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Kapitel 4
VERDAMMT, LASST UNS EINE BAND GRÜNDEN

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Am Morgen des 23. Februar 1969, es war ein Sonntag, kurz nach drei Uhr, stieg Bruce die Treppe zum Eingang des im zweiten Stock gelegenen Upstage Club herauf. Auf einem Barhocker am Ende der Treppe saß Margaret Potter, die den Club zusammen mit ihrem Mann Tom führte, und sah ihn kommen. Er machte einen etwas unterernährten Eindruck und wirkte in seinen abgetragenen Klamotten, mit den strähnigen Haaren und dem abgewetzten Gitarrenkoffer noch verwahrloster als die meisten anderen Nachtschwärmer, die sich im Upstage tummelten.

»Ist es okay, wenn ich hier heute Gitarre spiele?«, fragte er.

Das Upstage gab es seit fast genau einem Jahr, und es waren schon etliche namenlose Gitarristen hier aufgekreuzt, die alle genau dieselbe Frage stellten – in der Hoffnung, sich an einer der Jamsessions beteiligen zu können, die nach Mitternacht auf dem Programm standen. Üblicherweise mussten sich Interessenten auf eine Liste eintragen und warten, bis ihr Name ausgerufen wurde. Doch in diesem Moment machten die Musiker gerade Pause und durch irgendetwas in Bruce’ Stimme, vielleicht auch durch die Tatsache, dass er ihr nicht lange in die Augen sehen konnte, ließ sich Margaret erweichen.

»Es ist alles soweit hergerichtet«, sagte sie und deutete auf die Mikrofone und Verstärker auf der Bühne. »Los, stöpsle deine Gitarre ein.«

Bruce war nicht zum ersten Mal im Upstage. Wie der Zufall es wollte, war er ein oder zwei Monate früher schon einmal dort gewesen, um sich die Downtown Tangiers Band anzusehen, eine Gruppe aus Asbury Park, die aus dem Sänger und Gitarristen Billy Chinnock, dem Bassisten Wendell John, dem Keyboarder Danny Federici und dem Drummer Vini Lopez bestand. Bruce war von ihnen sehr beeindruckt: »Ich dachte, Vini und die anderen seien Superstars. Sie machten einfach alle einen großartigen Eindruck«, sagt er. Restlos begeistert hatte ihn allerdings dieser Late-Night-Jam-Happy-Club, in dem sie auftraten und wo sich neben Musikern auch echte Fans tummelten und Mädchen, die es auf Musiker abgesehen hatten. »Ich dachte nur: ›Wow, das ist der coolste Ort, den ich je gesehen habe.‹«

Auf den Tag genau eine Woche nach dem Valentinstags-Konzert von Earth ging Bruce daher zum zweiten Mal ins Upstage – und diesmal hatte er seine Gitarre dabei. Nachdem ihm Margaret Potter grünes Licht gegeben hatte, ging er auf die Bühne und öffnete seinen Gitarrenkoffer. Er nahm seine neue Les Paul Gold Top heraus, warf sich den Gurt über die Schulter, drehte den Lautstärkeregler auf und atmete einmal tief durch. »Ich bin dahin gegangen, um zu beeindrucken, ganz klar«, sagt er heute.

Anfang 69 war das Upstage die erste Adresse für junge aufstrebende Musiker. Der im März 68 als Café mit Livemusik über einem Thom-McAn-Schuhgeschäft in der Innenstadt von Asbury Park eröffnete Club war ein Treffpunkt für Musiker und Musikliebhaber, die sich für die mitternächtlichen, oft bis in die frühen Morgenstunden andauernden Jamsessions begeisterten. Im Herbst 68 mieteten die Potters zusätzlich die zweite Etage des Gebäudes, um dort mit einer größeren Bühne, einem hochwertigen PA-System, Scheinwerfern und einem Schrank voller Instrumente die optimalen Bedingungen für die Jams zu schaffen. Für die Musiker und jugendlichen Nachtschwärmer an der Küste von New Jersey ähnelte das hoch über der Cookman Avenue gelegene Upstage, wo man bis zum Morgengrauen durchfeiern konnte, einer Arche. Es war ein Paralleluniversum voller Schwarzlicht und Stroboskoplampen, in dem sich das Leben dem Rhythmus eines Clubs anpasste, in dem die Nacht zum Tag gemacht wurde.

Ohne aufzublicken ließ Bruce seine Hand einmal quer über den Gitarrenhals gleiten. Der rasiermesserscharfe Sound durchschnitt die rauchgeschwängerte Luft. Bruce spielte weiter, seine Finger tanzten zwischen den Bünden, ließen erst Melodien, dann Akkorde erklingen, während sie sich den Gitarrenhals hinab- und wieder hinaufarbeiteten. Köpfe drehten sich zur Bühne um. Gespräche verstummten. Innerhalb weniger Sekunden waren alle Augen auf den Gitarristen gerichtet, dessen Gesicht im Schatten seiner Haare lag, die ihm über die Augen fielen.

»Er hatte den ganzen Laden sofort im Griff.« Geoff Potter, Toms neunzehnjähriger Sohn aus erster Ehe, arbeitete mit seiner Stiefmutter am Eingang. »Normalerweise war da oben zwischen den einzelnen Auftritten eine ziemliche Geräuschkulisse«, erzählt er. »Aber als er auf der Bühne stand und seine Freeform-Riffs spielte, war innerhalb von fünf Minuten außer seiner Gitarre kein Mucks mehr zu hören.«

Einige der Musiker kannten Bruce noch aus seiner Zeit bei den Castiles. Ein paar andere hatten schon einmal von einem Gitarristen aus der OCCC-Ecke gehört, der Eric Clapton und Jeff Beck erstaunlich gut imitieren konnte. Doch von der enormen Energie und musikalischen Finesse dieses Mannes waren alle Anwesenden überrascht, ganz zu schweigen von der elementaren Power, die er in dem Raum freisetzte.

Nachdem sie ihn einige Minuten lang vom Eingang aus beobachtet hatte, stieg Margaret die Treppe zum ersten Stock herab, wo das Green Mermaid Café seine Räumlichkeiten hatte, und suchte nach Sonny Kenn. »Du musst unbedingt raufkommen und dir das ansehen!«, drängte sie ihn. »Da steht ein Typ auf der Bühne, der Gitarre spielt und sich wie Clapton anhört!« Kenn folgte ihr nach oben. Obschon der nach dem neuesten Schrei gekleidete Stargitarrist den Kerl auf der Bühne in der zerrissenen Jeans, die anstelle eines Gürtels von einer Kordel zusammengehalten wurde, zunächst ein wenig argwöhnisch beäugte (»Er sah aus wie der beschissene Tiny Tim1«, so Kenn), sah er ihn sich an und hörte ihm zu. Und in Anbetracht des geradezu übermütig klingen Bluessounds, der durch den Club hallte, nachdem sich der Upstage-Stammgast Big Bad Bobby Williams ans Schlagzeug gesetzt und auch der ehemalige Motifs-Bassist Vinnie Roslin zu seinem Instrument gegriffen hatte, legte sich Kenns Skepsis rasch. »Es war irgendwie cool«, sagt er. »Ich weiß noch, dass ich dachte: ›Mannomann, der hat’s echt drauf!‹ Dieser schmächtige Kerl war auf seine Art ein wahrer Riese!«

Die Grüppchen von Gästen, die sich wenige Minuten zuvor noch unterhalten hatten, standen jetzt fasziniert vor der Bühne, und ein nicht abreißen wollender Strom von Leuten aus dem Green Mermaid und der Cookman Avenue drängte die Treppe herauf, um sich zu ihnen zu gesellen. Potters rechte Hand Jim Fainer beobachtete völlig hingerissen von der anderen Seite des Saals aus, wie ein Blues-Jam, den sie »Heavy Bertha« nannten, in Iron Butterflys »In-A-Gadda-Da-Vida« überging. »Man konnte sich ihm einfach nicht entziehen«, so Fainer. »Bruce hatte eine sagenhafte Präsenz. Man bekam unweigerlich eine Gänsehaut. Er war mit einem unglaublichen Gespür gesegnet, eine wahre Himmelsgabe.«

Vini Lopez wusste das schon seit seinem Ausflug nach Long Branch am vorangegangenen Samstag. Der Drummer hatte auch Danny Federici, dem Keyboarder der Downtown Tangiers Band, mit dem er eine neue Band gründen wollte, bereits von Bruce erzählt. Doch keiner von beiden hatte mehr etwas von Bruce gehört, bis er eine Woche später im Upstage auftauchte. Als Lopez ihn auf der Bühne entdeckte, stieß er Federici an und sagte: »Das ist der Typ!« Schnell kämpften sie sich zur Bühne vor, wo der Jam gerade zu Ende ging. Lopez winkte Bruce zu, kletterte auf die Bühne und bat ihn, noch ein Set zu spielen. Bruce, der sich gerade erst warmgespielt hatte, grinste: »Na dann mal los!« Lopez setzte sich hinters Schlagzeug, Bruce gab einen 12-Takt-Blues vor, und zusammen mit Federici am Keyboard und Roslin, der weiterhin Bass spielte, stürzten sie sich in einen weiteren Jam. Der Gitarrist peppte die Strophen mit improvisiertem Gesang auf, und als seine Finger wieder über den Hals seiner Les Paul wanderten, folgten ihm die drei anderen in eine dichte Instrumentalpassage. Das Zusammenspiel klappt fast auf Anhieb perfekt. Bruce’ leidenschaftliches Spiel harmonierte hervorragend mit Federicis raffinierten Keyboardläufen, Roslins ruhigem Bassbrummen und Lopez’ wilden Schlagzeugattacken. Sie spielten sich fünfundvierzig Minuten nonstop durch verschiedene Songs, Stile und Rhythmen. Diejenigen im Publikum, die nicht wie gebannt vor der Bühne standen, tanzten und wogten durch den Saal. Bruce zog sein durchgeschwitztes T-Shirt aus und warf es in irgendeine Ecke. Als die dehydrierten Musiker eine Stunde später ihre Instrumente aus der Hand legten, gingen sie runter ins Green Mermaid. Sie setzten sich an einen Tisch mit rot-weiß-karierter Decke und strahlten einander beseelt an. Dann sprach Lopez das aus, woran er seit dem Moment, als er Bruce mit Earth auf der Bühne gesehen hatte, immer wieder gedacht hatte.

»Verdammt, lasst uns eine Band gründen.«

Bruce hatte das Gefühl, dass das diesmal ein ganz großes Ding werden könnte. Er wollte mit Leuten spielen, die mit ebenso viel Engagement bei der Sache waren wie er, und jetzt hatte er sie gefunden. Lopez kannte sogar einen Unternehmer aus der Gegend, der die Gruppe als Förderer und Manager unterstützen wollte. Er nahm Bruce mit, um sie einander vorzustellen und den Mann, einen Surfbretthersteller namens Carl »Tinker« West, in den Upstage Club einzuladen, wo sie als Hauptattraktion der mitternächtlichen Jam-Session am nächsten Samstag spielen sollten.

West schaute wie versprochen vorbei, und nachdem er sich selbst ein Bild von Bruce’ Talent gemacht und gesehen hatte, mit wie viel Leidenschaft und Freude der bei der Sache war, musste er zugeben, dass Lopez nicht übertrieben hatte. »Der Junge hat’s wirklich drauf«, sagte er nach der Show. »So jemandem schaust du einfach gerne zu, weil er ein echter Vollblutmusiker ist.«

Kein geringes Kompliment von dem erst kürzlich nach Asbury Park gezogenen Achtundzwanzigjährigen, der über erstaunlich vieles eine ganze Menge wusste und dem es sichtlich Freude bereitete, allen seine ungeschminkte Meinung kundzutun. Außerdem hatte West eine Ausstrahlung, die besonders bei jungen Männern, die sehr ehrgeizig waren, gut ankam. »Als ich ihn kennenlernte, erkannte ich sofort, dass er jemand war, von dem ich noch was lernen konnte«, sagt Billy Alexander, der bald so etwas wie Wests rechte Hand wurde. »Es gab nicht viel, das er nicht konnte. Daher tat ich für sein Geschäft alles, was ich meinerseits beitragen konnte.« Zum Beispiel wusste Alexander genau, wie er jemanden, der Wests Entscheidungen infrage stellte, dazu brachte, klein beizugeben. »Ich sagte: ›Sieh mal, du hast deine Meinung. Aber Tinker ist Raumfahrtingenieur, also komm ihm bitte nicht mit irgendwas Halbgarem.‹«

West hatte tatsächlich eine Zeit lang als Raumfahrttechniker für die Wyle Laboratories im kalifornischen El Segundo gearbeitet. Doch der Job hatte nichts an seinem Faible für die als eher zwielichtig geltenden Beatniks, Musiker und Surfer in L.A. ändern können. West hatte einfach gerne Spaß. Er surfte, spielte Gitarre und übte eisern und sehr diszipliniert, um ein Meister an den Congas zu werden. Er stellte seine eigenen Verstärker her und wurde zu einem Experten auf dem Gebiet des Akustikdesigns. Gleichzeitig nutzte West seine Kenntnisse aus der Raumfahrttechnik und konstruierte eine Reihe schneller, leichter Boards, die sich insbesondere durch ihre justierbaren und abnehmbaren Skegs bzw. Finnen auszeichneten.

Mit dieser Idee begann die Geschichte der Challenger Surfboard Company, die 1965 zusammen mit ihrem Firmengründer nach San Francisco, dem Zentrum der immer populärer werdenden Hippiekultur, übersiedelte. Als West sich 1968 entschloss, zu expandieren und auch an der Ostküste geschäftlich aktiv zu werden, wozu er eine weitere Fertigungsstätte an der Küste von New Jersey errichtete, ging er davon aus, dass es rund um die Promenade von Asbury Park ähnlich interessante Typen wie in Kalifornien gab. Stattdessen fand er nichts als Touristenbars, Coverbands und eine Szene vor, die auf seinen hellwachen Verstand auf Anhieb den Eindruck machte, »total beschissen« zu sein. »Keine Kreativität, keine Eigenkompositionen. Ich langweilte mich zu Tode.«

Nach einem Besuch im Upstage und einem anregenden Gespräch mit Tom Potter keimte etwas Hoffnung bei ihm auf. Und als Potter ihm eines Abends im Green Mermaid Vini Lopez vorstellte, machte West einen bedenkenswerten Vorschlag: Sollte es Lopez gelingen, eine Band zusammenzustellen, die interessante Eigenkompositionen spielte, würde er diese Band nicht nur managen und ihr eine erstklassige PA basteln, sondern ihr auch einen Proberaum in seiner Fabrik zur Verfügung stellen.

West bekräftigte sein Angebot, als Lopez ihm ein oder zwei Tage nach dem Upstage-Jam, den West gesehen hatte, mit Bruce einen Besuch abstattete. Alles, was sie jetzt noch zu tun hätten, erklärte er, sei die verdammt beste Band zu werden, die man jemals gehört hatte. »Ihr kümmert euch um die Musik«, sagte West, »ich um den restlichen Mist.«

Sie schlugen ein und machten sich ans Werk.

Bruce, Vini Lopez, Danny Federici und Vinnie Roslin bezogen mit ihren Verstärkern einen leerstehenden Raum im Challenger East Werk – einem niedrigen Betonklotz inmitten einer Reihe von Fabriken und Lagerhallen auf einem Hügel in Wanamassa, nur ein kurzes Stück von Asbury Park entfernt. Die Proben begannen am frühen Morgen und dauerten, wie es West von der Band verlangt hatte, bis in der Surfbrettfabrik Feierabend gemacht wurde. Ihm war gleich, für wie gut die Jungs sich hielten oder wie gerne sie stundenlang auf den Horizont gestarrt und von göttlichen Riffs geträumt hätten. Das waren Dinge, die sie getrost in ihrer Freizeit machen konnten. »Wenn ich arbeiten muss, müsst ihr es auch«, erklärte er den vier Musikern. »Ich will hören, wie ihr hier drinnen Musik macht, wenn ich da draußen stehe und ein Surfbrett schleife.«

Billy Alexander half, Wests Worten Nachdruck zu verleihen: »Wenn wir zu lange keine Musik mehr hörten, ließen Tinker oder ich die Peitsche knallen. Ich klopfte an die Tür, streckte den Kopf rein und fragte: ›Hey Jungs, es ist so still, was treibt ihr? Wir bauen da draußen immer noch Surfbretter.‹ Keiner hat sich je beschwert. Im Gegenteil, sie mochten es.«

So arbeiteten die Jungs also zu den üblichen Geschäftszeiten, studierten Bruce’ Songs ein, feilten an Arrangements (Federici, der eine klassische Musikausbildung genossen hatte, war in dieser Hinsicht eine große Hilfe) und wiederholten die einzelnen Stücke so lange, bis sie die Akkordfolgen, jähen Stopps und überraschenden Einsätze im Schlaf beherrschten. Nach den offiziellen Proben spielten sie sich noch stundenlang durch die Blues- und Rock-Standards, die sie von anderen Bands aus der Gegend oder aus dem Radio kannten. Das wiederum inspirierte sie oft zu neuen Akkordfolgen, aus denen sich eigene Melodien ergaben, die Bruce auf der Gitarre ausarbeitete, bevor er ein oder zwei Zeilen Text dazu sang, die ihm seit Tagen durch den Kopf schwirrten.

Die vielen Tage und Nächte, die sie miteinander verbrachten, trugen entscheidend dazu bei, dass die Band, deren jedes einzelne Mitglied seine individuellen Vorlieben hatte, schließlich zu einem kompakten, einheitlichen Sound fand, der zu gleichen Teilen von Cream, Steppenwolf und Rhinoceros beeinflusst war. Rhinoceros – jene wenig bekannte Band, zu deren Playback Earth während der Dreharbeiten zu NYPD: Now You’re Practically Dead aufgetreten waren – waren eine Art Supergroup bestehend aus ehemaligen Mitgliedern von Iron Butterfly, Electric Flag und den Mothers of Invention. Ihr Debütalbum kam 1968 auf den Markt. Ihre Platten verkauften sich zwar nicht besonders gut, aber mit ihrer Kombination aus hartem Gitarrensound, Gospelorgel und souligem Gesang schafften sie es, bei mehr als nur ein paar vernebelten Wuschelköpfen Interesse an der Ostküstenmusikszene zu wecken, zu der ja auch Bruce und seine Freunde gehörten.

Die neue Band war im Hinblick auf ihre Vorbilder noch ziemlich sprunghaft, was angesichts des Alters ihrer Mitglieder aber alles andere als überraschend war. Auf jeden Fall hatten die vier Jungs genug Durchhaltevermögen und Talent, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, und genügend Charisma, um ihr ganz eigenes Ding daraus zu machen. Hochgewachsen und muskulös wie er war, strahlte Lopez eine ungeheure Energie aus, die ihm auf der Bühne, wo er kraftvoll auf sein Schlagzeug eindrosch, auch mal zur Blockflöte griff und die hohen Töne der zweiten Stimme, die er sang, perfekt intonierte, eine unwiderstehliche Präsenz verlieh. Aber Lopez war auch ein aufbrausender, zuweilen sogar aggressiver Zeitgenosse, der für andere durchaus zur Gefahr werden konnte. »Geprügelt habe ich mich nur, um meine Freunde zu beschützen«, sagt er. »Aber ich hätte niemandem gegenüber klein beigegeben.«

Federici wiederum war ein pausbäckiger Wunderknabe, der den strengen Drill seiner klassischen Musikausbildung mit reichlich Marihuanakonsum kompensierte und mit verrückten, gelegentlich sogar sehr gefährlichen Streichen. So fuhr Federici eines Nachmittags durch die Gegend; auf der Rückbank seines Wagens türmten sich Klamottenstapel, den Beifahrersitz nahm ein riesengroßer Pflanzkübel mit einem üppig wuchernden Marihuanabusch ein, den er den ganzen Sommer über gehegt und gepflegt hatte. Da fiel ihm ein, dass er noch ein paar Hemden aus der Reinigung in Asbury Park abholen musste. Federici fuhr hin, zwängte seinen Wagen in die erstbeste Lücke am Fahrbahnrand und sprang heraus, um seine Sachen abzuholen. Wenige Minuten später kehrte er zurück, die Hemden auf den Drahtbügeln über den Daumen gehängt, doch von dem Wagen fehlte jede Spur. Geklaut, dachte er sich. Und da die Diebe nicht nur sein Auto, sondern auch seine anderen Hemden, Hosen, Unterhosen und Socken hatten mitgehen lassen, blieb ihm keine andere Wahl als die Polizei zu rufen.

Wie sich herausstellte, hatte die Federicis Wagen schon gefunden. Nämlich genau da, wo er ihn abgestellt hatte, direkt vor einem Hydranten. Mit einer riesigen Marihuanapflanze auf dem Beifahrersitz. Egal. Federici marschierte schnurstracks zur Wache, wo man ihn schon erwartete, um ihn in Gewahrsam zu nehmen. Als seine Mutter ihn ein, zwei Tage später dort abholte, bekam er sein Auto und seine Klamotten zurück. Neues Gras aufzutreiben, war sein geringstes Problem.

Roslin war schon länger in der Musikszene in Freehold aktiv als Bruce. Das einstige Gründungsmitglied der Sierras – der Band von George Theiss, bevor dieser die Castiles gegründet hatte –, war zu den Motifs gewechselt, einer Gruppe, die den Castiles bei den Talentwettbewerben Mitte der 60er-Jahre oft den Sieg weggeschnappt hatte. Ob die Motifs tatsächlich die bessere Band waren oder ob sie deshalb so gut abgeschnitten hatten, weil sie von Norman Seldin gemanagt wurden, einem Musiker, der selbst regelmäßig Talentwettbewerbe veranstaltete, war seinerzeit heiß diskutiert worden; Bruce hatte allerdings nie an der Vorrangstellung der Motifs in Freehold gezweifelt. »Sie waren atemberaubend«, sagt er. »Ich kannte niemanden, der ihnen das Wasser reichen konnte.« Roslin war etwas älter und reifer als die anderen Bandmitglieder und ging außerhalb der Surfbrettwerkstatt gern seiner eigenen Wege. Doch von seiner Art und seinem Aussehen her passte er bestens zur Band.

Einen Monat lang probte die Gruppe die wenigen SpringsteenSongs, die sie hatte, sowie einige ausgewählte Coverversionen, darunter Hendrix’ »Voodoo Chile« sowie »Crown Liquor«, einen Song von Billy Chinnock, den Lopez und Federici schon mit einer ihrer früheren Formationen, Moment of Truth, gespielt hatten. Nachdem sie sich reichlich Zeit gelassen hatten, einen Namen zu finden, nannten sie ihre Band Child. Der Name stand für einen Neuanfang, für eine neue Band mit einem frischen Sound.

Alles, was sie jetzt noch brauchten, war ein Gig. West ging einige Blocks die Sunset Avenue herunter bis zum Pandemonium, einem neuen Club, der zum Shore Hotel an der Route 35 gehörte. Mit einem Vertrag für drei Shows an drei aufeinanderfolgenden Abenden, beginnend am Mittwoch, dem 2. April, kehrte er zurück. Child war die einzige Band, die an diesen Tagen auf dem Programm stand, daher mussten sie täglich drei bis vier Sets allein bestreiten. Doch einen Song auf eine Länge von bis zu dreißig Minuten auszudehnen, war für die Jam-Session-erprobten Musiker überhaupt kein Problem.

Sobald sich Lampenfieber meldete, riefen sie sich die vielen Erfolge in Erinnerung, die jeder einzelne von ihnen bereits zu verzeichnen hatte. »Wir waren so eine Art All-Star-Band«, sagt Lopez, und wenn er dabei an die Küstenregion von New Jersey im Jahr 1969 dachte, ist das tatsächlich eine zutreffende Einschätzung.

Dann war er da, der 2. April. Zwar kann sich niemand mehr genau daran erinnern, was die Band bei ihrer ersten Show spielte, sicher ist aber, dass sie ein beachtliches Publikum anzog und viele der Zuschauer dermaßen beeindruckte, dass sie am nächsten Tag mit ein paar Freunden im Schlepptau wiederkamen. Am Freitagabend kamen bereits mehr Leute, als hineinpassten, und es bildete sich eine lange Schlange vor dem Pandemonium. Mickey Eisenberg, der Eigentümer des Clubs, ließ West nicht gehen, bevor er ihm nicht zugesagt hatte, dass Child in der darauffolgenden Woche fünf weitere Shows spielen und am 20. April noch ein Zusatzkonzert geben würden.

Anfang Mai gaben sie ein Konzert im Le Teendezvous, auf das eine Reihe größerer Open-Air-Veranstaltungen folgen sollte, von denen sich West erhoffte, dass sie die Band überregional bekannt machen und für größere Veranstaltungsorte empfehlen würden. »Mein Plan war, größere Parkkonzerte zu spielen, wie sie in San Francisco üblich waren«, sagt er. West hatte der Band ein PA-System zusammengestellt, das bereits auf solche größeren Dimensionen zugeschnitten war. Mit einem so energiegeladenen Performer wie Bruce, der auf der Bühne völlig aus sich herausging, würde es für Child nicht sonderlich schwer werden, all diese ruhigen kalifornischen Bands ziemlich blass aussehen zu lassen.

Den ersten Auftritt dieser Art hatte die Band am Samstag, dem 3. Mai, auf einem nachmittäglichen Minifestival im West End Park von Long Branch. West engagierte für das Vorprogramm eine Handvoll anderer Bands. Dank des hervorragenden Wetters und der preiswerten Ein-Dollar-Tickets war es gelungen, etwa tausend Musikfans anzulocken. West strich tausend Dollar ein – eine Summe, für die die Band ansonsten mehrere Clubkonzerte hätte bestreiten müssen. Viel wichtiger war ihm allerdings, die Band spüren und hören zu lassen, wie es ist, vor einem so großen Publikum aufzutreten.

»Bruce war anfangs ein bisschen unsicher«, sagt West über die ersten Schritte seines Stars auf größeren Bühnen. »Aber wenn er anfing zu spielen, konnte man förmlich sehen, wie sich etwas in ihm tat. Die Begeisterung der Zuschauer berauschte ihn. Und wenn das Publikum erst einmal anfängt zu kreischen, glaubt man schnell, man sei zu allem fähig.« Eine weitere Dosis Begeisterung bekam Bruce am 11. Mai, als die Band erneut nach Long Branch kam, um als Headliner bei einem Musikfestival auf der großen Wiese vor dem Monmouth College aufzutreten. Die Schule stellte den Bands eine Terrasse vor dem Eingang zur Wilson Hall zur Verfügung, die etwa dreißig Stufen oberhalb der Wiese lag, auf der das Publikum in der Sonne saß, tanzte oder Frisbee spielte. Als West und die Band begannen, ihr Equipment aufzubauen, nahm der sonnige Nachmittag eine unvermutete Wendung. »Ich ging hoch und setzte mich neben die Bühne«, erzählt Barry Rebo, ein Monmouth-Student, dem ein Freund, der im Jahr zuvor bei einem Earth-Konzert gewesen war, von Bruce erzählt hatte. »Und plötzlich kamen all diese Kids angerannt und stürmten die Bühne.«

Rund um die Terrasse rannten und kreischten Fans. Wie aus heiterem Himmel brachen Beatlemania-ähnliche Zustände aus. Nach all den Krawallen und öffentlichen Ausschreitungen von 68 machte sich selbst unter den etwas verlottert aussehenden, körperlich nicht besonders kräftigen jungen Musikern die Angst breit, die Situation könne außer Kontrolle geraten. Lopez, Federici, Roslin und Bruce ließen ihre Instrumente zurück und flüchteten in die Wilson Hall; die Eingangstür schlugen sie hinter sich zu. Sie hatten kaum eine Minute Zeit, einander wortlos anzustarren, als die Tür wieder aufflog und ein ungläubiger Tinker West vor ihnen stand. »It’s showtime!«, blaffte er sie an. »Warum seid ihr Arschlöcher nicht da draußen und macht Musik?«

Also gingen sie wieder raus, und die Menge johlte. Die Jungs gingen an ihre Instrumente und legten los mit ihrem lauten, harten Rock’n’Roll. Die Songs waren größtenteils unbekannt, viele waren Eigenkompositionen von Bruce und einige davon noch nicht einmal eine Woche alt. Auch wenn nicht jedes Wort deutlich zu verstehen war, konnte ein ganzer Campus voller christlich erzogener Kleinstadtteenies unmöglich die Blasphemie überhören, die allein schon in dem Wechselspiel zwischen getragener Kirchenorgel und Vollgasrockpassagen in dem Song »Resurrection« steckte. »Special low price on three Hail Marys!«, bellte Bruce am Ende einer Strophe, bevor er zu einem weiteren Solo ansetzte. »My soul is clean again. Hey!«

Die Menge tanzte ausgelassen und holte die Band nach dem Ende ihres regulären Sets mit lautstarken Zugabeforderungen noch dreimal auf die Bühne zurück – laut einem Artikel in der Collegezeitung das i-Tüpfelchen auf einer »furiosen, bewusstseinserweiternden Show«. Das Fazit lautete: »Sie rockten alles weit und breit in Grund und Boden.« Tatsächlich waren wegen der Lautstärke Beschwerden von Personen eingegangen, die bis zu einer Viertelmeile entfernt auf der Norwood Avenue wohnten. Nach der Show, als die Band gerade ihre Verstärker abbaute und Stromkabel aufrollte, ging Barry Rebo zu Bruce, um sich ihm vorzustellen. Der, so erinnert sich Rebo, war noch völlig benommen. »Er war offenbar total überwältigt von der Reaktion des Publikums. Mir fiel sofort auf, dass er mich gar nicht ansah, während wir uns unterhielten, was wirklich erstaunlich war, wenn man bedenkt, wie selbstbewusst und energisch er kurz zuvor auf der Bühne gewesen war. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, dessen Verhalten abseits der Bühne sich so sehr von dem auf der Bühne unterschied.«

Ähnlich erfolgreich war die Band bei einem kostenlosen Open-Air-Konzert, das im dreihundertfünfzig Meilen südlich von Asbury Park gelegenen Richmond, Virginia, stattfand. Organisiert hatte den Gig Billy Alexander, Wests ehemalige und zukünftige rechte Hand, der inzwischen dort aufs College ging. Er hatte sich mit den Geflogenheiten in den Clubs und Bars der Stadt sowie auf den Collegepartys schnell vertraut gemacht und West überredet, ihn dort ein kostenloses Parkkonzert veranstalten zu lassen. Vorgeblich wollte Alexander damit einen Beitrag zu den Festivitäten am Ende des Collegejahres leisten, insgeheim plante er jedoch, den Markt in Richmond für eine Reihe von kostenpflichtigen Gigs zu erschließen, die er zu Beginn des neuen Schuljahres organisieren wollte. Die eintrittsfreie Show am Nachmittag zog vier- bis fünfhundert Zuschauer in ihren Bann, die so begeistert waren, das sie für Bruce und die Band die Basis einer Fangemeinde wurden, die ihnen noch jahrelang treu bleiben sollte.

Mitte Juni kündigten Bruce’ Eltern ihre Jobs, packten ihre Sachen, luden sie und ihre jüngste Tochter Pamela in ihr Auto und kehrten Freehold den Rücken – in Dougs Augen für immer. Die Zeit bis zu ihrer Abreise war nicht einfach gewesen. Dougs Zustand war im Verlauf des Frühjahrs immer wieder kritisch gewesen. Eine Zeit lang hatte Adele sogar befürchtet, dass auf der langen Fahrt bis zur Westküste irgendetwas Schreckliches geschehen könnte. »Er bildete sich Dinge ein, die einfach nicht wahr waren«, sagt sie. »Gut, er war halt manisch-depressiv, aber …« Ihre Gedanken schweifen ab. »Man könnte eine Menge erzählen, doch belassen wir es dabei«, sagt Ginny.

Bruce, der allein in dem Haus in der South Street zurückblieb, schaute seiner Familie gleichermaßen erleichtert wie wehmütig hinterher. »Es war hart, weil ich meiner kleinen Schwester so nahe gestanden hatte«, sagt er. Doch Bruce konnte die Entschiedenheit nachvollziehen, mit der sein Vater Freehold und den Geistern seiner Vergangenheit entkommen wollte. Zugleich sehnte er sich danach, sich den Eltern und ihren Erwartungen – insbesondere bezüglich seiner Collegeausbildung – zu entziehen und zu sehen, wohin ihn seine wahren Ambitionen und das, was ihn innerlich antrieb, bringen würden.

Nur wenige Wochen später lernte Bruce an der Bar des Student Prince Clubs in Asbury Park Pam Bracken kennen. Bracken, die gerade ihr erstes Jahr an der Kent State University absolviert hatte, war hingerissen von dem sympathischen jungen Musiker, der gerade eine Limonade schlürfte. Insbesondere faszinierte sie der Kontrast zwischen seinem Metier, das im Ruf zügelloser Ausschweifungen stand, und seinem doch eher maßvollen Verhalten. Bruce machte während ihrer Unterhaltung mehr als einmal deutlich, dass er weder fluchte, noch trank, noch Drogen nahm. Er wirkte einfach nur nett. Als Bruce Bracken einlud, am nächsten Tag nach Freehold zu kommen und mit ihm zu Mittag zu essen, sagte sie gerne zu.

Pünktlich zur verabredeten Zeit stand sie bei Bruce vor der Tür und klopfte. Niemand reagierte, sie klopfte ein zweites Mal. Von drinnen war kein Laut zu hören. Schließlich erschien ein schlaftrunkener Bruce und setzte sich auf die Eingangsstufen. Er sei sehr froh, sie zu sehen, sagte er, aber noch etwas müde. Doch wisse er, was dagegen helfen würde: Ein kleiner Spaziergang zum Bäcker, wo er für sich und die Jungs Streuselkuchen kaufen wollte. Also zogen sie los wie ein junges, verliebtes Paar an einem strahlenden Sommertag. »Jahre später«, erzählt Bracken, »gestand mir Bruce, dass der wahre Grund für unseren Spaziergang eine andere Frau gewesen war, die er am Abend aufgerissen hatte und die nun irgendwie von mir unbemerkt aus dem Haus kommen musste.« Tatsächlich wurde aus ihnen ein Paar. Ihre Beziehung hielt zwei Jahre lang, obwohl die beiden während dieser Zeit oft getrennt waren aufgrund ihres Studiums, seiner Musikkarriere und der emotionalen Stolperfallen, die hinter Bruce’ dunklen, stets erwartungsvollen Augen lauerten.

Da die Miete für zwei Monate im Voraus bezahlt war, lud Bruce seine Bandkollegen ein, sich in den unbenutzten Zimmern, auf den Sofas und dem Boden seines quasi leerstehenden Elternhauses breitzumachen. Lopez und Federici zogen den Sommer über bei ihm ein, und fortan fuhren die drei gemeinsam zu den Bandproben in die Surfbrettfabrik. Childs Konzertkalender war für den Sommer vollgepackt mit schweißtreibenden Auftritten im Pandemonium und einer Handvoll anderer Clubs an der Uferpromenade zwischen Sea Bright und Asbury Park. Child war also schon eine profitable Band, bevor sie sich als der große Act in der Festivalszene etabliert hatten, zu dem West sie machen wollte. Als dem sein alter Kumpel Doug »Goph« Albitz, den er noch aus seiner Zeit in Kalifornien kannte, eine Freikarte für das dreitägige Music and Art Festival zuschickte, das Mitte August in White Lake, New York, stattfinden sollte, und anfragte, ob Wests neue Band auf der von dem Aktivisten-Clown Wavy Gravy und seiner Hog-Farm-Kommune organisierten Nebenbühne auftreten wolle, konnte West für Child leider nicht zusagen. Unglücklicherweise war die Band für dieses Wochenende bereits gebucht: drei Auftritte im Student Prince an der Kingsley Street. Weil er den Besitzer des Clubs nicht verärgern wollte – und weil er wie alle anderen nicht wissen konnte, was für ein Jahrhundertereignis Woodstock werden würde –, fuhr West alleine zu dem Festival und ließ die Band in Asbury Park zurück.

»Mannomann, was war da zum Teil für ein Schrott auf der Bühne«, ärgert sich West noch heute. »Ich lief rum und dachte: ›Scheiße, was bin ich nur für ein Idiot! Warum habe ich die Band in New Jersey gelassen?‹ Und ich hatte natürlich recht, denn wenn ich Springsteen nach Woodstock gebracht hätte, wäre auf einen Schlag alles geritzt gewesen. Wir hätten uns etliche beschissene Jahre sparen können. Aber die Band hatte ein Engagement, und wir brauchten das Geld. Punkt.«

Es lässt sich unmöglich sagen, wie das vom Zeitalter des Wassermanns inspirierte, schlammverkrustete und LSD-berauschte Woodstockpublikum Childs knüppelharten Rock’n’Roll-Sound aufgenommen hätte. Aber es dauerte nur eine Woche, bis einer der größten Stars des Festivals völlig hingerissen war von dem aufstrebenden jungen Musiker Bruce Springsteen. Nicht, dass Janis Joplin je einen Ton seiner Musik gehört hätte, aber als die Sängerin am 23. August in der Convention Hall von Asbury Park auftrat und den damals neunzehnjährigen Gitarristen erblickte, der ihre Show zusammen mit Lopez, Roslin und West von der Seite der Bühne aus verfolgte, hielt sie mit ihrer Neugier nicht hinterm Berg. »Als sie ihr Set beendet hatte, kam sie von der Bühne, musterte ihn von oben bis unten und warf ihm diese schmachtenden ›Wo bist du nur mein ganzes Leben gewesen‹-Blicke zu«, erinnert sich Lopez.

»Ich war ihr wohl aufgefallen«, erinnert sich Bruce. »Ich war neunzehn, hatte schulterlange Haare, war ein großer Star in der Gegend und trat entsprechend auf.« Aber Joplin hatte keine Gelegenheit, ihn anzusprechen, bevor ihr Roadmanager sie bei den Schultern packte und zur Bühne zurückdirigierte, damit sie ihre Zugabe spielte. Just in dem Moment – erzählt West – sah Bruce seine Freunde an »wie eine Kuh, wenn’s blitzt«. Laut West und Lopez hatte Bruce nicht das geringste Interesse daran, die Bluessängerin aus San Francisco näher kennenzulernen. Stattdessen raunte er seinen Freunden zu: »Ich mach mich verdammt noch mal vom Acker!«, sprintete den Flur entlang und verließ die Halle durch den nächstbesten Notausgang.

Als Joplin ihren letzten Song beendet hatte, ging sie geradewegs dorthin, wo Bruce zuvor gestanden hatte. Als sie sah, dass er nicht mehr da war, runzelte sie ebenso überrascht wie enttäuscht die Stirn. »Wo ist er hin!?«, rief sie. Lopez deutete auf den Notausgang und sagte: »Da lang!« Joplin rauschte ab in ihre Garderobe. Wenige Minuten später sprach der Manager ihres Co-Headliners, James Cotton, West auf dem Gang an. »Komm schon Tinker«, sagte er. »Janis will Bruce echt gern ficken.« West zuckte mit den Achseln und lachte. »Was hätte ich da machen können? Ich sagte einfach: ›Tut mir leid, er hat sich schon verabschiedet.‹«

Jetzt, wo Federici und Lopez mit ihm unter einem Dach wohnten, verwandelte sich das ehemalige Zuhause der Springsteens schnell zu einem Treffpunkt für Musiker. Hier wurden stundenlang Platten aufgelegt und es wurde mit Federicis CB-Funkgerät herumgespielt, wenn man sich nicht gerade spontan aufmachte, um ein bisschen surfen zu gehen, die Gegend unsicher zu machen oder sich irgendeine Band in einer der nahegelegenen Strandbars anzuschauen. Weniger abwechslungsreich als das Unterhaltungsprogramm war das, wovon sich Bruce damals zu ernähren pflegte. Gegen den Hunger halfen in der Hauptsache Schmelzkäse-Mayonnaise-Sandwiches und Grillhähnchen aus dem Tasty Dee-lite Drive-In. Gemüse stand ausgesprochen selten auf seinem Speiseplan, und zum Nachtisch gab es eine große Schale voll von – wie Pam Bracken sich erinnert – »dieser ekelhaften Pampe mit Erdbeeraroma«, die Bruce gerne mit einer großzügigen Portion Sprühsahne garnierte. Als Bracken ihm eines Abends frische Erdbeeren mit Schlagsahne servierte, nahm er einen Bissen, verzog das Gesicht und meinte: »Grauenhaft!«

Nachdem sie den Rest der Band sowie all ihre Unterstützer und Freunde kennengelernt hatte, fühlte sich Bracken in der Clique ihres Freundes mehr und mehr zu Hause. West war ihr gegenüber besonders zuvorkommend. Er erklärte ihr, sie solle sich als Teil des Teams begreifen und sei überall, wo die Band auftrete, willkommen. Bracken war entzückt – bis Bruce sich wutschnaubend zu ihr gesellte. Was es so lange mit Tinker zu besprechen gegeben habe? Warum sie so zufrieden aussah, wenn sie mit ihm zusammen war? Schon das geringste Anzeichen von Sympathie für einen anderen Mann reichte aus, um Bruce in Rage zu versetzen.

»Bruce mochte es überhaupt nicht, wenn mir irgendjemand anders Aufmerksamkeit schenkte«, sagt sie. »Wenn er das Gefühl hatte, dass es mir Spaß bereitete, mich mit irgendeinem Kerl zu unterhalten, redete er nicht einmal mehr mit mir. Er sagte einfach: ›Diese Beziehung ist beendet!‹ und zeigte mir die nächsten ein, zwei Tage die kalte Schulter.«

Ende September zogen die Jungs aus dem Haus an der South Street wieder in die Surfbrettfabrik um, wo West inzwischen neue Badezimmer eingebaut und ein paar Liegen aufgestellt hatte. Mietfrei wohnen und das gesamte Equipment der Band in unmittelbarer Nähe – besser hätte es ein junger Mann, der an seiner Zukunft arbeitete, kaum antreffen können. Doch da fiel Bruce plötzlich die Spielzeugeisenbahn wieder ein, die Fred und Alice ihm geschenkt hatten, als er ein kleiner Junge gewesen war.

Schon seit Jahren hatte Bruce nicht mehr mit der Modelleisenbahn gespielt, aber es war das einzige Überbleibsel aus seiner Kindheit, das ihm etwas bedeutete. Es war etwas, das er an seinen eigenen Sohn weitergeben konnte, falls er je einen haben sollte. Er hatte die Eisenbahn auf dem Speicher des Hauses in der South Street untergestellt und sie beim Auszug vergessen. Er rief den Vermieter an und bat darum, sein altes Spielzeug abholen zu dürfen, doch er wurde brüsk zurückgewiesen. Das Haus sei sein Eigentum, blaffte der Vermieter. Jetzt, wo die Springsteens keine Miete mehr zahlten, gehöre ihm auch alles, was sich in dem Haus befand.

Erst war er nur perplex, dann richtig aufgebracht, und so schnappte sich Bruce Lopez, um mit ihm eine guerillamäßige Rückholaktion durchzuführen. Das Haus war leer, die Türen waren verriegelt und die Fenster fest verschlossen. Bruce hievte sich zum Fenster seines Zimmers im ersten Stock hinauf, kletterte aufs Dach und suchte überall nach einer Möglichkeit, ins Haus zu gelangen – aber vergeblich. Da er kein Fenster einschlagen wollte, blieb er eine Zeit lang in der Dunkelheit sitzen und dachte nach. Dann stieg er wieder zu Lopez ins Auto und fuhr mit versteinerter Miene die Route 35 entlang, jene Straße, die ihn zur Surfbrettfabrik zurückführte, zu seiner Gitarre und allem, was ihm die Zukunft zu bieten hatte.

Da sie nun in der Fabrik nicht mehr nur probten, sondern (die meiste Zeit) auch dort lebten, war die Band nahezu pausenlos beschäftigt. Wenn einmal große Mengen Bestellungen für Surfbretter abzuarbeiten waren, war es mit Musikmachen allein nicht getan. Der Fabrik gegenüber waren sie quasi zwangsverpflichtet, und so konnten Bruce und die anderen durchaus schon mal einige Stunden damit verbringen, Surfbretter abzuziehen, zu schleifen und mit Schichten aus Epoxidharz zu überziehen. Die meiste Zeit über ließ West die Band jedoch in Ruhe, damit sie sich ungestört auf ihre Musik konzentrieren konnte. Und wenn es ab und an Ärger gab – zum Beispiel als sich herausstellte, dass sich eine Band aus Long Island nicht nur ebenfalls Child nannte, sondern unter diesem Namen auch schon ein Album produziert hatte –, zogen alle ins Inkwell Coffee House in Long Branch, um die Probleme bei Bier (Bruce trank Pepsi) und Burgern zu besprechen. Dort wurden auch eine ganze Reihe eher unpassender Bandnamen diskutiert – darunter Moose Meat, Locomotive und Intergalactic Pubic Band –, bis Lopez’ langjähriger Freund Chuck Dillon schließlich den tough und cool klingenden Namen Steel Mill vorschlug, auf den man sich rasch einigte.

In Virginia legte derweil Billy Alexander sein Studium vorerst ein wenig auf Eis, um die geplante Werbekampagne für die Band in Richmond ins Rollen zu bringen. Er organisierte verschiedene Auftritte für die Jungs, unter anderem an der University of Richmond und der Virginia Commonwealth University. Daneben verschaffte er ihnen Auftritte in zwei Shows in dem dreitausendfünfhundert Zuschauer fassenden Crenshaw Gymnasium, wo sie jeweils das Vorprogramm bestreiten sollten – am ersten Abend für eine ambitionierte Jazzrockgruppe namens Chicago Transit Authority und am zweiten für die berühmte Hardrockband Iron Butterfly.

Ihre wachsende Popularität in den Universitätsstädten in Zentral-Virginia verlieh Steel Mill weiteren Auftrieb. In Richmond hatte sich die Band bereits einen so hervorragenden Ruf erarbeitet, dass sie bei einer Show im November sogar noch nach den eigentlichen Head-linern auftrat. Für Alexander, der an der Konstruktion ihrer PA beteiligt war und viele ihrer Proben und Shows miterlebte, stellte allerdings der Gig am 20. November an der University of Richmond einen entscheidenden Wendepunkt dar: Das Konzert war noch nicht lange im Gange, als die Band »Goin’ Back to Georgia« anstimmte, einen bluesigen Südstaatenrocker, den Bruce in einer Art Allman-Brothers-Fieber geschrieben hatte. Beginnend mit einem grollenden E-Akkord baute sich »Georgia« zu einem volltönenden Bandgewitter auf, bei dem Bruce sein gesamtes Stimmvolumen einsetzte und das nur unterbrochen wurde von ein paar scharfen Gitarrenriffs, die Lopez mit einigen donnernden Drumeinlagen untermalte, bevor sich die Orgel, begleitet von Roslins dröhnendem Rhythmus, hinzugesellte. Dann machte die gesamte Band eine Kehrtwende zum dreistimmig gesungenen Refrain, der mit seiner ungeheuren Klarheit und Präzision in starkem Kontrast zu dem kurz zuvor dargebotenen instrumentalen, chaotisch wirkenden Donnerwetter stand.

»Ich schwöre, ich hatte eine Gänsehaut«, sagt Alexander. »Alles fügte sich zusammen. Das Publikum war völlig aus dem Häuschen und Bruce strahlte übers ganze Gesicht. Es war, als wüsste er, was da gerade passiert war. Er hatte einen Riesenschritt getan. Und der nächste Schritt sollte ihn ganz nach oben katapultieren.«

1 Kenn sprach von der Figur aus Charles Dickens A Christmas Carol, nicht von dem Ukulele spielenden skurrilen Musiker der späten 60er.

Bruce

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