Читать книгу Briefe aus der Hölle - Pavel Markovich Polian - Страница 20
Das Musterbeispiel einer Todesfabrik
ОглавлениеZur Täuschungstaktik gehörte es auch, die Symbole des Roten Kreuzes zu nutzen. Das Rote Kreuz prangte an den Sanitätswagen, mit denen der diensthabende Arzt und die SS-Henker zu den Aktionen hin- und wieder wegfuhren. Rote Streifen oder Kreuze waren auch auf den Mützen des Sonderkommandos aufgenäht oder aufgemalt; dessen Dienstkleidung waren nicht die gestreiften Häftlingsanzüge, die die Lagerverwaltung verteilte, sondern ganz gewöhnliche zivile Kleidung122, die bei den Opfern so wenig Verdacht wie möglich erregen sollte.
Was die Deutschen den Juden nicht in die Hand gaben und ausnahmslos sich selbst vorbehielten123, war das Morden, das Hineinwerfen von giftigen Pellets in die Gaskammern. Die eigentliche Henkerarbeit erledigte das SS-Personal der mittleren Riege. Jedes Mal, wenn sie zu den Gaskammern fuhren, wurden sie von einem Arzt124 begleitet, der das Ganze aus dem Auto heraus beobachtete: Gott bewahre, dass denen etwas zustößt!125 Natürlich hatten die SS-Soldaten Gasmasken, diese setzten sie aber, um mit ihrer „Tollkühnheit“ zu prahlen, nicht immer auf. Außerdem hatten sie spezielles Werkzeug, um die großen Dosen mit dem Granulat schnell öffnen zu können. Während sie das Granulat durch die speziellen Dach- oder Seitenöffnungen126 in die Gaskammern hineinschütteten, scherzten sie und plauderten miteinander über Nichtigkeiten. Danach verschlossen sie die Öffnungen mit klappladenartigen Verschlussstopfen aus Holz oder schweren Deckeln aus Beton. Manchmal aber schlossen sie die Öffnungen – entgegen den Anweisungen – nicht, sondern schauten durch die Gucklöcher der Gasmasken neugierig und triumphierend darauf, was unten geschah. Sie schauten zu, wie Menschen, übereinander herfallend, zu diesen Öffnungen stürzten, wie jene zuerst starben, die unten waren, vielleicht noch gar nicht durch Erstickung (der Todeskampf nahm nicht weniger als sechs bis sieben Minuten in Anspruch), sondern weil sie erdrückt wurden – das waren vor allem Kranke, Behinderte und Kinder. Vor dem Tod krallten sich die Menschen mit den Nägeln in die Wände fest, die vor ihnen schon zerkratzt worden waren … Hatten die SSHenker sich genüsslich sattgesehen, schlossen sie die Öffnungen, stiegen in die Autos mit den Fähnchen und den roten Kreuzen an der Seite und fuhren quatschend weg.
Zynismus und „Henkershumor“ waren weit verbreitet, etwa wenn Angehörige der SS den entblößten Kindern sagten, sie sollten die Seife nicht vergessen und ihre Schuhe und Sandalen schön zusammenbinden. Oder wenn der Arzt, der abwechselnd auf die Uhr und in das Guckloch der Gaskammer schaute, „Fertig!“ rief. „Der Kamin“ – so nannte das Personal verharmlosend die Krematorien. „Himmelskommando“ scherzten die SS-Wachen möglicherweise über die vernichteten Juden, vielleicht aber auch über das noch lebende Sonderkommando127. „Bedient euch“ oder „Wohl bekomms“ sagten sie jedes Mal, wenn sie das Gas in die „Duschkammern“ hineinwarfen. „Fischfutter“ sagte man scherzhaft über die Totenasche, die auf Lastwagen verladen wurde, um sie in der Weichsel oder der Sola zu entsorgen.
Gab es nicht allzu viele Opfer (die Obergrenze für dieses „nicht allzu viele“ lag unterschiedlichen Quellen zufolge bei 100 bis 500 Menschen)128, wurde kein Zyklon B vergeudet: Getötet wurde dann durch Genickschüsse aus Kleinkalibergewehren. Dies geschah innerhalb des Krematoriumsgebäudes, teilweise auch an den Verbrennungsgruben oder im Hof des Krematoriums. In solchen Fällen wurde der Grad der Beteiligung der Mitglieder des Sonderkommandos an dem Tötungsprozess um einiges klarer und offenkundiger: Nicht selten mussten zwei von ihnen das Opfer an den Armen und den Ohren festhalten, bis der Henker abdrückte129. Zwar war der eigentliche Mörder auch dann immer noch der deutsche Schütze, doch war es dem jüdischen Mitglied des Sonderkommandos in solchen Fällen nicht mehr möglich, das Gefühl der direkten Teilnahme an jenem Vorgang130 auszublenden.
Der Verbrennungsgrube oder dem Krematoriumsofen entging jedenfalls keines der Opfer. Von einem 70 bis 75 Kilogramm schweren Menschen blieben letztlich kaum mehr als 2,5 bis 3,5 Kilo dunkelgrauer Asche übrig. Allerdings brannten Beckenknochen selten ganz durch, sodass sie dann mit speziellen Vorrichtungen zermahlen werden mussten. Mit anderen Worten: Das Nadelöhr der Todesmaschinerie war nicht das Töten selbst, sondern das Verwischen der Spuren, die schnellstmögliche und vollständige Verbrennung der Leichen und die Beseitigung der Asche.
Auf eines aber konnte man sich verlassen: Die angewandte Ofentechnik war auf dem neuesten Stand, war Deutschland doch bei der Kremierung und der entsprechenden Technologie weltführend. Ihren ersten Ofen in Auschwitz hat die Erfurter Firma J. A. Topf & Söhne im August 1940 installiert. Schon Mitte August wurde er in Betrieb genommen und erhielt mit der Zeit die Bezeichnung „Krematorium I“. Dieses Krematorium wurde stets weiterentwickelt und hatte ab dem Februar 1941 schon vier Muffelöfen, die mit Koks befeuert wurden – im Mai 1942 waren es dann sechs. Am Anfang aber war die Kapazität dieses Minikrematoriums bescheiden: offiziell „nur“ 340 Leichen am Tag131.
Als in Berlin oder Wannsee die Entscheidung getroffen wurde, das KZ Auschwitz zu einer ultramodernen Anlage zur Judenvernichtung auszubauen, wurde klar, dass das Krematorium I diese Aufgabe nicht bewältigen konnte. Dessen improvisierte Gaskammer war viel zu klein und zu ineffizient. Endgültig stillgelegt wurde das Krematorium I allerdings erst im Juli 1943.
Der Bau eines leistungsstarken Zentrums aus vier Krematorien wurde im Sommer 1942 beschlossen und sodann auch in Auftrag gegeben. Gebaut wurde größtenteils im Winter 1942/43 mit oberster Priorität: An Materialien – Ziegelsteinen, Zement und Häftlingen – wurde nicht gespart. Die Erbauer des Krematoriums, auch wenn keine Mitglieder des Sonderkommandos, hatten ebenfalls viel zu erzählen.
Einer von ihnen, Lejb Silber aus Zichenau, der beim Bau des Krematoriums II mitgearbeitet hatte, berichtete über folgende Praktik. Der Kapo der Bauarbeiten am Krematorium II, ein deutscher Strafgefangener mit dem Spitznamen „Herkules“, der stets einen sowjetischen Soldatenmantel trug, und vier seiner polnischen Helfer schnappten sich ein paar Dutzend jüdischer Arbeiter und trugen ihnen auf, etwas vorzusingen. Im Gegenzug bekämen sie eine „gute“ Arbeit im Warmen, war das Versprechen. Die Arbeiter verwöhnten das Gehör der „Melomanen“ bereitwillig, wonach sie an die allerhöchste Baustelle geschickt wurden – dorthin, wo der riesige Schornstein des künftigen „Kamins“ errichtet wurde und wo das Gerüst besonders schmal und wacklig war. Der Hieb eines Polen mit dem Vorschlaghammer gegen dieses Gerüst genügte, damit es knarrend einstürzte und die Opfer aus der luftigen Höhe auf den gefrorenen Boden knallten. Andere Häftlinge wurden gezwungen, die Leichen zu der warmen Stube der Kapos zu schleppen, und manche davon sogar hinein. Die „Melomanen“ hatten ihre Opfer während des Singens nämlich aufmerksam beäugt und geguckt, wer von den Chorsängern Goldzähne hatte, die dann mit brachialer Kraft aus deren erkalteten Mündern ausgerissen wurden. Mit den SS-Wachen wurde alles vorher abgesprochen: Sie bekamen Schnaps. Und den Vorarbeitern wurde ein Unfall gemeldet, nach dem Motto: Die unerfahrenen jüdischen Häftlinge haben Sicherheitsregeln bei Höhenarbeiten verletzt. Für den nächsten Tag teilten die Aufseher statt dieser „Unerfahrenen und Unvorsichtigen“ neue Leute ein – manche von ihnen hatten bestimmt goldene Zahnkronen132.
Zwischen März und Juli 1943 wurden die Krematorien eines nach dem anderen in Betrieb genommen: die Krematorien II und IV zuerst, dann V und III. Jetzt stand den Öfen von Topf & Söhne große Arbeit bevor, ihnen kam die zentrale Rolle zu – nicht etwa bei der Entsorgung von Abfällen oder der Prävention von Epidemien, sondern bei der Endlösung der Judenfrage, bei der endgültigen Vernichtung dieses feindlichen und zersetzenden Judenleibs.
Kurt Prüfer und Fritz Sander, die Oberingenieure der Firma, hatten eifrig miteinander konkurriert bei der Suche nach neuen Lösungen und Technologien, die den Durchbruch im Ofenbau zur Entsorgung von einer großen Anzahl an Leichen bringen sollten. In ihrem Eifer hatten sie den Appetit ihres blutrünstigen Kunden bei Weitem übertroffen. So erarbeitete Prüfer das Konzept des „Ringeinäscherungsofens“, Sander hingegen entwickelte eine Art fließbandartigen vierstöckigen Verbrennungsofen, der im Grunde unterbrechungsfrei arbeiten konnte. In Sanders Brief an die Firmenleitung vom 14. September 1942 heißt es unverblümt: “Dabei bin ich mir vollkommen klar darüber, dass ein solcher Ofen als reine Vernichtungs-Vorrichtung anzusehen ist, dass also die Begriffe Pietät, Aschetrennung sowie jegliche Gefühlsmomente vollständig ausgeschaltet werden müssen.“133. Und: Angesichts der Konkurrenz bestehe dringende Notwendigkeit, seine Erfindung134 patentieren zu lassen, „damit wir uns die Priorität sichern“.
Derweil brachte die erste Anfeuerung enttäuschende Ergebnisse: Die Verbrennung der Leichen (je drei in den fünf einsatzbereiten Öfen) verlief äußerst langsam (ganze 40 Minuten). Also empfahlen die Technikexperten der Herstellerfirma, das Feuer innerhalb mehrerer Tage permanent aufrechtzuerhalten. Schon im März 1943 wurde in der Gaskammer des Krematoriums II eine ganze Zugladung an Juden umgebracht – eine Gruppe aus dem Krakauer Ghetto.
Die Krematorien II und III waren echte Ofenmonster. Sie hatten 15 Brennkammern (fünf Öfen mit je drei Muffeln), die Krematorien IV und V aber nur acht. Ihre 24-stündige Tageskapazität betrug, deutschen Berechnungen zufolge, 1.440 respektive 768 Leichen (Einzelbeschickungen). Zu Stoßzeiten wurde rund um die Uhr und in zwei Schichten gearbeitet, sodass die Einäscherungskapazität tatsächlich übertroffen wurde.
Auch der natürlichen Beobachtungs- und Rationalisierungsgabe des SSPersonals kam in dem Betrieb ein gebührender Platz zu. So wurde der Nachteil dessen, dass die Leichen immer etwas feucht in die Öfen geschoben wurden (vorher wurden sie über nassen Betonboden geschleift, der regelmäßig aus einem Schlauch mit Wasser begossen wurde, damit die Leichen glitten und leichter an die Öfen heranzuschleppen waren), dadurch kompensiert, dass Männerleichen in die Mitte, Kinderleichen ganz nach oben und Frauenleichen (sie hatten einen höheren Fettanteil) unter und über die Männerleichen gelegt wurden135.
Solange die Krematorien in Birkenau noch gebaut wurden, wurde der Betrieb durch zwei provisorische „Werkstätten“ der Auschwitzer Todesfabrik gleich in der Nähe sichergestellt: Zwei Bauernhäuser136 wurden umgebaut zu Tötungszentren von Menschen durch Gas. Es entstanden der sogenannte Bunker Nr. 1, auch das „Rote Haus“ genannt, mit zwei Gaskammern und der Bunker Nr. 2, das „Weiße Haus“, mit vier Vergasungsräumen. Ganz in der Nähe, zwischen den beiden künftig umzäunten Arealen der Krematorien, befand sich der Bereich für die Lagerung, Bearbeitung und Aufbereitung des Eigentums der noch lebenden Häftlinge wie auch der Wertsachen, Kleidung und persönlichen Gegenstände der Ermordeten137, das sogenannte Effektenlager.
Dieses gigantische Magazin erhielt im Lager eine zwar informelle, doch recht gebräuchliche Bezeichnung: „Kanada“ – von der Vorstellung herstammend, Kanada sei ein unsagbar reiches Land, in dem es förmlich alles gebe138. Selbst die SS-Wachen gebrauchten diesen Ausdruck.
Auf dem Höhepunkt der Aktion zur Vernichtung der ungarischen Juden wurde die Praktik der Leicheneinäscherung in Verbrennungsgruben wieder aufgegriffen. Man bereitete wahrlich gigantische Gruben vor: 40 bis 50 Meter lang, acht Meter breit und zwei Meter tief. Sie wurden noch eigens ausgestattet mit Rinnen zum Fettabfluss, damit es besser brannte139. Bis zur Inbetriebnahme der vier neuen Krematorien in Birkenau 1943 wurden die Leichen aus den Gaskammern auf Loren, die sich auf schmalen Schienengleisen bewegten, an diese Flammenschlünde herangefahren.
Ein echtes Musterbeispiel einer Tötungsfabrik: hervorragende Werkstätten, qualifiziertes Management, gedrilltes Personal! Hitler und Himmler als umsichtig-sparsame Chefs und die Juden als billige Arbeitskraft und zugleich günstiger Rohstoff – ob heimisch oder importiert, war nebensächlich: Transportkosten scheute man hier nicht. Überhaupt wurde an dem Wichtigsten, der industriellen Produktion jüdischer Asche, nicht gespart.