Читать книгу Stille Bylle - Paula Grimm - Страница 12

6 Kapitel

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Gesken packte ein paar Sachen zusammen und ging in Zimmer 212. Dort fand sie eine große Thermoskanne Kaffee und belegte Brote für sich. Für Bläss stand frisches Wasser da und an der Garderobe hing für sie ein Stoffsack mit Leckereien. Gesken stellte ihren Laptop und die kleine Stereoanlage auf, die sie mitgebracht hatte. Dann nahm sie einen Stick aus der Ledermappe ihres Freundes, setzte sich den Kopfhörer auf und hörte die Sonate für Klavier und Flöte Köchelverzeichnis 13. Schon nachdem sie das erste Musikstück gehört hatte, war sie vollkommen entspannt und hörte noch das Konzert für Flöte und Harfe ebenfalls von Wolfgang Amadeus Mozart.

Zunächst geschah nichts. Doch plötzlich sah sie die Muse Euterpe vor nachtblauem Hintergrund, aber nicht mit ihrer Doppelflöte, sondern mit einer Querflöte. Und obwohl sie erwartet hatte, Sibylle Leuchteblau und Szenen aus ihrem schöpferischen Leben zu sehen, während sie die Musik hörte, war sie keineswegs enttäuscht von dem, was sie sah. Denn das Bild war absolut stimmig und harmonierte mit dem Flötenspiel, das Gesken hörte. Doch das, was sie hörte und sah, war nicht nur stimmig. Es gab Gesken auch Kraft und beflügelte sie. Ab und zu schlich sich jedoch ein leises Gefühl von Scham darüber an Gesken heran, diese bezaubernde Gestalt und nicht Bylle Leuchteblau zu sehen, die diese entzückende Musik spielte. Aber jedes Mal, wenn sie dachte: „Als ob sie es immer noch nicht Wert wäre, dass man sie sieht“, wischte die Frau mit den Sternenaugen diesen Gedanken mit einer kurzen Handbewegung weg. Und das wunderbare Gefühl geerdet zu sein und doch auch im Himmel zu schweben, stellte sich augenblicklich wieder ein.

Euterpe ließ es nicht dabei bewenden, sich Gesken zu zeigen. Sie sprach sie schließlich ruhig mit mittlerer Stimmlage an: „Du hast es richtig erkannt, Gesken Paulsen. Ich bin die Muse Euterpe. Und ich bin Bylles Muse gewesen, seit sie den ersten Flötenton gespielt hat.“ Euterpe machte eine Pause, bevor sie in sehr resolutem Ton sagte: „Zwei Dinge kannst Du Dir von Anfang an abschminken. Erstens, mein Arbeitsfeld beschränkt sich nicht nur auf die Liebeslyrik. Und zweitens küsse ich nicht. Musen küssen überhaupt nicht. Sie haben nie geküsst. Und sie werden nie und nimmer damit anfangen. Das mit der Küsserei ist eine Idee von Kerlen, die sich bei Frauen, die nicht hässlich sind und sich Jugendlichkeit bewahren, nichts anderes vorstellen können, als dass sie die eine oder andere Flause im Kopf haben, diese an Genies vermittels eines Kusses übergeben, damit das Genie aus der Flause eine Idee macht und diese zu Philosophie, Musik, Geschichte usw. weiterentwickelt.“

Wieder machte Euterpe eine kurze Pause, bevor sie weiter sprach: „Für unsere Zwecke, wenn wir uns entscheiden zusammenzuarbeiten, um Bylle zu helfen, wäre die Küsserei, wie man heute wohl sagt, alles andere als zielführend. Ich gehe davon aus, dass wir beide dasselbe wollen: Gesken so zu zeigen, wie sie war und herauszufinden, wer sie getötet hat und warum.“

„Was tust Du, anstatt zu küssen?“, fragte Gesken, als ob sie eine normale Frau und nicht eine sagenhafte Gestalt aus der Antike vor sich hatte.

„Ich halte meinen Schutzbefohlenen, Männern, Frauen und Kindern, den Rücken frei, damit sie in aller Ruhe lernen und kreativ sein können. Ich gebe ihnen Kraft und Ruhe für ihre Entwicklung. Und ich stelle mich, wenn es wie bei Bylle nötig ist, als Stellvertreterin im wahrsten Sinne des Wortes zur Verfügung. Ich denke, Du wirst bald verstehen, wie ich das meine. Darf ich Dir in den nächsten Stunden den Rücken frei halten und stärken, damit Du Bylle so darstellen kannst, wie es ihrer Persönlichkeit entspricht? Ich weiß, dass Du das kannst.“ Euterpe lächelte Gesken aufmunternd an.

„Ich bitte Dich ganz herzlich darum, bei mir zu bleiben!“, erwiderte Gesken. Dann nickten sie einander einfach kurz zu.

Stille Bylle

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