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Kapitel 3 ZWISCHEN BÜHNE UND HIPPIETISCH
ОглавлениеAnfang 1968 schien es mit den Springsteens bergauf zu gehen. Bruce ging seit einem halben Jahr auf das Ocean County Community College (abgekürzt OCCC, später umbenannt in Ocean County College), wo er sich auf den Fachbereich Englisch konzentrierte und vor allem in Kreativem Schreiben gute Noten bekam.1 Doug hatte einen neuen Job in der Lilly-Becherfabrik. Diese feste Stelle gab der Familie finanziell etwas mehr Sicherheit und Dougs Tagesablauf eine gewisse Struktur. Er schaffte es, sich mehrere Tage, ja sogar Wochen am Stück zusammenzureißen, wobei gelegentlich tatsächlich so etwas wie Entschlossenheit in seinem stumpfen Blick aufzuflackern schien. Doch dann wachte er eines Tages auf, das Bettlaken wild um sich geschlungen, und brachte kaum die Energie auf, sich Hemd und Mantel anzuziehen und zur Tür hinauszugehen. Auf diese Phase folgten mehrere Wochen, in denen er völlig unter Strom stand und unberechenbar war. »Wir waren sehr verunsichert, denn bei allem, was passierte, wussten wir nie, was von seinem Verhalten auf seine psychischen Probleme zurückzuführen war und was nicht«, sagt Ginny. Ihre Mutter nickt betrübt und spielt auf ein Ereignis an, das sie beide offenbar heute noch erschaudern lässt: »Oh, und weißt du noch als …« Schon verdrehen sie die Augen und lächeln resigniert. »Er war einfach nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagt Adele schließlich. »Eigentlich war er ein bedauernswerter Mann.«
Eines Abends, als es sich alle Familienmitglieder gerade dort gemütlich gemacht hatten, wo sie sich am wohlsten fühlten – Doug in der Küche, Ginny, Adele und Pam vor dem Fernseher im Wohnzimmer, Bruce war auf dem Weg nach oben in sein Zimmer –, schoss irgendwer von der South Street aus auf den Hauseingang der Springsteens. Die Kugel durchschlug die Tür und blieb im Treppengeländer stecken – nur einen halben Meter neben Bruce.
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Die Familie weiß es bis heute nicht. Vielleicht hatte es irgendwas mit den sich immer stärker ausweitenden Rassenkonflikten in der Stadt zu tun. Vielleicht handelte es sich aber auch um die Tat eines Verrückten. »Ich glaube, die Polizei kam noch vorbei«, sagt Bruce. Was auch dahintersteckte, ihm ist die ganze Geschichte nicht besonders nahegegangen. »Ich war damals noch ein Kind, daher fand ich die ganze Angelegenheit in erster Linie spannend«, erklärt er. »Aber es war schon ziemlich befremdlich.«
Eines Sonntagmorgens schwang sich Bruce auf sein Moped, um Ginny zu einer Freundin zu fahren. Er setzte sie ab, machte sich wieder auf den Heimweg und genoss die frische Frühlingsluft, die durch seine lange Lockenmähne fuhr. Er hatte sein Ziel fast erreicht, als ihm eine große Limousine, deren Insassen gerade aus der Kirche kamen, auf der Jerseyville Avenue die Vorfahrt nahm. Als Lou Carotenuto, der diensthabende Streifenbeamte, am Unfallort eintraf, saß Bruce auf dem Bürgersteig. Er war bei Bewusstsein, aber sichtlich benommen und umklammerte sein Knie, das aus seiner zerrissenen, blutgetränkten Jeans hervorlugte. »Er strich über sein Knie, sagte aber immer wieder: ›Mir geht’s gut! Mir geht’s gut!‹«, so Carotenuto. »Genauso hätte sich auch Doug verhalten.« Angesichts von Bruce’ glasigem Blick, seinem stark angeschwollenem, blutenden Knie und seinen – wenn man es überhaupt noch so nennen konnte – stark verzögerten Reaktionen fackelte der Polizist nicht lange und rief umgehend einen Krankenwagen, der den die meiste Zeit über bewusstlosen Teenager in ein Krankenhaus nach Asbury Park brachte. Dort befreiten ihn die Notärzte von seiner Jeans und überantworteten ihn einem älteren Arzt, der von Hippies und Teenagern, die verprügelt wurden, offenbar die Nase gestrichen voll hatte. Angesichts des verletzten Jugendlichen mit den schulterlangen Haaren, der sich nur schwer artikulieren konnte, murmelte er, der Hippie habe vermutlich nur das bekommen, was er verdiene. Nichtsdestotrotz untersuchte er Bruce ausgiebig genug, um eine Gehirnerschütterung zu diagnostizieren und ihn zur Beobachtung und für weitere Untersuchungen dazubehalten.
Adele machte sich große Sorgen – sowohl um ihren Sohn als auch um die Krankenhausrechnung, die auf sie zukam. Ihr wurde eine Kopie des Polizeiberichts zugestellt, demzufolge die Schuld für den Unfall voll und ganz bei dem Fahrer der Limousine lag. Für den Fall, dass sich dessen Versicherung weigern sollte, den entstandenen Schaden zu begleichen, konsultierte Adele einen Anwalt. Der ließ durchblicken, dass es ihre Chancen im Falle eines Rechtsstreits entscheidend verbessern würde, wenn Bruce als gepflegter Amerikaner vor Gericht erschien. Als Doug daraufhin mit einem Friseur im Schlepptau im Krankenhaus aufkreuzte, war Bruce entsetzt. »Ich sagte ihm, dass ich ihn hasse und dass ich ihm das nie verzeihen würde«, so Bruce, als er die Anekdote in den 80er-Jahren auf der Bühne, zwischen zwei Songs, erzählte. Selbst heute fühlt sich Adele bei der Erinnerung an diesen Vorfall sichtlich unwohl, dabei hatten sie nur ihr Möglichstes versucht, um der Familie – und vor allem ihrem Sohn – größere Probleme zu ersparen. »Jeder machte sich über ihn lustig«, sagt sie. »Wir fühlten uns schrecklich. Ich hätte nie gedacht, dass ihm das so zusetzen würde.« Doch mit drei Kindern zu Hause und all den Rechnungen, die bezahlt werden mussten, benötigte die Familie das Geld dringender als Bruce seine Haare.
Dann wurde Ginny während ihres letzten Jahres auf der Highschool schwanger. Dass ihr Freund Michael »Mickey« Shave ein professioneller Rodeoreiter war, machte es der Familie nicht gerade einfacher, sich mit der Schwangerschaft abzufinden, die angesichts der herrschenden gesellschaftlichen und religiösen Ansichten eine schwere Bürde war, zumal es nicht nur um eine uneheliche Schwangerschaft, sondern auch noch um die eines Teenagers ging. Doch Ginny war nicht das erste Mädchen in ihrer Familie oder gar Nachbarschaft, das in eine solche Lage geraten war, daher atmete Adele einmal tief durch und tat, was getan werden musste. Das junge Paar wurde in einer bescheidenen Zeremonie getraut, die Familie gab nur ein kleines Fest und die jung Vermählten bereiteten sich darauf vor, dass für sie der Ernst des Lebens vorzeitig beginnen und sie beide in einer Art und Weise auf die Probe stellen würde, wie man es sich als Teenager nicht vorstellen kann.2
Wieder an seinen Küchentisch zurückgekehrt, kam Doug eines Abends ein Gedanke, der ihn fortan nicht mehr losließ: Er hatte genug. Genug von seiner Familiengeschichte, genug von den abschätzigen Blicken, genug von Freehold. Auf der Suche nach Sonne, Strand und einem Ort, der so weit wie irgend möglich von New Jersey entfernt war, führten ihn seine Gedanken nach Kalifornien, dem klassischen Sehnsuchtsziel all der Ostküstenbewohner, die einen Neuanfang wagen wollen. »Er wollte einfach hier raus«, sagt Adele. »Ich wollte nicht weg. Ich wollte Ginny nicht allein lassen, weil sie gerade das Baby bekommen hatte. Außerdem arbeitete ich seit dreiundzwanzig Jahren für denselben Mann. Aber Douglas sagte: ›Dann geh ich eben ohne dich.‹« Adele hörte die Verzweiflung in der Stimme ihres Mannes, und so brachte sie es nicht übers Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Sie traf eine Vereinbarung mit ihm: Es würde einige Zeit dauern – möglicherweise mehrere Monate –, bis sie das erforderliche Geld für diesen Schritt zusammengespart hätten, aber sie würden gehen. Und Doug ließ keinen Zweifel daran, dass er nie wieder nach Freehold zurückkehren würde.
Ende September 68 luden Tex und Marion Vinyard die Castiles und deren Freunde zu einem Fest ein, das in ihrem Haus inzwischen regelmäßig gefeiert wurde: Eine große Geburtstagsparty für Bruce und Theiss, die an aufeinanderfolgenden Tagen geboren worden waren. Oberflächlich betrachtet war es ein Familienfest wie jedes andere. Es gab Kuchen, belegte Brote, Chips und die übliche Auswahl an Foodtown Soda. Die Fotos in Marions Album – die entsprechenden Seiten sind übertitelt »19th Birthday Party for Our Boys, George and Bruce« – zeigen ein Haus voller schlaksiger, langhaariger junger Männer, allesamt frisch gewaschen und rasiert, in ihren Sonntagshosen, gebügelten Hemden und Collegepullovern – allesamt, mit Ausnahme von Theiss. Den sieht man mit wildem Bart und todschickem Glamour-Outfit der späten 60er, mit offenem Hemd, das den Blick auf die nackte Brust freigibt. Neben sich eine schlanke Blondine, die ihre Arme um seine Schultern legt. Auf einer anderen Aufnahme sieht man einen Hemd und Pullunder tragenden Bruce, der mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzt und sich über eine Gitarre beugt, während eine junge Frau ihn aus respektvollem Abstand verzückt beobachtet. Wenn sich Theiss diese Fotos, die die Unterschiede zwischen dem Frontman und dem Leadgitarristen der Castiles so eindrucksvoll festgehalten haben, heute anschaut, kann er sich ein Lachen nicht verkneifen: »Ja, das ist schon sehr aussagekräftig. Das vermittelt einen ziemlich genauen Eindruck davon, wie es damals war.«
Was die fröhlichen Geburtstagspartybilder nicht zeigen, ist, dass sich die Castiles wenige Wochen zuvor aufgelöst hatten. Wobei nicht das Ende die eigentliche Überraschung war, sondern eher die Tatsache, dass die Band überhaupt so lange bestanden hatte. »Wir hatten als kleine Greaser aus Freehold angefangen und endeten als langhaarige Hippies«, so Bruce. »Wir wurden alle älter und entwickelten uns weiter. Ich weiß noch, dass es irgendwelche Spannungen gab, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, worum es sich dabei drehte. Vielleicht hatte ich angefangen zu singen, eventuell ging es auch darum, dass wir andere Musik machen wollten.« Möglicherweise traf beides zu. Tief beeindruckt von den Singer-Songwritern Tim Buckley und Leonard Cohen, hatte Bruce den ganzen Winter über etliche Notizbücher mit Songtexten gefüllt, unter denen auch das verträumte »Clouds« (»As my mind bends clouds into dreams/That I like as the sun disappears into/The night I look and you have gone«) und das in seiner Surrealität fast schon wieder realistische »Slum Sentiments« (»Golden horses ride down the city streets/Starving children clutter beneath their feet … ’Cause they haven’t had enough to eat«) waren. In »Until the Rain Comes« donnert Apollo höchstpersönlich im Dienste der Offenbarung der Wahrheit über Wolken hinweg: »Upon reaching the ancient age of eighteen I have found/What is round isn’t round at all, and what is up may be down.« All diese Texte sind sehr schwermütig und romantisch, genau wie man es von einem jungen Musiker, der düstere Gedanken im Kopf und eine Gitarre in der Hand hat, erwartet. Mit einem komplett neuen Repertoire absolvierte Bruce zu Beginn des Frühjahrs ein paar Soloauftritte im Off Broad Street Coffee House in Red Bank und empfand eine ganz neue Art der Herausforderung, als er dort alleine, nur mit seiner Gitarre und seiner Stimme bewaffnet, auf der Bühne stand und seine persönlichsten Gedanken offenbarte.
Gleichzeitig war bei den Castiles, die inzwischen alle die Highschool abgeschlossen und ihre ersten Jobs angetreten hatten oder aufs College gingen, langsam die Luft raus. Für Rock’n’Roll-Verhältnisse war die Auflösung der Band längst überfällig; Teeniebands sind in der Regel ziemlich kurzlebige Erscheinungen. Obwohl sich alle über das unausweichliche Ende klar waren, wurde die letzte Phase noch sehr zermürbend. So waren Bruce und Theiss spätestens ab Mitte Juli nicht mehr in der Lage, auch nur noch ein vernünftiges Wort miteinander zu wechseln. Bei einer Show im Off Broad Street hielt ein Fan eine aufschlussreiche Szene mit der Kamera fest: Ein sichtlich genervter Bruce zeigt einem sichtlich gereizten, mit seinem Mikrofon umherfuchtelnden Theiss den Stinkefinger. Es herrschte also alles andere als eitel Sonnenschein bei den Castiles – und zwar noch bevor sie es mit der Polizei zu tun bekamen.
Der Vorfall ereignete sich in der ersten Augustwoche 1968. Gewiss waren nicht alle jungen Leute in Freehold den Drogen und anderen Lastern verfallen, die zu den Markenzeichen ihrer Generation geworden waren, dennoch fand die zuständige Polizeibehörde, dass die Menge an Drogen, die in der Stadt kursierte, und der Konsum derselben beunruhigende Ausmaße angenommen hatten. Und ganz falsch lagen sie mit dieser Einschätzung nicht. An Marihuana kam man seit dem Sommer 67 erstaunlich leicht heran, sofern man die richtigen Leute kannte. Im Sommer 68 beschafften dieselben Leute einem alles, was man haben wollte: LSD, Magic Mushrooms, Amphetamine, Tranquilizer, Kokain, DMT, Crystal Meth, Heroin – die ganze Palette. Wer gerade auf welche Drogen stand, war immer ein Gesprächsthema. Nachdem eine Gruppe Kiffer eines Tages auf die Idee kam, Halsbänder mit kleinen bunten scheibenförmigen Anhängern (Beigaben in Frühstücksflockenpackungen) als Code zu verwenden, mussten Eingeweihte nicht mehr lange raten: Grün stand für Gras, Gelb für LSD, Rot für Speed und so weiter. Für die sorglosen Kids aus Freehold war das alles nur ein großer Spaß, bis sich herausstellte, dass es in ihren Reihen einen Drogenfahnder gab oder zumindest jemanden, der einer sein wollte. Nachdem die Beamten die Farbcodierung kannten, brauchten sie nur knapp eine Woche, bis sie Namen, Adressen und Lieblingsdrogen ermittelt hatten.
Die Einsatzwagen brachen um vier Uhr morgens auf, und die Beamten statteten fast jedem Stadtviertel einen Besuch ab. Mitten in der Nacht hämmerten sie wild gegen Türen, wedelten mit Durchsuchungsbeschlüssen, sammelten ein, was zu finden sie erwartet hatten, und brachten die jungen Gesetzesbrecher ins Gefängnis. Im Morgengrauen machte sich in der ganzen Stadt Empörung breit. »Sie wohnten alle noch bei ihren Mamis und Papis, und dann kam die Polizei und nahm sie einfach mit!«, spottet Bruce. »Es war mitten in der Nacht! War das nicht unerhört? Es hatte doch noch nie Razzien gegeben. Nicht nur das Wort, auch das, was es bedeutete, war den Leuten hier fremd. Alle waren entsetzt. So etwas hier in River City?« Die Castiles waren von den Ereignissen direkt betroffen, denn auch Vinny Maniello, Paul Popkin und Curt Fluhr gingen den Drogenfahndern ins Netz. »Eines Morgens wachte ich auf und die Hälfte der Jungs war weg«, so Bruce. »Nur George und ich waren noch übrig, und wir sagten uns: ›Ok, das scheint der richtige Zeitpunkt zu sein, um einen Schlussstrich zu ziehen.‹«
Ein, zwei Tage später lernte Bruce zufällig John Graham und Mike Burke kennen, zwei Musiker aus New Shrewsbury, die etwas jünger waren als er (sechzehn oder siebzehn). Nach einer eher unbefriedigenden Zeit in einer Blues- und Stones-Cover-Band namens Something Blue waren der Bassist und der Drummer gerade auf der Suche nach einem Sänger und Gitarristen. Sie bekamen mit, wie Bruce von der Razzia in Freehold erzählte. Die drei Musiker unterhielten sich ein wenig und fanden heraus, dass sie alle eine große Vorliebe für Cream und die Jimi Hendrix Experience hatten – die besten psychedelischen Bluesbands, und zudem beides Trios. Sie beschlossen, sich bald wieder zu treffen, zumal für den gebuchten Castiles-Gig am 10. August im Le Teendezvous noch ein Ersatz-Act gefunden werden musste. »Ich war bereit für ein Powertrio«, sagt Bruce. »Ich glaube, wir haben ein oder zwei Abende geprobt und die Show am Wochenende gespielt. Und dann gab es kein Zurück mehr.«
Das Trio, das sich Earth (Kurzform von The Earth Band) nannte – und immer, wenn der ehemalige Castiles-Mitstreiter Bob Alfano mit seiner Hammondorgel zu einem Gig mitkam, als Quartett auftrat –, erarbeitete sich ein Repertoire aus den beliebtesten Songs von Cream, Jimi Hendrix, Traffic, den Yardbirds und Steppenwolf, deren gerade als Single veröffentlichtes »Born to Be Wild« üblicherweise die Schlussnummer bei ihren Auftritten bildete. Da sie sich damit ideale Jam-Nummern herausgepickt hatten, war es für sie – auch dank Bruce’ immer dynamischer werdendem Gitarrenspiel – ein Leichtes, lange Konzerte zu geben. Schnell wurden zwei aufstrebende junge Manager namens Fran Duffy und Rick Spachner auf sie aufmerksam. Sie überredeten Bruce, Burke und Graham, ihre Karriere in ihre Hände zu legen und organisierten für die Band verschiedene Auftritte, die sie den Herbst über beschäftigt hielten.
Zur gleichen Zeit schrieb sich Bruce, obwohl er sich in dem akademischen Umfeld eigentlich deplatziert fühlte, auf Bitten seiner Eltern für ein weiteres Semester am Ocean County Community College ein. Seine neue Bandkollegen, die aus gutsituierten Verhältnissen stammten und aus einer Gegend, in der man sehr viel Wert auf Bildung legte, halfen ihm dabei, durchzuhalten. »Sie waren gescheit, machten einen gebildeten Eindruck und kamen aus Familien, in denen Bildung eine große Rolle spielte«, sagt Bruce. »Diese Jungs gingen aufs College, was sie von meinen Kumpels aus Freehold unterschied – die gingen nach Vietnam.« Die Band probte im Keller der Grahams. Bruce lernte die Vorstadtidyllenmentalität von New Shrewsbury kennen und ließ sich sogar eine Zeit lang darauf ein. Graham und Burke lasen leidenschaftlich gern und versuchten auch, selbst zu schreiben. Daher sprachen sie mit Bruce, wenn sie sich lange genug über Musik unterhalten hatten, oft über eine mögliche Zukunft als Schriftsteller. Bruce, der mit einem Mal in der Welt der Intellektuellen durchaus auch eine Perspektive für sich sah, erzählte seinen Freunden, dass er sich nach seiner zweijährigen Ausbildung am OCCC an der Journalistenschule der Columbia University einschreiben wolle. Daran, dass er das Zeug dazu hatte, hatten Graham und Burke nicht den geringsten Zweifel. »Er beeindruckte mich tief und war sehr sympathisch«, erinnert sich Burke. »Ein sehr netter Kerl, witzig, gescheit, mit einem breit gefächerten Wissen über Musik«, sagt Graham. »Und auf der Bühne kannte er keine Scheu, da ging er total aus sich raus.«
Der Verwaltungsrat des Ocean County Community College war weniger zuversichtlich, was die Zukunft seiner noch nicht als staatlich anerkanntes Bildungsinstitut zertifizierten Institution anbelangte (die Zertifizierung erfolgte 1969). Man fürchtete ähnliche Ausschreitungen wie an vielen anderen Colleges und Universitäten, an denen es zu Protesten, offenem Widerstand und teils sogar regelrechten Aufständen gekommen war. Sie hätten das Ende für das OCCC bedeuten können. In der Absicht, das zu verhindern, entschloss sich der Verwaltungsrat, proaktiv zu werden: Man hatte ein Auge auf Studenten, die aus der Masse hervorstachen. Nicht um sie zu überwachen oder sie aus fadenscheinigen Gründen des Colleges zu verweisen, aber um sicherzugehen, dass alles in geregelten Bahnen verlief und niemand plante, irgendetwas – oder irgendjemanden – in die Luft zu jagen.
Natürlich hatten sie Bruce sofort im Visier. »Nur wenige von uns hatten lange Haare«, so Bo Ross, »und er gehörte dazu. Wir saßen alle zusammen an einem Tisch im Studentenwerk, vertrieben uns die Zeit und unterhielten uns.« Bruce, so erinnert er sich, war ein eher schweigsamer Typ; er trug eine Sonnenbrille mit Metallgestell und gelben Gläsern, mit der er aussah wie ein Auftragskiller. Meist hing er seinen Gedanken nach. Die anderen Studenten beeindruckte oder vielmehr beunruhigte er dadurch, dass er in einem stillen Korridor urplötzlich aus vollem Halse drauflossingen konnte. Wieder einmal machte er einen derart sonderbaren, ja verstörten Eindruck auf andere, dass sich selbst die eher großmäuligen Sportskanonen, die sich über die Hippies lustig machten, von ihm fern hielten. »Ich glaube, er wirkte einfach zu unheimlich, um sich mit ihm anlegen zu wollen«, sagt Ross.
Vielleicht war diese demonstrative Andersartigkeit nur eine weitere Pose – eine Rückbesinnung auf jene Haltung, die ihm als Kind geholfen hatte, andere auf Distanz zu halten. Im Kurs für Kreatives Schreiben öffnete sich Bruce. Seine in Schönschrift auf liniertem Collegepapier verfassten Kurzgeschichten lesen sich wie düstere Betrachtungen einer Welt, der ihre Humanität abhanden gekommen ist. In einer spioniert der Erzähler einer Frau hinterher, die nachts allein unterwegs ist, »liebkost allein von den eisigen Händen des Mondes. Sie teilte ihre Liebe und wurde erdrückt von der Gier jener, denen sie sie gab.« Sein Lehrer benotete die Geschichte mit einer Eins und notierte sein Lob an den Rand: »Oh Bruce, Sie haben eine empfindsame Seele … zumindest nach dem zu urteilen, was Sie zu Papier bringen.« Am Ende einer weiteren Arbeit, für die er ebenfalls eine Eins bekam, lobt er Bruce für seine einfallsreiche Bildsprache und die überzeugenden Metaphern, bittet ihn zum Schluss jedoch, etwas mitteilsamer zu sein: »Welche Richtung möchten Sie einschlagen? Wenn ich Ihr Ziel nicht kenne, kann ich Ihnen nicht helfen.«
Bruce’ beeindruckendste Geschichte ist zugleich seine verstörendste. Selbst der Lehrer, der ihn so bewunderte, kommentiert die Eins, mit der auch diese Arbeit ausgezeichnet wurde, mit den Worten: »Ich kann nicht behaupten, dass ich an dieser Geschichte Spaß hatte.« Unbarmherzigkeit und Elend dominieren in dieser Erzählung von einem Mädchen in einem dünnen, weißen Cocktailkleid, das einer »gesichtslosen Kreatur« zum Opfer fällt, die »ihren zerbrechlichen Körper auf dem harten Bürgersteig übel zurichtet«. Anschaulichen Beschreibungen von den Wunden des Mädchens und den blutigen Fetzen ihres Kleides folgt ein letzter Blick auf den entstellten Körper, bevor das Mädchen langsam und elendig auf dem Bürgersteig krepiert, »gekreuzigt auf dem Altar der Nacht durch der Menschen Gewalt.«3
Irgendwann während seines dritten Semesters am OCCC fand Bruce eine Nachricht in seinem Postfach, in der er gebeten wurde, einen Gesprächstermin mit dem Vertrauenslehrer zu vereinbaren. Bruce kam dem nach und musste eine, wie er sagt, sehr persönliche und schmerzhafte Unterredung über sich ergehen lassen. »Mir wurde gesagt, dass sich Leute über mich beschwert hätten«, erzählt er. »Ehrlich, das war alles, was ich erfuhr. Es war bizarr. Ich fragte: ›Worüber?‹ Aber es kam nichts.« In früheren Schilderungen berichtete Bruce, dass seine Kommilitonen eine Petition eingereicht hätten, in der sie verlangten, ihn des Colleges zu verweisen, weil er ein zu großer Sonderling sei, um ihn länger dulden zu können. Doch Bruce’ Kommilitone Bo Ross erscheint diese Geschichte ziemlich weit hergeholt, zumal Bruce nicht der Einzige war, der zu einer solchen Unterredung einbestellt wurde. Entschlossen, den befürchteten Studentenaufstand im Keim zu ersticken, knöpfte sich der Verwaltungsrat all jene Studenten vor, die sich jeden Mittag in der Cafeteria am Langhaarigentisch einfanden.
»Wir mussten alle zu so einer Unterredung«, so Ross. »Der Typ war echt cool. Er fragte uns nach unserer Meinung zu bestimmten Dingen, und mir gefiel das sogar irgendwie.« Doch für Bruce, der immer noch schwört, der Vertrauenslehrer habe mit ihm über eine Petition für seinen Collegeverweis gesprochen, war es nur eine weitere Schmähung in der langen Reihe schulischer Demütigungen, die ihm widerfahren waren. »Es bestärkte mich gewissermaßen in der Ansicht, dass ich irgendwo war, wo ich nicht hingehörte«, sagt er. »Ja, es gab diesen einen Kurs [Kreatives Schreiben], der mir Spaß gemacht und der mir tatsächlich etwas gebracht hat, weil er mich zu etwas ermutigte. Aber der Rest gehörte komplett in die Kategorie ›Das ist nicht dein Ding.‹«
Earth gab im Verlauf des Herbstes eine Reihe von Konzerten in den bekannten Clubs von Monmouth County, darunter das Le Teendezvous, das Off Broad Street Coffee House und das Hullabaloo, und die Band schaffte es, viele Zuschauer zu begeistern und sich einen Namen zu machen. Zwar gab die Gruppe auch ein Semesteranfangskonzert im OCCC, doch Bruce achtete streng auf eine strikte Trennung zwischen seinem Leben als Musiker und dem als Collegeschüler. Selbst seine Kumpel am Hippietisch wussten nichts von Earth oder ahnten auch nur, dass Bruce Gitarre spielen konnte, bis einer von Bo Ross’ Freunden eines Tages von einer großartigen neuen Band erzählte, die er gesehen hatte. »Er sagte: ›Heilige Scheiße, dieser Typ ist echt klasse‹«, erinnert sich Ross. Und er war nicht nur von Bruce’ Fähigkeiten als Gitarrist angetan. »Was ihn am meisten beeindruckt hatte, war, dass er das ganze Publikum mitriss, als er auf die Bühne kam. Er besaß einfach eine sagenhafte Präsenz.« Ein paar Tage später brachte ein anderer Tischgenosse ein Foto von Bruce auf der Bühne mit. »Er sah toll aus, wie er da oben stand. Und wir hatten ihn für einen Sonderling gehalten. Wir staunten nicht schlecht.«
Zur gleichen Zeit organisierten Spachner und Duffy für Earth einen Gig im berühmten New Yorker Fillmore East, auf dessen Bühne damals fast jede bedeutende Hippie- und Pychedelic-Band auftrat, die nach New York kam. Bruce war seinerzeit Stammgast im Fillmore – er sah sich dort, meist alleine, die Bands an, die gerade in der Stadt waren. Er machte sich ein Bild von dem, was sie musikalisch und showtechnisch zu bieten hatten und was er davon für seine eigenen Auftritte gebrauchen konnte. An dem Tag, als Earth auf der Bühne standen, war das Fillmore allerdings offiziell geschlossen. Das Publikum – wenn man es denn so nennen mag – bestand aus der Besetzung von NYPD: Now You’re Practically Dead, einem pornografisch angehauchten C-Movie mit einer wilden Partyszene, die auf einem Rockkonzert spielte. Earth sollten die Liveband mimen, wobei sie allerdings keine eigenen Songs spielten, sondern zu einem Playback von Rhinoceros4 auftraten, während die Schauspieler und Statisten tanzten, sich die Kleider vom Leib rissen und zwischen ihnen auf der Bühne umhertollten. »Während wir zum Playback spielten, befahl der Regisseur einer heißen Braut, ihr Top auszuziehen«, so Burke. »Bruce hatte diesen gewissen Gesichtsausdruck.« Im weiteren Verlauf des Abends verlegte der Regisseur die Action auf ein Beleuchtungsgerüst oberhalb der Bühne; hier wurde eine Sexszene gedreht, die im entscheidenden Moment von der Aufnahme eines Slips unterbrochen wird, der durch das Scheinwerferlicht auf die Bühne hinabsegelt und direkt auf den Stimmwirbeln von Bruce’ Gitarre landete. Dass der Film nie veröffentlicht wurde, hatte auf die Gage keinen Einfluss. Die Band bekam für ihre Mitwirkung die in ihren Augen außerordentlich hohe Summe von dreihundertfünfzig Dollar.
Der nächste (und letzte) New Yorker Gig der Band fand am 28. Dezember im Crystal Ballroom statt, einem 1800 Personen fassenden Saal im Diplomat Hotel an der West 43rd Street. Die Veranstaltungsorganisatoren hatten den Saal frühzeitig angemietet, mussten allerdings bald feststellen, dass sie eine entscheidende Sache nicht bedacht hatten: Earth waren in New York völlig unbekannt; die Fans der Band lebten weiter entfernt an der Küste von New Jersey. Da sie ein finanzielles Desaster befürchteten, kamen sie auf die Idee, Busse zu chartern und den Fans aus New Jersey einen kostenlosen Shuttle-Service nach New York und zurück anzubieten. Nachdem sich das Veranstaltungskomitee des OCCC bereit erklärt hatte, für die Show zu werben, wurden endlich Tickets verkauft. Als es soweit war, war das Konzert fast ausverkauft und die Band spielte vor dem größten Publikum, das sie je haben sollte.
Unter den Zuschauern befanden sich auch ein paar ganz besondere Gäste. Bruce, Graham und Burke erfuhren einen Tag später davon. Spachner erzählte ihnen, er sei von den Mitarbeitern zweier Major Labels5 nach dem Konzert mit Fragen gelöchert worden, und beide seien daran interessiert, die Band unter Vertrag zu nehmen. Allerdings, so fügte Spachner hinzu, könne daraus nur dann etwas werden, wenn alle Musiker zuvor einen Vertrag unterzeichneten, in dem seine und Duffys Funktion als Bandmanager offiziell geregelt wurde. Das Problem war, dass Graham und Burke noch zu jung waren, um geschäftsfähig zu sein, weshalb sie einen Vertrag nur mit Einwilligung ihrer Eltern unterzeichnen durften, die jedoch alles andere als erfreut waren über die ganze Geschichte, weil ihre hoffnungsvollen Sprösslinge ihrer Ansicht nach ohnehin schon zu viel Zeit in ihr Hobby investierten. Spachner und Duffy wollten noch einmal versuchen, die Eltern zu überzeugen. »Aber mir war gleich zu Beginn des Gesprächs klar, dass ich meine Hoffnung begraben konnte, weil die Situation zu Hause sowieso ziemlich angespannt war«, erzählt Burke. »Ich hatte ein miserables Verhältnis zu meinen Eltern, und bei John sah es sogar noch schlimmer aus.« Und so wurden die Verträge nie unterzeichnet.
Earth hatten Anfang 69 noch eine Handvoll Auftritte, darunter auch eine Tanzveranstaltung im Studentenwerk des Ocean County Community College6 und ein paar Gigs im Le Teendezvous. Am 14 . Februar sollte die Band in der Paddock Lounge in Long Branch auftreten, doch die Show war so schnell ausverkauft, dass die Veranstalter ihr »St. Valentines Day Massacre« in einen größeren Saal im Clubhaus der Italian American Men’s Association verlegten. Auch dieser Auftritt war ein voller Erfolg, vor allem für Bruce, dessen Gitarrenkünste und mitreißende Performance einen hochgewachsenen jungen Mann, der in der hinteren Hälfte des Saals stand, ganz besonders begeisterte. Vini Lopez kannte Bruce noch aus seinen Tagen als Drummer für Sonny Kenn. Die Band des in der Region sehr bekannten Gitarrengenies hatte oft auf denselben Veranstaltungen gespielt wie die Castiles. Als Lopez klar wurde, dass dieser Gitarrist genau der Typ war, von dem seine Musikerkollegen in Asbury Park ständig erzählten, fuhr er nach Long Branch, um ihn sich mit eigenen Augen anzusehen. Er wurde nicht enttäuscht. »Stellen Sie sich den Rockstar von heute vor. Dort stand er, direkt vor mir, nur eben als Jugendlicher«, so Lopez. »Mehr brauchte es nicht, um mich zu überzeugen.«
Es war der letzte öffentliche Auftritt von Earth.
1 Freilich erlaubte ihm der Besuch des Colleges auch, sich dem Militär und dem Arbeitsmarkt noch eine Weile zu entziehen.
2 Vierundvierzig Jahre später sind die beiden immer noch verheiratet und stolz auf ihre drei Kinder und drei Enkel.
3 Einzelheiten wurden natürlich verändert, aber jeder, der sich in der Familiengeschichte der Springsteens auskennt, muss unweigerlich an Virginia Springsteen denken, die ein (gesichtsloser) Truck auf dem Bürgersteig der McLean Street überfuhr.
4 Eine aufstrebende Hardrockband, die bei Elektra Records unter Vertrag war und deren Konzept und Sound Bruce als Songwriter und Performer stark beeinflussen sollten.
5 Burkes und Grahams Erinnerung zufolge waren es Columbia und Elektra.
6 Wie sich die Studenten, die so viele Gelegenheiten hatten, ihn als Gitarrist und Sänger einer immer beliebter werdenden Rockband auf der Bühne zu erleben, weiterhin über Bruce lustig machen konnten, sei der Vorstellung eines jeden Einzelnen überlassen.