Читать книгу Die Schlinge - Pavel Kohout - Страница 14
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ОглавлениеAls die Brünner Pennälerin zwölf Jahre alt war, stieß unter dem Fenster ihres Zimmers ein Stadtautobus mit einem Lkw zusammen. Keiner hatte die kleinste Schramme davongetragen, nur ein Mann, der soeben aussteigen wollte, war auf der Stelle tot. Ihr Vater. Er war ein tüchtiger Ingenieur gewesen, ein vielseitiger Sportler, ein guter Sänger, ein leidenschaftlicher Leser, ein begeisterter Laienschauspieler, und Kamila liebte ihn. Lange Zeit konnte sie ihre weitverzweigte Familie und die Bekannten immer wieder zum Lachen bringen, indem sie behauptete, dass sie ihn auch einmal heiraten würde. Nach seinem Tod erstarb ihre Fröhlichkeit für einige Jahre.
Sie war überzeugt, dass ihr die Philosophie am meisten läge, und begann schon mit fünfzehn, sich auch äußerlich auf sie einzustellen. Sie kleidete und frisierte sich altmodisch, trug Röcke bis unter die Knie, flache klobige Schuhe und eine Brille mit breitem Gestell, obwohl nur gewöhnliches Glas darin war. So hatte sie dann Ruhe vor den Jungs, die ihren Mitschülerinnen immer nur die Zeit stahlen. Sie brauchte jede Minute für das Theater und für alle möglichen Vorlesungen, bei der Astronomie angefangen bis zu der Hierographie, obwohl sie sie oft nicht verstand. So traf sie auch auf jenen Professor der Karlsuniversität, der gekommen war, um über den Einfluss der Kralitzer Bibel auf die Entwicklung der tschechischen Sprache Vorträge zu halten. Diesmal blieb ihr nichts im Gedächtnis haften, da sie zu denken nicht imstande war. Sie hatte einen Mann entdeckt, den die Aura ihres Vaters umgab.
Sie verfolgte seine Tätigkeiten in Politik, Wissenschaft und Bildung, sie las aufmerksam seine Artikel und Skripten, sie wusste, dass er ein Vierteljahrhundert älter war als sie. Sie abonnierte den ›Illustrierten Berichterstatter‹, der ihn einmal mit einem Eispickel über einer Tatraschlucht, ein andermal wieder beim Tennis mit dem Außenminister Beneš oder gar zu Pferde bei einem Ausritt mit dem Präsidenten Masaryk einfing. Sie fand natürlich auch heraus, dass er verheiratet war, und seltsamerweise tröstete es sie, dass seine Ehefrau Französin war, und das Paar keine Kinder hatte.
Kurz darauf, nachdem sie das Maturazeugnis, mit lauter Einsern geschmückt, entgegengenommen hatte, nahm ihr Leben eine völlig neue Richtung an. Das durch ihren Vater begründete Laientheater studierte zu seinem Jubiläum ›Schwanda, der Dudelsackpfeifer‹ ein, und zwei Wochen vor der Premiere brach sich Dorotka den Fuß. Mit Hilfe ihrer Mutter konnten sie Kamila erweichen. Ein paar Kritiker und einige Leute vom Theater sprachen danach über die Geburt eines Talents, das man hier lange nicht entdeckt hatte. Bald darauf bot ihr das Brünner Konservatorium eine Zulassung ohne Aufnahmeprüfung an, und für sie war das eine väterliche Botschaft, die sie nicht ablehnen durfte. Dabei hörte sie nie auf, an den Prager Professor zu denken.
Das Studium ging ihr leicht von der Hand, und sie bewältigte schon größere Rollen an den örtlichen Bühnen mit Bravour. Brünn begann ihr allerdings eng zu werden, und sie dachte an Prag. Bevor sie dorthin fuhr, um zu schauen, wie dort eigentlich gespielt wurde, schrieb sie ihrem Idol einen sehr langen Brief. Sie bat ihn um ein kurzes Treffen, bei dem er ihr erklären sollte, was sie in seinen Essays nicht verstanden hatte. Felix Fischer erzählte danach oft, wie er zu einem Disput mit einer Doktorandin der Kunstgeschichte ins Café Slavia gegangen war. Das nicht einmal zwanzigjährige hübsche Mädchen, seinen Essayband als Erkennungszeichen in Händen, hatte er zunächst für eine Verehrerin gehalten, die ihn besonders pfiffig einfangen wollte. Das erfolgreiche Rezept, solche Mädchen höflich loszuwerden, schlug diesmal fehl. Sie verblüffte ihn, wie er behauptete, mit ihrem Wissen und ihrem Benehmen, weder kokettierte sie noch schmeichelte sie ihm, sie opponierte mit einer unreifen, aber eigenen Anschauung.
Er war es, der das Gespräch in die Länge zog, und da das Café plötzlich schließen wollte, fragte er, wohin er sie bringen dürfte. Weil sie am Wilsonbahnhof nur noch die Rücklichter des Zuges zu sehen bekamen, und die Brünnerin schon mittags ihre Pension verlassen hatte, lud er sie zu sich ein. Seine Frau, erklärte er, sei in Paris, aber sie hielten stets ein Gästezimmer bereit. Sie lag dann auf dem Bett, von wo aus sie den Aussichtsturm am Petřín-Hügel leuchten sah, und wartete. Sie glaubte, dass ihr Idol ihrem Vater auch im innigen Verhältnis zu Frauen ähnelte, und dass er nicht ahnte, was keiner außer ihrer Mutter wusste: Sie war immer noch Jungfrau. Und so wachte sie auch auf. Von der sehr zuvorkommenden Haushälterin bekam sie einen Kakao serviert und von ihm eine mit energischer Schrift geschriebene Notiz, dass er zur Vorlesung gehen musste, sich sehr bereichert fühle und ihr viel Glück wünsche.
Noch am selben Abend erhörte sie in Brünn einen nur etwas älteren Medizinstudenten, der sie seit jener Zeit umwarb, als er bei den Laienschauspielern ihren Schwanda gespielt hatte. Er war außer sich vor Glück und nach zwei Jahren außer sich vor Verzweiflung. Auch wenn sie mit ihm zusammen war, sagte sie ihm niemals, dass sie ihn liebte. Sie zog von ihrer Mutter auch dann nicht fort, als er wegen ihr das Wohnheim verließ und für unchristliches Geld eine kleine Wohnung anmietete. Während ihre Mutter ihn als den zukünftigen Schwiegersohn verhätschelte, erlaubte sie ihm nie, ihr Mädchenzimmer zu betreten. Und als das Prager Nationaltheater sie zu einem Gastauftritt einlud, stieg sie ohne Zögern von einem auf den anderen Tag aus dem Konservatorium und ihrer Liebe aus.
In der Rolle der Ophelia wurde sie für das verwöhnte Premierenpublikum zu einer Offenbarung. Als sie sich zum Schluss allein bedankte, schwoll der höfliche Applaus zu Ovationen an. Auf dem Bankett in der ersten Etage des Theaters umringten sie Männer und Frauen, die um ihre Unterschrift auf dem Programm baten. Dann erblickte sie Felix Fischer. Von weitem begrüßte er sie mit einer tiefen Verbeugung, kam aber nicht näher. Sie war durcheinander, die Freude wich von ihr, sie beschloss zu ihrer Mutter zu gehen, die bereits in ihrer Garçonnière schlief. Sie verabschiedete sich auch vom Regisseur, und der beichtete ihr bei dieser Gelegenheit, dass sie ihn nicht nur als Schauspielerin entzückt habe. Dann aber steuerte sie, als ob sie jemand führen würde, geradewegs auf Fischer zu, der aus dem Fenster die Lichter des Cafés Slavia betrachtete.
»Ich sehe, dass ich Sie heute nicht bereichert habe.«
»Nein. Sie haben mich völlig ausgeraubt.«
»Was wollen Sie damit sagen ...?«
»Sie haben mir bewiesen, dass ich ein vollkommener Idiot bin. Ich kann nicht begreifen, wie ich Sie vorletztes Jahr gehen lassen konnte. Aber für eine Wiedergutmachung ist es wohl schon zu spät, nicht wahr?«
»Spät zwar«, sagte sie glückselig, »aber immerhin!«
Dieses Mal führte er sie in sein Schlafzimmer.
Das Glück überwältigte sie wie in einem Kitschroman. Seine Ehefrau war vor einiger Zeit von einem französischen Diplomaten verzaubert worden, so dass sie diskret die Scheidung einreichen lassen wollte. Sie lebte seither dauerhaft in Paris, und die Haushälterin in der Wohnung am Kai hatte angefangen, Kamila mit »Gnädige Frau!« anzusprechen. Das war offensichtlich Madame Fischer zugetragen worden, da sie sich unerwartet entschied, zurückzukehren, was ihr der Monsieur aber mit Nachdruck ausredete. Mithin begann sie sich wenigstens zu zieren. Die Scheidung zog sich hin, aber Felix verheimlichte seine Liebe nicht, im Gegenteil, genau so wie sie ihn, zog auch er sie in sein Leben. Schnell schloss er ihr das Theater der Welt auf. Diese starrte ihm zufolge auf den wild gewordenen Hitler wie ein vertrotteltes Kaninchen auf eine Kobra, anstelle zur Verteidigung zu mobilisieren. Die Liebe potenzierte diese Argumente. Deshalb trat Kamila als Stern des Abends im Lucernapalast bei der ersten großen Manifestation gegen den Faschismus auf.
Um ihre Hand hielt Felix noch am Tag seiner Scheidung an. Sie heirateten drei Tage bevor in München Hitler, Mussolini, Daladier und Chamberlain über der tschechoslowakischen Landkarte getagt hatten. Ein halbes Jahr später, in der Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten März 1939, wurde er durch die Nachricht des Vorsitzenden der Sozialdemokraten Pýcha geweckt, dass die Wehrmacht gerade das Land besetze und er wahrscheinlich in der Frühe von der Gestapo als Vertrauensmann von Eduard Beneš, dem Nachfolger Masaryks verhaftet werden würde. Dieser legte sein Präsidentenamt bereits im Herbst nieder und emigrierte nach England.
Kamila spielte bereits Julia, für die man Schlange stehen musste. Ohne sie hätte das Theater schließen können. Nach einer bloßen Stunde einigten sie sich, dass Felix auf der Stelle nach London abfahren würde und sie nachkäme, so schnell es ginge. Sein Plan glückte. Ihrer scheiterte. Noch bevor die Vorstellung aufgrund von Provokationen seitens tschechischer Faschisten im Zuschauerraum abgesetzt werden konnte, machten die Deutschen die Grenzschotten dicht. Sie war verzweifelt. Über die britische Botschaft ließ sie es ihrem Mann mitteilen und bekam als Antwort von ihm die inständige Bitte, sich zum Schein von ihm scheiden zu lassen. Kurz darauf schlossen die Protektoratsbehörden das Theater, und ihr Chef landete in einem deutschen Konzentrationslager. Sie erfuhr dann im Nationaltheater, das sie bis zu diesem Zeitpunkt ständig zurückholen wollte, dass sie leider, leider! ein öffentliches Auftrittsverbot hätte.
Sie fuhr nach Brünn, lehrte ein paar Wochen am Konservatorium, von wo aus sie als Schülerin geflüchtet war, und dann durfte sie nicht einmal mehr das; zusammen mit der Mutter verdiente sie sich daher ihren Lebensunterhalt mit Pulloverstricken. Ihr Dudelsackspieler Schwanda war schon Doktor und verheiratet, ließ ihr aber bestellen, dass er sich augenblicklich scheiden lassen und sich um sie beide kümmern würde. Sie traf sich mit ihm im Grandhotel, um sich für die Vergangenheit wie auch für die Zukunft zu entschuldigen. Zum ersten Mal sah sie einen Mann weinen.
Die Nachbarn flüsterten ihr manchmal zu, wie schön Felix Fischer aus England zu ihnen redete und dass er jedes Mal mit den Worten »Gute Nacht und feste Hoffnung« abschloss. Auch an ihrem Radio hing ein obligatorischer roter Zettel mit der Warnung ›Achtung, Achtung, das Hören eines fremden Rundfunksenders ist streng verboten und wird mit Gefängnis oder der Todesstrafe geahndet! ‹ Die Sendung ›London Calling‹ hörte sie sich niemals an, nicht aus Angst, sondern weil sie sich vor der Sehnsucht fürchtete, welche die leicht belegte und schwer geliebte Stimme in ihr hervorrufen würde.
Im Sommer 1944 kam sie zum Totaleinsatz ins Reich und wurde nach Dresden geschickt. Dort fand sie ihren dritten Liebhaber und entschied sich, dass dieser auch ihr letzter sein würde.