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Kapitel 6
AUS PERSÖNLICHEN GRÜNDEN IST DIES MEIN LETZTER SONG

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Nach dem Clearwater-Desaster traten Bruce und Steel Mill fast einen Monat lang nicht auf. Diese Bühnenpause war ebenso Lopez’ Stippvisite im Gefängnis von Richmond geschuldet wie auch Steel Mills beschädigtem Equipment und den physischen wie psychischen Blessuren der Band. Anfang Oktober beendeten sie ihre Klausur in der Surfbrettfabrik für einen eher durchwachsenen Auftritt im Vorprogramm der Ike and Tina Turner Revue in Richmond. Das Positive daran war, dass sie bei dieser Show endlich wieder mit Lopez vereint waren, der gerade aus der Haft entlassen worden war; allein dafür hatte sich die Reise gelohnt.

Wenige Tage später waren Steel Mill wieder an der Küste und gaben ein ausverkauftes Konzert in der Sporthalle des Monmouth College. Gegen Ende des Sets wäre Danny Federici um ein Haar den Cops in die Hände gefallen. Glücklicherweise unterschätzten diese den Einfallsreichtum der Band, wenn es darum ging, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Lopez erinnert sich: »Bruce brachte alle [die vorne im Publikum standen] dazu, auf die Bühne zu kommen. Dann setzte sich ein befreundeter Musiker aus Asbury Park, David Sancious, an die Hammondorgel, und Danny verdünnisierte sich.« Das Phantom hatte wieder einmal zugeschlagen. Ende Oktober gab die Band einige weitere Konzerte in Richmond, bevor sie einen Monat aussetzte, um am 25. November als Headliner bei einer Show im Newark State College zu spielen. Zwei Tage später standen Steel Mill als Anheizer für Black Sabbath und Cactus im Sunshine In, einer neuen Location in Asbury Park, auf der Bühne.

Bandneuling Robbin Thompson wunderte sich zunächst über die langen Pausen zwischen den einzelnen Gigs. Aber die Konzerte, die sie gaben, lockten in der Regel mehr Menschen an, als andere Bands aus der Region, die jeden Abend in Nachtclubs auftraten, während der ganzen Woche zu Gesicht bekamen. Die Show im Monmouth College hatten viertausend Fans gesehen, von denen viele sogar zwei oder mehr Stunden im strömenden Regen ausgeharrt hatten, um so nah wie möglich an der Bühne zu stehen. Thompson staunte nicht schlecht, als er das dicke Bündel Dollarscheine erblickte, das nach der Show auf sie wartete. »Wir hatten über dreitausend Dollar eingenommen«, sagt er. »Und dann ging es tatsächlich: ›Zehn für dich, zehn für dich, zehn für mich, zehn für dich …‹ Ich bekam insgesamt fünfhundert Dollar und war völlig von den Socken. So viel Geld hatte ich noch nie mit einer Band verdient. Der Haken an der Sache war nur, dass wir danach voraussichtlich einen Monat lang nicht mehr auftreten würden.«

Die Thanksgiving-Gigs Ende November waren tatsächlich die letzten Shows der Band für 1970 . Kurz darauf reiste Bruce nach Kalifornien, um Weihnachten bei seinen Eltern und seiner Schwester in San Mateo zu sein. Dort kümmerte er sich liebevoll um Pam, ließ sich von Adele mit Pasta und Brathähnchen verwöhnen und leistete Doug bei seinen allabendlichen Küchensitzungen Gesellschaft.

Fernab der bekannten Gesichter und Sounds sehnten sich Bruce’ rockgewohnte Ohren nach neuen Klängen. Er hörte sich durch die Radiosender der South Bay und fand großen Gefallen an Van Morrisons His Band and the Street Choir und an Joe Cockers Livealbum Mad Dogs & Englishmen, das aufgenommen worden war, als der englische Sänger mit seiner einundzwanzigköpfigen Band im vergangenen Winter und Frühjahr durch die USA getourt war. Obschon man die beiden Musiker nicht miteinander vergleichen konnte – Morrison spielte anspruchsvolle, spirituelle Soulmusik, während Cocker chaotischen Gospel-Soul machte –, hatten beide ähnliche musikalische Vorstellungen und bereicherten ihre Songs mit Bläsern, Gospelsängern und zahlreichen Solisten. Vor allem aber widmeten sie sich ihrer Musik mit dem Sendungsbewusstsein eines evangelikalen Predigers: Sie verschrieben sich ihr mit Haut und Haaren, in der Überzeugung, dass ihre Glaubwürdigkeit ihnen einen direkten Weg in den Himmel bahne. Nach all dem Hardrock von Steel Mill, all den agitatorischen Texten und dem Gitarren-Bass-Schlagzeug-Orgel-Sound öffneten diese beiden Platten Bruce die Augen für völlig neue Möglichkeiten.

Der Swing des klassischen Rhythm and Blues; James Browns rhythmischer Funk; die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten eines größeren Line-ups, Sound- und Ideenpools: In Asbury Park gab es jede Menge Musiker, die man an einem solchen Projekt beteiligen konnte, selbstverständlich auch die Jungs von Steel Mill. Doch Bruce war von dem Geist der Veränderung so durchdrungen, dass er sich nur schwer vorstellen konnte, unter dem alten Namen Steel Mill eine ganz neue Band auf die Beine zu stellen. Und so hatte das Jahr 71 noch gar nicht richtig begonnen, als er bereits eine Entscheidung gefällt hatte: Das Kapitel Steel Mill war beendet.

Zwei, drei Tage nach seiner Rückkehr nach New Jersey teilte Bruce den anderen seinen Entschluss mit. Er fand Lopez und Federici in ihren Zimmern in der Surfbrettfabrik und erklärte ihnen ohne Umschweife, dass es mit Steel Mill vorbei war. Lopez erinnert sich, dass ihn Bruce’ plötzliche, einsame Entscheidung »überraschte und erschütterte«, doch bevor er irgendetwas entgegnen konnte, habe Bruce ihm erklärt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche. »Er sagte: ›Ich werde eine neue Richtung einschlagen und möchte, dass du als Drummer mit dabei bist‹«, so Lopez. Federici erhielt kein derartiges Angebot; zuseinem großen Bedauern sollte er in den nächsten zwei Jahren nicht mehr in einer von Bruce Springsteen geführten Band spielen. Thompson, der seine Kollegen von Mercy Flight nur wenige Monate zuvor sitzen gelassen hatte, um bei Steel Mill einzusteigen, war ebenfalls alles andere als erfreut, doch nicht allzu überrascht. »Es war nicht so, dass die Luft raus gewesen wäre«, sagt er. Aber er hatte es kommen sehen, seit die Leute von den Plattenfirmen nach dem Konzert in Nashville Springsteen belagert hatten.

Am härtesten traf es Tinker West, der eine Menge Geld in Steel Mill gesteckt hatte. »Ich dachte: ›Wir haben das Ganze zweieinhalb Jahre durchgezogen und jetzt sind wir endlich an einem Punkt angekommen, wo uns die Leute Angebote machen. Es läuft alles genau so, wie es sollte‹«, erinnert er sich. »Wir machten damals vier- oder fünftausend Dollar pro Show. Aber dann sagte ich mir: ›Na gut, ich kann mein Geld jederzeit auch anders verdienen.‹ Springsteen war sagenhaft talentiert, und jetzt wollte er unbedingt Songs für eine zehnköpfige Band schreiben. Was zum Teufel sollte man da tun? Eine Szene machte ich ihm jedenfalls nicht.«

Steel Mill mussten am 18. Januar noch einen bereits vor längerer Zeit geplanten Gig im D’Scene in South Amboy bestreiten, bevor sie am 22. und 23. Januar zwei Abschiedskonzerte im Upstage gaben. Diese beiden Konzerte waren in null Komma nichts ausverkauft, und angesichts der Masse an Freunden, Nachbarn und Bekannten, die noch zusätzlich eingelassen wurden, herrschten ein Riesengedränge vor der Bühne und schweißtreibende Temperaturen. Die Zugaben, die allein fast vierzig Minuten dauerten, gipfelten in einer Version von »Resurrection«, die die Wände wackeln ließ, doch das Publikum hatte immer noch nicht genug. Als die Band zum letzten Mal auf die Bühne kam, trat Bruce ans Mikrofon, um die tatsächlich allerletzte Zugabe der Band mit folgenden Worten anzukündigen: »Aus persönlichen Gründen ist dies mein letzter Song.« Er zählte den Takt ein und die Band begann erneut mit dem Song, der den Weg des damals Einundzwanzigjährigen vom düstersten Sumpf katholischen Aberglaubens ins gleißende Licht des Bühnenwalhallas versinnbildlichte. »Hail, hail ressurection!«, sang er. »I’ll say my prayers to the earth and the sun/Hail, hail ressurection!«

Bruce’ Wiedergeburt als Rock’n’Roller war nicht auf die Bühne beschränkt. Der einst so schüchterne junge Mann, der vor zwei Jahren zum ersten Mal die Treppe zum Upstage hinaufgestiegen war und Anfang 1971 längst zu den Stammgästen des Clubs zählte, hatte sich in eine extrem starke, tonangebende Persönlichkeit verwandelt. »Er war eine echte Rampensau geworden«, so Albee Tellone, ein Multiinstrumentalist, der mit seinen Folksongs regelmäßig im Green Mermaid auftrat. »Er imitierte George Carlin oder spielte ganze Filmszenen mit den kompletten Dialogen nach. Bruce besaß ein unglaubliches Charisma und hatte viel Spaß daran, da oben herumzualbern.«

Auch in intimeren Momenten mit seiner damaligen Freundin Pam Bracken konnte er sehr einnehmend sein. »Er konnte tolle Geschichten erzählen, aber er zog nie über andere her«, sagt sie. »Ich mochte das sehr.« Auch wenn Bruce mit seinem extremen Ehrgeiz und seiner eisernen Disziplin den Bogen manchmal überspannte, ahnte Bracken doch, welche Wucht und welch emotionaler Aufruhr ihn antrieben, seiner Bestimmung zu folgen. Alles andere als ein früher Verfechter des Feminismus, erwartete Bruce von seiner Freundin, dass sie seine Wäsche wusch (und manchmal sogar auch die seiner Bandkollegen) und konnte es kaum abwarten, bis sie ihm endlich die Burger, Brathähnchen und Pastagerichte auftischte, die er sich gewünscht hatte. Als Bruce sich eines Tages in der Brandung von Bradley Beach einen Schneidezahn abbrach, rief er sie an, und verlangte von ihr, ihm »schleunigst« die Dose mit den Schmerztabletten vorbeizubringen, die bei ihr im Badezimmer stand. »Er hatte gewiss schreckliche Schmerzen«, sagt sie, während sie sich an den entrüsteten Blick erinnert, den sie von ihm erntete, als sie ihn schließlich blutend und völlig am Ende auf der Strandpromenade fand.

So sehr Bruce die Annehmlichkeiten einer engen Partnerschaft auch schätzte, so sehr plagten ihn die damit einhergehenden Ansprüche: Extreme Eifersuchtsanfälle wechselten sich mit kaum verhohlenen Seitensprüngen ab. Einer hilflosen Frau konnte Bruce nie widerstehen, erinnert sich Bracken. Robbin Thompson war fast schon verheiratet, als er zu den anderen in die Surfbrettfabrik zog, doch als ihm seine Zukünftige nach Asbury Park folgte, ging die mittlerweile kriselnde Beziehung vollends in die Brüche. Völlig durcheinander und fertig mit den Nerven suchte die junge Frau Trost bei dem Zimmergenossen und Bandkollegen ihres Ex-Freundes. »Zu meinem großen Verdruss«, sagt Thompson. »Aber Bruce hat sie mir definitiv nicht ausgespannt oder so was. Wir hatten uns getrennt, und dann hatte sie halt plötzlich einen Neuen.«

Dieser feine Unterschied beruhigte Pam Bracken ganz und gar nicht. Sie fand die reichlich windige Erklärung ihres Freundes, er habe Robbins verzweifelter Ex-Freundin lediglich etwas Trost spenden wollen, wenig überzeugend. Im Verlauf einer heftigen Auseinandersetzung verpasste Bruce ihr schließlich eine saftige Ohrfeige. Tief verletzt und völlig außer sich rannte sie hinaus auf die Straße. Bruce lief ihr nach, um zu beteuern, dass es ihm leid täte und er sie nur geschlagen habe, weil er fürchtete, sie könne »hysterisch« werden.

Bruce’ Beziehung zu Thompsons Ex-Freundin dauerte gerade einmal ein, zwei Wochen, danach kehrte er reumütig in Brackens Arme zurück. Allerdings verlangte er von ihr, sich zukünftig auf seinen Konzerten nicht mehr blicken zu lassen. »Deine Mutter hat deinen Vater doch auch nicht auf die Arbeit begleitet. Warum musst du mir unbedingt beim Arbeiten zusehen?« Bracken zuckte mit den Achseln und entgegnete: »Mein Vater war kein Rockmusiker.« Aber sie wusste genau, was Bruce an ihrer Anwesenheit störte. »Ich stand ihm dabei im Weg, mit anderen Frauen zu flirten.«

Von nun an machte Bruce sich rar. Mal schlief er bei einem Freund auf dem Sofa, mal bei einem anderen in einem leerstehenden Gästezimmer oder in der Wohnung einer neuen Freundin. Selten blieb er länger als einen Monat an einem Ort, weshalb seine Freunde und Kollegen oft Mühe hatten, ihn ausfindig zu machen. Bracken, die ganz genau wusste, wann er ihr mal wieder aus dem Weg ging, war ihm dennoch kaum lange böse. Nicht nur, weil er so talentiert war und so gut aussah, sondern auch, weil sie spürte, welch tiefsitzenden Schmerz er verbergen wollte. Selten erwähnte er ihr gegenüber seine Familie, und obschon er seinen kleinen Neffen (Ginnys Sohn) von Herzen liebte, traf Bracken in den gut zwei Jahren, die sie mit Bruce zusammen war, Ginny nur ein einziges Mal.

Einmal nahm Bruce Bracken mit zu einem Familientreffen im Haus seines Großvaters Anthony Zerilli. Es war ebenjenes Haus, in dem Bruce’ Mutter Adele und ihre Schwestern Dora und Eda ihre Jugendjahre verbracht hatten. Zerilli hatte das alte Bauernhaus in Englishtown, New Jersey, übernommen, nachdem er in den 40ern aus dem Gefängnis entlassen worden war. Seitdem lebte er dort. Da ihm die Anwaltslizenz entzogen worden war, hatte er sich als Steuerberater niedergelassen, wobei er nebenher noch genug andere Geschäfte1 machte, die ihm neben einem stattlichen Einkommen auch Verbindungen mit ausländischen Handelsdelegationen und dergleichen einbrachten. Seine Familie betrachtete ihn als Tycoon, und er fügte sich nur allzu gern in diese Rolle, insbesondere als Gastgeber eines Familientreffens. Als Bruce die zahlreich angereisten Verwandten erblickte, die den Rasen vor dem Haus bevölkerten, verdrehte er die Augen und erzählte Pam, wie ein entfernter Cousin dem Familienoberhaupt eines Tages einen Besuch abgestattet und zum Abschied von ihm einen seiner Wagen geschenkt bekommen hatte. »Die spekulieren alle darauf, auch ein Stück vom Kuchen abzubekommen«, grummelte er.

Aus dem Inneren des Hauses ist Bracken vor allem ein großes Esszimmer in Erinnerung geblieben, das von einem auf Hochglanz polierten Esstisch dominiert wurde, der gut und gerne Platz für zwölf Personen bot. Von dort aus führte Bruce sie in ein kleines Wohnzimmer, in dem eine alte Dame, die atemberaubend schnell Italienisch sprach, in einem knarzenden Schaukelstuhl kauerte. Bruce stellte sie Pam als seine Großmutter Adelina, Anthonys erste Frau, vor.2 Als sie ihren Enkel erblickte, winkte sie ihn zu sich und nahm sein Gesicht in ihre Hände. »Sie kniff Bruce wiederholt in die Wangen und sagte ständig: ›Süß-ah! Süß-ah!‹«, erinnert sich Bracken.

Nachdem Anthony seinen Enkel begrüßt hatte, führte er ihn und seine Freundin in einen Schuppen, wo er die Schätze aufbewahrte, die er im Laufe seines Arbeitslebens gesammelt hatte. Er öffnete eine Schublade, kramte ein wenig darin herum und präsentierte Bruce dann einen schäbigen Andenkenlöffel, den er von irgendeinem europäischen Würdenträger bekommen hatte. »Ich fand das total beknackt«, sagt Bracken. Bruce lächelte, bedankte sich bei seinem Großvater und ging ohne ein weiteres Wort davon.

Im Winter 1971 scharte Bruce in Asbury Park einen Kreis von Musikern um sich, die er bei den Jamsessions im Upstage kennengelernt hatte. Die meisten Bandkollegen von Steel Mill, insbesondere Van Zandt, blieben in Kontakt mit ihm. Zu Bruce’ engerem Kreis gehörten inzwischen aber auch Big Bad Bobby Williams, der Folkrocker Albee Tellone, der Bluessänger, Bassist und Mundharmonikaspieler John Lyon, der irische Blueser Big Danny Gallagher, der Upstage-Türsteher Black Tiny (der seinem Kollegen Jim Fainer zufolge eine Statur hatte »wie ein Pepsi-Automat mit Armen und Beinen«), die Geschwister John und Eddie Luraschi, das wandelnde Rock’n’Roll-Lexikon Garry Tallent und David Sancious, der eine klassische Musikausbildung genossen hatte. Sie alle hatten sich schon in irgendeiner Weise einen Namen gemacht. Als Musiker in einem Badeort, wo es während der kalten Jahreszeit nicht viel zu tun gab, hatte allerdings kaum einer von ihnen auch zwanzig Dollar in der Tasche. »Wir konnten in keine Bar gehen, wir konnten uns kaum ein Sixpack leisten, von Drogen ganz zu schweigen«, sagt Tellone, dessen Wohnung an der Sewall Avenue (die er sich mit Van Zandt und Lyon teilte) damals ein Treffpunkt für die jungen, etwas gammelig wirkenden Langhaarigen war, vor allem, wenn hier die wöchentlichen Monopolyabende stattfanden. Bei der von ihnen als »Cutthroat-Monopoly« bezeichneten Spielvariante wurde nicht nur mit harten Bandagen gekämpft; die Spieler hatten auch derart absurde Regeln aufgestellt, die völlig überraschende Wendungen ermöglichten, dass sich das Spiel zu einer regelrechten Groteske über Kapitalismus, Autoritäten und willkürliche Gewalt entwickelt hatte. Mit handgeschriebenen Ergänzungen zu den Gemeinschafts- und Ereigniskarten bauten sie aktuelle Ereignisse aus den Schlagzeilen der Asbury Park Press in das Spielgeschehen ein. Zog jemand beispielsweise die Rassenunruhen-Karte, so gingen all seine kleinen grünen Häuschen und stattlichen roten Hotels in Flammen auf. Schlecht war auch derjenige dran, der im Zuge einer Razzia verhaftet wurde und Tausende von Dollar für Bußgeld und Anwaltskosten aufbringen musste. Glücklich schätzen konnte sich wiederum der Spieler, der die Middletown-Polizeichef-McCarthy-Karte gezogen hatte, die ihm die Macht verlieh, jederzeit einen beliebigen Spieler zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken.

Aber hier fing der Spaß eigentlich erst an, denn die entscheidenden Spielzüge fanden bei dieser »Halsabschneider«-Spielvariante nicht auf dem Spielbrett statt. Nur wenige Mitspieler waren Bruce’ Überredungskünsten gewachsen, und so gewann er mehr Spiele als irgendjemand sonst. Dabei könnte er seine Vorherrschaft im Monopoly-Universum einer Veranlagung zu verdanken gehabt haben, die John Lyon in einem Gespräch mit dem Time-Redakteur Jay Cocks 1975 auf den Punkt brachte: »[Bruce] hatte keine Skrupel.«

Doch es war nicht nur das. Bruce bewies bei diesen Spielen immer auch seinen Sinn für schrägen Humor und sein Gespür für Dramatik. Ihm zufolge ähnelte ihre Monopoly-Runde dem Setting einer Komischen Oper, in der überlebensgroße Charaktere und Kämpfe auf Leben und Tod an der Tagesordnung waren. Jeder, dem Bruce bis dahin noch keinen Spitznamen verliehen hatte, war spätestens jetzt fällig. »Hier wurde einen Gruppenidentität erzeugt«, sagt Van Zandt. »Mit einem Mal waren wir ein Rock’n’Roll-Rat-Pack. Es passierte einfach, und ich habe es ganz bewusst unterstützt, weil ich nun mal ein Band-Typ bin. Ein Rat-Pack-Typ eben.«

Das neue Zusammengehörigkeitsgefühl machte es für alle einfacher, in jeder erdenklichen Konstellation miteinander aufzutreten. Eine Zeit lang schien Bruce überall dabei zu sein: Er war der Star der Jamsessions, die im großen Saal des Upstage auf der zweiten Etage stattfanden, und er beteiligte sich an den Akustikjams in der etwas entspannteren Atmosphäre des Green Mermaid (wobei er meist in Albee Tellones Gruppe Hired Hands mitspielte). Van Zandt und Williams gründeten unterdessen eine Band, die wahlweise unter dem Namen Steve Van Zandt and Friends, Big Bad Bobby Williams Band oder Steve Van Zandt and Big Bad Bobby Williams Band firmierte. Doch wie immer sie sich gerade nannte, Garry Tallent spielte in dieser Formation den Bass, David Sancious saß am Keyboard und der Bluesenthusiast Johnny Lyon spielte die Mundharmonika und sang. Wenn Bruce sich gelegentlich zu ihnen gesellte, spielte er die zweite Gitarre und trug seinen Teil zum Backgroundgesang bei.

Als Bruce mit seiner Idee von einer neuen Band ernst machte, wechselten allerdings fast alle Musiker aus Williams Band zu ihm über. Im Falle von Van Zandt wundert das kaum, waren die beiden doch schon seit Langem eng befreundet. Aber dann zog es auch Gary Tallent in die Surfbrettfabrik und Sancious folgte ihm quasi auf dem Fuße. Williams blieb niedergeschlagen allein zurück und wunderte sich, was aus seiner Band geworden war. »Er hing in dieser Bar rum und grummelte immer wieder ›Motherfucker‹ vor sich hin«, so Tellone. »Wenn ihn jemand fragte, was er spiele, antwortete er standardmäßig: ›Die zweite Geige!‹« Tatsache war, dass nach Steel Mill alle wussten, welcher von beiden Bandleadern die besten Aussichten hatte, irgendwann zu den ganz Großen zu gehören. Als es also darum ging, neue Musiker anzuheuern, bekam Bruce im Winter 71 genau die, die er haben wollte.

West suchte per Anzeige in der Asbury Park Press nach Sängerinnen und Bläsern. Kurz darauf standen etliche Interessenten Schlange, unter ihnen auch eine junge Highschool-Schülerin aus Deal mit flammend rotem Haar, die sich bereits in ein paar Bars hereingemogelt hatte, um mit Bands aus der Region zu singen. Bruce und West fanden die junge Patti Scialfa durchaus talentiert, erteilten ihr letztendlich aber dennoch eine Absage mit der Begründung, dass sie noch etwas älter werden und vielleicht erst mal die Highschool abschließen solle, bevor sie mit ihnen auf Tour gehen könne.

Diejenigen, die in die engere Auswahl kamen, wurden Zeugen von Bruce’ leidenschaftlichen Plädoyers für Van Morrison. Dessen Kombination aus Rock, Blues, Jazz, keltischer Musik und Gospel sollte der musikalische Leitstern der Band werden. Der Saxofonist Bobby Feigenbaum musste sich durch Morrisons Songs spielen und die beiden Gospelsängerinnen Delores Holmes und Barbara Dinkins nahm Bruce in die Band auf, nachdem sie Backgroundgesangspartien zu einem Album von Van Morrision improvisiert hatten. Dennoch beeindruckten Dinkins vor allem Bruce’ Eigenkompositionen. »Ich war von den Songs, die er selbst geschrieben hatte, total begeistert«, sagt sie. »Er hatte wallendes Haar und diesen wüsten Backenbart, aber seine Songs kamen von Herzen und tief aus der Seele. Ich wusste sofort, dass er etwas Besonderes war.«

Bruce wollte sichergehen, dass die beiden Sängerinnen, die er für die Band gewonnen hatte, von seinen etwas zauseligen Bandkollegen mit dem gebührenden Respekt behandelt wurden. »Bruce hatte die Frauen in einer Kirche entdeckt, und als sie zum ersten Mal vorbeikamen, ermahnte er mich, darauf zu achten, was ich in ihrer Gegenwart sage«, erzählt Tom Cohen, der Leadgitarrist der von West gemanagten Band Odin. Er sagte: »Oh, diese Ladys, Mann. Lass dich nicht dabei erwischen, in ihrer Gegenwart zu fluchen. Das sind anständige Damen.«

Bruce sah sich noch ein paar andere Musiker an während seiner Jamsessions im Upstage und im Green Mermaid, die teils als Bruce Springsteen Jam Concert beworben wurden. Schließlich kam noch der Jazztrompeter Harvey Cherlin hinzu, der zusammen mit Feigenbaum die Bläsergruppe bildete. Nun konnten die Proben beginnen, zu denen die gesamte Band – bestehend aus Bruce, Van Zandt, Tallent, Sancious, Lopez, Feigenbaum, Dinkins, Holmes und gelegentlich West an den Congas –, vier- bis fünfmal pro Woche für mehrere Stunden zusammenkam. »Das war wie ein richtiger Job«, erklärt Feigenbaum. »Aber niemand war bei Liveauftritten besser aufeinander eingespielt als wir. Bei uns passte alles.«

Anfang März erhielt West einen Anruf vom Manager des Sunshine In, der Steel Mill für das Vorprogramm eines Allman-Brothers-Konzerts am 27. März buchen wollte. Völlig unbeeindruckt von der Nachricht, dass sich Steel Mill bereits im Januar aufgelöst hatten, erklärte er: »Besorg mir einfach nur diesen Springsteen, mit wem er spielt, ist mir völlig egal.«

Als Van Zandt, der ein großer Fan der Allman Brothers war, davon erfuhr, drängte er seinen Freund dazu, zuzusagen, selbst wenn sie eigentlich noch ein paar Monate proben mussten, bevor sie versuchen konnten, es mit Steel Mill aufzunehmen. Bruce dachte an die von Musikern überquellenden Bühnen auf Joe Cockers Mad Dogs & Englishmen-Tournee. Und dann sagte er sich, wenn den Leuten egal war, mit wem er auftrat, würde er alle mitnehmen, die er kannte, selbst die, die keine einzige Note spielen konnten.

Das war die Inspiration zu einer Band, die unter dem Namen Dr. Zoom and the Sonic Boom bekannt werden sollte. Springsteen komplettierte die Party Band – wie er das Projekt zunächst nannte –, deren fester Kern bereits gut aufeinander eingespielt war, mit einer Handvoll weiterer Musiker, die gut und gerne eine eigene Band abgegeben hätten (John Waasdrop am Keyboard, Williams am Schlagzeug, Tellone am nicht ganz souverän beherrschten Saxofon und West an den Congas), um verschiedene Instrumente doppelt zu besetzen.

Wie immer legte Bruce Wert auf regelmäßige Proben, damit die riesige Band ein gewisses Gefühl für die Songs und die Arrangements bekam. In der Hauptsache ging es allerdings darum, Spaß zu haben und etwas Kurioses auf die Bühne zu bringen. Um sicherzugehen, dass man ihnen das auch ansah, gingen einige der Musiker in Secondhand-Läden auf die Suche nach markanten Bühnenoutfits. Als Lyon mit einem in die Jahre gekommenen Nadelstreifenanzug und dem Fedora-Hut eines alten Bluesmusikers zurückkam, juchzte Bruce vor Freude. »Hey, da kommt Johnny Chicago!«, sagte er. »Was machst du hier, Mann?« Lyon, der sich mit den Blueslegenden aus Chicago auskannte, konterte: »Nenn mich nicht einfach Chicago, Mann. Ich bin von der South Side.« Und so wurde Johnny Lyon zu Southside Johnny, und die Blues-Improvisation, die kurz darauf unter seiner Leitung entstand, zum »Southside Shuffle«.

Welchen Bandnamen sollte man diesem sonderbaren Haufen geben? Zunächst einigten sie sich auf Bruce Springsteen and the Friendly Enemies, eine spontane Idee von West. Doch dann kamen sie auf den etwas einprägsameren Namen Dr. Zoom and the Sonic Boom, allerdings waren die Plakate für den Gig im Sunshine In da bereits gedruckt. Also waren sie vorerst die Friendly Enemies, zumindest für ihren Auftritt am 27. März.

Die Show, die sie den Zuschauern bei dem ausverkauften Allman-Brothers-Konzert im Sunshine In boten, kam gut an. Das Publikum war begeistert von den Dirigentenstäbe schwingenden Sängern, den Sketche aufführenden Komikern, den vier stummen Monopoly-Spielern und dem Mechaniker (Upstage-Türsteher Eddie Luraschi), der ganz vorne am Bühnenrand neben einem Motorrad hockte und mit großer Hingabe die Zündkerzen justierte. Springsteen tat was er konnte, um seinen Teil zu diesem merkwürdigen Bühnengeschehen beizutragen. Er legte die Gitarre beiseite und tanzte mit dem Backgroundchor, setzte eine dicke Hornbrille auf und saß zumindest einen Song lang auf einem Stuhl am Monopoly-Tisch.

Die Headliner des Abends, die ihre Vorgruppe vom Backstagebereich aus beobachteten, waren von dieser Darbietung ebenso amüsiert wie beeindruckt. »Die Allmans waren so cool«, erinnert sich Saxofonist Bobby Feigenbaum. »Wir waren nur ein paar Jungs aus der Gegend hier, aber sie waren wirklich nett zu uns. Duane Allman war echt beeindruckt von Steves Slides. Ich weiß noch, dass er Steve sagte, er sei der beste Slide-Gitarrist im ganzen Land – abgesehen von ihm selber.« Nach der Show nahm Duane Van Zandt beiseite und zeigte ihm noch ein paar Licks. Und dann einigten sie sich darauf, dass die Friendly Enemies/Dr. Zoom bei dem im November geplanten nächsten Konzert der Allman Brothers in Asbury Park erneut das Vorprogramm bestreiten sollten. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen: Duane Allman starb Ende Oktober bei einem Motorradunfall.

Im Frühjahr verlegte West seine Surfbrettfabrik ins siebzehn Meilen weiter nördlich gelegene Atlantic Highlands. Und so zogen auch das gesamte elektronische Equipment und die Kommandozentrale, von der aus Bruce’ Karriere gesteuert wurde, dorthin um. Die meisten der Musiker gingen noch einer anderen Beschäftigung nach, um über die Runden zu kommen; Lopez jobbte beispielsweise auf einer Bootswerft und Van Zandt auf Baustellen. Bruce blieb seiner einmal getroffenen Entscheidung, niemals irgendetwas anderes als Musik zu machen, jedoch treu. Er verdiente sich sein Geld mit Soloauftritten in kleinen Cafés entlang der Küste und als zweiter Gitarrist in Van Zandts Sundance Blues Band, in der auch Lopez, Tallent, Johnny Lyon und eine Zeit lang ein Gitarrist namens Joe Hagstrom spielten. Als Upstage-Chef Tom Potter ihn für ein Bandkonzert buchte, nahm Bruce einfach die Rhythmusgruppe seiner neuen Band und trat mit ihr als Bruce Springsteen and the Hot Mammas auf. West bemühte sich unterdessen um Auftritte für Dr. Zoom and the Sonic Boom, wobei niemand davon ausging, dass Dr. Zoom ein langlebiges Projekt sein würde: Ihr offizielles Bühnendebüt feierte die Formation mit einer Show am 14. Mai im Sunshine In, und schon einen Tag später gab sie im Newark State College ein Abschiedskonzert.

In der Zwischenzeit liefen die Proben für das Big-Band-Projekt weiter, das entsprechend Bruce’ neuem Entschluss, sich als Bandleader und Frontman zu etablieren, mittlerweile unter dem Namen Bruce Springsteen Band firmierte.

Die neunköpfige Bruce Springsteen Band trat zum ersten Mal am Nachmittag des 10. Juli beim jährlichen Nothings Festival des Brookdale Community College auf. Das Vorprogramm bestritten mit Sunny Jim, Odin und Jeannie Clark drei weitere von West gemanagte Acts. Alle, die auf harten Rock’n’Roll à la Steel Mill gewartet hatten, wurden vermutlich enttäuscht (obschon die neue Band auch eine Coverversion von »Goin’ Back to Georgia« spielte). Doch auch der etwas jazzigere Big-Band-Sound ließ Bruce ausreichend Raum für seine Gitarren-experimente. Besonders hoch her ging es bei »You Mean So Much to Me«, einer neuen Eigenkomposition, die im Stil von Van Morrison begann, bevor Bruce und Van Zandt eine ausgefeiltes Zusammenspiel der Gitarren in der Art der Allman Brothers zum Besten gaben, das wiederum von einem aus Gesang und Bläsern gewebten Klangteppich abgelöst wurde, der die letzte Strophe dominierte.

Ihren zweiten Auftritt hatte die Band einen Tag später im Sunshine In als Vorgruppe für die neue, aufstrebende britische Band Humble Pie, bei der das ehemalige Small-Faces-Mitglied Steve Marriott als Sänger und Peter Frampton als Leadgitarrist mitmachten. Die Engländer hatten gerade eine grandiose Show im New Yorker Shea Stadium hingelegt (bei der Grand Funk Railroad Headliner waren), aber als sie ins Sunshine In kamen, wo Springsteen und seine Band gerade die erste Hälfte ihres Set absolviert hatten, und den frenetischen Jubel und begeisterten Applaus hörten, bekamen sie weiche Knie. Als die Vorgruppe ihren Auftritt beendet hatte, huschten Marriott, Frampton und der Rest der Band zurück in ihre Limousinen. Wie sollten sie eine derart mitreißende Show noch übertreffen? War nicht jeder Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt? »Der Manager des Clubs musste rausgehen und sie dazu überreden, zurückzukommen«, so Feigenbaum. »Doch ich konnte ihre Bedenken absolut verstehen. Das Publikum wollte uns gar nicht mehr von der Bühne lassen. Wir haben das Haus einfach in Grund und Boden gerockt.«

Schlussendlich gelang es den Jungs von Humble Pie, wieder Mut zu fassen und eine Show hinzulegen, die heiß genug war, um es mit der ihrer Vorgruppe aufzunehmen. Durch ihren Erfolg in dieser schwierigen Situation gestärkt, sahen sie sich die Gruppe aus Asbury Park noch einmal etwas genauer an und zogen in Betracht, sie als Verstärkung für ihre Tour zu engagieren. »Wir saßen nach dem Konzert noch ein bisschen zusammen, als Frampton mich ansprach«, erzählt Cherlin. »›Wir finden euch klasse. Wir machen eine Welttournee und hätten euch gerne als Vorgruppe dabei!‹ Er sagte, er wolle uns einen Deal bei A&M Records [dem Label von Humble Pie] besorgen und uns alle zu Stars machen. Er drehte ein bisschen am Rad, denn er hatte das alles zuvor schon Bruce erzählt, der allerdings nichts darauf gegeben hatte.«

Cherlin, der nie geglaubt hätte, dass ihm einmal jemand solche Dinge in Aussicht stellen würde, ging zu West, um herauszufinden, was davon zu halten war. Der Manager schüttelte den Kopf und lachte. »Er sagte: ›Ach wirklich, ein Major Label, ja? Na dann, viel Glück! Die werden euch abzocken!‹ Und er sah das sicher nicht falsch. Aber ich war damals erst zweiundzwanzig und Humble Pie waren eine große Nummer.«3

Cherlin war nicht der Einzige in der Band, der sich fragte, welche Pläne West mit ihnen hatte, als er an diesem Abend das Sunshine In verließ. Im Juli hatten sie eine Handvoll Gigs, darunter auch einen spektakulären, sechzigminütigen Auftritt bei einem eintägigen Festival im Damrosch Park in New York, der sich auf dem Gelände des Lincoln Centers befand. Der Gig begann mit einem Gospel-Blues-Arrangement von »C. C. Rider«, in das eine jazzigere Version von »Down the Road Apiece« integriert war. Danach spielte die Band ein halbes Dutzend neuer Songs, die hören ließen, wie sehr sich Bruce in den vergangenen sechs Monaten musikalisch weiterentwickelt hatte. Den Anfang machte »You Mean So Much to Me« mit seinem unangestrengten Mix aus Rhythm and Blues und Southern Guitar Boogie. Dann folgten das rockige »C’mon Billy« und das von Delores Holmes gesungene »I’m in Love Again«, ein ausgelassener Springsteen-Song, der an die R&B-Girl-Groups der späten 50er- und frühen 60er-Jahre erinnerte, mit der gleichnamigen Fats-Domino-Nummer allerdings nichts zu tun hatte.

Weiter ging es mit der schnellen Party-Nummer »Dance, Dance, Dance«, die eher an eine härtere Version von »Dancin’ in the Street« erinnerte als an den gleichnamigen Beach-Boys-Song und sich insbesondere durch Bruce’ scharfen Gitarrensound und vom Bepop inspirierte Bläsersoli auszeichnete. Die letzten beiden Nummern des Abends legten die Messlatte noch ein Stück höher. Das von Dinkins (mit ein wenig Hilfe von Sancious) geschriebene »You Don’t Leave Me No Choice« begann als zweiminütige Pianoimprovisation, aus der sich eine typische »Er hat mir Unrecht getan«-Geschichte entspann, wobei Dinkins sich mit ihrem Gesang der Geschwindigkeit von Lopez anpasste, der seinen Drums die Sporen gab. Noch mehr Feuer verlieh Bruce dem Song mit einem wilden Gitarrensolo, das schließlich, als Van Zandt, Feigenbaum und Cherlin mit einstiegen, in ein furioses Finale mündete.

Die Band gönnte sich keine Pause, bevor sie den Höhepunkt der Show präsentierte: die dreizehnminütige Fassung einer weiteren Neukomposition, die ebenfalls einen bekannten Titel trug. Ähnlich wie »Dance, Dance, Dance« und »I’m in Love Again« hatte jedoch auch »Jambalaya« mit dem gleichnamigen Song von Hank Williams lediglich den Titel und die romantisch-verklärte Sicht auf New Orleans gemein. Auf den von Bruce handgeschriebenen Setlists findet sich der Song übrigens meistens, wenn nicht gar immer, in der Schreibweise »Jumbeliah«. Ob er auf diesem Weg eine Verwechslung mit dem Williams-Song ausschließen wollte (was allerdings bei den erwähnten anderen Songs offenbar kein Problem war), ihm diese Schreibweise besser gefiel oder ob sie auf seine doch eher lückenhafte Schulbildung zurückzuführen ist, lässt sich nicht klären. Auf der Basis einer schlichten Folge von drei Akkorden erzählt der Song die Geschichte eines Mädchens, »strong like a lion/Wild like a tiger«, die dich so sehr liebt, dass »all you can do is/Roll over, roll over, roll over«. Wieder einmal übertönt die Musik den Text, und der von Van Zandt geschriebene Bläsersatz in Kombination mit seinen eigenen Slide-Guitar-Einlagen, dem mehrstimmigen Backgroundgesang und Bruce’ rasanten Gitarrensoli verwandeln das Stück in ein wahrhaft monumentales Rockopus. »Dieser Song war in aller Munde«, erinnert sich Cherlin. »Er war unser größter Hit. Die Leute waren ganz wild darauf, ihn zu hören, und wir übten ihn bis zum Umfallen.«

Leider bestand ihr Publikum nur aus einer Handvoll Freunde und ein oder zwei weiteren Zuhörern, die zufällig vorbeikamen. »Tinker sagte: ›Hey Mann, wir treten im Lincoln Center auf.‹ Und wir dachten: ›Yeah! Das wird unser Durchbruch‹«, sagt Bruce. »Aber das Publikum blieb aus.« Das Missverhältnis zwischen den großen Erwartungen, die er in die Show im Lincoln Center gesetzt hatte, und dem, was tatsächlich dabei herauskam, löst bei Bruce immer noch Kopfschütteln aus. »Jedes Mal, wenn ich in der Stadt bin und das Center sehe, sage ich mir:« – und dabei setzt er eine sehr zerknirschte Miene auf – »›Oh Mann, da ist es.‹«

1 Wie Anthonys Leben genau aussah, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, lässt sich nicht zweifelsfrei klären, da er sich vom Rest seiner Familie entfremdet hatte und niemand von den jüngeren Nachkommen weiß, womit genau er seine Brötchen verdiente.

2 Das Paar, das lange geschieden und viele Jahre getrennt gewesen war, hatte sich Ende der 60er-Jahre bei Hochzeitsfeierlichkeiten wiedergetroffen und seine Beziehung wieder aufgeommen. Anthonys dritte Frau war kurz zuvor gestorben (die Sekretärin, für die er Adelina Ende der 30er-Jahre sitzengelassen hatte, war ebenfalls verstorben). Zwar heirateten sie nicht wieder, doch lebten sie die folgenden zehn Jahre bis zu Anthonys Tod wieder zusammen.

3 Bruce: »Für mich klingt das nicht ganz plausibel. Wenn sie uns wirklich als Vorgruppe hätten engagieren wollen, dann hätten wir dafür alles andere stehen und liegen lassen.«

Bruce

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