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Anlass

Alles, was ich in meinem Leben je gedacht, gesagt und getan habe, geschah nach einem unbewussten Verhaltensmuster. Und die wahre Absicht dahinter war nicht die Freude am Sein, sondern der Wunsch, neuen Schmerz zu vermeiden. Freude entspringt nämlich der Wahrheit, und die habe ich gerade aus den Augen verloren. Deshalb kann ich sie auch nicht fühlen. Ein wesentlicher Teil von mir ist offensichtlich nicht an meinem Leben beteiligt. Er hat sich wahrscheinlich irgendwann in früherer Zeit zurückgezogen und entschlossen, nicht mehr da zu sein. Ich erinnere mich auch nicht, wann das gewesen sein könnte. Aber vielleicht spielt das gar keine Rolle? Denn Fakt ist, heute Abend bin ich ihm begegnet.

Ich begegnete jenem Teil, der bisher nicht leben wollte und mit der Haltung »Ich verstecke mich hier!« tief in meinem Inneren sitzend dachte:

Ach, die Menschen! Ich kenne ihre Schwächen. Und ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben.

In Wahrheit wollte ich mit diesem Teil in mir nichts mehr zu tun haben, denn er war genauso wie sie. Heute erst erkenne ich das. Wie arrogant ich doch war, andere für ihr Sosein zu verurteilen. Was hatte mich dazu bewogen? Ich empfand sie als unwürdig und hielt sie damit im Schatten. Jener Schatten, der nur mein eigener war – immer schon. Und vielleicht auch schon über viele Leben hinweg?


Es ist Spätherbst und ich sitze fröstelnd auf der Terrasse einer schönen Villa, die ich seit kurzem mein Zuhause nenne. Der Drang zu schreiben überkam mich von jetzt auf gleich und hindert mich nun daran, eine wärmende Decke herauszuholen. Seit längerem habe ich nicht mehr geschrieben, und wahrlich, es fühlt sich an wie heimzukehren. Früher hatte ich Angst, so allein in der Dunkelheit zu sitzen, doch heute vertraue ich.

Es geschieht eh, was geschehen soll.

Und womöglich beginne ich gerade das Buch meines Lebens. Wer weiß? Und es spielt auch keine Rolle. Es fühlt sich auf jeden Fall sehr gut an, denn es fließt aus mir heraus und die Worte wirken befreiend. Befreiend deshalb, weil ich nichts mehr vor mir und auch nicht vor Dir verberge. Es ist die Stunde der Wahrheit, und das Leben fordert mich auf, ihr jetzt im vollen Ausmaß zu begegnen. So tippe ich die Buchstaben Zeile für Zeile auf das leuchtende Weiß meines Laptops und spüre, wie verkrampft mein Körper ist. Doch ich mag mich nicht bewegen. Eben weil es so wichtig und dringend notwendig ist, mir meinen wahren Zustand bewusst zu machen.

Ich fühle Dich gerade als Leser und als Zeuge meiner Sätze, so als säßest Du neben mir und wir reden miteinander. Da bezeichne ich mich schon lange als psychologische Beraterin und stoße doch selbst immer wieder an meine Grenzen. Und ich nenne es an dieser Stelle bewusst noch »Grenzen«, weil ich sie brauche, um über sie hinwegzugehen.

Eine davon ist die Angst, meine geheimsten Gedanken offen auszudrücken. Und damit meine ich, sie als Worte so zu formen, dass nicht nur ich sie fühlen kann, sondern auch Du. Und da Du jetzt gerade diese Zeilen liest, weiß ich, dass Du dieselbe Wahrheit in Dir trägst. Wir haben sie beide noch nie ausgesprochen, geschweige denn sind wir je wirklich in sie eingetreten. Also lass es uns jetzt tun – gemeinsam! Denn nur wo zwei draufschauen, kann sie erkannt und befreit werden.

Aber warte kurz! Kann die Wahrheit überhaupt befreit werden? Die Wahrheit ist doch immer die Wahrheit, ganz gleich, wie sie aussieht.

Was will also erkannt werden – eine Lüge? Oder eine Illusion, die ich wie einen Vorhang vor die Wahrheit gehängt habe, um ein falsches Selbstbild zu schützen?

Ja, ich hatte immer viel zu verlieren. Zumindest glaubte ich das. Aber das, was ich gestern noch als Verlust empfand, ist heute der Weg in die Freiheit. Zwar weiß ich nicht, wie diese aussehen soll, doch ich fühle, dass ich jetzt anschauen muss, wovor ich so lange weggelaufen bin und was ich schnell abtat mit »Hab’ ich längst hinter mir!«. Nein, das habe ich eben nicht, und es wurde mir schlagartig klar, als ich das unnachgiebige Verlangen spürte, wieder zu schreiben.

Ich mache es kurz:

Seit drei Tagen stecke ich fest. So fest, dass ich mich selbst und die ganze Welt am liebsten in Stücke reißen würde. Ich wohne und arbeite auf ewige Freundschaft getauftem Boden und es gab heftigen Streit. Eigentlich will ich gar nicht darüber schreiben. Es reicht, dass es schlimm war. So schlimm, dass ich unfähig bin, auch nur ein Wort der Versöhnung auszusprechen, geschweige denn überhaupt zu denken. Die Märtyrerin in mir wetzt nämlich schon die Messer. Eine Rolle, die ich leider nur zu gerne spiele. Aber warum? Weil ich Harmonie nicht aushalte und keine Kraft mehr habe, immer wieder auf den Anderen zuzugehen?

Ich sehne mich wie jeder andere nach einem Menschen, der fähig ist, sich seine Fehler einzugestehen, mich wahrhaftig sein lässt und mir erlaubt, zu fühlen, dass ich ein liebendes Wesen bin. Ja, das bin ich wirklich. Ich weiß es. Und doch weiß ich es nicht. Denn immer, wenn mir jemand nahekommt, fährt innerlich eine trennende Glaswand hoch. Deshalb führte ich auch fünfzehn Jahre lang nur eine Beziehung, die mehr als Bettgeschichten und sofort zur Stelle sein, wenn man mich braucht, nicht bot. Ja, ich gebe es zu. Ich fürchtete, die Illusion einer Liebe, die nie existiert hatte, aufzugeben und zog sie stattdessen wie einen unsichtbaren Schatten hinter mir her – bis heute. Doch lieber unglücklich sein als frei und allein. Ja, das war meine geheime Überzeugung, und sie fiel mir nun erneut in der Konstellation »Freund fürs Leben« auf die Füße.

Wer hätte gedacht, dass ich von heute auf morgen in ein so tiefes Loch falle? Und womöglich habe ich die Krise auch noch selbst verursacht. Ja, eine tiefe Wunde ist aufgeplatzt, und der Eiter jahrelanger Verdrängung pulsiert gerade wie Lavamasse durch meine Adern. Ich möchte hier weg, am besten gleich wieder ausziehen und von vorn anfangen. Aber ist das der richtige Weg?

Die Wahrheit ist, ich habe mich meinen Mitmenschen gegenüber nie wirklich geöffnet, sondern nur so getan. Ich spielte eine Rolle, die mich nach außen liebevoll, gut, spendabel, schön und erfolgreich aussehen ließ, doch hinter der perfekten Frau war ich nur eine Diebin. Diebin im Sinne von Bestätigung klauen. Und es hat mich nie erfüllt.

Doch jetzt ist Schluss damit!

Die Fassade bröckelt, denn ich will und kann keine Schauspielerin mehr sein. Und jetzt ist der Moment, wo ich es zugebe und den Sprung durch die gläserne Wand, die mich gefangen hält, wage.

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