Читать книгу Gesetz der Banditen: Western Bibliothek 15 Romane - Pete Hackett - Страница 82
Roman
Оглавление„ Pfoten hoch, sonst knallt’s!“
John wusste, dass er keine Chance hatte. Die Kerle hatten ihn überrascht.
Vier Männer. Raue, abgerissene Typen. Die harte Sorte vom rauchigen Trail.
Zwei hielten ihre Spencer-Gewehre auf ihn gerichtet. Der dritte zielte mit zwei Revolvern auf Johns Magengrube. Der vierte kramte in den Satteltaschen des Braunen, den John am Ufer des kleinen Creeks zwischen einer Baumgruppe festgebunden hatte.
Langsam hob John die Hände.
„ Was soll das?“, fragte er mit ruhiger Stimme, obwohl er die Antwort schon wusste. Die Kerle hatten sich nicht an ihn herangeschlichen, um mit ihm zu palavern.
Der Mann mit den zwei Revolvern lachte. Er war der Wortführer der Banditen. Ein großer Mann, ebenso groß wie John, mit bulliger Statur und einem üppig wuchernden, schwarzen Bart.
„ Ein bisschen Gymnastik kann nie schaden“, erklärte er grinsend. „Höher mit den Fingern!“
Er wartete, bis John gehorchte. Dann gab er einem seiner Kumpane einen Wink.
Der Bandit, ein junger, schlaksiger Bursche, trat von hinten an John heran und zog ihm den Peacemaker aus dem Holster. Er steckte Johns Waffe in den Hosenbund und glitt wieder zwei Schritte zurück.
„ Gut, Kiddy“, sagte der Bärtige zufrieden. Sein Blick schien John abzutasten. „Fremd in dieser Gegend?“, fragte er lauernd.
John dachte an das Geld in den Taschen seiner Lederjacke, und das flaue Gefühl in seinem Magen verstärkte sich noch.
Dreitausend Dollar.
Dafür hatte er mehr als einmal Kopf und Kragen riskiert. Fast ein halbes Jahr Arbeit.
Drei Jobs. Als Deputy in Ponca City, Oklahoma. Als Leibwächter eines reichen Ranchers im Pawhusky County. Und als Transportbegleiter der Wells Fargo Company in Kansas.
Dreitausend Dollar. Das Startkapital für eine Zukunft mit Susan. Susan, das zierliche, blonde Mädchen, das in Winfield auf ihn wartete.
„ Eh, ich hab dich was gefragt!“, blaffte der Bärtige.
John vermied es, in die Mündungen der beiden Revolver zu blicken. Er wog noch einmal seine Chancen ab und kam endgültig zu der Erkenntnis, dass seine Lage aussichtslos war. Die Kerle waren Profis, daran bestand kein Zweifel. Sie hatten ihn kalt erwischt. Sie waren aufeinander eingespielt, und sie gaben sich keine Blöße.
„ Ja, Mister“, antwortete John, „ich bin fremd hier. Wollte nach Winfield. Muss wohl ein bisschen die Orientierung verloren haben. Oder bin ich noch auf dem richtigen Weg?“
Der Bärtige tauschte einen Blick mit seinen Kumpanen.
„ Er will nach Winfield“, sagte er mit seltsamer Betonung. „Na, ist das nicht prächtig?“ Er lachte wie über einen Witz. Der Mann rechts von John stimmte in das Lachen ein. Kiddy blieb stumm.
„ Wir werden dir den richtigen Weg schon zeigen“, erklärte der Bärtige. Er fühlte sich mit den beiden Revolvern im Anschlag stark und überlegen. Die Situation schien ihm Spaß zu machen.
Der Bandit bei Johns Pferd stieß einen Pfiff aus. „Eh, verdammt, der Kerl ist ein Sternträger!“ Seine hohe Stimme klang schrill, beinahe erschrocken.
Es war John, als streiche eine eisige Hand über seine Wirbelsäule.
Der Stern!
Die Bürger von Ponca City hatten ihm den Stern bei seinem Abschied geschenkt. Aus Dankbarkeit, weil er die Stadt vom Terror einer Banditenbande befreit hatte. Als Erinnerung.
John sah, wie es in den Augen des Bärtigen aufblitzte.
„ Das is’n Ding“, murmelte der Bandit. Die Revolver in seinen Fäusten ruckten hoch.
„ Erzähl mal“, sagte er hart. „Wer bist du, und was hast du hier verloren? Ich schätze, du wirst dir eine verdammt gute Erklärung einfallen lassen müssen.“
John sagte mit gleichgültiger Stimme: „Ach, das Stück Blech ist ein Souvenir, so ’ne Art Talisman. Ich war mal ein paar Wochen lang Deputy in Ponca City. Aber das ist lange her. Die Brüder haben mich zu lausig bezahlt.“
Der Bärtige starrte ihn finster an. Sekundenlang war es totenstill.
„ Reichlich komischer Zufall“, sagte der Bandit schließlich. „Ich trau dem Braten nicht. Die Sache stinkt. Ein Sternträger auf dem Weg nach Winfield! Wo jeder weiß, dass der alte Masterson einen Nachfolger sucht. Na, wie findet ihr das, Jungs?“ „Gefällt mir gar nicht“, sagte der Mann seitlich von John. Er sprach atemlos und undeutlich. „Was meinst du, sollen wir ihn ...“
Der Bärtige schien zu überlegen. John spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Sein Pulsschlag beschleunigte sich.
„ Hört mal, Leute“, sagte er mit erzwungener Ruhe. „Ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich kenne weder einen Masterson, noch habe ich vor ...“
Er spürte die Bewegung hinter sich, wollte den Kopf zur Seite reißen, doch es war zu spät. Etwas schien auf seinem Hinterkopf zu explodieren. Der junge Bandit namens Kiddy hatte zugeschlagen.
Der brutale Hieb löschte Johns Bewusstsein aus.
Er spürte nicht mehr, wie er zusammensackte und vornüber fiel.
*
Jefferson Pall lächelte.
„ Stimmt auffallend“, sagte er zufrieden und verstaute das Banknotenbündel in seinem Schreibtisch. „Die Firma dankt, mein Freund.“
Er schloss die Schublade ab und steckte den Schlüssel in die Tasche seines Prince-Albert-Rocks.
Dann zwinkerte Pall seinem Gegenüber zu.
Bob Melville wich dem Blick aus. Er konnte den feisten Mann nicht leiden. Es war ein Tick von Pall, jeden mit „mein Freund“ anzureden und dabei vertraulich zu zwinkern und zu blinzeln. Palls schmierige Art war Melville zuwider. Aber er brauchte den Mann.
„ Hoffentlich geht alles klar“, sagte Melville.
Der fette Mann mit dem pausbäckigen Gesicht steckte sich ein Zigarillo an. Genussvoll blies er den Rauch aus. Seine Rechte fächerte den Rauch zur Seite.
„ Na klar geht alles klar“, erklärte er überzeugt. „Dafür garantiert Jefferson Pall, mein Freund. Ich habe vier meiner besten Cowboys mit dem Job beauftragt.“
Cowboys, dachte Melville, dass ich nicht lache. Banditenpack ist das, nichts anderes.
Für einen Augenblick bereute er, sich mit Pall eingelassen zu haben. Aber dann sagte er sich, dass es keine andere Lösung seines Problems gab. Er steckte in der Klemme. Er war auf Pall und seine Banditen angewiesen.
Er selbst konnte die Bank in Winfield nicht überfallen.
Jedermann in der Stadt wusste, dass er einen Schuldschein unterschrieben hatte. In einer einzigen Nacht hatte er dreitausendsechshunert Dollar beim Pokern verloren.
Diese verdammte Spielleidenschaft.
Es war wie ein Fieber über ihn gekommen.
Wenn er bis zum Ende des Monats den Schuldschein nicht einlöste, musste er Kenton, dem Nachbarrancher, die Südweide abtreten. Gutes Weideland, das an den Bach grenzte.
So stand es in dem Dokument, das er in jener Nacht im Saloon unterschrieben hatte. Der Sheriff und der Bankdirektor hatten als Zeugen unterzeichnet. Kenton war ein gerissener Hundesohn und hatte sich abgesichert.
Der Schuldschein lag im Safe der Bank von Winfield ...
Pall unterbrach Melvilles Gedankengang.
„ Bald sind Sie Ihre Sorgen los, mein Freund“, sagte er jovial. Er faltete die Hände vor dem fetten Bauch. „Sie zahlen die zweite Rate, also noch mal fünfhundert, und Sie bekommen dafür den Schuldschein. Das ist doch ein gutes Geschäft, oder?“
Pall zwinkerte ihm grinsend zu.
„ Sie sind ein großer Menschenfreund“, sagte Melville spöttisch.
Palls wässrig-blaue Augen blickten beinahe schläfrig. Er drückte das Zigarillo im Aschenbecher aus. Dann zuckte er gleichmütig mit den Schultern.
„ Ich bin Geschäftsmann“, sagte er, und ein Grinsen spielte um seine wulstigen Lippen.
Melville senkte den Blick. „Okay, Pall, ich komme dann morgen Abend wieder. Hoffentlich verläuft alles reibungslos.“
Pall rieb sich die Hände. „Darauf können Sie sich verlassen.“
Eine Fliege krabbelte über die Schreibtischplatte. Pall verfolgte sie einen Augenblick lang mit den Augen, dann klatschte seine Hand herab.
„ Volltreffer“, verkündete er und hielt Melville das tote Insekt auf der Handfläche hin.
Melville erhob sich.
„ Also dann“, murmelte er und wandte sich zur Tür.
„ Vergessen Sie die zweite Rate nicht!“, rief Pall ihm nach.
Melville gab keine Antwort.
Die Tür fiel hinter ihm zu. Schritte verklangen auf der Veranda. Kurz darauf klang Hufschlag auf.
Pall stemmte sich ächzend aus dem Stuhl und schritt zum Fenster. Er blickte dem Reiter nach, der in einer Staubwolke verschwand.
Wenn du wüsstest, was ich weiß, dachte er zufrieden.
Er ging zu der Tür, die zum Nebenraum führte, und öffnete sie.
„ Entschuldigen Sie, Mister Kenton, dass ich Sie so lange warten ließ. Ihr Freund ist gerade weggeritten. Jetzt können wir uns in Ruhe über das Geschäftliche unterhalten.“
*
Dämmerung senkte sich über die Stadt. Die beiden Lampen vor dem Winfield Number One Saloon schaukelten im Abendwind, der von Norden her über die Main Street wehte und Staub aufwirbelte.
Aus dem Saloon klangen Stimmengewirr und das Klimpern eines Pianos.
Patrick Delany stieß die Flügel der Schwingtür auf und betrat das Lokal. Tabaksqualm und der Geruch von Alkohol und Schweiß trieben ihm entgegen. Ein Betrunkener torkelte an ihm vorbei ins Freie.
Patrick Delany verzog angewidert das Gesicht. Er verachtete Menschen, die sich gehenließen. Er trank nie mehr als zwei Glas Bier. Aus Prinzip.
Doch an diesem Tag brach Patrick Delany mit seinen Grundsätzen. Er setzte sich an einen freien Tisch und bestellte bei Susan, der blonden Kellnerin, einen Whisky.
Susan blickte den Mann mit dem grauen Tuchanzug überrascht an.
„ Whisky, Mister Delany?“, vergewisserte sie sich.
Delany nickte. Nervös suchte er in seinen Taschen nach einer Zigarre. Er rauchte sonst immer zwei Zigarren pro Tag, eine nach dem Mittag und eine nach dem Abendessen.
Heute hatte er bereits vier Zigarren geraucht.
Patrick Delanys Welt war ins Wanken geraten.
Susan bemerkte die Veränderung des Mannes. Sie musterte ihn beinahe sorgenvoll.
„ Was ist, Susan?“, fragte er, „warum schauen Sie mich so an? Sie haben mich doch bisher mit keinem Blick gewürdigt. Ich war Ihnen doch nicht gut genug.“
Die letzten Worte klangen bitter, voller Selbstmitleid.
Susan zwang sich zu einem Lächeln. Es war ein scheues Lächeln, das um Verständnis bat.
Delany, der kleine, stille Bankangestellte, hatte sie lange umworben. Vor sechs Wochen hatte sie seinen Heiratsantrag abgewiesen. Sie hatte über seine unbeholfene Liebeserklärung lachen müssen. Sie ahnte nicht, wie sehr sie ihn damit gekränkt hatte.
„ Immer noch böse mit mir, Patrick?“, fragte sie weich.
Delany blickte sie an. Seine Miene zeigte eine Mischung aus Trauer und Trotz. „Nein, das bin ich nicht. Warum sollte ich auch? Ich habe schließlich kein Recht auf Sie. Wenn Sie immer noch an diesem John hängen ...“ Er zuckte mit den Schultern. Eine mutlose, resignierte Geste. „Ich kann nichts daran ändern. Glauben Sie wirklich, Susan, er kommt eines Tages wieder?“
Susan nickte heftig. „Ich weiß es. Er hat es mir gesagt.“
„ Na ja.“ Wieder hob Delany die Schultern. „Wenn er das gesagt hat. dann wird’s wohl stimmen. Geben Sie mir jetzt einen Whisky?“
„ Natürlich.“
Verwirrt wandte sich Susan ab und ging zum Tresen, um bei dem kahlköpfigen Joel die Bestellung aufzugeben.
„ Whisky?“, fragte auch Joel verwundert. „Hat er tatsächlich Whisky bestellt?“
Susan nickte abwesend. Sie war in Gedanken bei John. Das kurze Gespräch mit Delany hatte sie aufgewühlt. Wie lange war John jetzt schon fort? Eine Ewigkeit. Einmal hatte er ihr geschrieben. Ein einziges Mal. Sie kannte den Brief auswendig. Wenn die Einsamkeit zur Qual wurde und die Sehnsucht in ihr zu brennen begann, dann holte sie den Brief aus ihrem Nachttisch und las ihn, immer wieder. Und sie träumte von dem Tag, an dem John zurückkommen und sie in die Arme nehmen würde.
Joel, der Keeper, brachte den Whisky selbst zu Delany. Susan bediente einen anderen Gast.
Joels gutmütiges Mondgesicht zeigte ein breites Grinsen.
„ Hallo, Mister Delany. Es freut mich, dass Sie mal meinen Whisky kosten wollen. Ein vorzüglicher Tropfen, das kann ich Ihnen sagen.“
Wortlos nahm Delany das halbgefüllte Whiskyglas und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.
Wie gebannt schaute Joel zu. Ein ungewohnter Anblick. Patrick Delany, der Korrekte, der Standhafte, trank Whisky!
Delany bekam einen Hustenanfall. Joel klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken.
„ Teufelszeug“, ächzte Delany. Und dann fügte er zu Joels grenzenloser Verwunderung hinzu: „Noch einen davon!“
Joel ging eilig zum Tresen und holte die Flasche. Er schenkte großzügig ein und beobachtete fasziniert, wie Delany wiederum wie ein Verdurstender trank.
„ Viel zu tun in der Bank?“, fragte Joel mit scheinbarem Interesse, weil ihm nichts anderes einfiel und er die Gunst der Stunde nutzen wollte, einmal mit dem sonst so verschlossenen, stillen Mann zu plaudern.
Delany setzte mit einem Ruck das Glas ab und starrte Joel finster an. „Wieso?“
Joel lachte unsicher. „Ich dachte nur – ich meine, wenn man den ganzen Tag Geld zählt, da bekommt man schon mal Durst, Mister Delany.“ Und grinsend setzte er hinzu: „Ist doch ein schöner Job, den Sie haben. Ständig im Geld wühlen ...“
Delany lachte amüsiert.
„ Sie sind ein Witzbold“, sagte er. „Sie vergessen, dass es nicht mein Geld ist, in dem ich wühle. Genauso gut könnte ich sagen, dass Sie einen Traumjob haben. Den ganzen Tag und die halbe Nacht in der Kneipe. Bei Whisky, Weibern und Musik ...“
Joel lachte herzlich.
Der Pianospieler hatte etwas von Musik gehört und hämmerte von neuem auf die Tasten ein. Er spielte nicht schlecht, obwohl er wie immer um diese Zeit bereits halb betrunken war.
Ein anderer Gast rief nach Joel, und der Keeper murmelte eine Entschuldigung und ging davon. Die Whiskyflasche ließ er vor Delany auf dem Tisch stehen.
Delany spürte, wie ihm der Alkohol in den Kopf stieg. Seine Wangen begannen zu glühen. Einen Augenblick lang machte er sich Vorwürfe, weil er seinen Grundsätzen untreu geworden war. Dann erfasste ihn eine Welle von Selbstmitleid und verdeckte das Gefühl der Scham. Mit einem weiteren Schluck besänftigte er sein schlechtes Gewissen.
Verdammt, schuld an allem war dieses Teufelsweib.
Lydia Cohen.
Ihretwegen war seine Welt zusammengestürzt wie ein Kartenhaus. Oder etwa nicht? Vielleicht war alles Schicksal. Vielleicht hatte er die dreißig Jahre seines Lebens nur auf eine Frau wie Lydia gewartet?
Seine Gedanken drehten sich im Kreis.
Er schenkte sich noch einmal Whisky ein. Sein Puls hatte sich bei den Gedanken an Lydia beschleunigt.
Er hatte nie geglaubt, dass Himmel und Hölle so nahe beieinander liegen könnten.
Vor drei Wochen war es passiert. Schlagartig hatte sich sein Leben geändert ...
Lydia kam in die Bank.
Sie wünschte eine Auskunft über ihr Konto, die er ihr nicht auf der Stelle geben konnte. Er entschuldigte sich und versprach, die Unterlagen für den nächsten Tag herauszusuchen.
Sie lächelte ihn die ganze Zeit über an. Ein geheimnisvolles, lockendes Lächeln, das ihn zutiefst gefangen nahm und verwirrte.
Bevor sie ihm die Hand reichte, um sich zu verabschieden, lud sie ihn zu sich ein. Am Abend ging er zu ihr. Er blieb die ganze Nacht.
Von dem Konto und der gewünschten Auskunft war nicht mehr die Rede gewesen. Nicht in dieser Nacht.
„ Du kannst wiederkommen“, sagte sie, als er sich im Morgengrauen aus ihrem Haus schlich.
Er war wiedergekommen.
Beim dritten Mal hatte er bezahlen müssen. Einen stolzen Betrag, fast einen halben Monatslohn. Aber da war er bereits so verrückt nach ihr, dass er jede Summe hingeblättert hätte, um seine Leidenschaft austoben zu können.
Er war Lydia verfallen.
Und ihre Geldforderungen steigerten sich in dem Maße, in dem sie seine Begierde anheizte. Und dann, als er keinen lausigen Cent mehr besaß, wollte sie Informationen. Über die Bank, über den Kontostand der reichen Bürger, über den Direktor, über den Safe ...
Er hatte mit sich gekämpft, hatte gewusst, dass er den entscheidenden Schritt auf den falschen Weg tat.
Er hatte den Kampf verloren ...
Patrick Delany trank sein Glas leer und legte ein paar Geldscheine auf den Tisch. Er wusste nicht, was der Whisky kostete, und er bezahlte fast den doppelten Preis, aber das war ihm auch gleichgültig.
Auf ein paar Dollar kam es jetzt nicht mehr an. Er steckte zu tief in der Sache mit drin. Es gab kein Zurück mehr.
*
Sein Gang war beschwingt, als er den Saloon verließ. Er war in Gedanken und hörte nicht, wie ihm Joel einen Gruß nachrief. Seine Gedanken drehten sich um Lydia. Er musste zu ihr. Jetzt gleich.
Draußen sog er tief die frische Luft ein.
Sein Blick glitt über die stille Main Street. Der Vollmond verschwand gerade hinter einer Wolke. Ein Mann trat aus dem Sheriff Office und blieb auf dem Gehsteig stehen. Der Stern auf der Jacke des Mannes blinkte matt im Schein des Laternenlichts. Der alte Masterson begann seinen abendlichen Rundgang durch die Stadt.
Patrick Delany wartete, bis Masterson in die andere Richtung verschwunden war, dann ging er entschlossen durch die dunkle Gasse neben dem Saloon. Er umrundete das Gebäude und gelangte an die Rückseite des Nachbarhauses. Es war ein kleiner, einstöckiger Holzbau mit nur zwei Räumen.
Er klopfte an die Hintertür. Dreimal.
Dann wartete er mit pochendem Herzen.
Er vernahm Schritte, die sich der Tür näherten, und atmete auf.
Die Tür wurde geöffnet. Lydia blickte ihn überrascht an.
„ Ach du bist’s. Schon wieder.“ Sie musterte ihn und erkannte mit kühlem Verstand, in welcher Verfassung er sich befand. „Na, komm schon rein, oder willst du da Wurzeln schlagen?“
Ihre Stimme klang dunkel und weich und schwingend.
Benommen folgte Delany der Frau in den Raum.
Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Ein dicker Teppich. Ein Sofa, mit grünem Samt bezogen, zwei Sessel und ein Schaukelstuhl vor dem offenen Kamin.
An der Wand über dem Sofa hing ein Gemälde mit verschnörkeltem Goldrahmen.
Lydia Cohens Porträt in Öl.
Große, wie fragend blickende, dunkle Augen, ein beinahe madonnenhaftes Gesicht, von langem, schwarzem Haar umschmeichelt, ein kleiner Mund mit halbgeöffneten, lächelnden, lockenden Lippen.
Sie schritt mit wiegenden Hüften zum Schaukelstuhl.
Lydia trug ein himmelblaues Kleid aus Seide. Der dünne Stoff spannte sich um ihre Kurven wie eine zweite Haut. Die schwarzen Lederstiefel bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem eleganten Kleid.
Sie wandte sich um und musterte Patrick Delany. Sie bemerkte seinen verlangenden Blick, mit der er ihren Körper umfing, und lächelte.
Sie wusste, welche Wirkung sie auf Männer hatte, kannte diese Blicke, bewundernde, schmachtende, lüsterne Blicke. In diesem frauenarmen Land war eine schöne Frau wie ein seltenes Juwel. Schon viele Männer hatten sich geprügelt und geschossen, um ihre Gunst zu erwerben.
„ Du hast getrunken“, stellte sie fest. Sie sagte es freundlich und nicht vorwurfsvoll, doch er senkte schuldbewusst den Blick. Er war einen Kopf kleiner als sie, und er stand etwas gebeugt vor ihr, die Schultern hochgezogen, als fröre er.
In Wirklichkeit war es ihm heiß, sehr heiß.
„ Ich wette, du warst im Number One “, fuhr sie fort. „Das war nicht sehr klug von dir. So kurz vor der Entscheidung. Was ist nur in dich gefahren? Hattest du vielleicht Sehnsucht nach der kleinen Susan?“
Fast trotzig warf er den Kopf in den Nacken.
„ Das ist doch längst vorbei“, sagte er. „Das weißt du doch. Lydia, ich – ich halte das alles nicht mehr aus. Ich bin mit den Nerven am Ende.“
Sie legte ihre schmale, gepflegte Rechte auf ihre Hüfte und wiegte sich kaum merklich. Ihre Haltung war hoheitsvoll und herausfordernd zugleich.
„ Du musst dich zusammenreißen, Patty“, sagte sie sanft. „Morgen sieht alles ganz anders aus. Du bekommst deinen Anteil und bist alle Sorgen los. Niemand wird dich mit dem Bankraub in Verbindung bringen ...“
„ Und wenn etwas schiefläuft?“
„ Aber Patty, was soll denn schieflaufen? Du brauchst nur zu tun, was die bösen Bankräuber von dir verlangen. Das ist doch wirklich kein Problem.“
Sie räkelte sich in dem Schaukelstuhl und wippte auf und ab. Mit glänzenden Augen starrte er sie an, beobachtete, wie sich ihr Busen unter dem dünnen Stoff hob und senkte.
„ Ja“, murmelte er, „es wird schon alles gutgehen.“ Er ging zu ihr, kniete sich neben sie, bettete seinen Kopf in ihren Schoß.
Sie streichelte über sein Haar, und sein Atem beschleunigte sich. Sie genoss es, dass er ihr zu Füßen lag.
Demütig wie ein Hund, dachte sie. Kleiner Pinscher.
Ihr Blick glitt zu dem Ölgemälde. Frank McDouglas hatte es gemalt. Der einzige Mann, den sie je wirklich geliebt hatte ...
Der einzige Mann, dem sie zu Füßen gelegen hatte.
Und sie lachte, lachte laut und spöttisch.
Sie lachte Patrick Delany aus, wie Frank McDouglas sie damals ausgelacht hatte.
Delanys Kopf ruckte hoch. Beinahe erschrocken blickte er sie an.
Seine Unsicherheit bereitete ihr tiefe Genugtuung. Langsam, aufreizend langsam, öffnete sie die obersten Knöpfe des Seidenkleides.
„ Lydia, ich bin verrückt nach dir“, stammelte er. „Du machst mich wahnsinnig.“ Er wollte sie küssen, doch sie bog den Kopf zurück. Es machte ihr Spaß, ihn zappeln zu lassen.
„ Nicht, Patty, sei vernünftig.“ Sie wehrte sich zum Schein, erfreut, dass er den letzten Rest seiner Beherrschung verlor.
„ Du hast doch kein Geld, Patty. Du bist ein Nichts.“
Die gleichen Worte hatte damals Frank gebraucht. Frank, den sie über alles geliebt hatte.
Du hast doch kein Geld, Lydia. Du bist ein Nichts.
Er hatte sie ausgelacht, gedemütigt, tief in ihrem Innern verletzt. Und ein paar Tage später hatte er die millionenschwere Witwe aus dem Osten geheiratet ...
Ihre Worte ernüchterten Delany schlagartig. Er kam sich plötzlich jämmerlich vor, fühlte sich wie ein getretener Wurm.
Lydia bemerkte die Veränderung, die mit ihm vorging.
„ Mach nicht so ein Gesicht, Patty“, sagte sie lächelnd. „Morgen bist du ja wieder bei Kasse. Zieh dich aus. Ich gebe dir einen Vorschuss auf deinen Anteil.“
*
Jefferson Pall musterte sein Gegenüber.
Ray Kenton, der Rancher, war ein kleiner Mann mit schmächtiger Figur. Er war, wie Jefferson Pall wusste, achtundvierzig Jahre alt, doch er wirkte wesentlich jünger. Man hätte ihn auf Anfang Dreißig schätzen können.
Er trug Jeans, ein grüngelb kariertes Baumwollhemd und eine Weste aus schwarzem Leder.
Das tiefgebräunte Gesicht mit den hellblauen Augen strahlte Gutmütigkeit aus. Der 45er Colt an der Hüfte des kleinen Mannes wirkte beinahe lächerlich.
Doch Jefferson Pall lachte nicht.
Er wusste, dass Kenton die Waffe nicht zur Zierde trug.
Und er wusste, wie gefährlich der kleine, schmächtige Mann war. Schon viele hatten den Fehler gemacht, ihn zu unterschätzen. Sie hatten ihren Irrtum mit dem Leben bezahlt.
Ray Kenton war nicht immer Rancher gewesen. Erst vor drei Jahren war er im Winfield County aufgetaucht. Jetzt besaß er die größte Ranch im Umkreis von fünfzig Meilen. Das Startkapital für sein Imperium hatte er sich mit dem Revolver verdient.
Als Killer.
Jefferson Pall kannte ihn seit vielen Jahren. Eine Zeitlang war er Kentons Partner gewesen. Er wusste alles über die blutige Vergangenheit des Mannes, der ihn hergeholt hatte, um seine schmutzigen Geschäfte von anderen ausführen zu lassen und selbst den Biedermann spielen zu können. Aber sein Wissen nutzte Pall nicht viel. Wenn er es preisgab, lieferte er sich selbst ans Messer.
Außerdem lebte er nicht schlecht von den Aufträgen Kentons. Und zu tun gab es für den machtbesessenen Mann genug.
Ray Kenton holte ein paar Dollarscheine aus seiner Tasche und warf sie auf den Tisch.
„ Du bist mir dafür verantwortlich, dass die Sache mit Melville sauber erledigt wird“, schnarrte Kenton. Er hatte eine unangenehm heisere Stimme.
„ Sicher, Kenton“, sagte Jefferson Pall und nahm die Scheine an sich wie ein Kellner, der ein Trinkgeld einsteckt.
In den blauen Augen des kleinen Mannes glitzerte es.
„ Mister Kenton“, sagte er, und seine Haltung straffte sich. Er war sehr eitel, und er betrachtete sich als Mittelpunkt der Welt. Für ihn war es eine Beleidigung, wenn man ihn nicht hofierte. Man erzählte sich, dass die Männer auf seiner Lohnliste ihn mit Sir anreden mussten. Wer nicht vor ihm kuschte, handelte sich einen Haufen Ärger ein.
Ray Kenton, der kleine Großrancher, war der einzige Mann, den Jefferson Pall nicht mit „mein Freund“ anredete.
Pall lächelte breit. „Entschuldigung, Mister Kenton.“
So verkommen der Bandit auch war, einen Rest von Selbstachtung wollte er sich erhalten. Am liebsten hätte er diesem größenwahnsinnigen Zwerg die Faust auf die Nase geschmettert. Aber er beherrschte sich, denn er wusste, dass er sich damit selbst zum Tode verurteilt hätte. Ray Kenton war immer noch ein Ass mit dem Revolver.
Jefferson Pall griff in Gedanken nach einem Zigarillo.
„ Lass das!“, fuhr Ray Kenton ihn heiser an. „Du weißt, dass ich keinen Rauch vertragen kann!“
Plötzlich stieg Zorn in Jefferson Pall auf. Zorn und Hass. Er musste sich in seinen eigenen vier Wänden wie ein dummer Junge behandeln lassen. Dieser Killer, der jetzt den ehrenwerten Rancher spielte, hielt ihn wohl für den letzten Dreck. Bildete sich der Kerl ein, jeden und alles kaufen zu können?
Pall hatte Mühe, seinen Aufruhr der Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Er zwang sich zu einem Lächeln.
Doch Kenton war das Funkeln in Palls Augen nicht entgangen. Er spürte, dass Palls Lächeln gequält war, und er lenkte ein, denn er brauchte den Mann und seine Banditen für seine Pläne.
„ Deine Jungs haben neulich gute Arbeit geleistet“, sagte er jovial. „Dieser dreckige Siedler war mir schon lange ein Dorn im Auge. Wurde Zeit, dass er von meinem Land verschwand. Wenn jetzt noch die Sache mit Melville abgewickelt ist und ich seine Weide kassiere, gibt’s für dich eine Extraprämie. Na, was hältst du davon?“
„ Das höre ich gerne, Mister Kenton“, erwiderte Pall erfreut. „Sie sind sehr großzügig, Mister Kenton.“ Kenton grinste geschmeichelt. „Man tut, was man kann“, meinte er gönnerhaft. Er blickte den fetten Mann an und stellte zufrieden fest, dass nichts mehr von der kurz aufflackernden Abneigung zu bemerken war. Na also, dachte er, jeder Mensch hat seinen Preis. Auch dieser Fettwanst. Und irgendwann, wenn ich ihn nicht mehr brauche, bekommt er seine letzte Prämie: eine Kugel zwischen die Augen.
„ Ich denke an tausend Dollar“, fuhr Kenton freundlich fort. „Nur für dich. Zusätzlich zu der vereinbarten Summe für den Überfall. Das ist doch ein gutes Angebot, oder?“
„ Na klar, Mister Kenton.“, Jefferson Pall war jetzt wirklich erfreut. Das Gefühl des Hasses gegen Kenton und sein großspuriges Gehabe verloren sich. Jetzt dachte er nur noch an Geld.
Jefferson Pall war für Dollars bereit, einen Pakt mit dem Satan zu schließen.
Überschwänglich bedankte er sich bei Kenton.
Und Kenton genoss das Gefühl der Macht über andere Menschen. Er war zufrieden mit sich. Ich bin wirklich der Größte , dachte er. Ich habe das Köpfchen, und die anderen merken nicht, dass sie nur meine Werkzeuge sind. Man braucht diesen hirnlosen Kriechern nur ein paar Krümel hinzuwerfen, und sie vergessen den großen Kuchen, den ich mir durch sie unter den Nagel reiße. Sie machen die Drecksarbeit, und ich bin der King.
Kenton strich sich über sein kurzgeschnittenes, schwarzes Haar, das streng nach hinten gekämmt war, und lächelte selbstgefällig.
„ Also, dann bis morgen Abend“, sagte er und erhob sich.
„ Jawohl, Mister Kenton.“ Jefferson Pall stemmte sich ächzend hoch und begleitete Kenton zur Tür.
Neben dem kleinen, schmächtigen Mann wirkte Pall wie ein Koloss.
An der Tür drehte sich Kenton noch einmal um.
„ Und sollte Melville vor mir hier eintreffen, weißt du, was du zu tun hast.“
Pall nickte.
„ Wie abgesprochen, Mister Kenton. Er wird überrascht sein, dass er anstelle seines Schuldscheins ’ne Kugel verpasst bekommt.“
Beide Männer grinsten.
Ein Zwerg und ein Riese. Doch in einem Punkt unterschied sie nichts voneinander.
Sie waren beide Verbrecher.
Ein Menschenleben zählte nichts für sie.
*
Heiß brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel.
Der einsame Reiter zügelte sein Pferd auf einem Höhenrücken. Schon seit einiger Zeit hatte er den Flug der Bussarde verfolgt, die immer tiefer über der Ebene kreisten.
Roy Hunter wusste, was das zu bedeuten hatte.
Er zog sein Fernrohr aus der Satteltasche und spähte in die Ebene hinab.
Ein totes Pferd.
Er schwenkte das Fernrohr weiter. Und dann sah er die reglose Gestalt eines Menschen.
Ein Mann.
Roy Hunter verstaute das Fernrohr und nahm die Zügel. Er klopfte dem schwarzbraunen Hengst auf den Hals und sagte: „Wird wohl noch ’n bisschen dauern, bis wir beide etwas zu saufen bekommen, alter Junge. Sieht ganz so aus, als müsste ich erst noch jemand begraben.“
Der Schwarzbraune schnaubte. Es klang beinahe vorwurfsvoll.
Roy Hunter ritt in leichtem Galopp. Der Hengst bewies, wie ausdauernd er war. Ein langer Ritt lag hinter ihm. Das Fell des Tieres war staubbedeckt und wies dunkle Schweißflecken auf.
Roy Hunter war seit Tagen im Sattel. Sein Ziel war Winfield.
Er suchte einen Mann.
Er suchte John Collins.
Roy Hunters Miene verfinsterte sich, als er an diesen John Collins dachte. Er kannte den Mann nicht, war ihm noch niemals begegnet. Er hatte nur eine Beschreibung von ihm, und er wusste, dass John Collins in Winfield eine Freundin hatte. Das hatten seine Nachforschungen ergeben. Es war damit zu rechnen, dass John früher oder später nach Winfield zurückkehren würde.
Und dann wollte Roy Hunter ihm die Rechnung präsentieren.
Die Rechnung für seinen toten Bruder.
Wieder stieg Hass in ihm auf. Hass gegen den Mann, der Frankie erschossen hatte.
Seine Augen verengten sich, als er sich der Stelle näherte, über der die Bussarde immer tiefer kreisten.
Er parierte den Schwarzbraunen und ritt im Schritt weiter.
Sein Blick glitt wachsam in die Runde.
Keine Menschenseele.
Roy Hunter sah die Spuren mehrerer Pferde, die von dem toten Pferd und der stillen Gestalt nach Süden führten.
Er zügelte das Pferd und blickte auf den reglosen Mann hinab. Er lag auf dem Bauch. Roy Hunter sah das getrocknete Blut am Hinterkopf, an der Schulter und am Oberschenkel.
Der Mann war niedergeschossen worden, getötet wie das Pferd, das abseits des Lagerplatzes in einer verkrusteten Blutlache lag.
Der Mann ist überfallen worden, dachte Roy Hunter. Ein seltsames Gefühl nahm ihn plötzlich gefangen. Irgendetwas mahnte ihn, ließ ihn stutzen.
Wieder blickte er zu dem Pferd hin. Ein Appaloosa. Fliegen krabbelten über den Kadaver.
Dieser John Collins ritt auch einen Appaloosa.
Roy Hunters Kopf ruckte zu der reglosen Gestalt herum.
Die Kleidung des Mannes passte zu der Beschreibung!
Roy Hunter schwang sich aus dem Sattel. Er schritt auf den Toten zu, drehte ihn mit der Stiefelspitze herum.
Und dann traf ihn der Schock.
Ja, es war John Collins. Die Beschreibung passte haargenau. Es war der Mann, der Frankie getötet hatte.
Der Mörder seines kleinen Bruders lag zu seinen Füßen.
Und er war nicht tot, wie Roy Hunter angenommen hatte.
John Collins lebte!
*
John schlug die Augen auf. Ein wahnsinniger Schmerz zuckte durch seinen Schädel. Er wusste nicht, was geschehen war. Ein Stöhnen kam aus seiner Kehle. Seine Zunge war geschwollen und wie ausgedörrt. Kreise drehten sich vor seinen Augen. Er blinzelte. Der glühende Feuerball der Sonne schien auf ihn herabzufallen.
„ Nein – nein!“ Er wollte schreien, doch nur ein Würgen kam über seine aufgesprungenen Lippen.
Er schloss die brennenden Augen und hatte plötzlich das Gefühl, schwerelos in der Luft zu liegen.
„ John Collins!“
Die Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.
Die Luft wurde ihm knapp. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Panik überfiel ihn. Sein Atem ging rasselnd. Schweiß rann über sein Gesicht.
Er blinzelte und öffnete wieder die Augen.
Der Feuerball war verschwunden.
Etwas Dunkles war über ihm. Ein Schatten. Der Schatten nahm Konturen an.
„ John Collins!“
Die Stimme kam von dem Schatten. Jetzt erkannte John, dass ein Mann vor ihm stand.
„ Wasser“, ächzte er. „Wasser ...“
Seine Lippen zitterten, als er die Worte formte. John Collins war überzeugt davon, dass er schrie, doch in Wirklichkeit krächzte er nur.
Der Mann vor ihm bewegte, sich. Wieder blendete ihn der Feuerball, schien in seine Augen zu stechen wie eine glühende Nadel. Dann war der Schatten wieder da.
Etwas Lauwarmes rann über sein Gesicht, benetzte seine Lippen. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass es Wasser war. Er öffnete die geschwollenen Lippen. Ein heißes Glücksgefühl durchströmte ihn, als er das Nass auf der Zunge spürte. Er schluckte. Der Lebenswille flackerte wieder in ihm auf.
Plötzlich brannten seine Lippen wie Feuer. Er verschluckte sich und hustete. Der Geruch von Alkohol drang in sein Bewusstsein.
Jemand flößte ihm Whisky ein.
Ein Mensch war bei ihm. Ein Mensch, der es gut mit ihm meinte.
Der Alkohol trieb John Collins Tränen in die Augen. Eine wohlige Wärme erfasste seinen Körper, schien die Schmerzen zu dämpfen. Es war nur ein Trugschluss, ein letztes innerliches Aufbäumen gegen den unabwendbaren Tod.
Er blickte den Mann an, der vor ihm stand. Sein Blick wurde klarer. Er erkannte, dass der Mann einen Revolver auf ihn gerichtet hielt.
Schlagartig setzte die Erinnerung ein. Bruchstücke nur, die jedoch langsam zu einem Ganzen wurden.
Er war überfallen worden.
Sie hatten ihn niedergeschlagen und beraubt. Susan. Er war auf dem Weg zu Susan. Sie wartete auf ihn ...
Der Mann mit dem Revolver musste einer von den Banditen sein.
John Collins wurde von Panik erfasst.
Er versuchte sich aufzurichten, doch er schaffte es nicht. Mit einem Stöhnen sank er wieder zurück. Und da war wieder die Übelkeit, das Gefühl der Hilflosigkeit und Schwäche.
Seine Gedanken wurden klarer. Und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er sterben musste. Todesangst hielt ihn im Griff.
„ Schieß doch!“, brach es über seine brennenden Lippen. „Schieß – und – sei verdammt...“
Seine Stimme verwehte.
Roy Hunter blickte mitleidlos auf ihn hinab.
„ Das ist nicht mehr nötig“, sagte er hart. „Du machst es nicht mehr lange, John Collins. Ja, ich wollte dich zur Hölle schicken, aber das Schicksal wollte es anders. Ich bin froh darüber. Mit dir stirbt mein Hass, John Collins ...“
Er stieß den Revolver ins Holster zurück.
In diesen letzten Minuten seines Lebens bäumte sich John Collins’ Natur noch einmal auf. Plötzlich wich die Benommenheit, und eine seltsame Ruhe vertrieb das Gefühl der Panik. Sogar seine Stimme festigte sich. Seine Worte waren leise, und das Sprechen bereitete ihm unsagbare Anstrengung, doch sie waren für Roy Hunter zu verstehen.
„ Wer bist du?“
„ Ich bin der Bruder von Frank Hunter. Ich soll dich von Frankie grüßen. Er wird sich freuen, dich in der Hölle wiederzusehen.“
„ Frank – Hunter?“
„ Ja. Erinnerst du dich? Du hast ihn in Ponca City erschossen. Jetzt musst du selber sterben. Wenn du mich fragst, ich halte das für ausgleichende Gerechtigkeit.“
Roy Hunter sah, wie sich in John Collins’ Augen die Erinnerung spiegelte. Ein schmerzhaftes Lächeln stahl sich auf das schweißbedeckte Gesicht des Sterbenden.
Ein Lächeln, das Roy Hunter irgendwo tief in seinem Innern traf und auf seltsame Art rührte.
„ Ja ...“, kam es langsam, doch klar über John Collins Lippen. „Frank Hunter habe ich erschossen. Ich wollte es nicht, aber er ließ mir keine andere Wahl. Ich war Deputy in Ponca City. Und dein Bruder – er war ein gemeiner Bandit ...“
In Roy Hunters dunklen Augen blitzte es auf. Sekundenlang sah es so aus, als wollte er sich auf den Sterbenden stürzen. Nur mühsam behielt er die Kontrolle über sich.
„ Lüge!“, keuchte er.
John Collins schüttelte kaum merklich den Kopf. Er schloss die Augen, und seine Brust hob und senkte sich unter einem seufzenden Atemzug.
„ Warum sollte ich lügen? Ich weiß, dass ich sterben muss. Hoffentlich dauert es nicht mehr so lange – diese Schmerzen bringen mich um den Verstand. Aber ich weiß noch, was ich sage. Der Tod kommt langsam – vielleicht sollte ich dich um eine schnelle Kugel bitten ...“
Verzweiflung packte Roy Hunter. Er war sicher, dass der Sterbende die Wahrheit sprach. Sein Bruder ein Bandit? Niemals. Er hatte ihn zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. Jeder war seiner Wege gegangen. Und als er nach Ponca City zurückgekehrt war, wo er sich mit Frankie treffen wollte, hatte ihm der Marshall das Grab auf dem Stiefelhügel gezeigt ...
„ Du hast ihn kaltblütig ermordet, John Collins!“ Hunter schrie fast. „Der Marshall hat es mir erzählt ...“
Wieder dieses bittere, seltsam verklärte Lächeln, das Roy Hunter zutiefst rührte.
„ Ich war Deputy in Ponca City“, sagte John Collins. „Und dein Bruder überfiel mit zwei Kumpanen die Bank. Sie töteten kaltblütig den Kassierer und feuerten auf alles, was sich bewegte. Um ein Haar hätte mich dein Bruder erwischt, als er mit der Beute aus der Bank stürmte. Es gab ein Feuergefecht. Ich traf deinen Bruder tödlich. Und es tut mir nicht leid. Er war ein Verbrecher. Seine verletzten Kumpane wurden zwei Tage später aufgehängt. So wäre es Frank Hunter auch ergangen, wenn ich ihn nicht in Notwehr erschossen hätte ...“
Seine Stimme wurde leiser. Er forschte im Gesicht des Mannes, der unendlich groß vor ihm aufragte, und er schloss erschöpft die Augen, als er instinktiv spürte, dass Roy Hunter ihm glaubte.
Roy Hunter hatte Mühe, mit dem Aufruhr seiner Gefühle fertig zu werden.
„ Aber warum hat mir der Marshall nichts von dem Überfall erzählt? Warum hat er dich als Mörder bezeichnet?“ Verständnislos schüttelte er den Kopf.
John schwieg. Er suchte nach einer Antwort.
Roy Hunter kniete neben ihm nieder und träufelte von neuem Whisky auf seine Lippen. Dankbar blickte John Collins zu ihm auf.
Schließlich sagte er: „Heißt der Marshall von Ponca City Snyder?“
„ Ja. Fred Snyder.“
„ Dann kann ich mir denken, weshalb er dir nicht die Wahrheit gesagt hat. Er war schon immer ein Feigling. Und er hat mich beneidet wegen meiner Erfolge. Die Bürger haben mich gefeiert und ihn ausgelacht. Und jetzt ist er Marshall ...“
John Collins’ Worte verwehten.
Roy Hunter war wie betäubt. Er zweifelte nicht mehr daran, dass John Collins die Wahrheit gesagt hatte.
Wie sehr hatte er diesen Mann gehasst!
Ein Zittern ging durch John Collins’ Körper. Er bäumte sich auf, und seine Hand krallte sich in Roy Hunters Arm.
„ Susan ...“, keuchte er, „Susan ...“
Roy Hunter hatte Mühe, den Namen zu verstehen. Er wusste, dass John Collins auf der Schwelle zum Jenseits war. Die Lippen des Mannes formten Worte, die fiebrig glänzenden Augen flehten ihn an.
Er beugte sich zu dem Sterbenden hinab.
„ Wer ist Susan?“
John Collins atmete rasselnd. Sein Blick schien jetzt in weite Ferne gerichtet.
„ Ich – liebe sie. Winfield ...“ Seine Stimme brach. Noch einmal bäumte er sich auf. „Banditen – in Winfield – Susan ...“
Der Hauch eines Lächelns. Noch ein letzter seufzender Atemzug.
Dann war es vorüber.
John Collins war tot.
Roy Hunter drückte ihm die Augen zu. Er verharrte noch einen Augenblick bei dem Toten, dann richtete er sich benommen auf.
Zu vieles war auf ihn eingestürmt. Er hatte erfahren müssen, dass sein Bruder Frankie, der einzige Mensch, der ihm noch etwas bedeutet hatte, ein Bandit gewesen war. Der Hass hatte ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Er hatte einen Unschuldigen vor den Revolver holen wollen. Ein Mensch, auf den eine Frau in Winfield wartete.
Der Hass war erloschen. Er empfand stattdessen ein Gefühl der Scham. Und unbändigen Zorn auf die Verbrecher, die John Collins zusammengeschossen und für die Aasfresser liegengelassen hatten.
Die aufgestauten, sich streitenden Gefühle suchten nach einem Ventil.
Er zog seinen Coltrevolver und feuerte wild in den Himmel, um die Bussarde zu verscheuchen, die immer noch über der Stätte des Todes ihre Kreise zogen.
*
„ Eh, Kiddy, was ist los?“
Harry Sheffield, der bärtige Anführer des Banditenrudels, musterte den Jungen, der an seiner Seite ritt.
„ Du machst ein Gesicht, als hättest du in ’nen Kaktus gebissen. Und zwar in einen besonders stachligen.“
Kiddy blickte stur geradeaus. Schließlich erwiderte er beinahe trotzig: „Ich überlege nur, ob es nötig war, den Sternträger umzulegen, Harry. Das gehörte nicht zu unserem Job.“
Harry Sheffield lachte. Seine Zähne schimmerten weiß aus dem schwarzen Bartgestrüpp. Seine dunklen Augen funkelten spöttisch.
Er drehte sich im Sattel zu Tucker und Johnson um, die dicht hinter ihm ritten.
„ Eh, Jungs, habt ihr das gehört? Der Kleine hat Gewissensbisse.“
Wieder lachte er rau. Die beiden anderen fielen in das Gelächter ein.
Sie waren hartgesottene Verbrecher, Männer, die keine Wertmaßstäbe mehr kannten. Auch Kiddy war einer von ihnen. Auch er wurde vom Gesetz gesucht. Er hatte einen Sheriff erschossen, der ihn nach einem Pferdediebstahl stellen wollte.
Doch der jüngste der Banditen war noch nicht so abgebrüht wie die anderen.
„ Vergiss nicht, dass der Kerl ein Sternträger war!“, rief Tucker. „Solche Typen hasse ich wie die Pest. Der hätte uns wiedererkennen können.“
„ Die Beute war doch nicht schlecht“, meldete sich Johnson zu Wort.
„ Ja“, sagte Harry Sheffield zufrieden. „Dreitausend an Barem, ein Peacemaker, ein Gewehr und ein nagelneuer Sattel.“
Kiddy warf jetzt einen Blick auf das Pferd des Anführers.
Harry Sheffield bemerkte den Neid in den Augen des Jungen. Jetzt wusste er Bescheid. Der Junge war ein Pferdenarr. „Ah, du warst scharf auf den Appaloosa, nicht wahr? Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
„ Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen. Wenn’s nach mir gegangen wäre ...“
„ Es ist aber nicht nach dir gegangen!“, fuhr ihm Sheffield hart ins Wort. „Der Appaloosa war zu auffällig. Wenn jemand in Winfield den Gaul kennt und wenn der Reiter erwartet wird, hätte das unseren ganzen Plan gefährden können. Denk daran, dass wir nicht zum Vergnügen durch die Gegend reiten.“
„ Schon gut“, lenkte Kiddy ein, „du hast ja recht. Aber mir tut’s eben doch leid um den Gaul. War ’n Klassetier.“
„ Von deinem Anteil kannst du dir noch ein viel Besseres kaufen“, sagte Sheffield.
Kiddy nickte.
Schweigend setzte das Rudel den Ritt fort. Die Gedanken der Banditen drehten sich um Geld. Jefferson Pall, der Boss, bezahlte sie gut. Und dieses Mal hatte er eine Extraprämie versprochen.
Harry Sheffield fragte sich, wie schon so oft, woher der Boss immer die Tipps bekam. Bisher war jeder Raubzug, den sie für Pall unternommen hatten, reibungslos verlaufen. Pall musste sehr zuverlässige Informanten haben.
Ja, der fette Mann legte großen Wert auf Zuverlässigkeit. Einer hatte es mal gewagt, aus der Reihe zu tanzen und nach einem Coup mit der Beute zu verschwinden. Pall hatte ihn suchen lassen. Sie hatten ihn gefunden und zurückgebracht.
Der Mann war vor aller Augen von Pall „hingerichtet“ worden.
Seither war Pall fest davon überzeugt, dass er sich auf seine Männer verlassen konnte.
Harry Sheffield zügelte sein Pferd, als in der Ferne wie unter einer Dunstglocke die Häuser von Winfield zu erkennen waren.
Auch die anderen hielten an.
„ Also, Jungs“, sagte Sheffield. „Wir trennen uns jetzt. Ihr beiden“, er wies auf Tucker und Johnson, „reitet von Westen her in die Stadt. Und benehmt euch nur ja unauffällig. Keiner kennt uns in Winfield, und ihr wisst, wie neugierig die Leute Fremden gegenüber sind. Also vermeidet jedes Aufsehen. Ich schlage mit Kiddy einen Bogen und komme von Osten. Bringt eure Pferde zunächst in den Mietstall und lasst sie versorgen. Um Punkt vier Uhr seid ihr mit den Pferden in der Seitengasse neben der Bank. Dann läuft alles wie abgesprochen.“
Er blickte von einem zum anderen.
Die Männer nickten. Sie waren bereit.
*
„ Teufel noch mal, pinkelt der Bengel gegen meine Officetür! Na warte, Bürschchen!“
Sheriff Mark Masterson, den alle in der Stadt liebevoll Onkel M. M. nannten, setzte sich grollend in Bewegung. Der alte Sheriff war klein und kugelrund, und es sah ziemlich lustig aus, wie er mit seinen O-Beinen im Laufschritt die Main Street überquerte, um den Übeltäter zu stellen.
Der Übeltäter war ein neunjähriger Knirps namens Bobby. Der Sohn des Schmiedes war für seine Lausbubenstreiche bekannt. Einmal hatte er dem alten Sheriff Regenwürmer in die Kaffeetasse getan, ein anderes Mal hatte er sämtliche Fenster des General Store in der Nacht mit weißer Farbe angestrichen, sodass der Besitzer am Morgen, als er den Laden öffnete, glaubte, der Winter sei hereingebrochen.
Bobby war schon ein Schlingel. Doch diesmal hatte er den Bogen überspannt.
Er sah den Sheriff wütend heranstürmen, und ihm war sofort klar, dass er einer Tracht Prügel nur durch schnelle Flucht entgehen konnte. Hastig knöpfte er die Hose zu und rannte los. Um ein Haar hätte ihn Onkel M. M. doch noch erwischt. Aber Bobby war schnell und wendig und wich seiner zupackenden Hand geschickt aus.
„ Du Ferkel!“, schnaufte der Sheriff. „Das sage ich deinem Vater!“ Er blieb stehen und rang keuchend um Luft. Sein Gesicht mit den unzähligen Falten und Runzeln war vor Anstrengung gerötet. Die listigen blauen Augen funkelten.
Drohend hob er die geballte Faust.
„ Komm mir nur ja nicht wieder unter die Augen. Wenn ich dich erwische, ziehe ich dir den Hosenboden stramm!“
Bobby blieb in sicherer Entfernung stehen.
„ Es war doch nur ein bisschen!“, erklärte er mit treuherzigem Augenaufschlag. „Bitte, Onkel M. M., sag Daddy nichts davon. Der haut immer so fest.“
Sheriff Mark Masterson zwang sich zu einer grimmigen Miene. Im Grunde war sein Zorn schon wieder verraucht. Er war ein gutmütiger alter Kauz, der vielleicht deshalb so beliebt war, weil er die Menschen so nahm, wie sie nun einmal waren.
„ Gepinkelt ist gepinkelt“, erklärte er kategorisch: „Komm her, du Nichtsnutz, damit ich dich bestrafen kann.“
Der kleine Bobby zögerte. Er überlegte, ob es nicht doch klüger war, einfach wegzulaufen. Doch die Angst vor seinem Vater war größer als die vor Onkel M. M. Er setzte seine schuldbewusste Miene auf und trottete los.
„ Du sagst Dad wirklich nichts, Ehrenwort?“, vergewisserte er sich mit zaghafter Stimme.
„ Ehrenwort“, brummte der Sheriff.
Als der Junge heran war, packte Masterson ihn am Ohrläppchen und zog ihn näher.
„ Bobby, so was tut man doch nicht.“ Er schüttelte tadelnd den Kopf. „Du bist doch ein kleiner Mensch und kein Straßenköter.“
„ Ich – ich wollt ’s ja auch nicht“, stammelte Bobby.
Die Augen des Sheriffs blickten verständnisvoll.
„ Und warum hast du’s dann getan?“
„ Es – kam halt so über mich.“
Sheriff Masterson konnte ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. Er hob den Jungen hoch, legte ihn übers Knie und hieb ihm ein paarmal kräftig auf den Po.
Bobby strampelte und stimmte ein wahres Indianergeheul an, obwohl die Schläge wirklich nicht schmerzhaft waren.
Sheriff Masterson ließ ihn los und blickte die Straße entlang. Zu dieser Mittagsstunde war kein Mensch zu sehen. Er grinste zufrieden und sagte: „Ich wollt ’s ja nicht, Bobby, aber es kam halt so über mich. Wir beide sollten eine Lehre daraus ziehen. In Zukunft beherrschen wir uns. Es ist wichtig im Leben, dass man sich beherrschen kann. Okay?“
Er streckte Bobby zur Versöhnung die Hand hin.
Der Junge nahm sie zaghaft.
„ Okay“, murmelte er.
„ So, mein Heldensohn“, sagte Masterson milde. „Jetzt holst du einen Eimer mit Wasser und spülst die Tür ab. Es soll keiner sagen, das Büro des Sheriffs von Winfield stinkt, schon wenn man die Tür aufmacht. Ich werde inzwischen eine Friedenspfeife rauchen, und dann vergessen wir die Sache, okay?“
Bobby nickte.
Er war froh, dass alles so glimpflich abgelaufen war. Onkel M. M. war schon in Ordnung. Mit dem konnte man eher reden als mit Dad. Der kloppte immer gleich los, ohne eine Erklärung zu geben. Da wusste man manchmal gar nicht so richtig, was man eigentlich verbrochen hatte.
Bobby lief über die Straße und verschwand in der Gasse neben der Winfield City Bank.
Sheriff Masterson blickte dem kleinen, mageren Kerlchen mit dem blonden Haarschopf nach. Dann setzte er sich in den Schaukelstuhl unter dem schattenspendenden Vordach und holte sein Rauchzeug hervor. Er stopfte die Pfeife mit Tabak und rieb ein Zündholz an.
Während er genüsslich rauchte, dachte er an seine Jugendzeit. Ihm fielen eine Menge Streiche ein. Er schmunzelte. Im Grunde hatte sich nicht viel geändert. Die Jugend musste sich austoben und Erfahrungen sammeln, bis sie wusste, was der richtige Weg war ...
Sheriff Masterson wurde aus seinen Gedanken gerissen.
Zwei Reiter näherten sich von Westen her der Stadt. Ihre Pferde gingen im Schritt. Vor dem Stallgebäude mit der Aufschrift LIVERY STA BLE zügelten die Männer ihre Pferde und schwangen sich aus dem Sattel.
Sheriff Masterson beobachtete sie, bis sie in dem Mietstall verschwunden waren. Wahrscheinlich Fremde, dachte er. Na, da wird man sich im Hotel freuen, dass mal wieder Gäste kommen.
In Winfield war in der letzten Zeit nicht mehr viel los gewesen. Seit die Cowboys der umliegenden Ranches fortblieben, weil die Zeit des Viehauftriebs gekommen war, herrschte in der Stadt eine paradiesische Ruhe. Es gab keine Schießereien, keine Schlägereien – der Wunschtraum eines jeden Gesetzeshüters.
Die Bürgerversammlung hatte ihm trotzdem versprochen, so bald wie möglich einen Nachfolger zu suchen. Denn Masterson war immerhin schon einundsechzig, und manchmal fühlte er sich müde und ausgebrannt. So ruhig der Job im Augenblick auch war, es würden wieder rauere Zeiten kommen. Und Masterson sehnte sich nach Ruhe und Frieden. Er fühlte sich einer schweren Aufgabe nicht mehr gewachsen. Außerdem stand es mit seiner Gesundheit nicht mehr zum Besten. Gicht und Ischias plagten ihn, und seine Sehkraft ließ nach.
Er nahm sich vor, mit dem Doc noch einmal ein paar ernste Worte zu reden. Es ging nicht an, dass dieser verdammte Quacksalber alles auf sein Alter schob und ihn mit dem üblichen Blabla abspeiste: „Sie brauchen Ruhe, M. M., nichts als Ruhe. Sie werden sehen, dass Sie dann noch hundert Jahre alt werden, wenn Sie nicht vorher sterben. Aber das Rauchen sollten Sie wirklich einstellen ...“
Sheriff Mark Masterson schmunzelte bei dem Gedanken und sog tief an seiner Pfeife. Der Tabak schmeckte ihm so gut wie nie. Der Quacksalber wollte sich nur herausreden, weil er keine wirksamen Mittel gegen die Gicht hatte. Und als Nichtraucher verteufelte er das Nikotin ...
Der Sheriff lehnte sich, bequem zurück.
Wo nur der Bengel bleibt? dachte er.
*
Bobby hörte das Platschen von Wasser und stutzte.
Er wollte gerade den Hof der Schmiede verlassen, wo er einen Eimer mit Wasser besorgt hatte.
Das Geräusch kam ihm irgendwie bekannt vor.
Er setzte den Eimer ab, kletterte wieselflink auf den Zaun, der das Grundstück umgab, und spähte in die Gasse.
Er sah zwei Männer.
Und beide Männer taten genau das, wofür ihm Onkel M. M. vorhin den Hintern versohlt hätte. Zugegeben, sie verrichteten ihr Geschäft nicht an der Tür des Sheriff-Büros, sondern an der Seitenwand der City Bank.
Aber welchen Unterschied machte das schon?
Trotz stieg in Bobby auf.
Die Großen dürfen alles, dachte er, und keiner bestraft sie. Soll Onkel M. M. doch sehen, wo er mit seiner stinkenden Tür bleibt. Ich mach die nicht sauber. Ich nicht. Die Erwachsenen tun das ja auch nicht.
Einer der Männer machte gerade eine Bemerkung, die Bobby nicht verstehen konnte. Der andere lachte heiser.
Bobby schaute sich die Männer genauer an.
Es waren Fremde.
Ein paar Yards entfernt standen ihre Pferde im Schatten der Hauswand.
Die Männer traten von der Wand fort und schlossen ihre Hosen. Einer der Männer warf einen Blick in Bobbys Richtung, und der Junge zog hastig den Kopf zurück.
„ Bobby!“
Die Stimme seines Vaters kam dumpf aus der Schmiede.
Der Junge kletterte eilig vom Zaun herunter. Sicher wollte Dad ihn wieder wegen irgendwas ausschimpfen. Da war es doch besser, wenn er sich verdrückte und zu Onkel M. M. ging. Er wollte ihm erzählen, was er beobachtet hatte. Er nahm den Wassereimer und stahl sich davon. Als er in die Gasse einbog, zögerte er.
Wenn er den direkten Weg zur Main Street wählte, musste er an den Fremden vorbei.
Sie blickten gerade in seine Richtung, irgendwie überrascht, mit finsteren Mienen. Ein Gefühl des Unbehagens befiel Bobby. Eine unerklärliche Drohung ging von diesen Männern aus.
Bobby lief in die entgegengesetzte Richtung.
Er verschüttete etwas Wasser, aber das bemerkte er nicht einmal.
Bevor er in die Parallelstraße zur Main Street einbog, warf er noch einen schnellen Blick zurück.
Die beiden Männer standen immer noch bei ihren Pferden und starrten ihm nach.
Bobby huschte um die Ecke und atmete erleichtert auf.
Er war gespannt darauf, was der Sheriff sagen würde, wenn er ihm erzählte, dass auch große Leute sich nicht beherrschen konnten ...
*
Tucker spuckte braunen Tabaksaft aus und zog seine Taschenuhr aus der Jacke.
„ Sie müssten bald da sein“, sagte er zu seinem Kumpan.
Johnson warf seine Zigarettenkippe fort. Sie verlöschte zischend in der kleinen Pfütze, die sich vor der Hauswand gebildet hatte.
Johnson rückte wie automatisch seinen Revolvergurt zurecht. Er zog den Army Colt aus dem Holster und überprüfte ihn.
„ Den Knaller brauchst du nicht“, sagte Tucker. „Du hast doch gehört, was der Boss gesagt hat. Eine bombensichere Sache. Das Ding läuft in aller Stille über die Bühne. Wir haben einen Freund in der Bank. Der rückt ohne viel Aufhebens den Zaster raus, und wir machen unauffällig die Mücke.“
Johnson stieß die Waffe ins Leder zurück.
„ Man kann nie wissen“, murmelte er. „Auch bei bombensicheren Sachen bin ich nicht gern nackt. Es sei denn ...“ Er brach ab. „Ah, da sind sie ja.“
Sie blickten den Reitern entgegen, die am Ende der Gasse auftauchten.
Sheffield und Kiddy zügelten ihre Pferde neben den Tieren der beiden Kumpane.
Sie hatten bis vor einer Viertelstunde am südlichen Rand der Stadt in einem Wäldchen gewartet und waren dann auf Seitenwegen in die Gasse neben der Bank gelangt. Die Main Street hatten sie gemieden, um nicht aufzufallen.
„ Alles klar?“, fragte Sheffield.
Er und Kiddy saßen ab.
„ Alles klar“, erwiderten Tucker und Johnson wie aus einem Munde.
„ Hat euch jemand auf dem Weg vom Mietstall hierher gesehen?“, wollte Sheffield wissen.
Johnson zuckte mit den Schultern. „Ein kleiner Junge und ’ne streunende Katze. Wir waren verdammt vorsichtig.“
„ Okay.“ Sheffield grinste. „Und selbst wenn uns irgendeiner zufällig von den Hinterhöfen aus vorbeireiten sah, ist das nicht tragisch. Schließlich weiß keiner, was wir vorhaben.“
Sheffield zog eine goldene Uhr aus seiner Tasche, kappte den Deckel auf und sagte: „Noch gut drei Minuten.“ Die Zähne leuchteten aus dem schwarzen Bartgestrüpp. „Bankleute achten sehr auf Pünktlichkeit. Wir sollten sie nicht enttäuschen. Habt ihr die Masken griffbereit?“
Kiddy kramte in den Satteltaschen.
Die anderen nickten.
„ Gut“, sagte Sheffield. „Dann können wir. Kiddy bleibt bei den Pferden. Wir gehen einzeln durch den Vordereingang – wie harmlose Kunden. Erst in der Tür, wenn euch von der Straße aus niemand mehr sehen kann, setzt ihr die Masken auf.“
„ Ich denke, der Clerk ist eingeweiht?“, warf Tucker ein.
„ Ja.“ Sheffield maß ihn mit einem finsteren Blick. „Das ist er. Trotzdem besteht kein Grund, ihm eure Visagen zu zeigen. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.“
Er blickte von einem zum andern. „Wenn ich als letzter auftauche, ist das für euch das Zeichen. Wir ziehen zur Schau unsere Eisen und kassieren in aller Ruhe. Und dass mir keiner rumballert!“
„ Und was ist, wenn zufällig ein Kunde in der Bank ist?“, fragte Tucker. „Oder wenn der Direktor auftaucht?“
Sheffield grinste spöttisch. „Es ist dafür gesorgt, dass zufällig kein Kunde da ist. Und wegen des Bankdirektors brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen. So hat der Boss mir ’s gesagt. Also los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät. Tucker, du zuerst!“
Tucker machte sich auf den Weg. Als er um die Ecke bog, setzte sich auch Johnson in Bewegung. Schließlich folgte Sheffield.
Kiddy blieb bei den Pferden zurück.
Der junge Bandit steckte sich eine Zigarette an. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen, als er an seinen Anteil dachte und an die Prämie, die der Boss versprochen hatte.
*
Lydia Cohen lächelte, als die Wanduhr viermal schlug.
Sie blickte auf den Mann hinab, der schwitzend unter ihr lag. Sein Gesicht mit den eingefallenen Wangen und der spitzen Nase war hochrot. In seinen Augen spiegelte sich die Erregung, und sein Atem ging stoßweise.
William Jay Rogers, der Bankier, dachte in diesem Augenblick an alles andere als an seine Bank. Eigentlich hätte er zu dieser Zeit das Konto des Storebesitzers überprüfen und einen Kreditantrag begutachten müssen. Doch das musste warten. Geschäfte hin, Geschäfte her, Lydia Cohen ließ ihn alles vergessen.
Diese Frau verstand es wie keine, das Feuer der Leidenschaft in einem Mann zu wecken. Er hätte nie gedacht, dass er sich noch einmal so jung und vital fühlen könnte.
Es hatte nicht mehr viele Frauen im Leben des Bankiers gegeben, seit seine Frau vor sieben Jahren gestorben war. Hier und da mal ein kurzes Erlebnis mit einer Dirne, gegen Bezahlung, aber das war ziemlich deprimierend gewesen und hatte nicht gerade dazu beigetragen, sein Selbstvertrauen auf diesem Gebiet zu stärken.
Doch mit dieser Lydia war das alles anders.
Das war keine Professionelle, die nahm kein Geld, die machte es aus Spaß.
Dachte William Jay Rogers.
Der Bankier fühlte sich nach langer Zeit wieder als ganzer Mann. Er war stolz auf seine Eroberung. Sie hatte sich natürlich zuerst noch ein bisschen geziert, wie es sich für eine Lady geziemte, aber heute hatte sie seine Einladung auf ein Glas Likör angenommen. Pünktlich wie verabredet war sie um halb vier in sein Privatbüro gekommen. Alles andere hatte sich dann relativ schnell entwickelt. Es schmeichelte seiner männlichen Eitelkeit, dass es ihm gelungen war, sie so schnell aus ihrer anfänglichen Reserve zu locken.
Fasziniert beobachtete der Bankier, wie Lydias nackte Brüste im Rhythmus ihres auf- und abgleitenden Beckens wippten. Es waren feste, pralle Halbkugeln, parfumduftend, mit rosigen, aufgerichteten Spitzen.
Lydia lächelte ihn an, und William Jay Rogers wurde es noch heißer. Ein Wonneschauer durchrieselte ihn.
,,Oh, Lydia ...“, keuchte er.
„ William“, hauchte sie dunkel. „Will – oh – du machst mich verrückt.“
Ihre Lippen waren halb geöffnet. Ihre weißen Zähne schimmerten. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn verlangend, trieb seine Leidenschaft auf den Höhepunkt.
Sie schloss dabei die Augen.
Was William Jay Rogers für Ekstase hielt, war nichts anderes als Berechnung und kalte Schauspielerei.
Lydia Cohen hatte Mühe, ihm nicht lauthals ins Gesicht zu lachen.
Stöhn nur, du kleine Pfeife, dachte sie. Bald wirst du noch lauter stöhnen: Wenn du entdeckst, dass dein Safe ausgeräumt worden ist. Patrick Delany, der kleine Pinscher, händigt zurzeit gerade alles Geld aus. Und morgen Abend kassiere ich von Pall, dem Fettwanst, meine Prämie. Das ist mehr Geld, als du mir für meine Dienste bezahlt hättest. Geld, dachte sie, ist das Einzige, was mir noch Freude bereitet ...
Eines Tages werde ich reich sein, sehr reich. Und dann lache ich alle Männer aus. Am meisten Frank McDouglas. Vielleicht besuche ich ihn mal. Ich kaufe mir die teuersten Kleider, das beste Parfüm und alles, was eine Luxuslady so braucht. Vielleicht eröffne ich ein Geschäft. Oder ich kaufe eine große Ranch. Und dann zeige ich Frank, was eine richtige Lady ist. Der wird Augen machen und sich ärgern, dass er damals einen großen Fehler gemacht hat, als er mich sitzenließ wie eine dumme Göre ...
Lydia Cohen dachte in diesen Minuten nicht an den Mann, den sie in den Taumel höchster Erregung versetzte.
Sie dachte an Frank McDouglas, den Mann, den sie über alles geliebt hatte, und der ihre Liebe verschmäht hatte, um eine reiche Witwe aus dem Osten zu heiraten ...
*
„ Was machst du für ein Gesicht, Bobby?“ Sheriff Mark Masterson musterte den Jungen mit väterlicher Sorge. „Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“
Trotzig stellte Bobby den Eimer ab. Er stemmte die kleinen Fäuste in die Hüften und baute sich breitbeinig vor dem Sheriff auf. Diese Pose hatte er seinem Vater abgeguckt.
„ Ich will dir mal was sagen. Onkel M. M. Die Welt ist ungerecht.“
„ Soso, Heldensohn, die Welt ist also ungerecht.“
„ Jawohl. Und willst du auch wissen, warum?“
Masterson lächelte amüsiert. „Du wirst es mir schon verraten. Heldensohn.“
Die helle Stimme des Kleinen klang empört. „Weil ihr Großen das Sagen habt. Ihr meint, ihr habt immer recht, bloß weil ihr ein bisschen älter seid.“ Die grünen Augen des sommersprossigen Blondschopfs blitzten. „Dabei seid ihr kein bisschen besser als wir.“
Sheriff Masterson paffte einen Rauchring.
„ Soso, du weiser Heldensohn. Wir sind also nur älter, nicht besser. Da ist zunächst einmal etwas Wahres dran. Mit dem Alter erwirbt man nicht das Recht, schlecht zu sein oder etwas Böses zu tun dürfen. Es gibt gute alte Menschen und es gibt böse alte Menschen. Genauso wie es brave Jungen gibt und Jungen, die an die Tür des Sheriffs von Winfield pinkeln. Große Leute, die etwas Böses tun, werden eingesperrt oder aufgehängt oder sonst wie bestraft, je nachdem, wie schwer das Böse wiegt. Die kleinen, so wie du, bekommen noch die Chance, zu lernen, was richtig ist und was man tun darf und was nicht.“
Der Sheriff sog an seiner Pfeife.
„ Hast du das verstanden, Heldensohn?“
Bobby bohrte sich in der Nase und blickte den Sheriff trotzig an.
„ Und wer sorgt dafür, dass die Großen auch wirklich bestraft werden, wenn sie etwas tun, was unsereiner nicht tun darf?“
Masterson lächelte. Er tippte mit der Linken auf den matt schimmernden Stern an seiner Brust.
„ Das Gesetz, mein Junge.“
Bobby blickte ihn mit seltsamem Ernst an.
„ Also, Onkel M. M. Wenn das so ist, wie du sagst, dann musst du zwei Männer bestrafen.“
„ Zwei Männer?“ Der alte Sheriff runzelte die Stirn.
„ Ja“, sagte Bobby eifrig. „Zwei Fremde. Ich hab sie vorhin gesehen. In der Gasse da drüben.“ Er wies mit dem Finger die Richtung. „Es ist nur gerecht, wenn sie auch bestraft werden.“
Masterson lächelte.
„ Und was haben sie getan, Bobby?“ „Sie haben gegen die Wand der Bank gepinkelt. Alle beide. Und viel mehr als ich.“
Masterson fiel bald die Pfeife aus dem Mund. Er konnte sich nicht verkneifen, laut loszuprusten. Er schlug sich mit der Linken auf den Schenkel und zuckte zusammen, als ein Schmerz durch seine Hüfte zuckte. Aber der Ischiasschmerz war sofort wieder vergessen, als Bobby maulte: „Bei mir hast du nicht gelacht. Da warst du ganz wütend. Ich hab’s ja gewusst, dass ihr Großen immer zusammenhaltet.“
Masterson brauchte einen Augenblick, um wieder ernst zu werden. Er setzte eine feierliche Miene auf und erklärte: „Was Recht ist, muss Recht beleiben. Ich werde mich sofort der Sache annehmen. Vor dem Gesetz sind schließlich alle Menschen gleich.“
Er stemmte sich aus dem Schaukelstuhl hoch.
„ Was wirst du jetzt tun, Onkel M. M.?“, fragte Bobby mit glänzenden Augen.
„ Zunächst einmal werde ich – äh – den Tatort besichtigen, Heldensohn. Und dann – sehen wir weiter.“
„ Wirst du sie verprügeln oder einsperren?“, fragte Bobby begierig.
„ Mal sehen, Bobby“, brummte Masterson.
Weder noch, dachte er bei sich. Aber auf jeden Fall soll Bobby hören, wie ich die Burschen zurechtstauche. Ich muss den Leuten gehörig die Meinung sagen, damit Bobby erkennt, dass es doch eine Gerechtigkeit gibt. Das hat erzieherischen Wert. Sonst gerät bei dem Kleinen noch alles durcheinander. Himmel, wie soll so ein kleines Menschenkind lernen, was richtig ist, wenn manche Großen mit schlechtem Beispiel vorangehen?
Entschlossen trat er vom Stepwalk auf die Main Street.
Ein leichter Wind war aufgekommen. Staub wirbelte auf.
Sheriff Mark Masterson überquerte die Main-Street.
Bobby folgte ihm eilig.
Onkel M.M. ist prima, dachte der Kleine.
*
Kiddy sah den Stern auf der Brust des kleinen, krummbeinigen Mannes und zuckte unwillkürlich zusammen.
Der Mann mit dem Stern kam in die Gasse. Ein kleiner Junge tauchte hinter ihm auf. Der Knirps wies in seine Richtung und sagte etwas zu dem Mann mit dem Stern.
Kiddy wurde nervös.
Verdammt, jeden Augenblick konnten die anderen aus der Bank kommen!
Eines der Pferde schnaubte und scharrte mit den Hufen.
Der Sheriff schritt zielstrebig auf Kiddy zu.
Die Handflächen des Banditen wurden feucht. Unbewusst kroch seine Rechte zum Coltkolben.
„ Das ist aber nur einer“, sagte der Sheriff zu dem kleinen Jungen, und sein Blick glitt über die vier Pferde. „Du hast doch von zwei Männern gesprochen, Heldensohn.“
„ Es waren zwei“, sagte der Kleine und wies mit ausgestrecktem Finger auf Kiddy. „Der da war nicht dabei.“
Kiddy brach der Schweiß aus.
Verdammt, was wollten der Alte und der Bengel? Wovon redeten die? Wenn jetzt die anderen kamen!
Kiddys Unbehagen wuchs, steigerte sich zur Panik, als er das plötzliche Misstrauen in der Miene des Sheriffs sah.
Sheriff Masterson blieb vier Yards von Kiddy entfernt stehen. Er musterte den Fremden, sein Blick glitt über die abgerissene, staubige Kleidung des jungen Mannes.
Irgendetwas warnte ihn.
Vier Pferde, schoss es durch seinen Kopf. Er erinnerte sich daran, dass er zwei Reiter in die Stadt hatte kommen sehen. Von den anderen hatte er nichts bemerkt.
Wo waren die Besitzer der anderen Pferde?
Weshalb war der junge fremde Mann so nervös?
„ Hallo“, sagte Masterson mit erzwungener Ruhe. Er hakte beide Daumen hinter den Revolvergurt. „Sie haben nicht zufällig hier zwei Männer gesehen?“
„ Zwei Männer?“ Kiddy blickte ihn verständnislos an. „Ich bin hier mit drei Freunden. Sie sind eben in den Saloon.“
„ Ah, in den Winfield Number One “, sagte Sheriff Masterson mit freundlicher Stimme.
Der Fremde nickte hastig. „Ja, da sind sie rein. Wollten einen trinken und gleich zurückkommen.“
Sheriff Masterson wusste, dass der Fremde log. Der Saloon lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und Masterson hätte von seinem Office aus sehen müssen, wenn drei Männer die Straße überquert hätten.
Eine Alarmglocke schlug plötzlich in Mastersons Gehirn an. Er war ein alter, erfahrener Mann, und er wusste, dass er sich auf sein Gefühl verlassen konnte.
Und sein Gefühl sagte ihm, dass hier irgendetwas faul war.
„ Ah, und Sie haben keinen Durst, junger Mann“, sagte er ruhig und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
„ Nein, nein, ich hab keinen Durst“, versicherte Kiddy. Er sprach hastig, angespannt.
Sein Blick irrte an dem Sheriff vorbei.
Schritte näherten sich.
Sheriff Masterson wandte den Kopf.
Männer bogen um die Ecke des einstöckigen Bankgebäudes, eilten in die Gasse. Einer von ihnen trug einen prall gefüllten Tuchsack mit dem Aufdruck CITY BANK WINFIELD.
„ Das sind sie!“, rief Bobby.
Sheriff Masterson hörte es nur halb im Unterbewusstsein. Er hatte die Situation sofort erkannt und reagiert.
Er griff zum Revolver, und er erkannte im gleichen Sekundenbruchteil, dass er es nicht schaffen konnte. Nicht gegen diese Banditen. Sie waren schneller als er.
Tucker, der Bandit an der Spitze des Trios, feuerte als Erster.
Das Blei zischte dicht an Sheriff Masterson vorbei. Er hörte, wie der Mann hinter ihm, der Bursche bei den Pferden, aufschrie und zu Boden fiel.
„ Lauf, Bobby!“, brüllte Masterson, noch bevor das Echo des Schusses in der Gasse verhallt war. Er hatte seinen Revolver heraus.
Als er durchzog, traf ihn die Kugel.
Er bekam einen Schlag gegen die linke Schulter, der Schock schien ihn zu lähmen. Und dann zuckte ein wahnsinniger Schmerz durch seinen Arm. Blut tränkte sein Hemd.
Wieder donnerten Schüsse durch die kleine Gasse, und das Krachen hallte von den Wänden wider.
Alles spielte sich rasend schnell ab. Sheriff Masterson sah nicht mehr, dass Bobby schreiend davonrannte.
Eines der Pferde stieg wiehernd auf die Hinterhand, keilte mit den Vorderhufen aus. Die Tiere gerieten in Panik und jagten davon. Weg von dem Geruch des Blutes und dem Blitzen und Krachen.
Mit einem verzweifelten Hechtsprung wollte sich Kiddy vor den wirbelnden Hufen in Sicherheit bringen, doch er schaffte es nicht mehr. Ein Huf traf ihn am Hinterkopf, und Kiddy verlor die Besinnung.
Wie durch einen Schleier sah Sheriff Masterson die Banditen, die mit feuer- und bleispeienden Colts auf ihn zustürmten.
Er drückte noch einmal ab und erwischte den Banditen, der ihm die Schulter zerschossen hatte.
Tucker taumelte. Der Einschlag der Kugel riss ihn herum. Blut färbte seine linke Brustseite. Er sackte zu Boden und rührte sich nicht mehr.
Es war das letzte, was Sheriff Mark Masterson in seinem Leben sah.
Mündungsfeuer blitzte auf, und zwei Kugeln löschten das Leben des alten Mannes aus. Ein Geschoß schlug in seine Brust, das andere traf ihn am Kopf.
Sheriff Mark Masterson, den alle in Winfield liebevoll Onkel M. M. genannt hatten, war schon tot, bevor er in den Staub fiel.
Seine Mörder sprangen über ihn hinweg, hetzten durch die Gasse hinter den Pferden her. Um Kiddy und Tucker kümmerten sie sich nicht.
Von der Main Street her drangen Schreie in die Gasse. Aufgeregte Stimmen redeten durcheinander. Jemand rief nach dem Sheriff. Stiefel hämmerten über den Stepwalk.
Die beiden Banditen. Sheffield und Johnson, rannten weiter.
Am Ende der Gasse tauchte plötzlich ein hünenhafter Mann auf.
Guthrie, der Schmied.
Er hatte die Schüsse gehört, seine Schrotflinte gepackt und war ins Freie gelaufen.
Er sah die heranstürmenden Banditen und riss die Schrotflinte hoch.
Sheffield und Johnson feuerten sofort. Doch beide schossen überhastet im Laufen. Das Blei verfehlte den Schmied, der sich geistesgegenwärtig hatte fallen lassen.
Und dann wummerte die Schrotflinte.
Johnson, der mit der Linken den Geldsack trug, blieb stehen, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Er drehte sich um seine Achse und brach blutüberströmt zusammen. Sein Todesschrei ging im Donnern von Sheffields Revolver unter.
Guthrie, der Schmied, spürte noch, wie etwas in seine Brust schlug. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Sheffield riss den Sack mit der Beute an sich und hetzte weiter. Seine Schritte verloren sich in der Ferne. Er bog in die Parallelstraße, als von der Main Street her die ersten Bürger in die Gasse stürmten. Sie blieben wie angewurzelt stehen, geschockt von dem Anblick, der sich ihnen bot.
Pulverrauch zerfaserte.
Stille senkte sich über den Ort des Grauens.
Die Stille des Todes.
*
Die Dunkelheit war hereingebrochen. Sterne blinkten am Himmel. Irgendwo schrie ein Nachtvogel.
Roy Hunter tätschelte den Hals seines schwarzbraunen Hengstes, als er die Lichter der Stadt in der Ferne sah.
„ Na also, alter Junge, gleich sind wir da. Du bekommst Wasser und Hafer und ich Whisky und Steaks. Ich denke, es wird uns beiden schmecken.“
Der Hengst fiel ohne ein Kommando in Galopp, als hätte er die Worte seines Reiters verstanden.
Fünf Minuten später ritt Roy Hunter von Westen her in die Stadt ein. Er entdeckte den Mietstall und übergab sein Pferd der Obhut des Stallmannes.
Roy Hunter gab ein großzügiges Trinkgeld und versprach dem Mann eine gehörige Tracht Prügel, wenn er den Hengst nicht sehr gut versorgen würde.
Der Stallmann schwor, sein Bestes zu geben.
Roy Hunter erkundigte sich nach einem guten Saloon, und er erhielt die gewünschte Auskunft. Außerdem erfuhr er von dem redseligen Mann, was sich am Nachmittag Schreckliches in der Stadt abgespielt hatte.
Ihm fielen die Worte des sterbenden John Collins ein: „Banditen – Winfield-Susan ...“
Möglich, dass es da einen Zusammenhang gab. Vielleicht waren die Männer, die John Collins auf dem Gewissen hatten, identisch mit den Banditen, die am Nachmittag die Bank von Winfield ausgeraubt und den Sheriff getötet hatten.
Roy Hunter war entschlossen, sich erst einmal im Saloon umzuhören. Er stellte noch ein paar Fragen, auf die der Stallmann ausführlich antwortete, unterließ es aber, sich nach einem Mädchen namens Susan zu erkundigen. Der Mann war ein Schwätzer, und Roy wollte vermeiden, dass seine Neugierde geweckt wurde.
Er machte sich auf den Weg zu dem Saloon, den ihm der Stallmann empfohlen hatte, dem Winfield Number One .
Keine Menschenseele war auf der Main Street zu sehen. Alle Bürger von Winfield schienen in den Saloons zu sein und über die Ereignisse des Tages zu debattieren. Und nach dem, was der Stallmann erzählt hatte, gab es heute ja Gesprächsstoff genug.
Lautes Stimmengewirr drang aus dem Number One . Es schien in dem Lokal hoch herzugehen.
Roy trat auf den hölzernen Gehsteig und stieß die Flügel der Schwingtüren auf.
Eine Wolke von Tabaksqualm und der Geruch von warmer, alkoholgeschwängerter Luft schlugen ihm entgegen.
Für einen Augenblick verstummten die Gespräche. Jeder im Saloon musterte den Neuankömmling, taxierte den großen, schwarzgekleideten Fremden. Dann, als Roy Hunter mit festen Schritten zur hufeisenförmigen Theke schritt und die neugierigen Blicke ignorierte, brandete das Stimmengewirr wieder auf.
Roy Hunter fand einen freien Platz am Tresen.
Auf den fragenden Blick des Bartenders hin sagte er: „Whisky. Und dann ein großes Bier.“
„ He, Joel, mir auch noch eins!“, rief einer der Zecher neben Roy.
Joel, der Mann hinter dem Tresen, bediente routiniert und höflich.
An den Tischen servierte ein blondes, schlankes Mädchen. Sie kam mit einem leeren Tablett an den Tresen und gab eine neue Bestellung auf.
Roy schaute das Mädchen an. Ihre Blicke trafen sich für einen Augenblick. Strahlendblaue Augen, dachte Roy. Eine gute Figur. Das Gesicht vielleicht etwas zu puppenhaft.
Er lächelte.
Das Mädchen senkte den Blick, ohne das Lächeln zu erwidern.
Roy widmete sich seinen Drinks. Der Whisky brannte die Kehle hinab, und Roy löschte das Feuer mit einem tiefen Schluck aus dem Bierglas.
Das blonde Mädchen mit den blauen Augen nahm die gefüllten Gläser, die Joel ihr reichte, und stellte sie auf das Tablett.
Dann ging sie wieder zu den Tischen, um die durstigen Gäste zu bedienen.
„ He, Susan, bring uns noch ’ne Flasche!“, tönte es von einem der Tische her.
Roy hörte den Namen Susan, und wieder sah er den sterbenden John Collins vor sich. Ob es sich wirklich um diese Susan handelte? Roy schalt sich einen Narren. Es gab viele Susans auf der Welt, bestimmt auch mehrere in Winfield.
Er hing seinen Gedanken nach.
Morgen wollte er sich nach der betreffenden Susan erkundigen. Er musste ihr vom Tod ihres Freundes erzählen. Es war eine traurige Aufgabe, aber er fühlte sich dem Mann, den er dort draußen in der Wildnis begraben hatte, irgendwie verpflichtet.
Er hatte ihn töten wollen, weil er ihn für den Mörder seines Bruders gehalten hatte. Er war auf eine Lüge hereingefallen und wäre vielleicht zum Mörder an einem Unschuldigen geworden.
Wie oft hatte er sich ausgemalt, John Collins zu stellen, ihn des Mordes zu beschuldigen und ihn zum Ziehen aufzufordern.
Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, irgendwann einmal diesem verlogenen Marshall in Ponca City mit den Fäusten die Meinung zu sagen. Doch dann verwarf er den Gedanken. Ponca City war weit, und vielleicht hatte der Kerl auch nur Bammel gehabt, ihm die Wahrheit zu sagen. Es war immer noch schwer für Roy Hunter, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sein Bruder Frankie ein Bandit gewesen war ...
Roy Hunter trank sein Bierglas leer und bestellte von neuem.
Ja, er würde diese Susan aufsuchen und seine traurige Pflicht erfüllen. Dann war für ihn der Fall erledigt. Einen Augenblick lang dachte er an die Verbrecher, die John Collins auf dem Gewissen hatten. Aber dann verdrängte er die Gedanken. Mit Collins hatte ihn nichts verbunden als Hass, blinder Hass, aus einem Missverständnis geboren. Er war froh, dass dieser Hass gestorben war.
Er nahm noch einen kräftigen Zug aus dem Bierglas.
Er würde ein, zwei Tage in der Stadt bleiben und dann weiterreiten.
Wohin?
Das wusste er noch nicht. Seit Jahren streifte er ruhelos durch das Land wie ein einsamer Wolf. Ein Einzelgänger ohne Ziel, ein Abenteurer, der sich an einem Lagerfeuer unter freiem Himmel wohler fühlte als in einem Hotelzimmer.
Wenn sein Geld zur Neige ging, übernahm er mal wieder einen Job – irgendeinen. Die Kasse musste stimmen, und der Job musste ihm gefallen, das waren seine einzigen Vorbehalte.
Roy Hunter war in diesem Punkt ein Idealist. Er hatte schon sehr lukrative Angebote abgelehnt, weil ihn die Auftraggeber anwiderten, und er hatte dagegen für eine Flasche Whisky und ein Abendessen drei Tage und drei Nächte lang einen Hundesohn verfolgt, der einem armen Farmer das einzige Pferd gestohlen hatte ...
Roy Hunter konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Gespräche der Gäste im Saloon. Alles drehte sich um den Überfall auf die Bank. Langsam rundete sich das Bild über das Geschehen für Roy.
Der Sheriff war brutal niedergeschossen worden.
Ein kleiner Junge namens Bobby war mit dem Schrecken davongekommen.
Sein Vater, der Schmied, der sich todesmutig den fliehenden Verbrechern entgegengestellt hatte, war nur verletzt worden. Man hatte ihn zuerst für tot gehalten, weil er in einer großen Blutlache lag. Doch dann hatte er zur Überraschung aller die Augen aufgeschlagen und sich heiser geflucht. Der Doc hatte versichert, dass Guthrie in ein, zwei Wochen wieder auf den Beinen sein würde. Der Schmied schien eine Bärennatur zu besitzen.
Zwei der Banditen waren tot.
Der dritte, ein junger Kerl, lag im Behandlungszimmer des Doc. Der Arzt glaubte nicht daran, dass der schwerverletzte Bandit die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben würde. Er hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.
Die Schwingtüren klappten, und ein halbes Dutzend Männer quoll in den Saloon.
Sofort verstummten alle Gespräche. Aller Augen richteten sich auf die Männer, die steifbeinig zur Theke stiefelten.
Roy spürte die plötzliche Spannung, die in der Luft lag. Die Kleidung der Männer war mit Staub gepudert, und ihre Mienen waren verdrossen.
Ein kleiner Mann mit hochrotem Kopf sprang von seinem Stuhl auf und lief zu der Gruppe.
„ Was ist, Mister Dennis, sagen Sie doch schon – haben Sie ...“ Er sprudelte die Worte hervor, und seinen Augen war die Spannung abzulesen, die ihn gefangen nahm.
Der mit Dennis angesprochene Mann wandte den Kopf. Er musterte den kleinen Mann im Städteranzug und sagte nur ein Wort: „Scheiße!“
Es schien, als würde der kleine Mann noch kleiner. Die hektische Röte seines Gesichts wechselte in Blässe. Ungläubig starrte er Dennis an. Schließlich ließ er die Schultern sinken, und seine Augen spiegelten tiefe Hoffnungslosigkeit wider.
„ Ich bin ruiniert“, sagte er dumpf. „Ruiniert, ruiniert ...“
Die Männer um Dennis nahmen schweigend die gefüllten Gläser entgegen, die ihnen der Bartender reichte, und tranken hastig.
Dennis wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und fixierte den unscheinbaren Mann, der wie gebrochen wirkte und immer noch stammelte, dass er ruiniert sei.
„ Reg dich ab, Rogers. Deine verdammte Bank interessiert mich nicht im Geringsten. Ich hab ohnehin kein Konto bei dir Zinswucherer. Wenn ich mich bereiterklärt habe, diesen Bastard zu verfolgen, dann nur, weil ich den Sheriff mochte, wie wir alle in der Stadt. Sie haben Onkel M. M. gemein über den Haufen geknallt, und sie haben Guthrie angeschossen. Hätte nicht viel gefehlt, dass auch noch sein kleiner Bobby von diesen Dreckskerlen umgelegt worden wäre. Dir, Rogers, haben sie nur den Safe ausgeraubt. Sei froh, dass du am Leben bist, und hör mit dem Gejammer auf!“
Dennis blickte in die Runde, musterte kurz Roy Hunter und wandte sich dann an die Allgemeinheit.
„ Wir haben seine Spuren bis zum Creek in der Nähe von Kentons Landgrenze verfolgt. Ein paar von Kentons Cowboys beteiligten sich noch an der Suche. Aber es war wie verhext. Er schien sich in Luft aufgelöst zu haben.“ Er schickte noch einen wüsten Fluch hinterher, dann ließ er sich sein Whiskyglas von neuem vollschenken.
Erregte Gespräche entbrannten. Die Geräuschkulisse war wieder so laut wie vor dem Eintreffen des Suchtrupps.
Roy Hunter hatte alles mit Interesse verfolgt. Dennis war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen. Ein offener Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, und dem Menschenleben mehr bedeuteten als alles Geld der Welt.
Der Bankier ging zu seinem Platz zurück, setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht. Ein Bild des Jammers.
Roy Hunter empfand kein Mitleid mit dem Mann, aber er konnte sich in seine Lage versetzen und seinen Kummer verstehen.
Er kam mit Dennis ins Gespräch und erfuhr noch einige Einzelheiten, die ihn aber nicht besonders interessierten. Im Grunde gingen ihn die Ereignisse in Winfield nichts an.
Er fühlte sich wie ein Besucher, der unangemeldet in einem Haus auftaucht, in dem es gerade einen heftigen Familienstreit gibt.
Er verspürte Hunger und fühlte sich nach dem Genuss von Whisky und Bier ein wenig schläfrig. Er entschloss sich, im Hotel ein Zimmer zu nehmen und sich nach einer ausgiebigen Mahlzeit aufs Ohr zu legen. Morgen war auch noch ein Tag ...
Er widmete dem Durcheinander von Stimmen kein Interesse mehr, trank sein Glas leer und zahlte. Als er auf dem Weg zur Tür war, drang etwas durch das Stimmengewirr, das seine Aufmerksamkeit erregte.
Der Bankier schien aus seiner dumpfen Niedergeschlagenheit wie erwacht zu sein.
„ Zehn Prozent für die Wiederbeschaffung des Geldes!“, rief er mit überkippender Stimme. „Zehn Prozent Belohnung!“ Er hastete von Tisch zu Tisch, redete auf die Gäste ein, bis er schließlich zu den Männern um Dennis an die Theke lief und sein Angebot lauthals wiederholte,
Roy Hunter blieb an der Tür stehen.
Dennis sagte gerade: „Ich lege noch hundert Dollar dazu, wenn jemand den Killer von Onkel M. M. zur Strecke bringt. Das bin ich dem Alten schuldig.“ Seine Stimme klang resigniert. „Das verflixte ist nur, dass das wahrscheinlich nichts nutzt. Wir haben die Fährte verloren. Der Bastard war wie vom Erdboden verschluckt. Wie sollen wir den jemals finden?“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „Ich glaube, Rogers, wir können uns beide die ausgesetzte Belohnung sparen.“
Betretenes Schweigen folgte.
Roy Hunter verließ in Gedanken versunken den Saloon. Er atmete tief die frische Luft ein und verharrte einen Augenblick auf dem Gehsteig.
Im Geiste überschlug er seine Barschaft. Es reichte noch für zwei, drei Wochen. Aber es konnte nicht schaden, wenn er sich bald nach einer neuen Verdienstquelle umsah.
Zehn Prozent, hatte der Bankier gesagt.
Eine hübsche Summe, wenn der Safe gefüllt gewesen war.
Roy musste lächeln, als er an die hundert Dollar Belohnung dachte, die Dennis ausgesetzt hatte. Die reizten ihn im Grunde genauso. Ein sympathischer Mann, dieser Dennis.
Vielleicht nehme ich mich der Sache an , dachte Roy, als er sich auf den Weg zum Hotel machte. Das Hotel verfügte über ein kleines Restaurant, wie man ihm gesagt hatte.
Hoffentlich war die Küche noch geöffnet.
*
„ Sie hatten aber Hunger, Mister“, sagte die mollige Servierfrau. Sie deckte den Tisch ab.
„ Wie ein Wolf“, bestätigte Roy lächelnd. „Es hat vorzüglich geschmeckt, Ma’am.“
Die Frau lächelte. „Danke, Fremder, für das Kompliment. Ich sehe, Sie haben Manieren.“
Roy holte den Tabaksbeutel hervor, um sich eine Zigarette zu drehen.
Die Serviererin pusselte noch an seinem Tisch herum, schob die anderen Stühle zurecht und musterte Roy dabei verstohlen. Es war klar, dass die Frau neugierig war und gerne noch ein paar Worte mit ihm gewechselt hätte. Sicher kamen nicht sehr oft Fremde in die Stadt, und man interessierte sich brennend für das Woher und Wohin eines Gastes.
Er lächelte sie an, und das schien sie zu ermuntern. Sie holte tief Luft, und ihr gewaltiger Busen geriet in Bewegung.
„ Mister, ich will ja nicht neugierig sein, aber – kommen Sie von weit her?“ Ihre anfangs forsche Stimme wurde zaghaft. „Ich meine – bleiben Sie länger hier, oder sind Sie nur auf der Durchreise?“
Roy konnte sich nicht verkneifen, die Frau ein wenig auf den Arm zu nehmen. Mit Worten, versteht sich, denn er traute sich nicht zu, ihren massigen Körper auch nur einen Inch hochheben zu können.
„ Ja“, sagte er mit feierlicher Stimme. „Ich komme von sehr weit her. Aus Alaska. Und raten Sie mal weshalb!“ Er ließ sie noch einen Moment zappeln und gab dann selbst mit ernster Miene die Antwort: „Wegen Ihrer guten Steaks.“
„ Tatsächlich?“ Die Frau vergaß den Mund zu schließen.
„ Tatsächlich. Man hat mir erzählt, dass es hier die besten Steaks mit Bratkartoffeln und Bohnen von ganz Kansas gibt. Und da sagte ich mir, reite doch mal hin und probiere sie aus.“
Zweifel spiegelten sich in den großen, runden Augen der Frau.
„ Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?“, sagte sie.
„ Aber ich bitte Sie“, erwiderte Roy. „wer wird denn so was tun, ich meine, man weiß doch, was man einer Lady schuldig ist.“
Die Mollige schien geistig nicht gerade rege zu sein. Irritiert fragte sie: „Aber wer in Alaska sollte denn unser Abendessen kennen?“
Roy lächelte. Und schlagartig kam ihm eine Idee, wie er den Spaß mit etwas Nützlichem verbinden konnte. „Ein Freund erzählte mir davon: John Collins. Er hat mir Grüße aufgetragen für ein Mädchen namens Susan ...“
Es war ein Schuss ins Blaue, und Roy war selbst über das Resultat erstaunt.
„ John Collins? John ist in Alaska?“ Der ist noch viel, viel weiter fort , dachte John mit einem Anflug von Bitterkeit.
„ Sie kennen ihn?“, fragte er angespannt.
Die Mollige nickte. „Na klar kenne ich John Collins. Das ist der Verlobte von Susan Winters. Sie wartet schon sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Und er ist in Alaska! Das muss ich Susan erzählen, du meine Güte.“
„ Ich sage es ihr lieber selber“, sagte Roy mit leichtem Unbehagen. „Wo finde ich sie?“
Zum zweiten Mal innerhalb einer Minute gab es eine Überraschung für Roy Hunter, als sich herausstellte, dass die blonde Susan mit den blauen Augen, die Roy im Number One Saloon schon gesehen hatte, niemand anders als jene Susan Winters war. die sehnsüchtig auf John Collins’ Rückkehr wartete.
Die Mollige wollte jetzt noch mehr wissen, wie es John Collins gehe und so weiter. Roy gab ausweichende Antworten. Dann lenkte er das Thema wieder auf sich, erzählte, dass er ein paar Tage bleiben werde, und gab noch ein paar Belanglosigkeiten von sich, bis er das Gefühl hatte, die Neugierde der Frau gestillt zu haben.
Er nahm ihr noch das Versprechen ab, nicht mit Susan zu reden, bis er sie am nächsten Morgen gesprochen hätte. Er sagte, er wolle das Mädchen selbst mit der Neuigkeit überraschen.
Dann wünschte er der Molligen eine gute Nacht und ging zur Rezeption, um den Schlüssel für sein Zimmer zu holen.
Der verschlafene Glatzkopf hinter dem Empfangspult überreichte ihm grinsend den Schlüssel.
Als Roy die Treppe hinaufstieg und sich noch einmal umwandte, sah er, wie der Glatzkopf ihm nachschaute. Immer noch grinsend.
Seltsamer Vogel, dachte Roy.
Er gähnte herzhaft, als er den Schlüssel in das Türschloss steckte. Es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen, und nach der üppigen Mahlzeit fühlte er sich rechtschaffen müde.
Der Schlüssel ließ sich nicht richtig im Schloss drehen. Roy probierte den Drehknopf und wunderte sich. Die Tür war gar nicht abgeschlossen. Er öffnete sie.
Und dann wunderte er sich noch mehr.
Auf dem Bett lag eine Frau.
*
„ Kommen Sie nur herein“, sagte Lydia Cohen.
Der Schein der Kerosinlampe auf dem Nachttisch spielte über die Kurven ihres Körpers. Sie trug ein hautenges Seidenkleid, das ihre Figur umfloss.
„ Überrascht?“, fragte sie mit einem verführerischen Lächeln. Sie setzte sich auf.
„ Das kann man wohl sagen“, erwiderte Roy. Und er dachte: Deshalb hat der Glatzkopf so gegrinst. Er wusste, dass Damenbesuch auf mich wartet ...
Roy öffnete die Tür noch einmal und warf einen Blick auf die Zimmernummer. Kopfschüttelnd schloss er die Tür dann wieder.
„ Sie haben sich nicht in der Nummer geirrt“, sagte Lydia mit dunkler Stimme.
Roy Hunters Müdigkeit war wie weggeblasen.
Er schaute sich die Frau mit dem Madonnengesicht und der atemberaubenden Figur noch einmal genauer an, und sein Pulsschlag beschleunigte sich. Und er dachte: Die ist bestimmt nicht im Zimmerpreis inbegriffen.
Sie genoss seinen bewundernden Blick. Verwirrt stellte sie fest, dass sie von dem großen, fremden Mann beeindruckt war. Der war anders als die meisten anderen, das spürte sie. Ein ganzer Mann. Er strahlte Selbstsicherheit und Zuverlässigkeit aus. Ein Mann, der wusste, was er wollte.
Und plötzlich genierte sich Lydia.
Sie war gekommen, um Geld zu verdienen. Immer, wenn ein neuer Gast im Hotel eintraf, bekam sie von dem Mann an der Rezeption einen Tipp, gegen ein gutes Trinkgeld.
Die meisten Gäste hatten nichts gegen weibliche Gesellschaft einzuwenden, und sie zeigten sich sehr großzügig, was die Bezahlung anbetraf. Nur einmal war sie an einen Reisenden geraten, der sie wütend aus dem Zimmer gewiesen hatte. Der Schönling hatte sich nichts aus Frauen gemacht. Aber sonst war sie immer sehr willkommen gewesen.
Wie auch bei diesem großen Fremden. Dennoch war da etwas, das sie verwirrte und alles verkomplizierte. Sie konnte sich das Gefühl nicht erklären, es war einfach da, ein Gefühl, das sie schon lange nicht mehr gekannt hatte.
Sie hatte geglaubt, hart geworden zu sein, verbittert und skrupellos. Außen heiß und innen Eis.
Und jetzt schien die Eisschicht in ihrem Innern aufzutauen.
Verdammt, was ist nur mit mir los? dachte sie. Wie er mich ansieht!
Ihre Blicke verschmolzen. Sie schaute zu ihm auf, und die Bewunderung in seinen Augen bestürzte sie.
Ich kann es nicht tun , dachte Lydia. Diesmal nicht. Nicht mit ihm. Ich pfeife lieber auf die Dollars. Ich brächte es nicht fertig, ihm den Preis zu nennen.
Sie lächelte, um ihre Unsicherheit zu überspielen.
Roy Hunter sagte: „Wirklich gut, der Service in diesem Hotel. Willst du nicht ablegen, Darling? Wenn es dir so heiß ist wie mir, werden wir beide diese Nacht kaum ein Auge zutun können.“
Er hatte es nicht spöttisch gesagt, eher witzig gemeint, aber seine Worte trafen sie, verletzten ihren Stolz, den sie schon lange verloren geglaubt hatte.
Sie stand auf, trat bis auf einen Schritt an ihn heran und blickte ihn mit einem kalten Lächeln an.
„ Mir ist es nicht heiß, Mister. Und wenn es dir heiß ist, dann solltest du den Kopf unter kaltes Wasser halten.“ Ihre Augen funkelten ihn noch einmal an, dann ging sie hüftschwingend an ihm vorbei.
Sie wunderte sich über sich selbst. Geld war ihr plötzlich egal. Sie fühlte sich großartig, als sie an ihm vorbeischritt. Sie hatte einen Sieg über sich selbst errungen.
Roy Hunter verstand überhaupt nichts mehr.
Er packte sie am Arm und zog sie an sich heran.
Sie wehrte sich nicht gegen seinen Griff, blickte ihn nur stumm mit funkelnden Augen an.
„ Ich weiß nicht, was dieses Theater soll“, sagte Roy. „Ich komme nichtsahnend in mein Zimmer und finde eine schöne Frau auf meinem Bett. Eine Frau, die sich ganz offensichtlich nicht in das Zimmer verirrt hat. Ich war müde und wollte nichts als schlafen, aber jetzt bin ich nicht mehr müde und will ...“
„ Lass mich los“, sagte sie.
„ Ich will eine Erklärung, was das zu bedeuten hat. Ich lasse mich nicht gern für dumm verkaufen. Weshalb willst du jetzt weglaufen?“
„ Lass mich los“, wiederholte sie.
Er roch ihr schweres Parfüm. Ihre Augen schienen Feuer zu sprühen, ein Feuer, das in Roy Hunter die Leidenschaft entfachte. Die Erregung, die ihn plötzlich packte, schwemmte sein klares Denken hinweg. Er war wie verhext von dieser Frau, von ihren Augen.
Er riss sie in seine Arme und küsste sie.
Ihre Lippen waren heiß, und die Berührung mit ihrem Körper steigerte sein Verlangen.
Sie wehrte sich nicht gegen die Umarmung und den Kuss, ja, nach ein paar Sekunden öffneten sich sogar ihre Lippen, und er spürte ihre Zunge an seiner, und ihr Körper presste sich gegen ihn.
Die Zeit schien stillzustehen.
Roys Herz hämmerte.
In diesem Augenblick wünschte er, dass dieser Kuss nie enden würde.
Als sich ihre Lippen schließlich trennten, atmeten beide heftig. Sanft gab Roy die Frau frei.
Sie blieb vor ihm stehen und blickte ihn an.
Der Ausdruck ihrer Augen verwirrte ihn. Gab es das, dass ein Mensch zugleich lächeln und weinen kann? Ja, es sah aus, als ob ihre Augen gleichzeitig Glück und Trauer widerspiegelten.
Und dann schlug sie ihn.
Ihre Hand brannte auf seiner Wange.
Die Ohrfeige kam so überraschend für ihn, dass er nicht einmal die Hand zu einer Abwehrreaktion heben konnte.
Noch einmal blickte sie ihn an, dann wandte sie sich um und ging.
Roy Hunter war wie betäubt. Benommen starrte er auf die zuklappende Tür, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder gefangen hatte. Er rang mit sich, ob er ihr nachlaufen sollte. Schließlich kam er zu einem Entschluss.
Er rannte aus dem Zimmer, lief über den Korridor die Treppe hinunter, an der Rezeption vorbei bis auf die Straße.
Von der Frau war nichts mehr zu sehen.
Wütend kehrte er um.
Er fixierte den Glatzkopf, der ihn angaffte. Diesmal grinste der Kerl nicht.
Roy Hunter sagte zu ihm: „Wer war die Frau?“ Seine Stimme klang belegt.
„ Miss Cohen, Mister. Miss Lydia Cohen.“
„ Und wie kam sie auf mein Zimmer? Ist sie eine oder ist sie keine – Sie wissen schon, was ich meine.“
Der Glatzkopf blinzelte nervös. Er wich Roys Blick aus. „Sie hatte nach Ihnen gefragt, und da dachte ich mir – wissen Sie, wir wollen doch, dass unsere Gäste zufrieden sind, und da habe ich sie nach oben gelassen.“
Roy nickte. Er wusste Bescheid.
Ohne den Glatzkopf noch eines Blickes zu würdigen, ging er langsam wieder nach oben zu seinem Zimmer.
Er war sehr nachdenklich geworden.
*
Jefferson Pall schwitzte.
Es war sehr heiß an diesem Vormittag, und die Luft in dem Raum war stickig.
Pall verscheuchte eine Fliege, die über seinen Handrücken krabbelte, und wischte sich den Schweiß von dem feisten Nacken.
Die kleinen Augen des fetten Banditen blickten lauernd zu Sheffield, der ihm den Rücken zugewandt hatte und aus dem Fenster starrte. Dann glitt sein Blick zu dem Sack mit der Beute, der auf seinem Schreibtisch lag.
Soweit war alles klar. Im Grunde konnte Pall zufrieden sein. Er hatte das Geld, und er brauchte den toten Banditen keinen Cent zu bezahlen. Jetzt gab es nur noch ein Problem.
Sheffield.
„ Bist du sicher, dass dich keiner auf dem Weg hierher gesehen hat?“, fragte Pall ruhig.
Sheffield ruckte herum.
„ Ja, verdammt“, sagte er heftig. „Ich hab’s dir doch gesagt. Ich hab die Kerle an der Nase rumgeführt und meine Spuren verwischt.“ Er rieb sich nervös über das Gesicht.
„ Dann ist ja alles in Ordnung“, sagte Pall. Es klang beinahe gelangweilt. Der fette Bandit wusste seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
„ In Ordnung, in Ordnung, ja verdammt!“, brauste Sheffield auf. „Trotzdem könnte ich mich grün und blau ärgern. Um ein Haar hätten sie mich erwischt. Ich hatte Glück, sonst wäre ich jetzt genauso in der Hölle wie Kiddy und die anderen. Und alles, weil dieser verdammte Sternträger auftauchte.“ Unruhig und gereizt schritt Sheffield auf und ab.
Jefferson Pall sagte nichts. Eine Idee formte sich in seinem Hirn. Er steckte sich ein Zigarillo an.
Sheffield blieb vor dem Schreibtisch stehen und starrte finster den fetten Mann an.
„ Warum sagst du nichts, verdammt noch mal!“ Er hieb mit der Faust auf den Tisch. „Sag doch schon, dass ich Mist gebaut habe!“
„ Ich habe dir keinen Vorwurf gemacht“, erwiderte Pall. „Ich weiß gar nicht, was du willst, mein Freund. Zugegeben, es ist nicht ganz nach Plan gelaufen, aber letzten Endes haben wir doch erreicht, was wir wollten.“ Er fächerte den Rauch zur Seite und wies grinsend auf den Tuchsack mit der Beute.
Sheffield hastete wieder zum Fenster, blickte gehetzt hinaus. Er war sicher, dass ihm niemand gefolgt war, doch eine unerklärliche Unruhe nahm ihn gefangen, seit er nur knapp der Posse entkommen war. Er hatte Pall belogen. Erst kurz vor der Ranch hatte er seine Verfolger abschütteln können. Die Dunkelheit war ihm zu Hilfe gekommen. Wenn die Männer bei Tagesanbruch die Suche wieder aufgenommen hatten. ...
Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Er fühlte sich nicht mehr sicher. Irgendjemand hatte ihn in der Stadt bestimmt gesehen und konnte ihn identifizieren.
Er zuckte zusammen, als Jefferson Pall mit schläfriger Stimme sagte: „Bist du sicher, dass der Schmied tot war?“
„ Ja, verdammt“, brauste Sheffield auf. Und im gleichen Augenblick fiel ihm siedendheiß der Junge ein. Der Bengel hatte ihn angestarrt, als sehe er einen Geist. Natürlich würde er ihn beschreiben können.
Und wenn man ihn hier fand ...
Sein Blick irrte zu Jefferson Pall, und er versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen.
Jefferson Pall lächelte.
Sheffield entspannte sich etwas.
„ Du bist ziemlich nervös“, stellte Pall ruhig fest. „Dabei gibt es gar keinen Grund dafür, wie du sagst.“
„ Natürlich gibt es keinen Grund“, sagte Sheffield. „Es ist nur ...“, er suchte nach einer Erklärung, „... es geht mir schon ein bisschen an die Nieren, dass die anderen auf der Strecke geblieben sind.“
Pall nickte. „Das kann ich verstehen.“ Er griff in die Schreibtischschublade und holte ein Bündel Banknoten hervor. Er warf es auf den Tisch. „Vielleicht wird dich das wieder ein bisschen aufmuntern“, sagte er grinsend.
Sheffield blickte wie hypnotisiert auf das Dollarbündel.
Er trat an den Schreibtisch.
„ Zufrieden?“, fragte Pall.
Sheffield nahm das Geld, zählte hastig. Pall beobachtete ihn dabei. Als Sheffield schließlich nickte, sagte der fette Bandit lächelnd: „Es gibt auch noch eine Extraprämie, mein Freund.“
Er zog wieder die Schublade auf, griff hinein und richtete im nächsten Moment eine Derringer auf Sheffield.
Sheffield erstarrte.
„ Was – was soll das?“, stammelte er.
„ Die Extraprämie“, sagte Pall ruhig und drückte ab.
Sheffield starb, bevor er begriff, dass Pall ihn von Anfang an durchschaut hatte. Das Dollarbündel hatte ihn nur ablenken sollen. Die Derringer-Pistole war auf diese kurze Distanz absolut tödlich.
Jefferson Pall lächelte immer noch. Der fette Bandit war die Kaltblütigkeit in Person. Er legte die Derringer wieder in die Schublade zurück, paffte an seinem Zigarillo und drückte es schließlich im Aschenbecher aus.
Dann erhob er sich langsam und bedächtig.
Er ging zu dem Toten und blickte auf ihn hinab. Er nahm ihm das Dollarbündel ab, verstaute es in den Taschen seines Prince-Albert-Rocks. Anschließend nahm er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Einen Augenblick lang hing er seinen Gedanken nach.
Er war zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass Sheffields Leiche verschwand. Wer sollte ihm dann noch nachweisen, dass er, Jefferson Pall, etwas mit dem Banküberfall zu tun hatte?
*
Roy Hunter blickte den Reitern nach, die Winfield in Richtung Westen verließen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sich dem Suchtrupp unter der Führung von Dennis anzuschließen, sich dann aber anders entschieden. Er traute Dennis allerhand zu, aber er bezweifelte, dass der Mann die Fährte des geflohenen Verbrechers wiederfinden würde. Sein Vorsprung war zu groß.
Roy entschloss sich, zunächst einmal in der Stadt zu bleiben. Vielleicht fand er hier etwas heraus, was einen Anhaltspunkt ergab, wohin sich der Verbrecher gewandt haben konnte.
Er dachte an das Gespräch mit Susan Winters, das er am frühen Morgen hinter sich gebracht hatte. Es war, wie er es nicht anders erwartet hatte, eine traurige Angelegenheit gewesen.
Das blonde Mädchen mit den blauen Augen hatte nicht geweint. Aber er hatte ihr den Schmerz angesehen.
Sie wirkte wie abwesend, als er sie verließ. So, als sei sie am Träumen. Sie zog sich in sich zurück, weigerte sich, die grausame Wahrheit zu akzeptieren.
Roy Hunter hatte nach Worten des Trostes gesucht, aber sie hatte ihn gebeten, sie allein zu lassen.
Ein tapferes Mädchen, dachte Roy. Sie und John Collins hätten gut zusammengepasst.
Bitterkeit befiel ihn.
Er machte sich auf den Weg zur Bank, um mit dem Bankier und dem Clerk zu sprechen.
Der Clerk wirkte ausgesprochen nervös. Er schien noch unter dem Schock des Überfalls zu stehen. Er hatte getrunken. Roy bemerkte sofort die Whiskyfahne des Mannes.
Mürrisch beantwortete Patrick Delany Roys Fragen.
„ Sie hatten also Masken an“, fasste Roy zusammen. „Sie tauchten gegen vier Uhr in der Bank auf, als gerade kein Kunde da war, und sie forderten Sie auf, den Safe leerzuräumen.“ „Was sollte ich machen?“, gab Delany zur Antwort. „Sie hielten ihre Schießeisen auf mich gerichtet und drohten, mich umzulegen.“
Roy grinste.
„ Das haben Banditen bei einem Überfall so an sich, Mister Delany.“ Delany blickte ihn alles andere als freundlich an.
„ Und – sollte ich vielleicht den Helden spielen? Überhaupt, was geht das eigentlich Sie an?“
„ Vielleicht möchte ich Ihnen und Ihrem Boss helfen“, sagte Roy.
Der Clerk wich seinem Blick aus.
„ Sind Sie etwa ein Detektiv oder so was?“
„ Nein, aber ich bin scharf auf die ausgesetzte Belohnung.“
Delany schluckte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander. An die Belohnung hatte er noch gar nicht gedacht. Ein Gedanke keimte in ihm auf. Er musste unbedingt mit Lydia sprechen. So schnell wie möglich.
„ Sagen Sie mal, Mister Delany, wie viel Geld war eigentlich in dem Safe?“
Die Frage riss Delany aus seinen Gedanken. Er zögerte mit der Antwort.
„ Achtundvierzigtausend“, sagte er schließlich, „und ein paar Papiere.“
„ Papiere?“
„ Ja, Schecks, Schuldscheine und so.“
„ Die haben die Banditen auch mitgenommen?“, fragte Roy Hunter.
„ Sie verlangten, dass ich alles in den Sack stopfe.“
Roy überlegte.
„ Wie viele Schuldscheine waren es denn?“
Delany verstand den Sinn der Frage nicht.
„ Wieso? Einer oder zwei – und ein paar Schecks.“
„ Sie wissen nicht zufällig, auf wen die Schuldscheine und die Schecks ausgeschrieben waren?“, fragte Roy.
Delany schüttelte den Kopf.
„ Mister Rogers persönlich hat sie im Safe deponiert. Außerdem dürfte ich Ihnen auch gar keine Auskunft geben, selbst wenn ich es wüsste.“
Roy Hunter nickte. Etwas anderes hatte er auch kaum erwartet.
Er stellte dem Clerk noch ein paar Fragen, aber es kam nichts dabei heraus, was Roy weitergebracht hätte.
Er verabschiedete sich von Delany, der immer noch ungewöhnlich fahrig und nervös wirkte, und suchte den Bankier auf. Der Clerk hatte ihm den Weg zu dem Haus des Bankiers beschrieben.
Roy Hunter hob gerade die Hand, um anzuklopfen, als die Tür geöffnet wurde und eine Frau aus dem Haus trat.
Es war Lydia Cohen.
Und sie war genauso überrascht wie Roy.
Einen Augenblick lang starrten sich beide in die Augen. Dann fand Roy die Sprache wieder. Er tippte an die Krempe seines Stetsons und sagte: „Guten Tag Madam. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Gestern hatten Sie’s so eilig. Ich wollte mich noch bei Ihnen entschuldigen, nachdem ich mich von meinem Schock erholt hatte, aber Sie waren bereits verschwunden.“
Sie nickte leicht, und ihre Lippen zeigten die Andeutung eines Lächelns.
„ Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen“, sagte sie herb. „Es – war auch meine Schuld. Es war alles ein Irrtum, vergessen wir’s.“
Er schaute sie an. Sie trug Reithosen und eine lilafarbene Bluse mit schwarzen Rüschen. Er wollte ihr sagen, dass sie ihm gefiel, dass er wusste, welchem Gewerbe sie nachging, dass sie ihm aber trotzdem gefiel, doch er brachte es nicht über die Lippen. Stattdessen sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel: „Ist der Bankier zu Hause?“
„ Natürlich ist er zu Hause“, erwiderte Lydia. Und wieder glommen Funken in ihren Augen auf, die ihn gestern Abend so fasziniert hatten. „Glauben Sie etwa, ich gehe in ein Haus, dessen Besitzer nicht da ist?“ Ich war gestern auch nicht auf meinem Zimmer , dachte Roy.
„ Ich hatte geschäftlich mit Mister Rogers zu tun“, fuhr Lydia fort. Ihre Stimme klang plötzlich hochmütig. „Es gilt, die Frage der Entschädigung zu klären. Schließlich hatte ich ein Konto bei seiner Bank.“
„ Und?“, fragte Roy Hunter.
„ Was und?“
„ Sind Sie mit ihm klargekommen?“ Jetzt lächelte sie. Spöttisch und verloren zugleich.
„ Ich bin bisher immer noch klargekommen“, sagte sie. Dann ließ sie ihn einfach stehen und ging eilig davon. Sie hatte den Kopf stolz erhoben, und dennoch sah es für Roy Hunter aus, als fliehe die Frau vor ihm.
Sie wurde für Roy immer rätselhafter. Sie schien voller Widersprüche zu sein. Er fühlte sich von ihr magisch angezogen, und doch war da ein Gefühl, das ihn vor dieser Frau warnte.
Sie war also bei Rogers, dem Bankier, gewesen. Geschäftlich, hatte sie gesagt. Um welche Geschäfte es sich gehandelt hatte, erriet Roy, als der Bankier ihm auf sein Klopfen hin öffnete.
„ Darling, hast du was vergessen oder ...“ Er brach ab und starrte Roy Hunter entgeistert an.
Roy grinste.
„ Sie können von mir halten, was Sie wollen, Mister Rogers, aber Ihr Darling bin ich wirklich nicht. Mein Name ist Hunter, und, wenn Sie erlauben, möchte ich mich mit Ihnen unterhalten.“
Der Bankier nestelte an dem Gürtel seines Morgenrocks, unter dem er offensichtlich nackt war.
„ Ich weiß nicht, ob das der richtige Augenblick ist ...“, begann er, doch Roy schob sich schon mit einem gewinnenden Lächeln an ihm vorbei ins Haus, und Rogers brach kläglich ab.
Die Tür zu einem der Zimmer stand offen, und Roy konnte einen Blick auf das zerwühlte Bett werfen. Er war sicher, dass Lydias geschäftliche Besprechung in diesem Raum stattgefunden hatte und nicht in dem Büro, in das ihn der Bankier jetzt führte.
Der schmächtige Mann mit dem grünen Morgenmantel nahm hinter dem Schreibtisch Platz und wirkte gleich viel größer und gewichtiger. Roy Hunter setzte sich auf den Stuhl vor dem Tisch.
„ Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Bankier höflich.
„ Ich überlege, was ich für Sie tun kann“, erwiderte Roy. „Vielleicht können Sie mir dabei mit einigen Auskünften helfen. Sie scheinen den Schock von gestern ja einigermaßen überwunden zu haben.“
„ Sie wollen ...?“
Roy nickte.
„ Ich will mir die Belohnung verdienen. Mit Ihrem Angestellten in der Bank habe ich mich schon unterhalten.“
Er fasste kurz zusammen, was Delany ihm gesagt hatte. Der Bankier hörte interessiert zu. Er schien Vertrauen zu Roy Hunter zu haben, denn er ergänzte unaufgefordert Delanys Auskünfte.
„ Ich war nicht in der Bank, als der Überfall geschah, Mister Hunter, kann also nichts Genaues zu dem Tathergang sagen, aber Mister Delany ist ein absolut zuverlässiger und ehrenwerter Mann.“
„ Daran habe ich auch nicht gezweifelt“, sagte Roy, obwohl der Clerk keinen besonders guten Eindruck auf ihn gemacht hatte.
„ Ich hatte geschäftlich zu tun“, fuhr der Bankier fort. „Ein wichtiger Kunde, Sie verstehen ...“
Roy Hunter verstand.
„ Kennen Sie Miss Lydia Cohen?“, fragte er und blickte Rogers harmlos lächelnd an.
Der Bankier wirkte wie ein ertappter Sünder.
„ Ja, aber wieso – ich meine ...“ „Vergessen Sie’s, Mister Rogers“, sagte Roy lächelnd. „Die Lady fiel mir nur gerade ein, weil ich ihr vorhin auf der Straße begegnet bin. Ihre Geschäfte und Ihr Privatleben gehen mich wirklich nichts an.“ Er lenkte den Bankier, dessen Gefühle sich zwischen Schuldbewusstsein und Empörung stritten, geschickt ab. „Sie sagten gestern im Saloon, Sie seien ruiniert. Ist die Bank denn nicht versichert?“
Der Bankier gewann seine Fassung wieder.
„ Doch“, sagte er, „natürlich bin ich versichert. Aber Sie wissen ja nicht, wie lange das alles dauert, bis die Versicherung zahlt, und meistens zahlt sie nur einen Teil. Auf jeden Fall bin ich im Augenblick nicht mehr flüssig.“ Er rang die Hände. „Es ist ein Skandal. Mehrere Kunden haben ihre Konten aufgelöst. Ich musste sie auszahlen. Man hat kein Vertrauen mehr zu meiner Bank ...“
Roy Hunter sagte beruhigend: „Die Aufregung wird sich legen, Mr. Rogers, und wenn der Fall aufgeklärt ist, werden die Kunden bald wiederkommen.“
„ Jaja.“ Rogers nickte heftig. „Vielleicht sehe ich im Augenblick alles ein bisschen schwarz, Mister Hunter. Aber Sie müssen das verstehen. Es könnte jemand auf die Idee kommen, eine neue Bank zu eröffnen. Dann hätte ich Konkurrenz. Und gerade jetzt nach dem Überfall könnte man mir die Kunden weglocken.“
Roy Hunter war interessiert.
„ Wer ist ,man‘?“, fragte er.
„ Da sind so einige Namen im Gespräch“, erklärte Rogers. „Kenton, der Rancher, zum Beispiel. Man sagt, dass er bereits die ersten Kontakte geknüpft hat und sich über das Geschäftliche informieren ließ. Und auch andere könnten jetzt auf die Idee kommen. Selbst Delany, mein Mitarbeiter ...“
„ Delany?“, fragte Roy Hunter verblüfft.
„ Ja, er hat mir neulich noch gesagt, dass es sein Traum wäre, eines Tages selbst eine Bank zu führen.“ Rogers lächelte. „Natürlich fehlt es ihm noch an Kapital, denn sein Gehalt ist ziemlich bescheiden. Aber wenn er einen Geldgeber findet ...“ Das Lächeln verschwand wieder aus seinem Gesicht.
Roy Hunter dachte angestrengt nach. Irgendetwas ließ ihn stutzen. Delany, der kleine Bankangestellte, träumte davon, selbst eine Bank zu eröffnen? Er war so seltsam unruhig gewesen. Und er hatte am frühen Morgen getrunken. War er wirklich so zuverlässig und ehrenwert, wie Rogers glaubte?
Roy Hunter hatte plötzlich das Gefühl, dass mit diesem Delany nicht alles in Ordnung war. Eine Ahnung nur, aber Roy Hunter gab viel auf seine Ahnungen. Er nahm sich vor, dem Mann noch einmal auf den Zahn zu fühlen.
„ Haben Sie eine Aufstellung, was die Banditen alles erbeutet haben?“, fragte Roy den Bankier.
Rogers nickte eifrig. Er holte Papiere aus seinem Schreibtisch und reichte sie Roy. Während Roy Hunter die Liste überflog, rasselte der Bankier aus dem Kopf die aufgeführten Posten herunter. Roy Hunter gab ihm etwas enttäuscht die Liste zurück. Es standen keine Namen hinter den aufgeführten Schecks und Schuldscheinen. Nur Nummern, mit denen Roy nichts anfangen konnte.
„ Sagen Sie mal, Mister Rogers, auf wen waren eigentlich die Schuldscheine ausgestellt?“, fragte er aus seinen Gedanken heraus.
Rogers öffnete den Mund zu einer Antwort, doch dann besann er sich auf seine Schweigepflicht.
Er schüttelte den Kopf und sagte: „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Mister Hunter, Sie verstehen sicher, das Bankgeheimnis ...“
Roy Hunter seufzte.
„ Natürlich. War auch nur so eine Idee. Könnte ja sein, dass irgendjemand auf die Idee gekommen ist, sich seine Schuldscheine auf diese Weise wiederzubeschaffen. Die Banditen haben Masken getragen. Vielleicht, weil sie in der Stadt bekannt waren.“ Andererseits, überlegte Roy, hat Delany weder ihre Stimmen erkannt, noch sonst etwas Besonderes bemerkt. Wieder war die Ahnung da, dass mit Delany etwas nicht stimmte. Der Mann hatte nicht mal eine brauchbare Beschreibung der Banditen geben können. Angeblich war er so erschrocken gewesen, dass er es kaum gewagt hatte, die Männer anzuschauen!
Der Bankier zerstörte Roy Hunters Gedankengang.
„ Aber ich bitte Sie, Mister Hunter. Die Schuldscheine belaufen sich auf relativ kleine Summen. Deswegen überfällt doch niemand eine Bank.“ Roy Hunter grinste ihn an. „Immerhin waren zusätzlich noch fast fünfzigtausend im Safe. Und wer freut sich darüber mehr als jemand, der verschuldet ist. Sie sollten doch mal überlegen, von wem die Schuldscheine stammten, Mister Rogers.“ Der Bankier musterte Roy mit kleinen grauen Augen. „Ihre Theorie ist gar nicht so übel, aber ...“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das kann ich mir nicht denken.“ Das Gesicht mit den eingefallenen Wangen und der spitzen Nase war plötzlich wieder hochrot. Roy Hunter sah, wie der Bankier angestrengt nachdachte. Und er beugte sich angespannt vor, als Rogers sich plötzlich wie entgeistert an die Stirn schlug.
„ Mensch, dass ich nicht eher darauf gekommen bin“, sprudelte er hervor. „Das könnte ein abgekartetes Spiel von Kenton sein.“ Er nickte ein paarmal heftig. „Ja, so muss es sein. Der Kerl will eine neue Bank in Winfield eröffnen. Er will mich aus dem Geschäft boxen. Dieser verdammte Halunke ...“
Roy Hunter unterbrach ihn.
„ Mal ganz langsam. Dieser Kenton ist der Rancher, den Sie schon vorhin erwähnten. Von ihm stammt der Schuldschein?“
„ Nein, der ist von Melville. Das kann ich Ihnen sagen, ohne das Bankgeheimnis zu verletzen. Die ganze Stadt weiß davon. Melville hat in einer Nacht dreitausendsechshundert Dollar beim Pokern verloren. Gegen Kenton. Und wenn Melville den Schuldschein nicht rechtzeitig einlöst, muss er Kenton einen Teil seiner Weide abtreten. Dazu hat er sich verpflichtet. Der Sheriff und ich haben als Zeugen unterzeichnet. Ich sage Ihnen, dieser Kenton ...“
Roy Hunter winkte ab. „Sagen Sie mal nichts, sondern lassen Sie mich in Ruhe überlegen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, stammte einer der Schuldscheine von einem Mann namens Melville. Also könnte doch dieser Melville viel mehr Interesse daran haben, dass der Schuldschein verschwindet, als Kenton.“
„ Ich kenne Melville, und ich kenne Kenton“, sagte der Bankier. „Melville ist ein rechtschaffener Mann, der mehr schlecht als recht seine kleine Ranch führt. Kenton dagegen ist ein gerissener Weidehai, der immer größer und mächtiger werden will. Dem traue ich alles zu, diesem ...“
Wieder unterbrach Roy Hunter, diesmal etwas ungehalten.
„ Ihre Menschenkenntnis in allen Ehren, Mister Rogers, aber mir scheint, es hapert ein bisschen mit Ihrer Logik. Sie sagen, dass Kenton ein Weidehai ist, der immer mächtiger werden will. Sollte dieser Melville den Schuldschein nicht rechtzeitig einlösen ...“ Er unterbrach sich und fragte: „Bis wann eigentlich?“
„ Bis zum Ende des Monats.“
Roy Hunter spürte, dass die Sache mit dem Schuldschein immer heißer wurde. Er fuhr fort: „Sollte dieser Melville den Schuldschein also nicht bis zum Ende des Monats einlösen, bekäme Kenton einen Teil seiner Weide. Weshalb sollte Kenton dann ein Interesse daran haben, den Schuldschein bei einem Bankraub mitgehen zu lassen?“
Rogers ließ sich nicht beirren. „Dem trau ich jede Gemeinheit zu. Der ist imstande und lässt Melville umbringen und präsentiert dann nach Ablauf der Frist den Schuldschein. Ja, so muss es sein. Da schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Er bekommt die Weide, und mich macht er mit seiner neuen Bank fertig.“
Roy Hunter versuchte, sich nicht von den Emotionen des Bankiers anstecken zu lassen und sachlich zu überlegen.
„ Melville, den Sie als rechtschaffenen Mann bezeichnen, hat in einer Nacht dreitausendsechshundert Dollar Spielschulden gemacht, Mister Rogers. Das ist nicht gerade normal für einen kleinen Rancher. Er will mit Sicherheit seine Weide behalten. Und was macht er, wenn er die Summe nicht zum Termin aufbringen kann? Könnte er da nicht auf die Idee kommen, durch einen Banküberfall sein Spielpech zu korrigieren?“
„ Sicher, sicher. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube ...“
Roy Hunter seufzte. „Ich weiß, Sie können Kenton nicht leiden. Sie haben Angst vor seiner Konkurrenz. Aber Sie vergessen dabei, dass er erst noch einen Mord begehen müsste, um an die Weide heranzukommen. Melville hingegen ist aus dem Schneider, wenn der Schuldschein verschwunden bleibt.“
Roy Hunters Worte machten den Bankier nun doch nachdenklich. Er nagte an seiner Unterlippe.
Eine Weile herrschte Schweigen. Roy Hunter ließ noch einmal alles Revue passieren, was er im Zusammenhang mit dem Banküberfall erfahren hatte.
Vier Männer. Die drei toten Banditen – auch der dritte war in der Nacht gestorben – hatte niemand je zuvor in der Stadt gesehen. Roy nahm sich vor, den Schmied und den Jungen nach dem vierten Mann zu fragen, der entkommen war. Aber auch der war wahrscheinlich in Winfield unbekannt. Seltsam, dachte Roy, dass sie unmaskiert aus der Bank kamen. Sie schienen sich ziemlich sicher gefühlt zu haben und gerieten durch das zufällige Auftauchen des Sheriffs in Panik. Sie hatten während des Überfalls Masken getragen. Delany sollte sie nicht wiedererkennen. Deshalb war seine Beschreibung auch so vage.
Roy Hunter war schon mehrfach Zeuge bei Banküberfällen gewesen. Meistens spielte sich das anders ab als hier in Winfield, wo die Banditen den Coup ganz offensichtlich in aller Stille hatten durchführen wollen.
Und wenn es wirklich wildfremde Banditen waren, die sich zufällig die Bank von Winfield ausgesucht hatten? Natürlich war das nicht auszuschließen, aber Roy Hunter ging unbeirrt seiner Vermutung nach, dass der Schuldschein eine Rolle spielte.
Die Banditen hatten, wie Delany sagte, nicht nur das Bargeld verlangt, sondern auch die Papiere. Das sprach dafür, dass sie im Auftrag gehandelt hatten. Wer steckte dahinter?
Melville? Kenton?
Roy Hunter erhob sich. Er war entschlossen, sich mit beiden zu unterhalten. Aber zuvor wollte er noch Delany auf den Zahn fühlen.
„ Aber was geschieht denn jetzt?“, fragte Rogers. „Wie wollen wir Kenton beweisen, dass der Überfall auf sein Konto geht?“ Er blickte Roy düster an. „Übrigens hat er schon seit drei Monaten kein Konto mehr bei mir.“
Roy grinste.
„ Was kein Beweis dafür ist, dass er etwas mit der Sache zu tun hat.“
Er verabschiedete sich von dem Bankier und empfahl ihm, die Belohnung schon mal bereitzuhalten.
Er war der geborene Optimist.
*
Die Bank war geschlossen. Rogers ließ seinen Angestellten Delany offensichtlich schalten und walten wie er wollte.
Roy Hunter machte sich auf den Weg zum Schmied.
Er bog gerade von der Main Street in die Gasse ein, als er aus einem der Häuser Patrick Delany kommen sah.
Aus einem Impuls heraus drückte Roy Hunter sich an die Hauswand in den tiefen Schatten und beobachtete Delany.
Der Mann blickte sich sichernd nach links und rechts um. Seine Miene war angespannt. Er wirkte unsicher. Einen Augenblick lang blieb er zögernd stehen, dann schritt er über den Stepwalk davon.
Roy Hunter sah, wie er schließlich die Main Street überquerte und im Mietstall verschwand. Geduldig wartete Roy, bis Delany wieder auftauchte. Er saß im Sattel eines Rappen und ritt nach Westen davon. Roy blickte der Staubwolke nach und überlegte, ob er dem Mann folgen sollte.
Im nächsten Augenblick zuckte er zusammen.
Aus dem Haus, aus dem Delany vorhin gekommen war, trat Lydia Cohen.
Auch sie blickte erst nach links und rechts, bevor sie sich in Bewegung setzte. Sie trug eine Reithose, eine blaue Bluse und einen schwarzen, flachkronigen Hut.
Roy Hunter beobachtete, wie sie die Main Street überquerte und schließlich im Mietstall verschwand. Und in diesem Augenblick keimte der Verdacht in ihm auf, dass auch Lydia eine Rolle in dem rätselhaften Spiel übernommen hatte. Ihm fiel ein, dass der Bankier zum Zeitpunkt des Überfalls nicht in der Bank gewesen war. Dass eine Beziehung zwischen ihm und Lydia bestand, war offensichtlich.
Sie verließ den Mietstall im Sattel eines hellbraunen Pferdes.
Roy Hunter war sicher, dass sie Delany folgte.
Die Sache wurde immer interessanter.
Er ging eilig zum Mietstall, um seinen Hengst zu holen. Das Tier begrüßte ihn mit einem Schnauben.
„ Wollen Sie uns schon wieder verlassen?“, fragte der Stallmann, als Roy sattelte.
„ Nur ein kleiner Ausritt“, sagte Roy ausweichend. „Sagen Sie mal, wie weit ist es eigentlich bis zur nächsten Ranch?“
Der Mann zählte ihm auf, welche Ranches es in der Umgebung gab und wo sie lagen. Roy Hunter prägte sich alles ein.
Er war gespannt, wohin Delany und die Frau ritten.
Kurz darauf ritt er auf ihrer Fährte. Der Hengst flog nur so über das Land. Er war ausgeruht und schien froh zu sein, sich bewegen zu können.
Schließlich entdeckte Roy die Reiter. Sie durchquerten gerade ein langgestrecktes Tal. Sie ritten Bügel an Bügel.
Roy beobachtete die Reiter von einem Höhenrücken aus.
Ein seltsames Paar, dachte Roy Hunter.
Ein kleiner Bankangestellter, der davon träumt, eines Tages eine eigene Bank zu eröffnen. Und eine schöne, rätselhafte Frau, die ganz offensichtlich ihre Gunst verkaufte – aber nicht an jeden. Was verband Lydia Cohen mit Delany? Roy bezweifelte, dass Delany die Frau für diesen Ausritt bezahlte.
Er trieb den Schwarzbraunen wieder an. In sicherem Abstand folgte er den beiden.
*
Jefferson Pall zuckte mit den Schultern und bemühte sich um ein betrübtes Gesicht.
„ Was soll ich machen, Melville? So ist das nun mal im Leben, mein Freund. Man kann keinem mehr trauen. Ich hätte nie gedacht, dass meine Leute versagen.“ Er zwinkerte Melville zu. „Nun, die Quittung dafür haben sie bekommen. Und irgendwann wird mein vierter Mann auch noch zur Hölle fahren.“
„ Irgendwann, irgendwann!“ Melville drehte nervös den Hut in seinen Händen. „Sie haben mir garantiert, dass alles klargeht. Und jetzt ...“ „Jetzt können wir nur hoffen, dass niemand den Schuldschein jemals findet“, sagte Pall.
„ Mir wäre wohler, ich hätte Gewissheit“, sagte Melville. „Haben Sie keine Ahnung, wohin Ihr Mann geflohen sein könnte? Ich meine, man könnte ihn vielleicht irgendwo aufstöbern und ...“ Er ließ den Rest unausgesprochen.
Den stöbert niemand mehr auf, dachte Jefferson Pall. Der liegt hinter dem Haus unter der Erde.
Und bei diesem Gedanken lächelte er zufrieden. Er steckte sich ein Zigarillo an.
„ Mein Freund“, sagte er milde, „ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Der Schuldschein ist nicht mehr im Safe der Bank und wird wahrscheinlich nicht mehr auftauchen. Alles andere kann Ihnen doch gleichgültig sein. Der Auftrag ist im Prinzip erledigt worden. Also erwarte ich von Ihnen, dass Sie sich an die Abmachung halten und die zweite Rate bezahlen.“ „Es war ausgemacht, dass ich den Schuldschein bekomme“, begehrte Melville auf. „Wer gibt mir jetzt eine Garantie, dass er nicht doch noch in falsche Hände gerät?“
Pall blies einen Rauchring. Unter halb gesenkten Lidern blickte der fette Mann sein Gegenüber an.
„ Bei jedem Geschäft gibt es ein gewisses Risiko“, sagte er und hob theatralisch die Hände. „Sehen Sie mal, mein Freund, ich habe doch mehr bei dieser Sache verloren als Sie. Drei meiner besten Leute sind tot. Und der vierte ist mit der Beute getürmt. Und Sie regen sich wegen so einer Kleinigkeit auf.“
Melville beruhigte sich etwas. Wieder einmal bereute er, sich mit Pall eingelassen zu haben. Aber er hatte keine andere Wahl gehabt. Das Wasser hatte ihm bis zum Hals gestanden. Selbst die zweite Rate für Palls Dienste hatte er nur mit Mühe und Not zusammenbekommen.
Im Grunde hatte Pall recht. Der verschwundene Bandit würde bestimmt nicht wieder in der Gegend auftauchen. Der Schuldschein war für ihn wertlos, wahrscheinlich würde er ihn wegwerfen oder verbrennen. Ja, er konnte Pall dankbar sein.
Kenton würde zwar toben und fluchen, aber die Weide bekam er nicht. Das Dokument war verschwunden. Sicher, es gab Zeugen, dass er den Schuldschein unterschrieben hatte. Er würde diese Tatsache auch gar nicht abstreiten. Aber er würde leugnen, dass er sich bereiterklärt hatte, bis Ende des Monats zu zahlen. Er würde sich dumm stellen.
Auf jeden Fall gab es einen Aufschub. Ein neuer Schuldschein, ein neuer Termin. Vielleicht bot er Kenton an, noch einmal um die gleiche Summe zu spielen? Verdammt, irgendwann musste er doch einmal Glück haben!
Er atmete tief ein und aus.
„ Okay“, sagte er. „Ich zahle die Hälfte der zweiten Rate. Im Grunde habe ich das Geld zum Fenster hinausgeworfen.“
„ Aber, aber, mein Freund, Sie behalten doch vorläufig Ihre Weide“, sagte Pall. „Ist das denn gar nichts?“ „Vorläufig.“ Melville nickte. „Ich muss sehen, wie ich das hinbiege. Es wird nicht leicht sein, aber vielleicht kann ich Kenton noch einmal zu einem Spiel überreden. Und dann lege ich Kenton herein. Dann wird er der Verlierer sein.“
Armer Irrer , dachte Pall. Er paffte an seinem Zigarillo und vertrieb mit der Linken träge den Qualm.
Melville holte aus seiner Jacke einige zusammengerollte Dollarnoten hervor. Er reichte sie Pall.
Der fette Mann zählte langsam und umständlich. Dann lächelte er. „Kleinvieh macht auch Mist, mein Freund.“
Er zog die Schreibtischschublade auf und legte das Geld hinein.
Als seine Hand wieder auftauchte, hielt sie eine Derringer. Melville starrte erschrocken in die Mündungen der doppelläufigen Pistole.
„ Was – was soll das?“, stammelte er. „Die Quittung, mein Freund“, sagte Pall im Plauderton. Er lächelte immer noch.
Und lächelnd drückte er ab.
*
„ Reiter“, sagte Patrick Delany. „Los, in Deckung!“ Er trieb sein Pferd auf das Wäldchen zur Rechten zu. Lydia Cohen folgte ihm. Sie erreichten die ersten Bäume und tauchten in das Dunkel des Waldes.
Delany saß ab und spähte zwischen den Baumstämmen zum Trail. Hufschlag klang auf. Schließlich galoppierte ein Reitertrupp, keine zweihundert Yards entfernt, vorbei.
Delany wartete, bis der Trupp verschwunden war, der Hufschlag sich in der Ferne verlor und der Staub sich senkte. Dann kehrte er zu Lydia zurück. Sie saß noch im Sattel.
„ Das war Dennis mit seinem Suchtrupp“, sagte Delany. „Sie reiten zur Stadt zurück. Wahrscheinlich haben sie die Suche aufgegeben.“ Er lachte. „Wenn die wüssten, was wir wissen, nicht wahr. Lydia?“
Sie gab keine Antwort.
Er schaute sie an. Sein Blick glitt über ihre Kurven, und plötzlich packte ihn das Verlangen.
„ Wir sollten eine Pause einlegen“, sagte er, und seine Augen funkelten. Er trat neben ihr Pferd, legte eine Hand auf ihren Schenkel.
Sie wusste, was er wollte.
„ Wir müssen uns beeilen, wenn wir bis zum Sonnenuntergang bei Pall sein wollen“, sagte sie.
Er lachte. Er konnte seine Erregung nur mühsam unterdrücken.
„ Ein Viertelstündchen haben wir noch Zeit“, sagte er. Seine Hand massierte ihren Oberschenkel.
„ Ich habe jetzt keine Lust“, sagte sie und nahm die Zügel auf.
Er starrte sie an.
„ He, was ist das für ein Ton? Du vergisst, dass wir jetzt Partner sind. Wir statten diesem feinen Mister Pall einen Besuch ab. Entweder finden wir bei ihm die Beute, oder er wird unser Schweigen teuer erkaufen müssen.“
„ Und was ist, wenn er alles abstreitet?“
Delany klopfte auf seinen Revolverholster.
„ Ich werde ihn schon zum Sprechen bringen, verlass dich darauf.
Wir beide sind bald gemachte Leute. Da solltest du schon ein bisschen nett zu mir sein. Schließlich war es meine Idee, Pall nach allen Regeln der Kunst zu schröpfen.“
Lydia blickte ihn an. Er hat sich verändert, oder ich habe ihn verkannt , dachte sie. Er ist nicht mehr der unterwürfige Pinscher. Ein eiskalter, entschlossener Bursche. So kann man sich irren.
Er war zu ihr gekommen, hatte ihr gedroht, sie anzuzeigen, wenn sie ihm nicht den Namen ihres Auftraggebers sagte. Sie hatte seiner Erpressung nachgegeben. Vielleicht war mit ihm tatsächlich das große Geld zu holen. Wenn er mit Pall fertig wurde ...
Noch etwas widerstrebend ließ sie sich von Delany aus dem Sattel helfen. Er umfasste sie hart. Sein Atem ging schneller, und sie roch seinen Schweiß.
Er riss sie in seine Arme, wollte sie küssen.
Sie bog den Kopf zurück und lachte. Sie wusste, wie sie ihn reizen konnte. Es hatte sich doch nichts zwischen ihnen geändert. Sie genoss die Gewalt, die sie über ihn besaß. Es machte ihr Spaß, ihn zappeln zu lassen.
„ Lydia – ich bin verrückt nach dir“, stammelte er.
Tiefe Befriedigung erfüllte sie.
Sie zierte sich weiter, um seine Begierde noch mehr zu steigern.
Doch diesmal überschätzte sie sich und ihre Macht über den Mann. Und sie unterschätzte Patrick Delany. Er hatte sich wirklich verändert. Aus dem kleinen Pinscher war ein reißender Wolf geworden.
Er bettelte nicht mehr, er nahm sich, was er haben wollte.
Mit brutaler Gewalt.
Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Sie schrie auf, erschrocken und irgendwie verblüfft. Sie wich unbewusst einen Schritt zurück, starrte in sein verzerrtes Gesicht, in dem die Augen zu glühen schienen.
Er sprang auf sie zu und schlug wieder zu.
Sie taumelte.
Er warf sie zu Boden. Seine Rechte krallte sich in ihre Bluse, riss sie auf. Sie spürte seine schweißfeuchten Finger auf ihren Brüsten, seine Nägel gruben sich in ihr Fleisch.
Er lag über ihr, riss ihr die Hose herunter.
Und sie erkannte, dass ihn nichts mehr aufhalten konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Lydia Cohen als hilfloses Opfer eines Mannes. Bisher waren Männer wie Wachs in ihren Händen gewesen. Sie hatte ihre Gunst verschenkt. Im Grunde waren die Männer ihre Opfer gewesen.
Er tat ihr weh, ob absichtlich oder im Taumel seiner zügellosen Gier, das zählte jetzt nicht. Sie wehrte sich, doch das schien die Brutalität, die in ihm geschlummert hatte, nur noch mehr zu wecken.
Er fiel über sie her wie ein wildes Tier.
Sie gab ihren Widerstand auf, ließ ihn gewähren.
In diesem Augenblick empfand sie nichts außer Verachtung gegenüber dem Mann, der ihren Stolz zerbrach. Der Stolz, der bei der Begegnung mit diesem großen Fremden wie eine Blume aus den Trümmern ihrer Vergangenheit gewachsen war.
Sie schloss die Augen, die feucht geworden waren.
Es dauerte nicht lange, doch es schien ihr wie eine Ewigkeit, bis er von ihr abließ. Er erhob sich, keuchend und erschöpft.
Sie blieb liegen, und sie fühlte sich zutiefst gedemütigt.
Delany zog seine Hose hoch, und sein Blick glitt über ihren Körper. Er lachte, irgendwie unsicher, ja fast verlegen.
„ War doch mal was anderes, oder?“ Und, als sie keine Antwort gab, ihn nur ausdruckslos anblickte: „Zieh dich an, bevor ich noch mal in Fahrt komme.“
Sie gehorchte.
Zwei Knöpfe ihrer Bluse waren abgeplatzt, der dünne Stoff eingerissen. Ihre Reithose war schmutzig vom Waldboden und befleckt. Ihre Wangen glühten. Sie glaubte noch, seine Schläge zu spüren.
Er zog sie an sich, presste seine Lippen auf ihren Mund. Sie ließ es geschehen.
Er spürte, dass sie seinen Kuss nicht erwiderte, und das kränkte ihn. Er gab sie frei.
„ Los, wir müssen weiter“, sagte er mit rauer Stimme. Und dann fügte er spöttisch hinzu: „Ich bezahle dich, wenn wir bei Pall kassiert haben.“
Sie blickte ihn nur stumm an. Dann ging sie zu ihrem Pferd und saß auf.
Sie ritten schweigend nach Nordwesten.
Den einsamen Reiter, der ihnen folgte, bemerkten sie nicht.
*
„ Den Auftrag habe ich ausgeführt, Mister Kenton“, sagte Jefferson Pall. „Aber es gab da einen kleinen Schönheitsfehler.“
Kenton sagte heiser: „Ich weiß, ich weiß, ein Suchtrupp aus der Stadt war auf meinem Land und hat den Banditen gesucht, der mit der Beute entkommen ist. Du hast keine Ahnung, wohin der Hundesohn geflohen sein könnte?“
Jefferson Pall seufzte. Seine Miene war betrübt. „Nein. Und ich Idiot hielt ihn für einen zuverlässigen Mann. So verrückt es auch klingen mag, jetzt kann ich nur beten, dass niemand ihn findet.“
Kenton nickte. „Den werden wir wahrscheinlich nie wiedersehen. Und wenn er noch mal hier auftauchen sollte, ist er ein toter Mann. Übrigens, hast du Melville ...?“
Pall wies mit dem Daumen zur Tür des Nebenzimmers. „Die Leiche liegt da drin. Ich hab sie noch nicht unter die Erde gebracht, damit Sie sich von seinem Tod überzeugen können.“
Ein kaltes Lächeln spielte um Kentons Lippen. „Okay. Soweit wäre alles klar. Du wirst den Verlust der Beute schon verschmerzen. Du bekommst die Prämie wie abgesprochen. Und ich habe neue Aufträge für dich. Hast du noch genügend Männer?“
„ Die Jungs sind bei der Herde. Ich kann im Augenblick keinen entbehren. Schließlich besitze ich nebenbei noch eine kleine Ranch, Mister Kenton.“ Er lächelte wie über einen guten Witz.
Auch Kenton lächelte. Und er dachte bei sich: Die Ranch besitzt du nicht mehr lange. Aber vorerst brauche ich dich noch, du Fettwanst. Doch seine Miene verriet nichts von seinen Gedanken.
„ Denk mal nach, zwei, drei Leute wirst du doch entbehren können. Ich zahle gut, das weißt du doch.“
Pall nickte. Er tat, als ringe er mit sich. Schließlich sagte er: „Worum geht’s denn?“
„ Melville ist leider verstorben. Seine Witwe wird sicher verkaufen wollen. Man müsste ihr klarmachen, dass es das Beste für sie ist, wenn sie an mich verkauft und das Land verlässt.“
„ Das lässt sich machen“, sagte Pall grinsend. „Ist nur eine Frage des Preises.“
„ Wir kommen schon klar“, sagte Kenton. „Du wirst eines Tages noch steinreich. Bei mir gibt es immer was zu verdienen. Wenn ich erst meine eigene Bank habe und in Winfield richtig Fuß fasse, gibt es noch allerhand für dich zu tun.“ Er stand auf und ging zum Fenster. Sein Blick schien in weite Ferne zu gehen. Er dachte an die Zukunft. Eines Tages würde er ganz Winfield und alles Land im Umkreis beherrschen. Das war sein Ziel. Einen Augenblick lang genoss er das Gefühl, der mächtigste und reichste Mann zu sein, ein berauschendes Gefühl für einen Menschen wie ihn, der nicht viel Menschliches hatte.
Er wandte sich zu Pall um.
Der fette Mann lächelte.
Irgendwie fühlte sich Kenton ertappt, das Lächeln stieß ihn ab. Eines Tages , dachte er, werde ich dieses fette Grinsen mit einer Kugel auslöschen. Aber noch brauche ich dich.
Er zog ein Banknotenbündel aus seiner Tasche, warf es vor Pall auf den Schreibtisch, und er kam sich vor, als werfe er einem Hund einen Knochen hin.
„ Ist abgezählt“, sagte er. „Aber du kannst ruhig nachzählen.“
Pall griff hastig nach den zusammengerollten Geldscheinen.
„ Aber ich bitte Sie, Mister Kenton, Vertrauen gegen Vertrauen.“
Er zog die Schreibtischlade auf.
„ Wollen Sie sich nicht Melvilles Leiche ansehen, Mister Kenton?“, fragte er in einem Tonfall, in dem sich andere Leute über das Wetter unterhalten.
Er legte das Banknotenbündel in die Schublade.
Kenton grinste.
„ Wie du gesagt hast: Vertrauen gegen Vertrauen. Du sorgst mir dafür, dass Melville spurlos verschwindet. Nein ...“ Er überlegte. „Besser ist es, seine Frau findet ihn tot auf ihrem Land. Dann wird sie leichter bereit sein, zu verkaufen. Du bist offiziell ihr Verhandlungspartner. Später ändern wir den Vertrag auf meinen Namen.“
Pall nickte. Er schloss die Schublade und griff nach einem Zigarillo.
„ Ich reite jetzt nach Winfield. Mal hören, was so läuft. Rogers wird nach dem Überfall auf seine Bank ziemlich fertig sein. Ich will mal sehen, was er für ein Gesicht macht, wenn ich ihm erzähle, dass er schon bald Konkurrenz bekommt.“ Er wandte sich zur Tür.
Jefferson Pall blickte ihm fast gelangweilt nach.
Der fette Mann war sehr zufrieden. Es lief alles bestens für ihn. Er würde Kenton noch eine Weile gewähren lassen, und dann, wenn dieser größenwahnsinnige Mann sich am Ziel seiner Träume glaubte, würde er, Jefferson Pall, ihn zur Hölle schicken!
Als Kenton gegangen war und kurz darauf von der Ranch ritt, erhob sich Pall hinter dem Schreibtisch. Er nahm das Geld aus der Schublade und ging ins Nebenzimmer.
Melvilles Leiche bedachte er mit keinem Blick. Er schob den Teppich zur Seite und tastete über den Holzboden, bis er das lockere Brett gefunden hatte. Mit einem Messer hob er die Diele an. Ein Geheimfach kam zum Vorschein. Darin hatte er den Tuchsack mit der Beute und sein gesamtes Bargeld verstaut.
Seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz, als er den Sack öffnete und das viele Geld sah. Er hatte es schon oft genug gezählt, und dennoch faszinierte es ihn immer wieder, sich seinen Reichtum anzusehen.
Er legte das Messer neben sich und holte einen Bleistiftstummel aus seiner Tasche. Damit trug er auf ein Blatt Papier die Summe ein, die er soeben von Kenton erhalten hatte.
In Geldsachen war Jefferson Pall sehr penibel.
Er war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch im Nebenzimmer nicht bemerkte. Erst als die halb offenstehende Tür ganz aufgestoßen wurde, ruckte sein Kopf herum.
Der fette Verbrecher erstarrte, als er in die Revolvermündung blickte.
„ Das nenne ich aber eine Überraschung!“, sagte Patrick Delany triumphierend. „He, Baby, wir kommen goldrichtig. Es erübrigt sich, dem Fettwanst ein paar Fragen auf die harte Tour zu stellen. Er zeigt uns freiwillig, was wir wollen.“
Palls Blick irrte von der Revolvermündung zu der Frau, die hinter Delany auftauchte.
„ Lydia“, entfuhr es ihm.
„ Hallo, Pall“, sagte Lydia Cohen. „Du solltest dein Geld besser in der Bank deponieren.“
Delany lachte.
„ Die Bank ist ihm zu unsicher, Darling.“ Er sah, wie Palls Blick zu dem Messer glitt, das neben ihm lag. „Keine Dummheiten“, warnte er.
Doch Palls Hand zuckte bereits zu dem Messer.
Delany feuerte sofort.
Doch er war ein erbärmlicher Schütze. Trotz der kurzen Distanz fuhr das Blei eine Handbreit an Palls rechter Schulter vorbei und schlug in die Wand.
Pall bewegte sich für seine Leibesfülle erstaunlich schnell. Er packte das Messer, warf sich herum und schleuderte es gegen Delany.
Delany ließ sich instinktiv fallen. Das Messer zischte über ihn hinweg und bohrte sich in das Holz der Tür, hinter der sich Lydia geistesgegenwärtig in Sicherheit gebracht hatte.
Delany rappelte sich fluchend auf. In seinen Augen stand tödliche Entschlossenheit. In seinem jäh aufflammenden Zorn wäre er imstande gewesen, den am Boden hockenden Pall niederzuschießen.
Doch Lydia lenkte ihn ab.
„ Du wolltest ihn doch fragen, was Kenton bei ihm zu suchen hatte!“, rief sie und trat in den Raum.
Er blickte zu ihr zurück.
Sie erschrak vor dem Ausdruck seiner Augen. Sein wahres Ich war zutage getreten. Sie hatte sich tatsächlich in ihm getäuscht.
Sofort ruckte sein Kopf wieder zu Pall herum. Er hielt den Revolver auf ihn gerichtet.
Jefferson Pall begann zu schwitzen.
„ Du hast gehört, was sie gesagt hat“, stieß Delany hervor. „Was wollte Kenton bei dir?“
„ Kenton?“ Pall versuchte, Zeit zu gewinnen.
Delany war mit zwei Schritten bei ihm und trat ihm in die Rippen. Der fette Verbrecher stöhnte auf.
„ Stell dich nicht dumm!“, schrie Delany. „Er war vor fünf Minuten hier. Wir sahen ihn davonreiten.“
„ Er – hat mich besucht“, sagte Pall.
„ Das kann ich mir denken“, sagte Delany. Er ruckte mit dem Revolverlauf.
Ein Schweißfilm glänzte auf Palls Stirn.
„ Wir hatten etwas zu besprechen, wegen der Herde“, sagte er hastig.
Delany musterte ihn kalt.
„ Ich wette, dass es um etwas anderes ging. Aber das ist mir im Augenblick völlig egal. Jetzt will ich erst mal Geld zählen. Und dabei kann ich dich nicht gebrauchen!“
Blitzschnell holte er mit dem Revolver aus. Jefferson Pall kam nicht mehr dazu, den Kopf zur Seite zu rucken. Der Revolverlauf traf ihn an der Schläfe, riss eine blutige Schramme. Noch einmal schlug Delany zu.
Jefferson Pall sackte zusammen. Er schlug mit dem Hinterkopf auf und blieb bewusstlos auf dem Rücken liegen.
Ungerührt blickte Delany auf ihn hinab. Dann stieß er den Revolver ins Holster und bückte sich, um den Bewusstlosen nach Waffen abzutasten.
„ Der schläft ’ne Weile“, sagte er ohne zu Lydia aufzublicken. „So, Darling, jetzt ...“
Der Schlag traf ihn mit voller Wucht.
Lydia hatte unbemerkt einen schweren Zinnkrug von einem Bord neben der Tür genommen und ihn Delany auf den Schädel geknallt.
Wie vom Blitz gefällt, stürzte Delany vornüber und blieb reglos halb über dem bewusstlosen Pall liegen.
Lydia atmete heftig.
Es bereitete ihr tiefe Genugtuung, Delany am Boden liegen zu sehen. Jetzt noch das Geld , dachte sie, und dann nichts wie weg.
„ Bravo“, sagte eine Stimme hinter ihr.
Zu Tode erschrocken wirbelte sie herum.
In der Tür stand Roy Hunter. Mit einem Revolver im Anschlag.
*
Mit ruhiger Stimme sagte Roy: „Ich sehe, Sie haben mir schon eine Menge Arbeit abgenommen.“
Aus großen Augen starrte sie ihn an. Ihr Herz hämmerte.
„ Er – er wollte Pall umbringen“, stammelte sie. „Er ist ein Verbrecher – alle beide sind Verbrecher – ich wollte nur ...“ Sie brach hilflos ab.
Roy Hunters Blick glitt wachsam durch den Raum. Er sah die beiden bewusstlosen Männer, den Tuchsack mit der Aufschrift CITY BANK WINFIELD und die Gestalt eines Menschen, die sich unter einer Wolldecke abzeichnete.
Sein Blick kehrte zu der Frau zurück. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Ihre Bluse war eingerissen und stand halb offen, das Haar quoll wirr unter dem Hut hervor und ihre Reithose war verschmutzt. Er hatte beobachtet, wie Delany und sie in das Wäldchen geritten waren, und er konnte sich vorstellen, was dort geschehen war.
„ Ich habe den Rest der Unterhaltung mitbekommen“, sagte Roy und blickte ihr in die Augen. „Ja, es sind Verbrecher. Der eine mehr, der andere weniger.“ Und er fügte hinzu: „Wie gut, dass wir beide nichts mit ihnen zu schaffen haben.“
Das saß.
Sie vergaß, den Mund zu schließen.
Sie wusste, dass er sie durchschaut hatte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
Wie sollte sie sich jetzt verhalten?
Zorn wallte in ihr auf. Zorn darüber, dass dieser verdammte, selbstsichere Mann ihre Flucht mit dem Geld vereitelt hatte, ehe sie begonnen hatte. Doch dann dachte sie trotzig: Er kann mir überhaupt nichts beweisen.
„ Ich bin froh, dass Sie so plötzlich aufgetaucht sind“, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln. Es sollte lockend und verführerisch sein, doch es wurde nur zaghaft und unsicher. „Ich hatte solche Angst. Wer weiß, was noch geschehen wäre.“
„ Wahrscheinlich hätten Sie das Geld genommen und wären damit wie der Teufel nach Winfield geritten, um es ordnungsgemäß abzuliefern.“ Roy Hunters Augen schienen tief bis in ihre Seele zu dringen.
Sie nickte heftig.
„ Ja, das hätte ich getan. Oder was denken Sie?“ Ihre Augen funkelten ihn an. „Sie denken doch nicht etwa ...“
„ Zum Denken haben wir jetzt nicht viel Zeit“, sagte Roy Hunter. Er schritt an ihr vorbei zu der Gestalt, die unter der Decke lag. Er hob die Decke an und blickte auf die Leiche hinab.
„ Ich kann Ihnen den Anblick leider nicht ersparen“, sagte er zu Lydia. „Aber ich kenne den Toten nicht. Vielleicht kennen Sie ihn?“
Zögernd trat sie neben ihn und warf einen Blick auf die Leiche. Entsetzt schlug sie Hände vors Gesicht.
„ Mein Gott, das ist Melville. Ich hab ihn schon oft in der Stadt gesehen. Ein Rancher aus der Umgebung ...“
„ Der neulich dreitausendsechshundert Dollar beim Pokern an Kenton verloren hat“, sagte Roy Hunter. „Das Bild rundet sich ab.“
„ Er war vorhin hier“, stieß Lydia hervor. „Glauben Sie, dass er Melville getötet hat?“
„ Das wird sich alles herausstellen“, sagte Roy Hunter. Er deckte die Leiche wieder zu.
Dann riss er die Gardine vom Fenster, schnitt sie in Streifen und fesselte die beiden Bewusstlosen.
Lydia schaute ihm mit gemischten Gefühlen zu. Als er ihr einen Blick zuwarf, senkte sie verlegen den Kopf.
Roy Hunter richtete sich auf.
„ So, Madam, es wird noch einige Zeit vergehen, bis die beiden aufwachen und mir ein paar Fragen beantworten können. Inzwischen sollten wir zwei uns unterhalten. Ich wette, Sie haben mir etwas Interessantes zu erzählen.“
Sie blickte ihn lange an. Ein verlorenes, melancholisches Lächeln spielte um ihre Lippen. Zögernd, mit gesenktem Kopf trat sie auf ihn zu. Sie lehnte sich an ihn, als suchte sie einen Halt, und barg ihren Kopf an seiner Brust.
„ Ja“, sagte sie leise, „ich werde Ihnen alles erzählen.“
*
Im Saloon floss der Whisky in Strömen. Kenton spendierte eine Runde nach der anderen. Er war bester Laune. Die Gäste im Saloon hofierten ihn und ließen ihn hochleben. Er fühlte sich stark und mächtig. Es konnte nicht schaden, wenn er die Leute für sich einnahm. Er wollte ein gefeierter Herrscher von Winfield werden.
Die Saat, die er gesät hatte, schien aufzugehen. Schon machten sich einige der angetrunkenen Saloongäste über Rogers und die Bank lustig.
Kenton nutzte die Gunst der Stunde, um jedem im Saloon zu erzählen, dass er in Winfield bald eine neue Bank eröffnen würde. Und er würde schon dafür sorgen, dass das Geld der Bürger und Geschäftsleute bei ihm sicherer aufgehoben sei als bei Rogers.
„ Sicherheit ist doch das, was wir hier in Winfield brauchen!“, erklärte er gerade pathetisch, als Roy Hunter den Saloon betrat.
Hinter ihm tauchten Dennis und zwei weitere Männer auf. Sie hielten Schrotflinten im Anschlag.
Roy Hunter blieb drei Schritte vor Kenton stehen. Die anderen Männer postierten sich links und rechts von ihm.
Sofort wurde es totenstill im Saloon.
Kenton starrte Roy Hunter verblüfft an.
Roy Hunter sagte: „Was hier in Winfield mit Sicherheit nicht gebraucht wird, ist ein Schweinehund wie Sie, Kenton!“
Die Wangen des Ranchers färbten sich rot.
„ Sie sind festgenommen, Kenton“, sagte Dennis. „Ihr dreckiges Spiel ist aus.“
„ Ich verlange eine Erklärung!“, brauste Kenton auf.
„ Die können Sie haben“, sagte Roy Hunter. „Jefferson Pall hat ein Geständnis abgelegt. Er hat eine Reihe von Morden und anderen Verbrechen auf dem Kerbholz, aber im Grunde war er nichts anderes als Ihr Handlanger. Er hat die Verbrechen in Ihrem Auftrag begangen.“
Kenton lachte gekünstelt.
„ Lüge!“, schrie er. „Das ist eine infame Lüge! Was habe ich mit Pall zu tun? Hängt ihn meinetwegen auf!“
Roy Hunter nickte.
„ Das wird die Jury wohl auch beschließen. Und Sie werden gleich neben ihm baumeln. Oder haben Sie den Steckbrief vergessen? Wir fanden ihn in Palls Schreibtisch. Sie werden in Colorado wegen Mordes gesucht. Abgesehen davon weiß Pall noch viel mehr von Ihrer Vergangenheit und ...“
Er brach ab, als Kentons Rechte zum Revolver zuckte.
Kenton war schnell, doch für Roy Hunter nicht schnell genug.
Roy Hunter schien förmlich zu explodieren.
Sein Fuß schnellte hoch, traf das Handgelenk Kentons, der gerade den Revolver aus dem Holster riss.
Mit einem heiseren Aufschrei ließ Kenton die Waffe los. Sie polterte auf den mit Sägemehl bestreuten Boden.
Roy Hunter schnellte wie ein Panther auf Kenton zu. Er riss den kleinen, schmächtigen Mann von den Beinen.
Bevor Kenton wusste, wie ihm geschah, bekam er Roy Hunters Fäuste zu spüren.
Sein Kopf ruckte haltlos hin und her.
Links, rechts, links, rechts.
Dann packte Roy den benommenen Mann am Kragen und warf ihn quer durch den Saloon. Er landete vor den Füßen von Dennis und den anderen und rührte sich nicht mehr.
Sie packten ihn und schleppten ihn aus dem Saloon.
Roy Hunter ging zur Theke und bestellte bei Joel Whisky und Bier.
Wie eine Woge setzte Stimmengewirr ein. Die Männer am Tresen bestürmten ihn mit Fragen.
Roy Hunter gab bereitwillig Auskunft.
Jefferson Pall war zusammengebrochen, als Roy ihm die Beweise aufzählte, die ihm das Genick brechen sollten. Die Beute aus dem Banküberfall. Die Leiche in dem frischen Grab hinter dem Haus, das Roy Hunter bei einer gründlichen Suche entdeckt hatte. Melvilles Leiche. Dazu die Derringer in seiner Schreibtischlade.
Jefferson Pall sah ein, dass er seinen Kopf nicht mehr retten konnte. Und er sagte gegen Kenton aus.
Über Lydia Cohen erzählte Roy Hunter den Männern im Saloon nichts.
Sie hatte ihm ihre ganze Geschichte anvertraut und ihm unter Tränen gestanden, welche Nebenrolle sie in diesem Fall gespielt hatte. Sie fühlte sich moralisch schuldig, aber kein Richter hätte sie verurteilen können, denn Jefferson Pall sagte nichts gegen sie aus. Er bestritt, jemals einen Kontakt mit ihr gehabt zu haben oder ihr gar einen Auftrag gegeben zu haben. Vielleicht war er ihr dankbar, dass sie Patrick Delany niedergeschlagen hatte.
Auch Delany hatte nur eine Nebenrolle gespielt. Eine Mittäterschaft war ihm schwer zu beweisen, und dass er vorgehabt hatte, zum Verbrecher zu werden, reichte noch nicht zu einer Verurteilung aus.
Lydia hatte ihn der Vergewaltigung beschuldigt, aber sie war nicht bereit gewesen, ihre Anklage vor Gerieht zu wiederholen.
Sie war davongeritten, ohne sich zu verabschieden.
Roy Hunter war gerade damit beschäftigt, die Umgebung des Ranchhauses abzusuchen, weil Pall sich verraten hatte. Auf Roys Frage, wo der vierte Bankräuber geblieben sei, hatte Pall gesagt: „Der sieht das Gras von unten wachsen.“
Roy Hunters Vermutung bestätigte sich.
Er fand das frische Grab mit Sheffields Leiche.
Später war Dennis mit dem Suchtrupp aufgetaucht. Sie hatten das Ranchhaus auf den Kopf gestellt, alle Beweise gesichert und schließlich die Gefangenen, die beiden Leichen und die Beute zur Stadt gebracht.
Als sie dort eintrafen, hatte Lydia Cohen Winfield bereits wieder verlassen. Sie war von Palls Ranch wie der Teufel in die Stadt geritten, hatte ihre Habseligkeiten gepackt und war fortgeritten.
Roy Hunter erfuhr es von dem Bankier, der erzählte, dass er sie noch bewegen wollte, zu bleiben.
„ Sie war völlig durcheinander“, sagte Rogers. „Sie sprach von einem neuen Anfang, einem neuen Leben. Können Sie das begreifen, Mister Hunter?“
Roy Hunter konnte es begreifen.
Und er wünschte Lydia Cohen das Glück wahrer Liebe und Geborgenheit, nach dem sie sich immer gesehnt hatte, ohne es wahrhaben zu wollen.
Vielleicht gab es einen neuen Anfang für sie.
Vielleicht fand auch Lydia Cohen eines Tages ihren Frieden mit sich selbst.
Joel, der Bartender, schenkte Roy Hunter von neuem ein.
„ Und was werden Sie jetzt machen, Mister Hunter?“, fragte er. „Ich meine, Sie waren doch nur auf der Durchreise. Wollen Sie nicht hierbleiben?“
Roy Hunter dachte an John Collins. Er hatte so eine Ahnung, dass einer der vier Bankräuber sein Mörder gewesen war. Aber eine Gewissheit würde es nie für ihn geben, denn sie waren alle tot.
Er blickte gedankenverloren in sein Bierglas.
Ein Zufall hatte ihn nach Winfield gebracht. Und der Zufall hatte ihn wieder einmal in ein Abenteuer verwickelt.
Er musste grinsen, als er an die Belohnung dachte.
Wenn Freund Zufall es weiterhin so gut mit ihm meinte, konnte er zufrieden sein.
Joel hatte inzwischen andere Gäste bedient und kam jetzt wieder zu Roy. Er wiederholte seine Frage, ob er nicht in Winfield bleiben wolle.
„ Mister Hunter, ich meine, die Stadt sucht doch einen Sheriff, und ein Mann wie Sie ...“
Roy winkte ab.
„ Das ist nichts für mich. Mich hält es nie lange an einem Ort und bei einem Job. Ich will noch ein bisschen das Leben und meine Freiheit genießen. Übrigens, Dennis ist ein guter Mann. Das wäre der richtige Sheriff für euch. Ich bleibe noch ein, zwei Tage hier, und dann geht’s weiter.“
Er klopfte auf seine Tasche.
„ Mit der Belohnung kann ich einige Zeit gut über die Runden kommen.“ Er grinste. „Sie hätten mal sehen sollen, mit welch säuerlichem Lächeln mir Rogers das Geld vorzählte.“
Joels Mondgesicht zeigte ein verständnisvolles Lächeln.
„ So ist er nun mal. Eine Krämerseele. Der hat hier noch nie einen ausgegeben.“
Roy Hunter sagte: „Wenn das eine Anspielung sein soll, mein lieber Joel, dann will ich verdammt sein, dass ich sie nicht überhört habe. Schenk mal einen aus für alle.“
Joel feixte und machte sich an die Arbeit.
Beifall und Gejohle der Gäste im Saloon.
Jemand tippte Roy Hunter auf die Schulter. Roy wandte sich um. Der Stallmann stand vor ihm und hielt ihm einen Brief hin.
„ Den soll ich Ihnen persönlich übergeben, Mister Hunter“, sagte er. Und im vertraulichen Tonfall fügte er hinzu: „Von einer Lady.“
Roy überspielte seine Überraschung, indem er Joel anwies, dem Stallmann auch einen Drink einzuschenken.
Er riss den Umschlag auf, entfaltete das Blatt Papier und las:
Lieber Mister Hunter, es tut mir leid, dass ich einfach davongeritten bin, ohne ein Wort.
Es war eine Flucht, wie mein ganzes bisheriges Leben eine Flucht vor mir selbst war. Jetzt fliehe ich wieder. Ich hoffe, es ist das letzte Mal. Ich werde Sie nie vergessen, denn Sie waren es, der mir den Glauben an das Glück wiedergegeben hat. Verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen in Ihrem Hotelzimmer eine Ohrfeige gegeben habe. Ich war nicht nur ein schlechtes Mädchen, sondern auch ein dummes. Denn ich war glücklich, als Sie mich in den Armen hielten und küssten. Leben Sie wohl. Lydia Cohen.
Roy Hunter faltete das Papier zusammen und verstaute es in seiner Tasche. Die Schrift passt zu ihr , dachte er. Eigenwillig, interessant, kapriziös.
Er blickte auf und sah, dass alle erwartungsvoll ihre Gläser in den Händen hielten.
„ Na denn, cheerio“, sagte er, „trinken wir auf das Leben, trinken wir auf das Glück!“
Und in Gedanken fügte er hinzu: Cheerio, Lydia ...
––––––––
ENDE