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Unter der Woche konnten sie auf ihrem Bretterstapel, einem nicht allzu sehr besuchten Ort, höchstens Händchen halten. Am nächsten Sonntag wurden ihnen die Knie vor lauter Sehnsucht schon auf dem Weg ins Kino weich. Es regnete, und so war der Saal gefüllt. Als der bekannte Platzanweiser sie jedoch sah, gab er ihnen ein Zeichen, abzuwarten, bis er dem letzten Zuschauer einen Platz zugewiesen hatte. Dann führte er sie in seine Wohnung hinter dem Kino. Auf der Wäschekommode standen zwei Fotografien, auf denen junge Männer in Uniformen zu sehen waren. Zwei schwarze Schleifen waren um die Ecken gebunden. Der Vater rächte sich am deutschen Führer, indem er jetzt jeden Sonntag dessen Leibeigenen die verwaiste Wohnung überließ.

Einige blutjunge Mädchen, die Jan erobert hatten, bevor er Kamila traf, hatte er sich längst aus dem Kopf geschlagen. Und es schien, als hätte auch Kamila ihren Ehemann vergessen. Jan entdeckte zum ersten Mal seine Leidenschaft, sie entdeckte die ihre von neuem. Ganze einhundertdreiundsechzig Stunden in der Woche, ob sie wach waren oder schliefen, lebten sie im Geist auf jene fünf Stunden an den Sonntagen zu. Währenddessen redeten sie unentwegt über diese gemeinsame Zeit. Die ausbrechende Liebe löste die Hoffnungslosigkeit gänzlich auf, welche beide bereits das fünfte Jahr im Würgegriff hielt. Felix Fischer band Kamila nicht mehr an sich, sie war sich sicher, dass er sie verstehen würde. Er war wegen einer höheren Berufung von ihr gegangen, sie würde um eines stärkeren Liebesgefühls willen von ihm gehen.

In den Werkstätten mussten sie auch an Heiligabend nicht arbeiten. Im Kino spielte man nichts, aber der hinkende Mann wartete auf sie. Im Zimmer der verstorbenen Söhne fanden sie einen erleuchteten Christbaum, Nüsse, Äpfel und einen Weihnachtsstollen. Geschenke hatten sie keine, und so schenkten sie einander sich selbst. Dann schlug ihm Kamila vor, gleich nach dem Krieg zu heiraten.

»Und werden dich die Leute nicht auslachen, wenn ich viel jünger bin?«, fragte er unsicher.

»Sie werden mich beneiden, dass ich so anziehend bin!«

Die erste Katastrophe brach am 12. Februar 1945 herein. Jan wurde von Lkw-Motoren aufgeweckt. Man fuhr die Frauen in eine andere Fabrik, wohin man schon vorher einen Teil der Maschinen von der Front weg verlagert hatte. Er stand wie erstarrt am Drahtzaun, dessen Durchgang man versperrte, und versuchte vergeblich, wenigstens noch einen letzten Blick von Kamila zu erhaschen, bevor er zur Arbeit musste. Der unendliche Tag zehrte nur von der Hoffnung, dass womöglich nicht alle weggefahren waren. Am Abend war die benachbarte Baracke leer. In dieser Nacht konnte er vor lauter Verzweiflung nicht schlafen. Weder der klare Himmel noch der glitzernde frische Schnee vermochten ihn zu trösten. Danach begannen die Bomben noch vor den Alarmsirenen einzuschlagen.

Zunächst sah es nach einem Angriff auf die Industrieviertel aus. Stärker als sonst lebte die Legende auf, dass Dresden von der Liste der Ziele, die durch Flächenbombardements vernichtet werden sollten, gestrichen worden sei. Die Arbeiter sollten sich in Schutzbunker begeben, aber nicht alle gehorchten. Jan gehörte zu denjenigen, die geradewegs zur nicht weit entfernten Elbe losliefen. Den breiten und langen Überschwemmungsstreifen mussten die Flieger kennen, hierfür waren ihnen ihre Bomben bestimmt zu schade. Von der Stelle aus, wo er auf Kamila getroffen war, verfolgte er mit den Augen wie in einem Gruseltheater, wie ihm gegenüber die Semperoper und der Zwinger zerbarsten und einstürzten. Den lieblichen Pinsel Canalettos löste die grausige Farbpalette von Hieronymus Bosch ab.

Für die Mehrheit derer, die überlebt hatten, schmolzen diese zwei Tage der Bombardierung zu einer Nacht zusammen. Der Qualm, der aus den brennenden Häusern aufstieg, verdunkelte bald die Sonne. Er hüllte die Stadt in eine dichte zusammenhängende Rauchwolke ein, aus der es weiterhin Bomben regnete. Zum Uferkorso der Ausländer flüchteten sich auch Einheimische, hauptsächlich Frauen und Kinder, viele waren von Schrammen, Wunden und Verbrennungen gezeichnet. Auf der riesigen Fläche konnte man nur noch stehen. Tausende weinten hier, stöhnten oder schauten nur gedemütigt und stumm dem nicht endenden Verderben zu.

Jan sah, wie der neunzig Meter hohe Dom, die Frauenkirche, wie eine Nuss barst, und die vordere Hälfte in Trümmer zerfiel. Dann wurde in der Luft ein Feuerwerk an Phosphorbomben abgebrannt. Hunderte von ihnen fielen auf den Fluss, der zu brennen anfing. Die Brandherde vereinigten sich, und der Luftstrom, durch die Explosionen verursacht, blies sie auf und verwandelte die gesamte Elbe in einen riesigen Rost. Das Flammengezüngel zuckte bis weit hinter die Ufer auf und verbrannte die zusammengepferchten Leute wie Fliegen. Das Geschrei aus tausenden Kehlen wuchs an und ging in Gebrüll und Heulen über. Körpermassen wälzten sich zurück vom Fluss, weiteren Bomben entgegen.

Jan stolperte über zu Tode Getrampelte und strengte sich an, selbst nicht anderen unter die Füße zu fallen. Sogar in diesem Wahnsinn spürte er ein stilles Glück, dass Kamila hier nicht mit ihm um ihr Leben kämpfte. Mit unzähligen anderen rannte er zwischen frischen Trümmern in Richtung Dresdner Neustadt, während die Hämmer am Horizont zur Abwechslung einmal in der Südstadt gellend einschlugen. Er sah schon den Fuß der verschneiten Hügel, aber da bekam auch der Norden der Stadt eine neue Portion an Eisen und Feuer. Der von der Asche verrußte Schnee war das Letzte, was Jan sah, bevor er in Dunkelheit versank.

Er kam im Krankenhaus der Stadt Bautzen zu sich. Dass er keine Papiere bei sich getragen und der Sanitätstrupp ihn für einen Deutschen gehalten hatte, war seine Rettung gewesen. Als er zu sich kam, hatten die Russen bereits die Befehlshoheit übernommen und suchten gerade unter den Verwundeten nach SS-Leuten. Zum zweiten Mal rettete er sich selbst, indem er aus dem bewusstlosen Zustand heraus irgendetwas auf Tschechisch faselte. Er hatte keine ernsten Verletzungen davongetragen, aber er wusste nicht, wer er war. Im August nahm ihm eine russische Armeeärztin Blut ab. Die bekannte Sprache und die raue Stimme gaben ihm sein Gedächtnis zurück. Zunächst kamen ihm Verse von Majakowskij in den Sinn. So erinnerte er sich an Kamila. Und durch sie fand er zu sich selbst zurück.

Das zerrüttete Europa erschwerte die Kommunikation. Erst nach einem Monat meldete sich seine überglückliche Mutter auf sein Schreiben hin, aber die Frage, ob sie wüsste, wie es um die Schauspielerin Nostitzová stehe, ließ sie unbeantwortet. Er beschwichtigte sich, sie habe es wohl in der überschwänglichen Freude vergessen, da er ihr vorher wegen der deutschen Zensur nichts über sie geschrieben hatte, und er belagerte die örtlichen Kommunisten, damit sie ihm als Genossen halfen. Sie waren ein kleines Häufchen, die meisten gerade aus den KZs oder aus dem Exil zurückgekehrt, und sie hatten genug eigene Schwierigkeiten mit schuldbeladenen Landsleuten. Dennoch richteten sie es ein, dass ihn ein propagandistisches Kommando der Sowjets mitnahm, das nach Prag verlegt werden sollte.

Er gewann die Russen, mit denen er sich recht gut verständigen konnte, für sich, weil er das Brudervolk vertrat, das auf sie so sehr, so viele Jahre gewartet hatte. Sie begeisterten ihn wiederum damit, indem sie ihn auf die Idee brachten, eine ähnliche Agitationsgruppe innerhalb der erneuerten kommunistischen Partei zu gründen. Da näherten sie sich schon Prag, und Jan freute sich nur noch auf Kamila. Bis ihm die Mutter die Augustausgabe einer aufgehobenen Zeitung zeigte. Er las, dass der berühmte Heimkehrer aus dem Exil, der Philosoph und Abgeordnete Felix Fischer sowie die vielbewunderte Patriotin, die Bühnenkünstlerin Kamila Nostitzová, die beide gleichzeitig für ihre Treue zum Vaterland durch den Präsidenten der Republik Edvard Beneš ausgezeichnet wurden, ihre Scheidung, durch allseits bekannte Umstände erzwungen, wieder aufheben ließen und erneut zusammenlebten.

Zum Weinen fühlte er sich schon zu alt. Um nicht wahnsinnig zu werden, ehe seine Rehabilitation abgeschlossen war und er in der Lage gewesen wäre, sein Studium wiederaufzunehmen, begann er von neuem Verse zu schreiben. In der Nacht über sie und am Tag über die Gefühle eines Menschen, der aus einem blutigen Tunnel in einen blauen Tag hervortrat. Das Abschiedsgedicht für die Sowjetarmee, die Befreierin, welche gerade die Tschechoslowakei verließ, wurde in der Zeitung ›Rudé právo – Das rote Recht‹ abgedruckt. Drei Tage später kam bei seiner Mutter ein verzweifelter Brief von Kamila für ihn an. Ein halbes Jahr nach dem Fliegerangriff und drei Monate nach Kriegsende hatte sie aufgehört, daran zu glauben, dass er die schreckliche Nacht in Dresden überlebt haben konnte. Sie bat ihn, das zu verstehen und über alles Gras wachsen zu lassen.

Er dachte darüber nach, neben dem Studium im neuen Jugendverband zu arbeiten, aber das Zentralbüro der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei wollte ihn für sich haben. Nach dem Vorbild der Gruppe, mit der er nach Prag gekommen war, gründete er einen »Kulturkader« kämpferisch ›Kulka – Die Kugel‹, genannt, bei dem sich haufenweise junge Künstler meldeten, um der Partei bei den Wahlen im Mai 1946 zum Sieg zu verhelfen. Lange bemühte er sich zudem, vergleichende Literaturwissenschaft zu Ende zu studieren, aber dann schaffte er es nicht mehr. Was er zu Ende brachte, weil er es um jeden Preis wollte, war die Gedichtsammlung »Ohne dich«. Die herbe Lyrik, die den Rezensionen zufolge durch die Finsternis des Protektorats gestrahlt hatte, wurde von den Kritikern und der Leserschaft begeistert aufgenommen. Jene, für welche er sie verfasst hatte, meldete sich abermals nicht.

Schon lange glänzte sie wieder auf der Bühne und neuerdings auch im Film. Jan schaute sich nichts davon an. Er war froh, dass er nach dem Luftangriff auch ihren Verlust überlebt hatte und es ihm gelungen war, nicht verrückt zu werden. Daher ging er auch allen öffentlichen Veranstaltungen aus dem Wege, bei denen die Gefahr bestand, dass sie sich treffen könnten. Er bemühte sich hartnäckig, seine innere Leere mit allerlei Betätigungen auszufüllen. Nach dem Beschluss des Zentralbüros wurde er Leiter des Feuilletons von ›Rudé právo‹, der im Land meistgelesenen Tageszeitung der Nachkriegszeit. Und auf dem Parteitag wurde er in einer offenen Abstimmung stellvertretend für die Künstler in das Zentralkomitee gewählt. Schon wieder schwirrten die Mädchen um ihn herum. Nach den Philosophinnen waren es nun Mädchen aus dem Jugendverband, die Blauhemden trugen, welche sie sich enger nähten, damit ihre Brüste hervortraten. Er war umso mehr gefragt, weil er allen Interessentinnen zufolge unerreichbar erschien.

Im dramatischen Februar 1948, als Klement Gottwald Jans Auffassung nach in genialer Art und Weise die Politiker der demokratischen Parteien und selbst Präsident Beneš schachmatt setzte, pflegte Jan sogar im Zentralbüro zu schlafen. Damals wurde er zum Liebling des Parteipropagandachefs, Richard Teringl, der bald darauf ins Politbüro der Partei berufen wurde und an der geplanten Fusion mit der Sozialdemokratie arbeitete. Die Linke sollte im Land nie mehr in zwei konkurrierende Lager gespalten sein.

Jan entschied sich, eine Zeit lang mit der Lyrik aufzuhören. Er erkannte, dass der Dichter in solch umstürzlerischen Zeiten nicht wie Jessenin, sondern wie Majakowskij schreiben musste. Seine Agitationsverse nannte er ›Kampfstrophen‹, und das ›Rudé právo‹ veröffentlichte sie jetzt beinahe jede Woche. Beim landesweiten Wettbewerb für künstlerisches Volksschaffen war er der meistrezitierte Autor. Er bemühte sich, alle Briefe zu beantworten, aber dann begrüßte er es, dass sein Chefredakteur ihm neben der Sekretärin auch einen Assistenten zuteilte, dessen maschinengeschriebene Briefe er nur noch unterschreiben musste. Man bot ihm eine Wohnung in einer Villa im Nobelstadtteil Střešovice an, die irgendein frischgebackener Emigrant hinterlassen hatte, aber er war mit seiner Mutter einer Meinung, dass beide sich nie von den Genossen im proletarischen Karlín entfremden wollten.

Schon schien es ihm, aus dem Gröbsten heraus zu sein, als von Kamila ein Schreiben mit einer Kinokarte zu ihm nach Hause kam.

Die Schlinge

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