Читать книгу Skratschko & Patsch - P.C. Friedrich - Страница 10
Оглавление6. Kapitel
Nach einer überirdich süßen Musik hört der Verfasser Erschütterndes über Skratschkos einzige, aber unerfüllte Liebe. Dem Leser wird die Beachtung eines belanglos erscheinenden Taschentuches ans Herz gelegt.
Hohlschein scheint etwas zu ahnen. Anders kann ich mir den Sabotageakt, der mich lange an der Fortsetzung des Berichtes gehindert hat, nicht erklären. Der Schreibwarenladen neben dem Heim, in dem ich neues Papier kaufen wollte, hat Lieferengpässe. Hohlschein wird einen Anschlag auf die Papierindustrie verübt haben. Vermutlich hat er zudem sämtliche Papierreserven im Land aufgekauft. Ich sah mein Vorhaben schon zum Scheitern verurteilt, doch letzte Nacht ist es mir gelungen, eine neue Papierquelle aufzutun, von der Hohlschein nichts ahnen kann. Aus dem Büro des Hauses habe ich einen Aktenordner mit uralten Rechnungen, Überweisungsscheinen und Pflegeplänen entwendet, den niemand vermissen wird. Bei den meisten Blättern ist nur die Vorderseite bedruckt. Die leeren Rückseiten warten begierig auf meine Skratschko gewidmete Tinte.
Als Skratschko mir von seinem Duell mit Johnny, dem Maurer berichtete, ahnte ich bereits dunkel, dass Skratschko und Patsch mir etwas verheimlichten. Dass es Dinge in ihrem Leben gab, die sie glaubten mir nicht, oder noch nicht, zumuten zu können. Das machte mich natürlich ungeduldig und da ich auch nicht als Angsthase dastehen wollte, fragte ich Skratschko am nächsten Tag frei heraus nach seinem gefährlichsten Abenteuer. Um ihn ein wenig zu provozieren, fügte ich hinzu, er bräuchte mich nicht zu schonen, ich hätte schon ganz andere Sachen gehört.
Skratschko schaute mich lange mit seinen stahlblauen Augen an. Unwillkürlich wich ich seinem Blick aus und ließ den meinen lediglich über seine zerschnittene Frisur schweifen. „Mein gefährlichstes Abenteuer also? Wie dir beliebt. Ich denke, das war die Sache mit der kleinen, süßen Berta. Sie hatte immer so nette, geblümte Rüschenkleider und rosa Lackschuhe an und spuckte unablässig rotgrünkarierte, zigarrenrauchende Quallen aus. War eine fürwahr grässliche Angelegenheit. Hat sogar mich zum Schwitzen gebracht. Um ein Haar hätte ich dabei mein rechtes Bein und meine linke, unersetzliche Schnurrbarthälfte verloren. Es war so: ...“
Und nun begann Skratschko ausführlich von diesem Abenteuer zu erzählen, aber ich hatte längst gemerkt, dass diese eher harmlose Geschichte ein Ablenkungsmanöver war. Nein, ich hatte mich in Skratschko wahrlich getäuscht, wenn ich gedacht hatte, ihn so einfach aus der Reserve locken zu können. Nein, Skratschko behielt immer die Oberhand. Von der Wilden Annamarie berichtete er nur, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hielt.
Doch Skratschkos Wege sind unergründlich. Denn seltsamerweise schien kurz darauf bereits ein solcher Zeitpunkt gekommen zu sein. Unvermittelt reichte er mir ein weiteres Mosaiksteinchen aus ihrer Geschichte mit der Wilden Annamarie. Doch wie bei der Schilderung seines Duells mit Johnny, dem Maurer, schien Skratschko es auch an diesem Tag noch für angebracht zu halten, mit keinem Sterbenswörtchen anzudeuten, wie das nun zu schildernde Ereignis mit der Wilden Annamarie zusammen hängt.
Ich weiß noch, es war ein Samstag. Ich hatte keine Schule, weshalb ich bereits am Vormittag zu den beiden laufen konnte. Bevor ich die Lichtung sah, drang ein merkwürdig trauriger Gesang an mein Ohr. Je näher ich der Lichtung kam, umso mächtiger wurde ich in den Bann dieser Musik gezogen, die aus einer anderen, überirdischen Welt zu kommen schien. Wie benommen trat ich aus dem Gebüsch neben das große Weinfass und sah zu meiner Überraschung Patsch, der sich die Haare raufte, auf einem Bein hüpfte als habe er schreckliche Zahnschmerzen und schließlich versuchte, sich mit Fingernageldreck die Ohren zu verstopfen. Es war offensichtlich, dass ihn diese silberhelle Musik körperlich zu peinigen schien. Nun, ich hatte nie erwartet, in Patsch einen zartfühlenden Musikliebhaber zu finden, aber solch ein Getue überraschte mich trotz allem. Ich fragte ihn, was er denn habe.
„Wat ick hab. Det Gekreisch iss doch nich zu überhörn.“ Dabei winkte er mit dem Daumen über seine Schulter.
Und da sah ich erst, woher die Musik kam. Am anderen Ende der Lichtung stand Skratschko, mit der Schulter an den Stamm einer weit ausladenden Trauerweide gelehnt. Er hatte uns den Rücken zugewandt und sang sein engelsgleiches Lied in den tiefen Wald hinein, so als sei es nicht für sterbliche Ohren gedacht. In der rechten Hand hielt er ein harfenartiges Instrument, welches er – wie ich später bewundern konnte – kunstvoll aus einer Baumwurzel und ein paar einfachen Wollfäden gefertigt hatte.
„Was ist denn mit Skratschko?“, fragte ich Patsch, ohne meinen Blick von dem singenden Skratschko abwenden zu können.
„Wat?“, schrie Patsch. Wegen seiner verstopften Ohren konnte er mich kaum verstehen.
Ich wiederholte meine Frage laut und wies dabei auf Skratschko.
„Ach der“, schrie Patsch, „der hat heut seinen Sentimentalen. Die Sache mit Johnny, dem Maurer, die er die Tage erzählt hat, muss ihn an seine Stolzinea erinnert haben. Stolzinea! Seine Minnedame! Seine Muse! Seine Anjebetete! ...“ Patsch machte mit der rechten Hand eine schraubende Bewegung in die Höhe und verdrehte die Augen.
Es bricht mir fast das Herz, dass ich diese einzige Liebe des großen Skratschko mit diesen spöttischen Worten des wenig einfühlsamen Patsch einführen muss. Doch ich habe mich nun einmal selbst zu einem wahrheitsgetreuen Bericht verpflichtet.
In diesem Augenblick verklang Skratschkos Gesang. Ohne sich zu uns umzudrehen, hob er abwehrend die Hand und rief mit einer zarten, fast brechenden Stimme: „Nein, folgt mir nicht. Lasst mich alleine mit meinem holden Schmerz. Ein vor Sehnsucht Sterbender bittet um diese Gunst.“ Damit entfernte er sich und verschwand im Dunkel des Waldes.
„Wer ist Stolzinea? Was ist mit Skratschko?“, fragte ich verwirrt.
„Unser kleener Schwerenöter“, antwortete Patsch und spuckte aus dem Mundwinkel, „hatte sich seinerzeit unsterblich in sie verliebt. Hättest ihn sehn sollen. Er wurde weich wie en zu dick bestrich’nes Butterbrot. Heilandsack, war das en Gejaule. Tag unn Nacht röhrte er mit schmachtender Stimme seine verwanzten Romanzen und spinnigen Minnelieder. Er füllte janze Bibliotheken mit überkandidelten Sonetten und Bouletten, Terzinen und Kantinen, Stanzen, Wanzen, Oden und Pagoden. Selbst aus ihrem Magenknurren machte er in seinen Jedichten das lieblichste Gesäusel, das jemals auf Erden jehört wurde. Unn wofür dat Janze? Für Nischt unn wieder Nischt. Dreizehn Jahre lang hat se sich mit Komplimenten überschütten lassen und dann hat se ihn abblitzen lassen. Außer Besen nichts jewesen.“
In diesem Augenblick stürmte Skratschko aus einem Gebüsch hinter uns hervor, sprang auf Patsch, so dass dieser zu Boden fiel und setzte ihm die Spitze seines großen Schwertes auf die Brust. „Wage Er es nicht noch einmal, das Andenken der einzigartigen Stolzinea in den Schmutz zu ziehen. Er weiß ganz genau: Die edle Stolzinea konnte nicht anders, als meinem wandlungsreichen Werben zu widerstehen. Auch wenn ihr hermelinweiches Herz allein für mich schlug. – Ganz allein für mich.“
Skratschkos Zorn verebbte langsam. Er stieg von Patsch herunter, stützte sich erschöpft auf sein Schwert und wandte sich an mich. „Bereits vor ihrer Geburt hatte diese Unvergleichliche ihr Herz dem Friedhofswärter Professor Dr. Dr. Grünkloß versprochen.“
„Pah“, rief Patsch, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, wieder aufzustehen, sondern bloß einen Grashalm gepflückt und zwischen die Zähne geschoben hatte, „dann erzähl unserm Grünschnabel hier bitte schön ooch, wann se dir von diesem tollen Professor Grünkloß erzählt hat.“ Dann tat er, als interessiere ihn die Sache nicht weiter, zog einen kleinen Taschenspiegel hervor und widmete sich intensiv dem Hochbürsten seiner Augenbrauen.
Skratschko schniefte und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Es war im dreizehnten Jahr meines unermüdlichen Minnedienstes. Dreizehn Jahre, in denen ich ihr Herz bestürmt und in denen sie mit sich und ihrem Professor Grünkloß gegebenen Versprechen gerungen hatte. Ich hatte gerade Johnny, den Maurer, in seinem selbstgemauerten Gefängnis hinter Schloss und Riegel gebracht und eilte nun zu Stolzinea, um ihr – wie es sich nach jedem erfolgreichen Kampfe geziemt – einen Beweis meines Sieges gegen das Böse zu überbringen. So wie es die Regeln des Minnedienstes erfordern. Da ich keine andere Trophäe mein Eigen nennen konnte, überreichte ich ihr das Seidentaschentuch des elenden Johnny. In ihrem schlichten, weißen Kleid mit einem zierlichen goldenen Gürtel um ihre wespengleiche Taille sah sie aus wie eine von Michelangelo gemalte Madonna. Lange geruhte sie das Taschentuch zu betrachten, dann schüttelte sie ihr wallendes, goldenes Haar, das rauschte wie ein klarer Wasserfall in den höchsten Bergeshöhen. Mit einem Schluchzen vergrub sie ihr Gesicht in dem Taschentuch und unter Tränen eröffnete sie mir schließlich ihr Geheimnis: Ihre ohne Schmach und Schande nicht mehr aufzulösende Verlobung mit Professor Grünkloß. Auch wenn ich wie betäubt war von diesem, nur eines wahren Heroen würdigen Schicksalsschlag, so zog ich mich als unübertrefflicher Ehrenmann sofort zurück, wohl wissend, wir würden uns nie wieder sehen dürfen.“
(Der überforderte Leser wird hier um absolute Aufmerksamkeit gebeten. Das so belanglos erscheinende Taschentuch sollte er sich merken. Es wird später ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der damaligen Geschehnisse.)
„Bevor ich die Tür ihres Gemaches zu erreichen vermochte“, fuhr Skratschko nach einer Weile, in der er mit seinen Tränen gekämpft hatte, fort, „entwich ihren rosenroten Lippen noch einmal mein holder Name. ‚Skratschko’, sagte sie zu mir, ‚nimm zum Abschied und als Beweis meiner vergeblichen Liebe dieses Kleinod von mir und trag es auf deinem Herzen.’ Sie reichte mir ihren Lieblingsfeldstein, den sie sonst hütete wie ihren Augapfel. Überwältigt von dieser Geste, die ich als ihr bescheidener Diener nie zu erhoffen gewagt hätte, fiel ich auf die Knie, küsste den seligen Saum ihres Kleides, nahm demutsvoll den Feldstein entgegen, erhob mich gesenkten Hauptes und entfloh ihren Gemächern, da ich nicht mehr Herr all meiner ritterlichen wie unritterlichen Gefühle war.“
Skratschko legte den Rücken der rechten Hand anmutig auf seine Stirn, schloss die Augen und gab einen beängstigend schmerzvollen Seufzer von sich.
Verunsichert schaute ich fragend zu Patsch, doch der schien gar nicht zugehört zu haben. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen lag dieser vor mir auf der Wiese und kaute verträumt auf seinem Grashalm herum. Vorsichtig stieß ich ihn mit dem Fuß an und nickte unauffällig zu Skratschko.
Patsch richtete seinen Oberkörper auf und spuckte aus dem Mundwinkel. „Da iss nischt zu machen. Wenn er seinen Sentimentalen hat, iss er wie wegjetreten.“ Zum Beweis stand er auf und fuchtelte mit der Hand vor Skratschkos geschlossenen Augen herum. „Wir sollten diesen Moment der Ruhe jenießen, Kleener“, sagte Patsch und stand auf. Er schnappte sich einen Eimer voll Fingernageldreck, den er wohl schon am frühen Morgen zusammengekratzt hatte, um damit in der Mitte der Lichtung an seiner fünften oder sechsten Sandburg weiterzubauen.
Gänzlich weggetreten war Skratschko jedoch nicht, denn bevor ich mich ratlos hinsetzen konnte, senkte er plötzlich seinen Arm, räusperte sich und sprach mit belegter Stimme zu mir: „Es schmerzt mich, dass mein kleiner Freund, dem ich so viel Vertrauen entgegen brachte, mir keinen Glauben schenkt. Leugne es nicht, so etwas spüre ich.“
Betreten schaute ich zu Boden. In der Ferne hörte ich das Keckern eines Spechtes und es klang mir wie ein höhnischer Vorwurf in den Ohren. Ja, der weise Skratschko hatte auf den Grund meiner Seele geschaut, wo ich gemeint hatte, einen leisen Zweifel an seiner Geschichte verbergen zu können. Ich gebe es reumütig zu, die Sache mit dem Feldstein kam mir befremdlich und irritierend vor. Ich kann es nur damit entschuldigen, dass es mir damals noch nicht vergönnt gewesen war, einen Blick in die tiefen und dunklen Geheimnisse der Liebe zu werfen. Vor Skratschko jedoch blieb kein Geheimnis verborgen. Ohne, dass ich ein Wort gesagt hätte, wusste er auch exakt, an welchem Punkt sich das Gift des Zweifels in meinen Geist geschlichen hatte.
Mit Tränen bitterster Enttäuschung in den Augen schrie er plötzlich: „Hier! Sieh Er selbst, du ungläubiger Thomas!“ Mit einer gewaltigen Anstrengung bog er die Ritterrüstung über seiner linken Brust nach unten, bis mir genügend Einblick ermöglicht wurde.
Ich erbleichte. Was ich bisher für einen Buckel auf der Brustseite, für eine Missgestalt seines Körpers gehalten hatte, war ein fußballgroßer Feldstein. Ein unregelmäßig geformter Feldstein, dessen Erhebungen und Vertiefungen so vollkommen poliert waren, dass das nicht enden wollende Muster der Maserung ein Sinnbild der tiefsten und reinsten Liebe war. Verzückt von diesem Antlitz und gleichzeitig beschämt über mein unzureichendes Vertrauen zu dieser alles überragenden Persönlichkeit, sank ich unwillkürlich auf die Knie.
Patsch, dem wirklich nichts heilig war und der die Szene wohl beobachtet hatte, rief herüber: „Nu übertreib mal nich, Kleener. Der olle Skratschko iss schon einjebildet jenug. Iss doch jetzt schon so’n einjebildeter Gecko.“
Skratschko dagegen in seiner unermesslichen Güte sagte kurz und völlig unprätentiös zu mir: „Es sei Ihm verziehen. Schließlich ist er nur ein Menschling.“
So schlicht verzieh Skratschko die schlimmsten Verfehlungen und reichte einem die Hand. Mit keinem Wort erwähnte er jemals wieder diese für mich so schmähliche Szene.