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Vorwort

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Familie ist der engste Zusammenhalt von Menschen; er ist naturgegeben. Gemeinschaft gründet auf gegenseitigem Vertrauen. Eine Gesellschaft ist durch den aus Vernunft erwachsenen dauerhaften Umgang mit Fremden gekennzeichnet. Was aber ist eine «Nation»? Was ist ein «Volk» innerhalb staatlich vorgegebener Grenzen? Kann ein «Volk» eine Gemeinschaft bilden? Oder ist die Bevölkerung eines Landes bestenfalls eine Gesellschaft?

Eine Familie folgt anderen Regeln als eine Gemeinschaft. Eine Gesellschaft folgt anderen Regeln als eine Gemeinschaft. Von einem «Volk» als Familie zu sprechen, würde das Bild der Familie überstrapazieren. Aber von einer «Volksgemeinschaft» ist in der Vergangenheit die Rede gewesen. Dieser Vergleich beinhaltete, mehr oder weniger explizit, den Anspruch, in einer solchen Volksgemeinschaft sei keiner dem anderen ein Fremder, in einer solchen Volksgemeinschaft existiere gegenseitiges Vertrauen und – als sichere Konsequenz – auch Solidarität.

Tatsächlich war das Bild der «Volksgemeinschaft» von Anfang an eine idealisierende Wunschvorstellung, zumindest für ein so künstliches Gebilde wie das «deutsche Volk», genauer gesagt: die Bevölkerung in Deutschland.

Die Bevölkerung in Deutschland bildet eine «Gesellschaft». In Deutschland leben innerhalb geografisch bestimmter Grenzen unterschiedlichste Bevölkerungsteile, die sich vielfach einander fremd sind. Es sind Individuen, die in Familien oder Gemeinschaften seit eh und je hier leben oder aber erst vor kurzem nach Deutschland zugezogen sind. Sie sind unterschiedlichen Weltanschauungen und Kulturen verbunden. Sie sind durch eine Verfassung, durch Gesetze und aus sonstigen Gründen gezwungen, miteinander auszukommen. Dieses Miteinander-Auskommen ist ein andauernder Balanceakt. Der Blick in die eigene Geschichte und in die Vergangenheit und Gegenwart anderer Staaten zeigt, wie prekär der Zustand eines Miteinander-Auskommens stets ist und welche Gruppeninteressen ihn dauerhaft gefährden.

Dieses Buch handelt von der Belastungsprobe, der sich sowohl die Bevölkerung als auch die Politiker Deutschlands seit geraumer Zeit ausgesetzt sehen. Es geht um die Frage, wieviel Heterogenität, wieviel ethnische und kulturelle Vielfalt eine Gesellschaft verkraften kann, ohne auseinanderzubrechen.

Viele Faktoren spielen hier eine entscheidende Rolle. Dazu zählt in Deutschland, sicherlich mehr als in anderen Ländern, der dunkle Schatten der Geschichte, der immer noch jede gesellschaftliche Entwicklung und Entscheidung bewusst oder unbewusst beeinflusst und auf unabsehbare Zukunft beeinflussen wird.

Die Bevölkerung Deutschlands ist seit der Gründung eines Staates unter diesem Namen nicht nur kulturell, sondern auch ethnisch vielfältig gewesen. Diese Vielfalt, dieses Eindrucks kann sich kaum ein Beobachter entziehen, nimmt seit einigen Jahren stetig zu. Insbesondere die Öffnung der Grenzen im Jahre 2015 hat eine Herausforderung an die Politik und jeden Einzelnen erkennbar werden lassen, sich darüber Gedanken zu machen und möglicherweise zu strukturellen Veränderungen beizutragen, die der wachsenden ethnischen und kulturellen Vielfalt gerecht werden.

Die folgenden Seiten beleuchten die neue Situation aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Blick richtet sich nicht nur auf die Gegenwart und die Vergangenheit Deutschlands. Deutschland liegt in Europa und die Ereignisse in Deutschland sind eng verknüpft mit dem Bemühen, Europa über die historische kulturelle Verbundenheit hinaus zu einer politischen Einheit zu führen. Damit ist auch die Einbindung nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas in globale Entwicklungen angesprochen. Die territoriale und politische Souveränität einzelner Staaten ist zunehmend internationalen und globalen Verpflichtungen und Zwängen ausgesetzt, die sich auf die innere Verfasstheit dieser Staaten auswirkt.

Der Titel des hier vorgelegten Essays lautet «Umbruch». Er verweist darauf, dass Deutschland sich in einem tiefgreifenden Übergang befindet, der nicht als Alleingang stattfindet und bewerkstelligt werden kann. Der Untertitel «Deutschland auf dem Weg in eine neue Identität» verdeutlicht noch einmal, worum es geht. Es gibt Kräfte, die an einer wie auch immer willkürlich definierten, althergebrachten Identität festhalten möchten. Für sie ist es offensichtlich, dass eine Zukunft ohne diese Identität bedrohliche Schatten vorauswirft. Es spielen in dieser Übergangsphase andere Kräfte mit, denen die Entwicklung zu mehr Vielfalt sinnvoll, erfreulich oder auch schlicht unausweichlich erscheint und die eine harmonische Zukunft erwarten, wenn man nur mit Vernunft die anstehenden Probleme angeht.

Genau hier zeigt sich ein Defizit. Eine Identität, sei es das Selbstbewusstsein eines jeden Einzelnen oder aber die Sicht einer größeren Gruppe von Menschen auf sich selbst, ist nicht allein mit Vernunft und Fakten zu erklären. Ein gefühlter Identitätsverlust berührt zutiefst die Emotionen der Beteiligten. Diese Emotionen lassen sich nicht so einfach durch Vernunft und Fakten beruhigen und in eine von außen gewünschte Richtung lenken. Eine Argumentation, die sich über die Emotionen der Beteiligten hinwegsetzt und nur auf Vernunft und Fakten gründet, ist zum Scheitern verurteilt.

Letztlich geht es um die Frage, ob das so wichtige Vertrauen der Bürger untereinander und die vielen Menschen so wichtige Solidarität in der zunehmend heterogenen Gesellschaft erhalten bleiben werden. Oder müssen die Menschen dieses Landes Abschied nehmen von liebgewordenen Vorstellungen des Miteinanders und sich auf neue Formen gesellschaftlichen Lebens einstellen? Wie können Tradition und Wandel in Einklang gebracht werden?

Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen wäre verfrüht. Aber die Komplexität der Herausforderung in Betracht zu ziehen, das darf von allen Beteiligten eingefordert werden.

Berlin, Februar 2021

Paul U. Unschuld

Umbruch

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