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Worum geht es?
ОглавлениеIm August und September 2018 erregte ein Tötungsdelikt an einem Einwohner in Chemnitz durch zwei oder drei junge Asylbewerber landesweit die Gemüter in der Gesellschaft. Die öffentlichen Reaktionen auf diese Tat bieten ein gutes Beispiel dafür, wie oberflächlich eine Entwicklung, die in engem Zusammenhang mit der weitgehend ungeregelten und unvorbereiteten Aufnahme von Migranten seit dem Jahr 2015 steht, von Politikern und Interessengruppen aller Seiten bewertet und für ihre jeweiligen Weltanschauungen und Ziele ausgenutzt wird.
Unbestreitbar ist, dass in Städten wie Chemnitz und Frankfurt/Oder, um nur zwei Beispiele zu nennen, denen medial besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, jeweils zwischen eintausend und zweitausend Migranten aus dem Nahen Osten, dem Iran und Nord-Afrika leben, von denen ein sehr kleiner Teil als wiederholt straffällig und verhaltensauffällig polizeibekannt ist.
Unbestreitbar ist auch, dass die unguten Verhaltensweisen dieser vergleichsweise geringen Zahl von Migranten von einem Teil der Bevölkerung in direktem Kontakt wahrgenommen und als überaus störend und unangenehm empfunden werden. Die unbescholtene Rentnerin, die es wagt, einen jungen Mann mit offensichtlichem Migrationshintergrund darauf hinzuweisen, dass man leere Flaschen nicht einfach auf der Straße zerschellen lässt, und die dann – so ihre Schilderung – mit den Worten «Halt die Schnauze, du deutsche Sau» bedacht wird, schaut nicht darauf, dass sie nur mit einem Bruchteil der Migranten solche Erfahrungen macht. Sie vergleicht dieses Verhalten mit den Berichten in den Medien über andere Vergehen von Menschen aus dieser Gruppe und fühlt sich persönlich bedroht und verletzt.
Damit ist sie keineswegs allein, denn nicht wenige ihrer Mitbürger in Chemnitz, in Frankfurt/Oder, in Berlin und anderenorts haben ähnliche Erfahrungen gemacht, ohne dass darüber in den Medien berichtet wird. Von dieser Rentnerin und ihren Mitbürgern zu erwarten, dass sie im Sinne einer Vernunft handeln, wie sie die Logik eines Universitätsseminars in den Politischen Wissenschaften verlangt, wo sie wahrscheinlich erführen, dass auch manche einheimische junge Männer aggressiv und verletzend auf solche Zurechtweisungen reagieren, ist schlicht realitätsfern.
Niemand nimmt die Sorgen dieser Menschen ernst. Sie sind nicht notwendig «fremdenfeindlich» oder «ausländerfeindlich». Sie sind in erster Linie besorgt, dass eine vertraute Umgebung durch Menschen bedroht ist, die einen anderen Glauben, den Islam, und andere zwischenmenschliche Verhaltensweisen hierzulande mit Nachdruck einführen möchten. Die etablierten Parteien scheuen sich, die Erfahrungen dieser Menschen und ihre Wünsche differenziert zu diskutieren. So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Menschen, die keiner Neo-Nazi-Gesinnung verdächtig sind, auf Demonstrationen zeigen, die ihnen eine Stimme verleihen, auch wenn sie dabei mit Menschen gemeinsame Sache zu machen scheinen, deren allein rückwärtsgewandte gesellschaftliche Vorstellungen sie gar nicht teilen.
Schaut man nun auf die politischen Kommentare, so sieht diese Entwicklung freilich ganz anders aus. Da wird behauptet, dass Populisten durch die Lande ziehen und den Menschen eine nationalistische Fremdenfeindlichkeit einreden, denen sich rasch tausende Bürger anschließen – also nach den Worten der ehemaligen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles «der rassistisch motivierte Mob» –, die es bisher nur nicht gewagt haben, ihre (neo-)nazistische Gesinnung laut hinauszubrüllen.
Derartige Bewertungen verkehren den Gang der Ereignisse. Sie tragen nicht zur Lösung der Probleme und zur Beruhigung der Lage bei. Im Gegenteil. Sie verhindern eine angemessene Bewältigung der Vorkommnisse.
Am 1. September 2018 führte der Deutschlandfunk ein Interview mit Esra Küçük, der neuen Leiterin der Kulturstiftung der Allianz in Berlin, zur Migrationsproblematik im Allgemeinen und den Vorgängen in Chemnitz im Besonderen. Frau Küçük sprach nicht von den «Sorgen» der Menschen in Chemnitz und anderswo, sondern von den «vermeintlichen Sorgen». Als der 35-jährige Familienvater Daniel H. von Migranten aus dem Nahen Osten durch Messerstiche getötet wurde, sahen nicht wenige Chemnitzer in dieser Tat eine weitere Eskalation der Straffälligkeit von Migranten und gingen auf die Straße, um ihren Protest auszudrücken, weil von keinem der etablierten politischen Entscheidungsträger irgendein Zuspruch kam. Diesen Menschen insgesamt zu unterstellen, dass sie Populisten gefolgt seien, die ihnen etwas eingeredet hätten, was in Wirklichkeit nur «vermeintlich», also bedeutungslos sei, darf man entweder als eine Unverschämtheit bezeichnen oder aber als ideologisch bedingte Blindheit der bisherigen Geschäftsführerin der Jungen Islam Konferenz.
Das Interview des Radiosenders steht als ein Beispiel für eine umfassende Übereinstimmung darin, die Verantwortung und die Schuld an den Vorkommnissen einseitig deutschen Akteuren anzulasten. Welchen Anteil das Verhalten einer kleinen, aber umso auffälligeren Teilmenge der Migranten an den Ereignissen hat, das kommt in diesem Interview wie auch in der politischen Kommentierung durch die etablierten Parteien nicht zur Sprache. Jeder hat seinen eigenen Schuldigen dort gefunden, wo er seinen politischen Gegner ohnehin verortet. Ein führender FDP-Politiker sieht die Verantwortung bei der Bundeskanzlerin. Ein führender Grünen-Politiker bezichtigt den CSU-Chef Seehofer als Schuldigen. Der sächsische Ministerpräsident sieht die Ursachen gar im «Verhalten des Bundes», was immer das bedeuten soll.
So bleibt der Eindruck, dass die Vorkommnisse in Chemnitz von allen Seiten instrumentalisiert wurden. Es sind mitnichten «vermeintliche Sorgen», sondern aus realen Vorkommnissen erwachsene Sorgen, die einen Teil der Bürger antreiben. Diese Sorgen werden in der Tat von denjenigen Ewiggestrigen aufgenommen und wiederum auf einer nationalistischen Meta-Ebene vervielfältigt und dramatisiert, die hier eine weitere Chance kommen sehen, die unumgänglichen Veränderungen, die auf die deutsche Gesellschaft zukommen, vielleicht noch aufzuhalten.
Die andere Seite, sie bezeichnet sich pauschal als «die Linken», nutzt die Ereignisse in Chemnitz und anderswo, um allgemein von einem «Rechtsruck» der deutschen Gesellschaft zu sprechen und auf diese Weise ihre eigenen politischen Ziele zu verfolgen. Von den wenigen hundert oder gar tausend Menschen in Chemnitz, die tatsächlich einem rechtsextremistischen Block zuzuordnen sind, auf die Bevölkerung von ganz Chemnitz oder Sachsen oder gar Deutschland zu schließen, wie es in der Reaktion auf die teilweise gewalttätigen Demonstrationen in der Folge des Todes von Daniel H. immer wieder zu hören war, ist genauso unbegründet, wie von den Straffälligkeiten einer kleinen Zahl von Migranten auf die Migranten insgesamt zu schließen.
Wenn das Magazin Der Spiegel in seiner englischsprachigen online-Nachrichtenversion als Überschrift formuliert: «Return of the Ugly German», dann ist das pauschalisierend und irreführend. Eine vergleichbare Überschrift: «Arrival of the Ugly Muslim», nach den Silvesternachtübergriffen in Köln würde wohl gerade von den Spiegel-Verantwortlichen als unzumutbar zurückgewiesen.
Als Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE, den Versuch andeutete, die Sorgen der Betroffenen ernst zu nehmen, wurde sie von Parteigenossen sogleich in die Riege der rechtsextremen AfD eingeordnet. Rein politisch motivierte Parteistrategie verhinderte ein Bemühen um eine differenzierte Bewältigung der Situation.
So verwundert es nicht, dass für die «Linke» die Zeit zu einer Generalabrechnung mit den «Rechten» gekommen zu sein scheint. Die feine, aber wichtige Unterscheidung zwischen Rechtsextremen und Rechten wird aufgelöst; es geht darum, alles zu verleumden, was angeblich «rechter» Gesinnung und «rechten» Tendenzen zugeordnet werden kann. Das ist genauso unangemessen, wie die feine, aber wichtige Unterscheidung zwischen Linksextremen und Linken aufzulösen und alle Linken insgesamt für die Straftaten verantwortlich zu machen, die regelmäßig von den Linksextremen verübt werden.
Horst Seehofer, damals Parteivorsitzender der CSU und Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, hat sich nach den Ereignissen in Chemnitz mit der Feststellung zu Wort gemeldet, die Migration sei «die Mutter aller Probleme» in Deutschland. Das sieht mancher anders. Festzuhalten ist, dass die vergangenen fünf Jahre Deutschland zunehmend in eine Identitätskrise getrieben haben, die es in diesem Ausmaß seit der Gründung der Bundesrepublik und auch im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung nicht gegeben hat.
Hunderte Bürger standen am 5. und 6. September 2015 am Hauptbahnhof in München und hießen mit Applaus, Lebensmitteln, Kinderspielzeug und Sachspenden tausende Flüchtende aus Syrien willkommen. Im Oktober 2015 tauchten Gerüchte in der Presse auf, die Bundesregierung rechne mit einem Zuzug von bis zu 1,5 Millionen «Flüchtlingen» nach Deutschland und dem Nachzug von vier bis sechs Angehörigen je akzeptiertem Asylbewerber. Eine repräsentative Umfrage zu derselben Zeit ergab, dass drei Viertel der Befragten durch die massive Einwanderung verursacht wesentliche Veränderungen der deutschen Gesellschaft erwartet.1 Die International New York Times machte sich Gedanken, wie der fremdkulturelle Zustrom nach Deutschland die Identität Deutschlands verändern und wie die Bevölkerung langfristig auf diese Veränderungen reagieren wird.2 Ende November 2015 warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, in einem Beitrag in der Tageszeitung Die Welt vor unbegrenztem Zuzug von Flüchtlingen aus Kulturen, «in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil sind».3
2015 erhielt ein Muslim den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ein Muslim wurde Co-Direktor der Passionsfestspiele in Oberammergau. Eine türkisch-stämmige Berlinerin mit Kopftuch erhielt von einem Berliner Gericht knapp 9000 Euro «Schmerzensgeld» zugesprochen, weil das Land Berlin ihr auf Grund des Neutralitätsgesetzes eine Stelle im Schuldienst verweigert hatte. Alsbald gingen zehntausende Ostdeutsche auf die Straße und protestierten gegen die gefühlte «Islamisierung Deutschlands». Brandanschläge wurden verübt auf Menschen, die sich aktiv gegen Rechtsradikale einsetzen. Am 13. März 2016 zog die Partei «Alternative für Deutschland» in mehrere Landesparlamente ein; in Sachsen-Anhalt erhielt sie 24 % der Stimmen, nicht zuletzt aufgrund ihrer Attraktivität für Wähler, die bisher für DIE LINKE und die SPD votiert hatten. Seit 2018 ist die AfD nicht nur im Bundestag, sondern auch in allen Landesparlamenten der Bundesrepublik vertreten.
Rassismus-Vorwürfe fanden sich gegen die Rentnerin, die es nicht wagte, einem Schwarzen ein Zimmer zu vermieten. 2015 meldeten Zeitungen, in einigen Gemeinden seien alteingesessene Mieter von den Behörden aus ihren Wohnungen in kleinere Räume umgesiedelt worden, um Platz für Migranten zu schaffen. Bürgermeister mehrerer Ortschaften, in denen Flüchtende aus Syrien einquartiert wurden, sahen sich veranlasst, die Neuankömmlinge auf bestimmte Verhaltensregeln hinzuweisen und wurden dafür mit massiver Kritik überzogen. Nach einem Anti-Terror-Alarm an einer Berliner Grundschule am 6. Juni 2018 beschwerten sich Eltern, dass die Durchsagen der Polizei nur auf Deutsch, nicht aber zusätzlich auch auf Türkisch und Arabisch erfolgt seien. Jeder Konsument der Medien in Deutschland ist nahezu Tag für Tag einer Vielzahl solcher Meldungen ausgesetzt. Entsprechende Meinungskommentare sind an der Tagesordnung.
Worum geht es?
Wir durchleben den Übergang Deutschlands aus der Ära des Nationalstaats hin zu einer neuen politischen Struktur. Die Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts gründeten in der Vorstellung, dass es wohldefinierte «Deutsche», «Franzosen», «Schweden», «Engländer» gibt, die in ihren nationalstaatlichen Grenzen leben und durch nationale Geschichte und Eigenarten verbunden sind. In den politischen Strukturen, die sich jetzt bilden, leben Menschen aus aller Welt zusammen, die nicht mehr durch historische Gemeinsamkeiten eine Identität als Volk besitzen, sondern als Individuen und Gruppen unterschiedlicher kultureller Prägung eine irgendwie geartete Einheit bilden.
Dieser Übergang, das sei hier in aller Deutlichkeit betont, ist unvermeidlich und unwiderruflich. Ob man die damit verbundenen Veränderungen erfreulich findet oder nicht, ist jedermanns persönliche Angelegenheit. Die Abneigung gegen diesen Wandel wird erst dann zu einem öffentlichen Problem, wenn sie zu Handlungen führt, die anderen Menschen ein Leid zufügen. Es gibt keinen einzigen aus der Vernunft geborenen Grund für eine «Fremdenfeindlichkeit». Aber die Emotionen, die durch Fremdes hervorgerufen werden, sind in der Bevölkerung nicht einheitlich.
Ein Zusammenleben in einer kulturell heterogenen Gesellschaft ist vielen Menschen in Europa ungewohnt und nicht wenigen wohl auch unangenehm. Andere begrüßen diesen Wandel und halten die neuen Gegebenheiten für einen Gewinn, für eine Bereicherung des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens. Damit ist ein wesentliches Element der folgenden Erörterung angedeutet. Es sind nicht so sehr die wissenschaftlich oder im gelehrten Diskurs relevanten Fakten, die für den alltäglichen Umgang mit den Begleiterscheinungen und den Folgen des Wandels entscheidend sind. Es sind die Emotionen, die der Wandel bei den Betroffenen auslöst. Sie entfalten sich durch die äußeren Umstände im Inneren der Menschen und kommen dann öffentlich zum Ausdruck.
So werden sie nicht selten auf die Straße getragen, sie bestimmen das Wahlverhalten, sie äußern sich in Wort- und Schrift-Beiträgen in den Medien und auch in ganz privaten Verhaltensweisen, die freilich nur gelegentlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit finden. Manche dieser Emotionen erscheinen im Zuge einer von der Vernunft geforderten Political Correctness als nicht wünschenswert. Ihre Skandierung im öffentlichen Raum ist von höchster politischer Instanz als eine «Schande für Deutschland» bezeichnet worden.
Dieses Buch spricht einige Aspekte der komplexen Natur des Übergangs Deutschlands in eine neue politische Realität an, für die es kein Vorbild gibt – weder die großen USA noch die kleine Schweiz taugen als solches. Das zukünftige Deutschland wird nur noch wenig gemein haben mit dem Deutschland, das sich zwei Jahrhunderte lang bemüht hat, eine deutsche Nation zu sein. Das ist nicht zuletzt an dem zunehmenden Einfluss der englischen Sprache auf die deutsche Sprache abzulesen. Eine «reine» deutsche Sprache wird es in Zukunft noch weniger geben als bisher. Deutschland öffnet sich der globalen Kommunikation; die deutsche Sprache kann sich genauso wenig abgrenzen wie die deutsche Nation. Doch nicht nur der Nationalismus ist unwiderruflich überholt, auch die demokratische Verfassung erscheint aufgrund wachsender internationaler Vernetzung zunehmend unrealistisch.
Den Übergang in die ethnisch und kulturell noch sehr viel stärker als bisher vielfältige Gesellschaft in geordnete Bahnen zu lenken, das ist Aufgabe der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortungsträger. Sie sind imstande, durch öffentliche Aussagen die Meinungen und Empfindungen der Menschen zu beeinflussen. Wenn man ein Defizit in der gegenwärtigen Situation benennen möchte, dann wäre das der Mangel an Aufklärung über die Unvermeidlichkeit der zunehmenden Einbindung eines jeden Landes, nicht nur Deutschlands, in die internationalen Netzwerke des Handels. Deutschlands Wohlergehen hängt in erster Linie von seinen wirtschaftlichen Erfolgen im internationalen Handel ab. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass die Grenzen für Menschen fremder Ethnien und Kulturen geschlossen bleiben können, während wir gleichzeitig unsere Produkte der gesamten Welt anbieten. Gelegentlich wird die Unvermeidlichkeit der wachsenden gegenseitigen ethnischen und kulturellen Durchdringung aller Länder in Worte gefasst, etwa, wenn die Bundeskanzlerin von einer Politik spricht, die «alternativlos» ist. Das ist sie in der Tat. Aber die Beweisführung, die solche Aussagen unterstützt, ist auf breiter Ebene erforderlich – und hieran fehlt es.
Es sind zahlreiche Bücher und Medienereignisse, von den Talkshows im Fernsehen bis hin zu öffentlichen Reden verantwortlicher Politiker, im Umlauf, die darauf angelegt sind, die Sorgen eines Teils der Bevölkerung mit Blick auf den Übergang Deutschlands in eine ungewisse Zukunft zu beschwichtigen. Aber es sind kaum seriöse Analysen vorhanden, die sich den Begleiterscheinungen und Reizen widmen, die diese Gefühle hervorrufen. Nur wenn man sich dieser Begleiterscheinungen und Reize bewusst ist, kann eine Debatte entstehen, ob sie beachtet werden müssen, ob sie abzumildern sind, ob sie erklärt werden müssen oder ob sie ganz abgestellt werden können. Erst auf dieser Grundlage kann man möglicherweise auch die negativen Emotionen kontrollieren, die öffentlich zum Ausdruck kommen.
Die mit der Flüchtlings- und Migrantenproblematik befasste öffentliche Debatte kennt kaum Zwischentöne. Jeder scheint gefordert, sich für eine Seite deutlich zu entscheiden: für diejenigen, die im akademischen und politisch korrekten Rampenlicht stehen und jeden an der offenen Grenzpolitik und der Integrierfähigkeit hunderttausender fremdkultureller Zuwanderer Zweifelnden als Ausländerfeind und Rassisten kennzeichnen, oder für diejenigen, die sich stetig radikalisierend einem veralteten Nationalismus verpflichtet fühlen. Dass unter den Zweiflern viele, vielleicht sogar in der Mehrheit, sind, die den verständlichen Wunsch hegen, auch weiterhin ein Leben führen zu können, das ihren wohlbegründeten Wertvorstellungen entspricht, findet in der medienwirksamen Auseinandersetzung nur selten Ausdruck, so etwa in einem Leserbrief in einer Berliner Tageszeitung vom 21./22. Mai 2016 als Reaktion auf einen der üblichen pauschalisierenden Berichte über die angeblich aus bestimmten Lebensläufen resultierende fremdenfeindliche Einstellung ganzer Bevölkerungsgruppen:
«Ja, ich gehöre zu den Rentnern mit dem angeblichen ‹extremen Schwarz-Weiß-Denken› und dem ‹stark materiellen Sicherheitsbedürfnis›, die als Kriegskinder Schlimmes erlebt haben. Und nein, wir waren keine Nazi-Familie, unser Opa hat keine Kriegsverbrechen in Russland begangen, er verstarb sehr früh. Ich habe keinen Hass gegenüber Flüchtlingen, die aus Kriegsgebieten unter unsäglichen Strapazen flüchten mussten. Soweit es mein Geldbeutel erlaubt, beteilige ich mich an vielen Spendenaktionen. Ich habe aber etwas gegen Zugewanderte, die ständig herummotzen, die mit ihren kriminellen Familien ganze Stadtviertel beherrschen, die nur fordern, sich ständig als Opfer fühlen und die uns ihre Religion überstülpen wollen. Ich mag keine Einwanderer, die es nur auf unsere Sozialleistungen abgesehen haben, die unsere Kultur, unsere Werte verachten, die junge Frauen begrapschen und unsere Polizisten verprügeln. Und ich mag keine Experten, die nicht den Mut haben, die wirklichen Ursachen für die Erfolge der AfD zu benennen, die gegen Ostdeutsche und ehemalige deutsche Heimatvertriebene hetzen und kritische Bürger als Flüchtlingshasser verunglimpfen.» 4
In der hier vorgelegten Betrachtung stehen daher nicht die intellektuellen Analysen im Vordergrund, die in kleinen akademischen Zirkeln die Problematik von Migration und gesellschaftlichem Wandel erläutern. Vielmehr sollen die Emotionen gegenüber diesem gesellschaftlichen Wandel deutlich werden, die aus historischen Gegebenheiten, dem Festhaltenwollen an langfristigen Gewohnheiten und nicht zuletzt aus den Informationen entstehen können, die täglich in den Medien der Bevölkerung dargeboten werden.
Deutschland steht vor drei gewaltigen Herausforderungen: Das ist die zunehmende innere ethnische und kulturelle Vielfalt. Das ist die Integration Europas, in dem nun Länder unterschiedlicher, historisch bedingter innerer Verfassung eine Einheit, ja sogar eine «Gemeinschaft» bilden sollen. Das ist schließlich die Einbindung Deutschlands über Europa hinaus in ökonomische, militärische und somit politische Netzwerke, die unvermeidlich einen Souveränitätsverlust mit sich bringen. Das ist nicht etwa ein abstrakter Verlust, den man im Alltag nicht bemerkt. Im Gegenteil, der Souveränitätsverlust geht für jeden Einzelnen damit einher, immer weniger über die herkömmlichen demokratischen Regulierungsmöglichkeiten auf die Gestaltung des Alltags Einfluss nehmen zu können. Diese drei Herausforderungen sind eng miteinander verknüpft. Viele nachdenkliche Menschen sind bemüht, ihren Beitrag als Reaktion auf diese Herausforderungen zu leisten. Es fehlt allerdings eine politische Vision, die alle drei Herausforderungen gemeinsam benennt und zu meistern verspricht.
Die zentrale Frage, jetzt und für geraume Zeit lautet: Welche Zukunft soll Deutschland haben?
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2015 verkündet: «Wir schaffen das!» Das mag so sein. Eine Bedingung dafür lautet, dass nicht nur die «zu kurz Gekommenen» ihren Unmut bis hin zur Wut angesichts einiger Formen äußern, die der Wandel annimmt. Tatsächlich ist Unmut in offenbar allen Schichten der Bevölkerung anzutreffen; es gehen nur nicht alle Schichten der Bevölkerung auf die Straße, um ihren negativen Emotionen Ausdruck zu verleihen. Die Beschwichtiger übersehen auf diese Weise, dass sich ein Nährboden aufbaut, der für den Missbrauch fruchtbar ist. Das hat es schon einmal gegeben; es darf nicht wieder vorkommen.
Die Bundeskanzlerin hat im Jahre 2016 verkündet: «Deutschland bleibt Deutschland.» Das ist mit Sicherheit nicht so.
Welches Deutschland soll denn Deutschland bleiben? Das Deutschland von 2016 ist nicht das von 1968 und auch nicht das von 1950 oder 1933 oder gar 1870/71. Deutschland hat sich stets verändert. Es hat nicht zuletzt in den vergangenen Jahren Ballast der Vergangenheit abgeworfen, die Paragrafen 175 und 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein gutes Stück vorangebracht und vieles andere mehr. Vor allem, und dieser Tatsache gilt dieses Essay, hat sich die Bevölkerungsstruktur so sehr geändert, dass vielleicht nicht in jedem Dorf in Niederbayern, im Steigerwald oder in der Uckermark, aber doch in jeder größeren Ortschaft und in allen Städten eine Vielfalt der Menschen, ihrer Denkweisen, politischen Anschauungen und vor allem kulturellen Orientierungen eine Wirklichkeit angenommen hat, die das Wort «Deutschland bleibt Deutschland» als das offenlegt, was es tatsächlich ist: eine Beschwörung, die Beunruhigung dämpfen soll – aber genau dazu nicht geeignet ist, weil die Menschen die tiefgreifenden Veränderungen Deutschlands, wenn nicht aus eigenem Erleben, dann aus den Medien, tagtäglich wahrnehmen. Es geht nicht darum, eine Illusion aus vergangenen Zeiten zu stärken; es geht darum, sich dem Übergang mit offenen Augen zu stellen und das Beste für alle Beteiligten daraus zu machen.