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Vorwort

von Hans-Heinrich Nolte

Genau und einfühlsam – Pavel Polians Edition der Schriftrollen von Auschwitz

Was wir heute „Auschwitz“ nennen, war während des Zweiten Weltkrieges ein etwa 40 Quadratkilometer großer „Sonderbezirk“ der SS nahe der Stadt Oświęcim im damals von Deutschland besetzten Polen. In dem Bezirk gab es Wohnungen für SS-Leute, eine große Buna-Fabrik der I.G. Farben, landwirtschaftliche Produktionsstätten und Fischzuchtanlagen. Im Zentrum des Bezirks standen zwei Lager, Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau, die in sich vielfältig unterteilt waren – Männer und Frauen, Juden und Roma, politische und kriminelle Häftlinge waren in besonderen, jeweils mit Stacheldraht umzäunten Abteilungen untergebracht. Die meisten Lagerinsassen waren Juden aus allen Teilen des besetzten Europa westlich des Bug. Die Häftlinge waren in Zügen nach Auschwitz gebracht worden und wurden auf dem Lagerbahnhof (der „Rampe“) danach begutachtet, wer noch arbeiten konnte („selektiert“). Der größere Teil – Frauen und Kinder, zu Alte und zu Junge – wurde unmittelbar in Bunker gebracht, die als Waschräume getarnt waren. Sobald die Türen geschlossen waren, wurde von oben Ungezieferbekämpfungsmittel (Zyklon B) hineingeworfen, das zum Erstickungstod führte. Der Todeskampf dauerte meist mehrere Minuten.

Die Leichen der in diesen Massenmorden umgebrachten Menschen wurden in besonderen, von der Firma Topf & Söhne gebauten Öfen verbrannt. Um die Leichen in die Öfen zu schaffen, die Asche fortzubringen und nicht verbrannte Knochen zu zertrümmern, stellte die SS „Sonderkommandos“ aus den zur Arbeit selektierten Häftlingen zusammen. Im Mai 1944 bestand das Kommando aus 874 Mann, von denen nur 25 keine Juden (sondern nichtjüdische sowjetische Kriegsgefangene, Polen und ein Deutscher) waren. Mehrere Mitglieder des Sonderkommandos nutzten die mit der „Arbeit“ verbundene größere Bewegungsfreiheit, um Kassiber und auch umfangreiche Blattsammlungen in Flaschen und anderem zu verstecken und diese Behältnisse zu vergraben: Nachrichten aus der Hölle. Am 7. Oktober 1944 wagte das Sonderkommando einen Aufstand, in dessen Verlauf ein Ofen zerstört werden konnte und immerhin zwölf Männern die Flucht gelang. Sie gehörten zu den wichtigsten Zeugen.

Vergleiche mit der Hölle, mit dem siebten Kreis des Infernos, und Analogien zum „Anus Mundi“, dem „Arsch der Welt“, werden oft benutzt, um Auschwitz allgemein und die Lage des Sonderkommandos im Besonderen zu beschreiben. Die Arbeiter des Kommandos waren durch Stigmatisierung mit dem gelben Stern, Ausgrenzung aus ihren Nachbarschaften, Deportation aus ihrer Heimat in Viehwagen, Selektion und Trennung von ihren Familien auf der Rampe isoliert und in ihrer Selbstachtung verletzt worden. Sie wurden durch Hunger und Schläge körperlich gefügig gemacht. Man befahl ihnen eine Arbeit, die körperlich Brechreiz hervorrief und psychisch die Grundregeln jenes Ich zu zerstören drohte, mit dem und nach dem sie bis dahin gelebt hatten. Das massenweise „ganze Verbrennen“ von menschlichen Leichen, die letzte Phase des Holocaust, sollte die Opfer zu bloßer Materie, zu gleichförmiger Asche verwandeln und allgemein – gegen die jahrtausendealte Kultur des Menschen sowie konkret gegen die Gebote der jüdischen Religion – das Gedächtnis an die Juden vernichten.

Für einen Historiker ist es leichter, diesen letzten Aspekt des Verbrechens zu begreifen zu suchen als Aspekte des bewussten Zerbrechens und Zermahlens von Menschen. Die Verbrennung der Leichen sollte nicht nur den Genozid der Deutschen an den Juden Europas verdecken, sondern auch die historische Existenz der Opfer und insbesondere der Juden nachträglich auslöschen, sollte den Beitrag von Menschen mosaischen Glaubens zur polnischen und deutschen, zur europäischen und zur globalen Geschichte sozusagen im Nachhinein zur Geschichtsfälschung, zu „Fake News“ machen. Deshalb bildeten die Verbrennungsöfen das Zentrum von Auschwitz und das Sonderkommando das Zentrum des Gedenkens, und die in der Asche überlieferten Papierrollen bilden heute das Zeugnis des jüdischen Überlebenswillens selbst unter entsetzlichsten Bedingungen. Die Todgeweihten des Sonderkommandos (dass einige überlebten, hatte keiner erwartet) weigerten sich, an den Erfolg des nationalsozialistischen Rassenwahns zu glauben, und übermittelten der Nachwelt, die sie nach dem Sieg über den Nationalsozialismus erwarteten, Botschaften: Was wir erdulden, ist ungeheuerlich, aber findet und straft die Verbrecher!

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Die neun Texte, die aus der Erde von Auschwitz geborgen wurden, sind – wie der Herausgeber feststellt – „die zentralen Egodokumente des Holocaust“. Von 36 Verstecken, über die ein Überlebender berichtet hatte, wurden immerhin neun gefunden. Pavel Polian macht diese neun mit seiner Edition für die breite Forschung zugänglich. Er stellt sie in den Rahmen der Geschichte ihrer Entdeckung im Kontext der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges, der in der UdSSR das Verschweigen des ethnisch/religiös jüdischen Anteils und im Westen eine Ideologisierung der Debatte um die Opferzahlen mit sich brachte. Er berichtet über die Debatten um jüdisch-deutsche Kooperation im Rahmen des Holocaust und diskutiert die Rolle des Sonderkommandos. Er beschreibt die technischen Probleme der Rekonstruktion von Texten, die teilweise durch Feuchtigkeit gelitten haben. Dann folgt eine umfangreiche Geschichte der bisherigen Editionen, die bis zur russischsprachigen Ausgabe Polians 2013 nicht vollständig in einem Band gesammelt waren. Die Texte wurden im jiddischen bzw. griechischen Original sowie in Übersetzungen, auf Polnisch, Englisch, Neuhebräisch, Deutsch und Russisch publiziert. Für die von Polian vorgelegte Edition in deutscher Sprache wurden alle Texte aus dem Jiddischen bzw. Griechischen neu übersetzt; dabei mussten auch Übersetzungsentscheidungen getroffen werden, die nötig wurden, weil die jiddischen Dialekte unterschiedlich sind und Wortbedeutungen sich nach der Vernichtung der ostjüdischen Welt nicht mehr unmittelbar erschließen. Polian benutzt wohlgemerkt im deutschen Text das Wort „Jiddisch“, das in manchen Kreisen Deutschlands als abfällig gilt.

An die umfangreiche Einführung schließt die genaue Edition der Texte an, selbstverständlich mit Angabe von Lücken, wo Schriftzeichen nicht mehr entziffert werden konnten oder ganze Sätze von Feuchtigkeit zerstört wurden. Die neun Editionen beginnen jeweils mit Darstellungen zu den Autoren und ihren Lebensumständen und bereiten auch inhaltlich auf die Analyse der Texte vor.

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Pavel Polian wurde 1952 in Moskau geboren. Er besuchte eine Fremdsprachenschule (Englisch) und studierte Geografie; 1980 promovierte er und arbeitete bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geografie der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. In diesem Jahr nahm er ein Stipendium der Humboldt-Stiftung am kulturgeografischen Institut in Freiburg an und arbeitete nach dem Ende des Stipendiums 1993 als freier Wissenschaftler. Einzelne Lehraufträge und Stipendien führten ihn nach Hannover, Paris, Princeton, Köln, Yale und Freiburg.

1998 wurde er in Moskau in Geografie habilitiert, 2008 zum Professor für dieses Fach an der Nordkaukasischen Universität Stavropol ernannt. 2015 wurde er Direktor des Mandelstam-Zentrums an der Hochschule für Wirtschaft und Vorsitzender der Mandelstam-Gesellschaft in Moskau.

Der ungewöhnlichen Berufsentwicklung Polians entsprechen seine vielfältigen wissenschaftlichen Produktionen in drei Disziplinen – Geografie, Philologie und Geschichte (sieht man hier davon ab, dass er unter dem Künstlernamen Pavel Nerler auf Russisch auch Gedichte veröffentlicht hat). Seine Publikationen im Fach Geschichte betreffen die Periode der Massenverbrechen der beiden Diktaturen. Ich führe im Folgenden die historischen Monografien zusammen mit zwei geografischen und einer literaturwissenschaftlichen auf, wobei ich die russischen Titel ins Deutsche übersetze:

– Nicht aus eigenem Willen. Geschichte und Geografie der Zwangsmigrationen in der UdSSR. Moskau 2001 (englisch Budapest 2004, polnisch Gdańsk 2015).

– Opfer zweier Diktaturen. Leben, Arbeit, Erniedrigung und Tod sowjetischer Kriegsgefangener sowie Ostarbeiter in der Fremde und in der Heimat. Moskau 1996. 2. wesentlich ergänzte Auflage Moskau 2002. (Die 1. Auflage erschien unter dem Titel „Deportiert nach Hause“ zum Teil auf Deutsch München 2001; die 2. Auflage in japanischer Übersetzung Tokio 2008.)

– Verdammte gehen zugrunde. Schicksale sowjetischer jüdischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Erinnerungen und Dokumente. Moskau 2006 (zusammen mit A. Shneer, Ausgabe in Hebräisch 2014).

– Negation der Negation, oder: die Schlacht um Auschwitz. Debatten über die Demografie und Geopolitik des Holocaust. Moskau 2008 (zusammen mit A. Koch, Übersetzung ins Englische Boston 2011).

– Die Wajnachen und die imperiale Macht. Probleme Tschetscheniens und Inguschetiens in der inneren Politik Russlands und der UdSSR (vom Anfang des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts). Dokumente und Materialien. Moskau 2010.

– Zwischen Auschwitz und Babyj Jar. Überlegungen und Forschungen zur Katastrophe. Moskau 2010.

– Zalman Gradovskij. Im Herzraum der Hölle. Schriften, die in der Asche neben den Öfen von Auschwitz gefunden wurden. Moskau 2010.

– Territoriale Strukturen. Urbanisierung

– Zersiedlung. Zugänge und Methoden der Forschung. Moskau 2013.

– Papierrollen aus der Asche. Das jüdische Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau und seine Chronisten. Rostow am Don 2013. 2. und 3. ergänzte Ausgabe, Moskau 2015 und 2018.

– Geschichtmord bzw. die Trepanation des Gedächtnisses. Schlachten um die Wahrheit über GULAG und Deportation, Krieg um den Holocaust. Moskau 2016.

– Geografische Arabesken. Räume von Inspiration, Freiheit und Unfreiheit. Moskau 2017.

– Ossip Mandelstams letzte Jahre: Verfemung, Verbannung und Tod eines Dichters, 1932–38. Paderborn 2017 (Übersetzung aus dem Russischen). (Hg.) Boris Menschagin. Errinerungen. Briefe. Dokumente. Moskau, 2019.

Pavel Polian hat eine Vielzahl von Aufsätzen zu „seinen“ Themen publiziert. Eine deutschsprachige Auswahl zum Kontext dieses Buches:

– Massenverbrechen in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Vergleich der Diktaturen. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 2.2 (2001). S. 125–147 (zusammen mit H.-H. Nolte).

– Sowjetische Juden als Kriegsgefangene. Die ersten Opfer des Holocaust? In: G. Bischof u.a. (Hrsg.). Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Wien u.a. 2005. S. 488–506. - Stalin und die Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs. In: J. Zarusky (Hrsg.). Stalin und die Deutschen. München u.a. 2006. S. 89–110.

– Hätte der Holocaust beinahe nicht stattgefunden? Überlegungen zu einem Schriftwechsel im Wert von zwei Millionen Menschen. In: J. Hürter, J. Zarusky (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust. München u.a. 2008. S. 1–20.

– Das Ungelesene lesen. Die Erschließung der Aufzeichnungen von Marcel Nadjari, Mitglied des jüdischen Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 65 (2017). S. 597–618.

Das Buch „Papierrollen aus der Asche“ wurde 2014 auf die Shortlist für den in Russland vergebenen Preis „Der Aufklärer“ gewählt. Ein großer Teil der Editionsarbeit wurde schon für die russische Ausgabe geleistet und diese liegt der deutschen zugrunde.

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Mit der vollständigen und präzisen Edition der „Papierrollen aus der Asche“ hat Pavel Polian einen grundlegenden Beitrag zur internationalen Holocaust-Forschung geleistet. Mit dieser erweiterten deutschen Edition hat er die Quellentexte nun auch im Land der Täter zugänglich gemacht. Einen der Autoren der Papierrollen (Salmen Gradowski aus Suwałki) kennzeichnet er als „stark und empfindsam zugleich“. Das gilt auch für den Historiker und Herausgeber Polian, aber ich möchte es etwas anders formulieren: „genau und einfühlsam“. Wie ein sehr guter Historiker sein muss.

Hans-Heinrich Nolte Universitäten Hannover und Wien
Briefe aus der Hölle

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