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EU als europaweite Vergesellschaftung

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Der Weg in die Gesellschaft als politische Struktur, die das Zusammenleben von Fremden als notwendig, sinnvoll und daher wünschenswert ansieht und durch entsprechende staatliche Institutionen ordnet, wird in der Türkei nicht eingeschlagen. Auch das muss im Grunde als innerstaatliche Eigenart betrachtet werden. Dennoch ist der türkische Weg allgemein wichtig aus zumindest zwei Gründen. Da ist zum einen das von der Türkei eröffnete und von manchen westlichen Politikern geförderte Aufnahmeverfahren in die EU. Hier muss man sich fragen, ob die Türkei Europa-«gesellschafts»-fähig ist. Die EU ist die nach den Nationalstaaten logische nächsthöhere Ebene der Vergesellschaftung.

Nicht nur aus deutscher Sicht hat die Nationalstaatlichkeit ihre Grenzen erreicht. Die verschiedenen Stufen der Vergesellschaftung in Deutschland, ob es die Gründung des Norddeutschen Bundes war, dann die Gründung des Deutschen Reiches, waren stets notwendig, um die kontinuierliche Ausweitung existenzsichernder Handelsbeziehungen in feste politische Strukturen einzubinden. Jede neue, höhere Ebene der Vergesellschaftung bedeutete, dass immer größere bisherige «Gemeinschaften» mit eigenem komplexem Innenleben gezwungen waren, den kontinuierlichen Umgang mit den bislang Fremden, vielleicht sogar vormals feindlich gesinnten Nachbarn als Normalität anzusehen und durch Institutionen zu stabilisieren, die über den Teil-Gemeinschaften standen. Die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Beziehungen zwischen den ehemaligen «Erzfeinden» Deutschland und Frankreich, von der Montan-Union bis zu einer gemeinsamen Deutsch-Französischen Brigade ist eines der schönsten Beispiele für diese Entwicklung. Sie wurde zur Keimzelle der europäischen Einigung. Der Verlust bisheriger Souveränität war in dieser Dynamik stets inbegriffen.

Und nun die EU. Sie bildet im europäischen Raum die höchstmögliche Ebene der Vergesellschaftung. Die bis zum erfolgreichen Brexit-Referendum britischer Wähler am 23. Juni 2016 28 und in Zukunft nur noch 27 EU-Mitglieder nehmen auf dieser Ebene die Rolle von «Gemeinschaften» ein, die den Umgang mit den einzelnen, zuweilen höchst unterschiedlichen übrigen «Gemeinschaften», also den mehr oder weniger «Fremden», als vorteilhaft ansehen. Die enge Verbindung mit den Nachbarn ist wiederum der Ausweitung des Handels geschuldet, und – so die Erwartung – sie ist für alle Teilnehmer von Nutzen, wenn sie bereit sind, die Spielregeln zu befolgen, die der «Vergesellschaftung» bereits von der niedrigsten Ebene an zugunde lagen. Diese Spielregeln verlangen, dass alle Beteiligten ihre eigenen Partikularinteressen ein Stück weit zurückzustellen und sich unter neutrale, übergeordnete Instanzen begeben, die darauf angelegt sind, das Vertrauen aller zu genießen.

Die Gründung der EU ist ungleich komplizierter als die Schaffung früherer Ebenen der Vergesellschaftung. Der Norddeutsche Bund, das Deutsche Reich – die «Gemeinschaften», die dort zusammenfanden, man denke an die Animositäten etwa zwischen Preußen und Bayern, waren nicht zu vergleichen mit der europaweiten Zusammenführung von unterschiedlichen Völkern wie der Finnen mit den Italienern, der Balten mit den Portugiesen, selbst der Deutschen mit den Franzosen. Die europäischen Nationalstaaten in einer neuen, übergeordneten «Gesellschaft» zusammenzuführen, ist deshalb so schwierig, weil einige Staaten intern, auf der eigenen, niederen «Gesellschafts»-Ebene, noch nicht die Stabilität im Zusammenleben ihrer eigenen Teil-«Gemeinschaften» erreicht haben. Die sollen sie aber nun auf der nächsthöheren Ebene einbringen und mittragen, auf der sie zukünftig als Nationalstaat den Status einer «Gemeinschaft» unter vielen einnehmen.

Die Situation ist insbesondere dort nicht dem Ideal nahe, wo die «Vergesellschaftung» – zumeist bereits vor Jahrhunderten – nicht durch Einsicht aller Beteiligten in das gesteigerte Gemeinwohl auf höherer Ebene zustande kam, sondern durch einseitige Machtansprüche und Herrschaftsausübung. Ein solches historisches Erbe spiegelt noch heute die Lage auf dem Balkan wider, wo noch 1995 mit dem Massenmord an 8000 bosnischen Muslimen durch bosnische Serben – der jüngste Völkermord in Europa – das althergebrachte Ziel einer ethnisch-religiösen Homogenität eines Territoriums angestrebt wurde. Eine harmonische Eingliederung der dort lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften in ein Staatswesen, das in eine gesamteuropäische Gesellschaft überführt werden könnte, ist momentan kaum vorstellbar.

Nicht mit vergleichbar gewalttätigen Auseinandersetzungen, aber ebenfalls mit enormen inneren Spannungen belastet, ist die Situation in Großbritannien und Spanien. Dort sind die Wunden der Schotten und der Katalanen nie völlig verheilt, und der Drang, sich aus der «Gesellschaft» Großbritannien bzw. Spanien zu lösen, findet immer wieder neue Anhänger.

Die Zustimmung der Bevölkerung in Großbritannien zu einem Referendum am 23. Juni 2016, die EU zu verlassen, wurde vornehmlich durch die Wähler in England entschieden; die Schotten und die Nord-Iren bewiesen in ihrem Wahlverhalten mehrheitlich ein anderes Interesse. Es könnte sein, dass das Vereinigte Königreich an dieser Frage zerbricht. Den Wunsch der Engländer – und hier insbesondere der älteren Bürger – die EU zu verlassen, haben Beobachter nicht zuletzt in dem Unwillen eines Großteils der Bevölkerung begründet gesehen, eine wachsende Zahl von Fremden, in erster Linie osteuropäische Arbeitsmigranten, in ihr Land zu lassen.

Die Bildung der Europäischen Union, die selbstverständlich mit der Freizügigkeit aller ihrer Bewohner einhergehen sollte, gerät hier mit der Erkenntnis einer einheimischen Bevölkerung in Konflikt, dass die nationale Eigenart – man könnte auch sagen: die ethnische und kulturelle Reinheit – über ein akzeptables Maß hinaus gefährdet ist und unwiderruflich zerstört wird. Die emotionale Belastung eines Teils der englischen Bevölkerung angesichts des Drucks, nach Millionen von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien nun auch Hunderttausende Migranten aus (Ost-)Europa aufnehmen zu müssen, entlud sich – durchaus verknüpft mit noch anderen Zweifeln am Sinn einer weiteren Mitgliedschaft – in dem Ausgang des Brexit-Referendums und ist ein deutlicher Hinweis darauf, wie schwierig es ist, eine «Gesellschaft», bestehend aus den europäischen Staaten zu erschaffen.

Manch einer hätte vermuten können, dass die vielen muslimischen Bürger in Großbritannien für den Austritt aus der EU gestimmt haben, da sie mit den Grundwerten der Europäischen Union nach allen Umfragen wenig gemein haben. Das Gegenteil war der Fall. Für einen Verbleib in der EU haben prozentual weit mehr Muslime gestimmt als Angehörige christlicher Glaubensbekenntnisse.1 Der Grund für dieses Verhalten ist aufschlussreich und verweist auf die mangelnde innerbritische Gemeinschaftsbildung der unterschiedlichen Religionsgruppierungen. Die Anführer der großen muslimischen Verbände in Großbritannien hatten ihre Mitglieder dazu aufgerufen, für einen Verbleib zu stimmen. Sie fürchteten, im Falle eines Austritts Großbritanniens aus der EU den Schutzschirm der EU zu verlieren, der sich noch immer positiv auf die Situation fremdkultureller Einwohner in den EU-Ländern auswirkt.2

In der EU ist diese Dynamik der Vergesellschaftung nicht durch einseitige Machtausübung, sondern durch einen freiwilligen Entschluss der beteiligten Staaten zustande gekommen. Dieser Prozess befindet sich zurzeit noch in einer Phase, in der diejenigen Institutionen langfristig angelegt werden, die von allen Mitgliedsstaaten als neutrale Mittler und Anwälte des Gemeinwohls akzeptiert sind. Anders als im Falle des Deutschen Reiches, dessen Gründung als Zusammenschluss deutscher Kleinstaaten ein einmalig abgeschlossener Vorgang war, hat die EU seit ihrem Bestehen kontinuierlich neue Mitglieder aufgenommen, und zwar Mitglieder unterschiedlichster Eignung für eine gesamteuropäische «Vergesellschaftung». Folglich musste auch die Bildung der neutralen, übergeordneten Institutionen kontinuierlich den neuen Verhältnissen angepasst werden.

Entscheidend für das Gelingen einer Gesellschaft in diesem Sinne ist das Vertrauen in übergeordnete Institutionen. Das sind in der EU der Europäische Gerichtshof ebenso wie Europol, die Kommission ebenso wie die Bürokratie in Brüssel, die EZB ebenso wie das Europäische Parlament oder die gemeinsamen Streitkräfte und andere mehr. Die im September 2015 von führenden Politikern der europäischen Linken initiierte Kampagne eines «zivilen Ungehorsams» gegenüber der Europäischen Kommission ist nur einer der vielen Hinweise darauf, dass die EU noch weit davon entfernt ist, übergeordnete Institutionen geschaffen zu haben, die von allen Beteiligten als dem Gemeinnutz dienend anerkannt werden.

Das Misstrauen, das von den europäischen Nachbarn insbesondere dem Koloss Deutschland in ihrer Mitte entgegengebracht wird, ist verständlich. Die Bilder der Vergangenheit lassen sich nicht so schnell aus den Köpfen verdrängen. Ob die Deutschen «den Italienern» und «den Griechen» vertrauen, auch das ist nicht ganz gewiss. Wolfgang Schultheiß, ein ehemaliger Botschafter Deutschlands in Griechenland, und sein Kollege im Auswärtigen Amt, Ulf-Dieter Klemm, haben im Jahre 2015 einen seriösen Sammelband mit zahlreichen Beiträgen veröffentlicht, die die Ursachen des griechischen Dilemmas ausleuchten. Die dort ausgebreiteten Informationen, zum Beispiel über das seit der Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich gestörte Staatsverständnis und den lange Zeit sehr hilfreichen Klientelismus, sind nicht geeignet, das Vertrauen deutscher Leser des Buches in die europäische Integrierbarkeit dieses Landes zu stärken.3 Damit die Europäische Union zu einem Erfolg wird, ist nicht notwendigerweise das Vertrauen eines jeden Mitglieds in jedes andere Mitglied erforderlich. Unabdingbar dagegen ist das Vertrauen aller «Gemeinschaften» in die Neutralität der Institutionen der «Gesellschaft» Europa.

Je besser die einzelnen Teilnehmerstaaten als Gesellschaften auf der Ebene unterhalb der EU ihre eigenen Hausaufgaben hinsichtlich der Ordnung im Zusammensein der ihnen innewohnenden Gemeinschaften erledigt haben, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Fähigkeit zu Souveränitätsaufgabe und Kompromissbildung auch auf die nächsthöhere Ebene mitbringen. Dass innerhalb eines Staates noch Aversionen zwischen einzelnen Gruppen und Ethnien bestehen, ist kaum zu vermeiden und muss den Erfolg der Vergesellschaftung zur EU nicht gefährden. Problematisch wird es dann, wenn eine nationale Regierung, gestützt auf den mehrheitlichen Wählerwillen, die Anforderungen an die Vergesellschaftung in Frage stellt.

Hier nun kommt der oben angedeutete Zustand der Türkei in den Blick. Die Türkei zeigt sich bisher nicht für die EU gesellschaftsfähig. Die von der Mehrheit der türkischen Bevölkerung legitim in demokratischen Verfahren gewählte Regierung geht den entgegengesetzten Weg zur Vergesellschaftung. Sie strebt die Schaffung einer Gemeinschaft der Islamisten an. Die Bezeichnung Islamisten ist hier gerechtfertigt, da die Politik der Durchsetzung eines Alleingeltungsanspruchs des Islam den Weg bahnt. Jedes Kind in der Türkei ist in der Schule gezwungen, am sunnitisch-islamischen Religionsunterricht teilzunehmen; eine Alternative ist nicht erlaubt.

Doch selbst wenn sich in der bisherigen EU diejenigen durchsetzen werden, die die Türkei als nicht europatauglich ansehen und diesem Land die Mitgliedschaft in der EU verwehren, wird sich der innere Zustand des Landes und die Mentalität seiner Bevölkerung auch auf die innere Situation in Deutschland und in anderen Mitgliedsstaaten der EU auswirken. Der Grund liegt in der großen Anzahl von Menschen, die die islamistische Regierungspolitik in der Türkei unterstützen, die nach Deutschland einwandern und die hier in einer Weise aktiv werden, die dazu beiträgt, dass auch in Deutschland die Struktur einer «Gesellschaft» im beschriebenen Sinne beschädigt wird. Dass sich in deutschen Grundschulen türkische Kinder weigern, neben kurdischen Kindern die Schulbank zu drücken, ist zwar ein bedauerliches, aber noch nicht allzu besorgniserregendes Anzeichen für die überregionalen Auswirkungen der Abgrenzungspolitik in der Türkei auf Deutschland.

Vor diesem Hintergrund verdient der Fall einer türkisch-stämmigen Muslima im Mai 2015 in Berlin Beachtung, die für ihr juristisches Referendariat einen Antrag stellte, in eine hoheitlich tätige Behörde aufgenommen zu werden und im Dienst ihr Kopftuch zu tragen. Das wurde ihr zunächst verwehrt, weil das Berliner Neutralitätsgesetz das Tragen religiöser Symbole im Zuge einer Ausübung hoheitlicher Aufgaben nicht gestattet. Ein Kompromiss sollte es der jungen Frau ermöglichen, gleichsam ungesehen von der Öffentlichkeit Referendarstätigkeiten auszuüben, auch ohne das Kopftuch abzunehmen. In der öffentlichen Diskussion zeigte ein türkisch-stämmiger Politiker der Partei DIE LINKE Unverständnis für die Abweisung der Frau. Er verband seine Kritik mit der Forderung, auch Gläubigen weiterer Religionen das sichtbare Tragen ihrer religiösen Symbole im hoheitlichen Bereich zu erlauben. Nachdem ein Berliner Gericht am 8. Februar 2017 das Land Berlin zu einer Zahlung von knapp 9 000 Euro «Schmerzensgeld» an eine Muslima verurteilt hatte, die wegen ihres Kopftuchs nicht zum Schuldienst zugelassen worden war, unterstützte der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Forderung und ließ verlauten, er hoffe, dass nun das Neutralitätsgesetz insgesamt auf den Prüfstand komme4. Inzwischen, im Jahre 2020, hat er mit eigenmächtigen Entscheidungen, das Kopftuch für Rechtsreferendarinnen zuzulassen, das Gesetz de facto ausgehebelt.

Andere Politiker, unter anderem die Berliner Senatoren für Inneres und Schulen, beide von der SPD, zeigten Verständnis für die strikte Befolgung des Berliner Neutralitätsgesetzes. Ein Verfassungsrechtler wies auf die verschiedenen Grundrechte hin, die hier zusätzlich berührt seien, insbesondere die Freiheit der Berufswahl und die Freiheit der Religionsausübung.

Worum geht es? Zum einen um den Erhalt der «Gesellschafts»-Struktur. Sie besteht darin, dass unterschiedliche Gemeinschaften, das sind insbesondere religiöse und explizit-nichtreligiöse Gruppierungen, innerhalb eines politischen Gemeinwesens einigermaßen friedlich zusammenleben können. Da ist zum anderen die Frage, ob ein Kopftuch als religiöses Symbol mit dem christlichen Kreuz vergleichbar ist.

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