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National ganz ohne Hymne
Wir erinnern uns an folgende Begebenheit, die sich seit Jahren vor jedem Länderspiel der Mannschaft des Deutschen Fußballbundes wiederholt: Die Spieler stehen angespannt auf dem Platz. Die Nationalhymnen werden gespielt. Die Fernsehkamera gleitet vor den Spielern entlang, die in wenigen Minuten für Deutschland Tore schießen oder im eigenen Netz verhindern sollen. Die Gesichter erscheinen in Großaufnahme. Der eine bewegt die Lippen, der andere nicht. Mit Sicherheit bewegen diejenigen ihre Lippen nicht, die im heutigen Sprachgebrauch einen Migrationshintergrund haben. Sie schauen starr nach vorne. Sind vielleicht mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe. Sie wissen, dass sie von Millionen beobachtet werden. Mitsingen können sie nicht. Wie auch: «Deutschland, einig Vaterland» passt nicht. Da bleiben sie stumm – und das ist auch gut so.
Deutschland ist nicht das Vater- oder Mutterland derer, die in der Türkei, in Kroatien oder den USA geboren wurden, auch nicht, wenn sie von Müttern und Vätern in Deutschland auf die Welt gebracht wurden, die aus allen möglichen Ländern nach Deutschland gekommen sind, hier einen deutschen Pass erworben haben, und deren Kinder nun auf die eine oder andere Weise zum Wohlstand oder aber auch, mit umsichtigem Fußballspiel, zum Wohlbehagen der Bevölkerung beitragen. Einige mögen sich nach ein, zwei Generationen tatsächlich als Deutsche fühlen. Ihr ethnischer Hintergrund mag verblassen. So ist es in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder geschehen. Auch die Tilkowskis, die Juskowiaks, die Szymanskis und andere, die im 19. Jahrhundert aus Osteuropa nach Deutschland einwanderten, haben sich nach ein, zwei, spätestens drei Generationen hier heimisch gefühlt – als Deutsche. Und doch ist die Situation heute eine andere.
Der Optimismus, die Einwanderer nach wenigen Jahrzehnten als Deutsche integriert zu sehen, ist fragwürdig. Dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zum einen die Anzahl. Es sind eben nicht mehr nur Hunderttausende, die wie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Polen in das Ruhrgebiet kamen, um dort zu arbeiten – es sind Millionen, mehrere Millionen. Die Integration kann nicht mehr so reibungslos wie früher vor sich gehen. Die Zugewanderten, und die größte Gruppe stellen bekanntlich die Türken, können sich assimilieren, können sich integrieren, können erleben, wie ihre Kinder sich mit deutschen Einheimischen verheiraten und allmählich Deutsche werden – aber das ist nicht mehr die Regel. Die große Zahl der Ankömmlinge und die unterschiedlichen Motive der Einwanderung lassen einen immer größeren Teil darauf vertrauen, dass sie in einer Parallelgesellschaft, mit oder ohne deutschen Pass, mit oder ohne deutsche Sprachkenntnisse, viele der Vorteile, und dies sind zumeist ökonomische Vorteile, genießen können, die man gemeinhin mit dem Leben in Deutschland verbindet.
Die Bildung von Parallelgesellschaften ist ohne Weiteres möglich. Apothekerinnen, Ärzte, Rechtsanwälte sind Landsleute; Landsleute führen Koranschulen, Bäckereien, Lebensmittel- und Obstgeschäfte. Die Beschriftungen auf Ämtern und in vielen anderen öffentlichen Einrichtungen sind in der Sprache der zahlenmäßig größten Einwanderergruppe lesbar – wozu also muss man noch Deutsch lernen? Selbst der frühe Abbruch der Schule oder einer Lehre mangels Sprachkenntnissen und sozialer Kompetenz muss nicht in die Katastrophe führen, wie mit Sicherheit in manchem Herkunftsland. In Deutschland ist Platz, und allen ist es gegeben, hier zu überleben.
Doch die Schwierigkeiten, die großen und immer noch anwachsenden Zahlen an Einwanderern und Asylbewerbern, seien es solche, die aus wirtschaftlicher Not, oder andere, die aus politischer Bedrängnis, den Weg nach Deutschland gesucht haben, nun in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, nähren sich noch aus einem anderen Grund. Die vielen Polen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das Ruhrgebiet reisten, um dort mit harter Arbeit in den Zechen untertage ihr Geld zu verdienen, trugen keine fremdkulturelle Identität mit sich. Sie unterschieden sich nicht vom Aussehen, und sie konnten problemlos in die katholischen Kirchen in Bochum, Dortmund oder Herne gehen, um mit den Einheimischen den Gottesdienst zu feiern.
Das bedeutete für alle sichtbar und wurde auch gar nicht hinterfragt: Hier kamen Menschen, die in ihrem Alltag, ob unter der Woche oder am Sonntag, denselben Werten folgten wie die Alteingesessenen. Ihr Gott war der Gott der Einheimischen; niemand wäre auf die Idee gekommen, ihnen gesetzlich zu verbieten, für ihren Gott dieselbe Bezeichnung zu verwenden, die die Einheimischen für ihren Gott gebrauchten. Sie besaßen von Kindheit an gleiche Vorstellungen von Gut und Böse, von Sünde und Gottes Wohlgefallen.
Wie sie sich an die gesellschaftlichen Regeln hielten, die aus diesen Vorstellungen entsprangen, auch das entsprach weitgehend dem Verhalten der Alteingesessenen.
Das ist nun anders. Die anfangs, in den späten 1950er Jahren, zunächst noch als «Fremdarbeiter» und dann als «Gastarbeiter» bezeichneten Italiener, Spanier, Griechen, Jugoslawen fügten sich noch in das Schema der kulturell Verwandten ein. Doch die Wirtschaft brauchte mehr Menschen und die Türen öffneten sich für die Türkei und dann den Vorderen Orient. Es kamen alle möglichen Berufsgruppen. Einige planten, für eine kurze oder längere Zeit in Deutschland zu arbeiten, Geld anzusparen und dann im Heimatland ein Haus zu bauen oder ein Geschäft zu eröffnen. Aber die Mehrzahl ist gekommen und geblieben. Das sind keineswegs nur Menschen, die hier schwere Arbeit verrichteten und verrichten, die Einheimische nicht ausführen wollen. Kaufleute und Ingenieure, die sich florierende Unternehmen und Tätigkeitsfelder im Wettbewerb mit Einheimischen aufgebaut und erschlossen haben, sind in der ersten, zweiten oder folgenden Generation der Einwanderer ebenso vertreten, wie etwa Künstler und Intellektuelle, deren kluge Visionen und Ideen das kulturelle Leben bereichern. Und dennoch, wer heute noch der Meinung ist, dass alle Einheimischen nur guten Willens und freundlich genug sein müssen, damit alle neuen Mitbürger sich hier wohlfühlen und sich integrieren, der muss sich wohl einer blinden Naivität bezichtigen lassen. Deutschland und auch andere europäische Staaten in ähnlicher Verfassung stehen vor einem in Friedenszeiten nie gekannten gesellschafts-politischen Umbruch. Dieser Umbruch wird, so hat es den Anschein, bisher nicht von Voraussicht begleitet; einer Voraussicht, die sich aus ehrlicher Diskussion bereits eingetretener und noch zu erwartender Probleme ergeben könnte.
Realität ist, dass in Deutschland eine fremdkulturelle Vielfalt erwächst, die schon den Ruf nach Integration nicht nur fragwürdig erscheinen lässt. Er mag gar eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden sein. Denn der Ruf nach Integration weckt Erwartungen, die nur schwer zu erfüllen sind. Die Erwartung, eine Integration sei möglich, führt dazu, dass diejenigen fremdkulturellen Einwanderer, die ihre Kultur nicht aufgeben möchten und Verhaltensweisen, Normen und auch Forderungen zur Schau tragen, die dem Gebot der Integration zuwiderlaufen, von vielen als störende Fremdkörper geringgeschätzt werden.
Wohin der Fingerzeig auf diejenigen führen kann, deren Andersartigkeit sichtbar bleibt und irgendwann einmal instrumentalisiert wird, das hat die Geschichte im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert deutlich gezeigt. Über die Jahrhunderte sind Juden in bemerkenswerter Anzahl mit einem eigenen Glauben, mit eigenen Ritualen, eigenen Sitten und einem eigenen Verständnis von Gott nach Deutschland gekommen. Sie haben ihren Gottesdienst nicht in Kirchen, sondern in Synagogen gefeiert. Viele von ihnen haben sich im 18. und 19. Jahrhundert von ihrem Glauben und kulturellen Erbe losgesagt und sind Deutsche geworden – Deutsche, von denen Deutschland in Kultur, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft in heute kaum noch vorstellbarem Ausmaß profitieren konnte. Und doch konnte diese Gruppe der Ausgrenzung nicht entkommen, als ewig Fremde nicht nur gebrandmarkt, sondern schließlich im Holocaust vernichtet zu werden.
Tatsächlich zählten zu denen, die dieser Vernichtung zum Opfer fielen, ungezählte, die sich gar nicht mehr ihrer angeblichen Andersartigkeit bewusst waren und die erst durch die Gesetze der Vernichter von ihrer angeblichen Andersartigkeit erfuhren. Gegenkräfte gab es durchaus. Sie waren einfach nicht stark genug und konnten sich das Ausmaß der schließlichen Bereitschaft einer Mehrzahl der Mitbürgerinnen und Mitbürger und die konkrete Vorgehensweise der Vollstrecker, den «Volkskörper» von dem Andersartigen zu «säubern», wohl zumeist auch nicht vorstellen. Weder gestern noch heute und in ferner Zukunft wird die Vernichtung eines Teils der deutschen Bevölkerung (und über Deutschland hinaus) je mit irgendeiner dem Verstand nachvollziehbaren Erklärung versehen werden können. Wie deutsche Geistesgrößen, die noch heute verehrt und bewundert werden, von Martin Luther (1459–1530) bis Richard Wagner (1813–1883), ihrer Judenfeindschaft freimütig Ausdruck gaben, das lässt sich nicht verstehen, auch nicht durch Hinweise auf den jeweiligen «Zeitgeist» – es sei denn, man versucht, eine Motivation in den Gefühlen zu ergründen, die sich jeder Vernunft entziehen.
Die Bevölkerung Deutschlands hat in den vergangenen Jahren, sicherlich auf Grund des anhaltenden Bewusstseins um die Verbrechen der 1930er und 1940er Jahre, eine bemerkenswerte Resistenz gegenüber denjenigen Kräften gezeigt, die die Gefühle der Menschen für solche politischen Zwecke beeinflussen wollen, die einem friedlichen Zusammenleben entgegenstehen. Diejenigen Parteien, die sich solchen Zielen verschrieben haben, konnten bislang bestenfalls kurze Strohfeuer entfachen und sind dann wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Stabilität, die sich daraus ablesen lässt, ist bemerkenswert. Doch das periodische Aufflackern der Strohfeuer lässt auch erahnen, dass ein emotionales Potenzial für größere Brände vorhanden ist – sobald die geeignete Lunte gelegt wird. Es wird an dem gesellschaftspolitischen Umgang mit dem Übergang Deutschlands in eine neuartige politische Struktur einer bislang nie gekannten kulturellen Vielfalt liegen, ob die Lunte nicht nur gelegt, sondern auch gezündet werden wird.