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Das Textil

Vor mehr als einhundert Jahren hat Siegfried Seligmann in seinem zweibändigen Werk Der Böse Blick erstmals ausführlich die weltweit in vergangenen Jahrtausenden erkennbare kulturprägende Rolle von Bemühungen aufgezeigt, die vielleicht destruktivste zwischenmenschliche Emotion, das ist der Neid, in ihrer zerstörerischen Kraft zu mäßigen, wenn nicht gar völlig auszulöschen. «Der Böse Blick» – mal de ojo im Spanischen, evil eye im Englischen – ist in althergebrachtenVorstellungen zahlreicher Völker die Ursache für Krankheit der Frauen, der Kinder, des Viehs, ebenso wie für Unheil und Unglück, das unerklärlich und unvorhersehbar einen Menschen oder eine Familie befällt.

«Der Böse Blick» geht stets von den Benachteiligten aus. Das können alle die Menschen sein, die benachteiligt auf diejenigen schauen müssen, denen es gut oder jedenfalls besser geht. Vielleicht weil sie kräftiger sind und mehr Wild erjagen oder Fische fangen können, weil das Stück Land, das sie bebauen, etwas mehr Ernte erbringt, oder weil sie ein wenig klüger als die anderen sind und daher überdurchschnittlich viel von dem erhalten, was die Natur für alle bereithält. Seligmann erkannte in der Vorstellung vom «Bösen Blick» die Angst vor dem Neid der Zukurzgekommenen.

Dem Neid, so Seligmann, ist keinerlei konstruktive Facette zu eigen; der Neider sieht das eigene miserable Dasein durch diejenigen bedingt, denen es besser geht, und er sinnt allein darauf, Letzteren zu schaden. Die Potlatch- und anderen Schenkungs-Riten beispielsweise der nordamerikanischen Indianer, die dazu bestimmt waren, den Mehrbesitz innerhalb der Gemeinschaft immer wieder zu Gleichbesitz zurückzuverwandeln, bildeten die eine kulturelle Maßnahme, dem Neid zuvorzukommen. Wenn alle das Gleiche besitzen, oder jedenfalls davon ausgehen können, dass Mehrbesitz immer nur vorübergehend ist und keine Machtansprüche eines Teils der Gemeinschaft über einen anderen begründet, dann kann auch kein Neid entstehen. Aber das war nur die eine Seite: die Vorbeugung.

Der Vorbeugung des Möglichen stand die Abwehr des Faktischen gegenüber. Benachteiligte, die sich nicht in ihr Schicksal ergeben können, wird es stets geben. Wie aber schützt man sich vor dem Bösen Blick des Neiders? Noch heute benutzt man im Mittelmeerraum dazu Amulette. Eine vielleicht noch wirksamere Methode ist es, den Besitz, der dem Anderen fehlt, und der dessen zerstörerischen Bösen Blick hervorrufen könnte, zu verbergen. Materielle Güter können umverteilt werden. Eine gesunde und glückliche Familie sind nun einmal dem einen gegeben, dem anderen nicht – und dieser Vorteil wird auch auf lange Zeit bestehen bleiben. Die Frauen zu verbergen, war in traditionellen Teilhabe-Gemeinschaften ein weit verbreiteter Brauch. Sie wurden entweder gar nicht in die Öffentlichkeit gelassen oder aber so verkleidet, dass sie den Blicken eines Fremden nicht ausgesetzt waren.

Die Ganzkörperbekleidung, die so genannte Burka im Orient, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Ihr Ursprung ist wohl kaum noch jemandem bewusst, aber die Funktion ist geblieben, nämlich die Frau den Augen der Fremden außerhalb der Familie, außerhalb der schützenden Mauern des Hauses zu entziehen. Der fundamentalistische Islam hat die Ganzkörperbekleidung für sich als Symbol identifiziert und diesen Brauch seiner ursprünglichen kulturellen Bedeutung entzogen. Übrig geblieben ist lediglich ein fragmentarisches Symbol – das Kopftuch. Wenn junge Muslimas im Internet auf die Frage, warum sie ein Kopftuch tragen, antworten, «der Kopf ist meine Intimzone», dann messen sie dem Textil eine schützende Funktion vor dem Blick fremder Männer zu.

Das Kopftuch wird innerhalb der Familie abgelegt. Es richtet sich also allein gegen fremde Blicke. Obwohl ein Kopftuch so schmückend und hübsch sein kann, dass es die Blicke geradezu auf sich zieht – betrachtet wird eben nur die Hülle und nicht das, was darunter ist.

So gesehen ist das Kopftuch heute ein ganz banales Stück Textil geworden, wie jedes andere Kleidungsstück. Das Kopftuch ist primär kein religiöses Symbol. Dass männliche Imame das auf eine harmlose Kopfbedeckung geschrumpfte ursprüngliche Kleidungsstück als religiös begründete Verpflichtung einfordern, ist unverständlich.

Auch das Christentum hat die Abwehr der vorgeblichen Lüsternheit der Männer mit dem 9. Gebot, «Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib», in den Kanon seiner religiösen Verpflichtungen aufgenommen, und damit die Forderung des 6. Gebots, «Du sollst nicht ehebrechen», noch einmal ausdrücklich auf das Verhalten von Männern konzentriert. Die Schöpfer des Islams haben ihr Wissen um die Lüsternheit der Männer nicht durch den Appell in Geboten kundgetan. Sie haben sich entschieden, den Männern den Anblick auf das zu nehmen, was außereheliche Begehrlichkeiten wecken könnte.

In welchem Ausmaß die Muslimas auferlegte Verpflichtung, Kopftuch zu tragen, in höchster islamisch-theologischer Instanz von paternalistischem und sexistischem Gedankengut durchwebt ist, wurde 2019 durch mehrere Sendungen des TV-Dokumentarfilms «Wellen-Rebellinnen – Von Gaza bis Südafrika»1 in einem Interview deutlich, das der von der Hamas eingesetzte oberste Schariarichter im Gaza-Streifen der deutschen Journalistin Dörthe Eickelberg gab. Sie hatte den theologischen Experten nicht nur danach gefragt, warum er muslimischen Frauen das Surfen nicht gestatte, sondern auch um eine Begründung für das im Islam herrschende Verhüllungsgebot für Frauen gebeten. Der Schariarichter antwortete ihr, Frauen seien mit den Süßigkeiten vergleichbar, die ein Straßenhändler feilbietet. Wenn er sie nicht bedeckt, locken sie die Fliegen an.

Aber da besteht dann noch eine ernster zu nehmende Perspektive, und hier kehren wir zu den Spielregeln zurück, die eine Gesellschaft von der Gemeinschaft unterscheidet. Die Gesellschaft, und wir bleiben vorerst auf der bisherigen nationalen Ebene, wird nicht bestehen können, wenn sie nicht die übergeordneten, neutralen Organe schafft oder auf Dauer beibehält.

Hier kommt nun der Widerspruch von Vernunft und Emotion zum Tragen. Man kann an die Vernunft der Bürger appellieren, dass die Neutralität auch gegeben ist, wenn sich die Handelnden der hoheitlichen Organe deutlich erkennbar zu ihrer religiösen oder sonstigen Weltanschauung bekennen, der sie nun einmal angehören. Schließlich weiß jeder Bürger, dass jeder Funktionsträger, auch wenn er dies nicht durch offensichtliche Symbole zu erkennen gibt, irgendeiner religiösen oder sonstigen Weltanschauung anhängt und wahrscheinlich dadurch in seinen Urteilen und in seinem Handeln mehr oder weniger geleitet wird. Doch für das Empfinden derer, die hoheitliches Verhalten erdulden müssen, spielen solche Vernunftargumente möglicherweise nicht die größte Rolle. Sie sehen in den zur Schau gestellten Symbolen weniger das Individuum, das sie trägt, als die Wertorientierung, für die diese Symbole stehen. Der Sinn übergeordneter, hoheitlicher Organe, das Vertrauen aller in der Gesellschaft vereinten Gruppen zu erlangen, ist gefährdet, wenn die für diese Organe Tätigen ihre persönliche Wertorientierung offen zur Schau stellen. Sie zeigen damit an, dass sie sich nicht in erster Linie einer neutralen, übergeordneten Instanz verpflichtet fühlen, sondern ihrer persönlichen Glaubens- oder Gruppenzugehörigkeit.

Das Kopftuch ist ein Symbol, das unabhängig davon, ob eine Trägerin tatsächlich der Meinung ist, sie müsse damit ihre «Intimzone» verbergen, auf die Mitgliedschaft der Trägerin in einer Wertegemeinschaft verweist, die seit geraumer Zeit durch Aggressivität, Selbstmordanschläge, Terrorangriffe und andere Scheußlichkeiten mehr weltweit Schlagzeilen macht und ganze Regionen in Angst, Schrecken und wiederkehrende Blutbäder versetzt. Wenn am sogenannten al-Quds-Tag in Berlin Tausende auf die Straße gehen, um sich öffentlich in hasserfüllten Tiraden gegen Israel zu ergehen, da tragen die teilnehmenden Frauen ein Kopftuch. Die Gefährtinnen der IS-Mörder verstecken sich, ihrer Religion gehorchend, in der Ganzkörperverkleidung. Das Tragen eines Kopftuchs war in der Türkei zuvor verboten und ist durch die islamistische Regierung der AKP weitgehend legalisiert worden. Es sind diese Signale, die sich auf die Aversion gegen Kopftuchträgerinnen auch in Deutschland auswirken.

Man kann die Vernunft bemühen – in der Schule, in den Medien, in Sonntagsreden – und darauf hinweisen, dass unter dem Kopftuch höchst unterschiedliche Charaktere und individuelle Mentalitäten vereint sind. Man kann darauf hinweisen, dass 47 % der in Deutschland lebenden und an der Wahl des türkischen Parlaments teilnehmenden Türkinnen und Türken aus welchen Gründen auch immer nicht für die AKP stimmen – aber die Vernunft erreicht nur selten die Ebene der Emotionen, der Verunsicherungen, der Ängste.

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