer gegen die Werte verstieß, dem war bewusst, dass er Bestrafung zu erwarten hatte, entweder von einem Clan-Chef mit entsprechenden Machtbefugnissen oder von einer Clan-Versammlung.

So fanden es die europäischen Siedler, als sie in Nord-Amerika nach Westen vordrangen, noch bei den Anishinabe-Indianern im Nordwesten vor. Der Fortbestand ihrer Gemeinschaft beruhte auf drei Säulen: Gleichbesitz, Nicht-Aggressivität und Vorgaben für die Partnerwahl zwischen den einzelnen Totem-Gruppen. Wer gegen diese Werte verstieß, musste sein Vergehen vor der Stammesversammlung offen darlegen und dort auch die Strafe empfangen. Auf diese Weise wussten schon die kleinen Kinder, die an diesen Versammlungen teilnahmen, welche Verhaltensweisen gefragt und welche geächtet waren.

Im Vordergrund stand der gemeinsame Zugriff auf die Ressourcen der Natur, sei es zu Lande oder zu Wasser; Privatbesitz war hier unbekannt. Die aus der Natur gewonnenen Lebensmittel wurden geteilt. Das Wirtschaften war arbeitsteilig, Frauen und Männer gingen getrennten Aufgaben nach; den Alten und den Jungen kamen unterschiedliche Pflichten zu. Die Ergebnisse allen Wirkens sollten allen gleichermaßen zugutekommen. Solch egalitärer Anspruch stieß freilich immer dann an seine Grenzen, wenn der Kräftigere, der Klügere, der Ehrgeizigere mehr ansammeln konnte als der geistig oder körperlich Schwächere.

Die Anishinabe begegneten der steten Gefahr, dass solcher Mehrbesitz langfristig zu Ungleichheiten führen könnte, in ähnlicher Weise wie andere vormoderne Gemeinschaften nicht nur auf dem nordamerikanischen Kontinent. Nach der Erntezeit begann der verbindliche Wettstreit der Schenker. Jeder schenkte der Gemeinschaft so viel von den geernteten Ressourcen wie er konnte, und wer am meisten geschenkt hatte, der erhielt für das kommende Jahr befristet eine vorrangige Herrschaftsstellung. Im nächsten Herbst endete dieser Vorrang und wieder entschied der Wettstreit der Schenker über die Hierarchie der nächsten zwölf Monate. So wurde Jahr für Jahr materieller – und damit möglicherweise langfristig anhaltender Vorteil – in immateriellen und zum Jahresende wieder vergänglichen Vorteil umgewandelt.

Die Kultur der Anishinabe war in dem Moment zum Untergang bestimmt, als Europäer ihnen die Vorteile des individuellen Besitz- und Gewinnstrebens darlegten; als sie die Anishinabe darüber aufklärten, dass es keine Sünde sei, sich eine Frau eigener Wahl ohne Rücksicht auf die komplizierten Clanstrukturen zu nehmen und dass ein gehöriges Maß an Aggressivität im Sinne einer Konkurrenz durchaus sinnvoll sei.

An manchen Orten der Welt konnten kleinere Stammesgemeinschaften bis in die jüngere Zeit ihre traditionellen Lebensweisen bewahren. Die allgemeine Entwicklung verlangte jedoch nach größeren Verbünden und bewirkte damit den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft.

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