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Kapitel 5
ROCK’N’ROLL UND REVOLUTION

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Bruce hatte sich seit den Tagen seiner romantischen Jugendgedichte und seiner ersten Singer-Songwriter-Experimente als Texter merklich weiterentwickelt. Die ätherischen Damen, durch die Lüfte schwebenden Vögel und hungernden Kinder seiner frühen Collegearbeiten waren Reflexionen über die eigene Kindheit gewichen und der Beschäftigung mit allem, was ihn als Jugendlichen plagte: das Militär, die Polizei, Lehrer und Geistliche. Trotzdem war sein Talent als Texter in den späten 60ern noch nicht voll ausgebildet. Die urwüchsige Kraft seiner Musik hingegen zog den Hörer von Anfang an in seinen Bann. In dem nur mit einer Gitarre und Lopez’ glockenreinem Blockflötenspiel instrumentierten »Sister Theresa« wird das Gelübde christlicher Nonnen ganz unverhohlen erotisiert. »You say you’re married to Jesus Christ/And that he’s in your bedroom every night«, singt Bruce. »Come with me for a while/I promise I make you smile.« Zusammen mit »Resurrection«, das wegen seiner an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Abrechnung mit dem Katholizismus bei den Fans sehr beliebt war, bildete diese Nummer häufig den Abschluss seiner Shows. Der im wahrsten Sinne des Wortes größte Knaller aber war »The Wind and the Rain«, ein Song mit einem furiosen Höhepunkt, auf den die Band bemerkenswerterweise wiederholt genau dann zusteuerte, wenn es zu großangelegten Polizeirazzien, unerwarteten Wolkenbrüchen und einmal sogar zu einem Blitzeinschlag in dem Gebäude kam, in dem sie gerade auftraten. »Wuuuusch, fuhr er durch den ganzen Saal«, erzählt Lopez. »Er löste einen ganzen Funkenregen aus … als hätte man Hunderte Wunderkerzen entzündet.«

Bruce schrieb auch etliche Anti-Kriegs-Lieder, wie »We’ll All Man the Guns«, »The War Is Over«, »The War Song« und viele mehr. Doch ihren Texten fehlte aufgrund der selbstgerechten Empörung ihres Schöpfers oft die entscheidende Schärfe. So gleicht in »America Under Fire« die Heimatfront einem Höllenreigen, in dem besiegte, missgestaltete Soldaten, Frauen, die zu Huren geworden sind, und blinde, rasende Verrückte die Straßen bevölkern. Sollte trotz all dieser Schrecken beim Hörer noch nicht angekommen sein, wie fehlgeleitet diese Welt ist, so wird dies spätestens im Schlussteil klar mit seinem sarkastischen musikalischen Zitat der Titelmelodie von The Mickey Mouse Club.

Im Vergleich zu der mitreißenden, kraftstrotzenden Musik hinken die Texte fraglos hinterher. Doch selbst in diesen jungen Jahren sind seine Ambitionen als Songwriter beachtlich, insbesondere, wenn es darum geht, mit den eingefahrenen Konventionen des Rock’n’Roll zu brechen. »Bruce begann, ungewöhnliche Kombinationen auszuprobieren«, sagt Steve Van Zandt. »Heraus kamen epische, lange Songs. Ich wüsste nicht, dass irgendjemand sonst mit so vielen Akkordwechseln gearbeitet hätte. Höchstens die Mothers of Invention, wobei ich nicht glaube, dass er ein großer Fan von ihnen war.« Bruce erinnert sich daran, dass er ein Faible für die Allman Brothers hatte. »Sie spielten so eine Art Südstaatenrock, zumindest galt das für einige ihrer Stücke«, sagt er. »Prog-Rock, Südstaatenrock. Die Allman Brothers verbanden verschiedene Stilrichtungen miteinander und haben mit diesem Mix viele andere Musiker inspiriert. Ich fand an ihren Songs die komplexen Arrangements am interessantesten.«

Sein eigener Song »Garden State Parkway Blues« besteht aus drei oder vier verschiedenen Songs, die sich – in Sound, Stil und Gesang – deutlich voneinander unterscheiden und von mehreren Instrumentalparts und Soli zusammengehalten werden. Das auf der Bühne oft dreißig Minuten oder länger dauernde Stück beginnt mit einem eingängigen Rockgroove in einem moderaten Tempo, der einen Arbeiter auf seinem Weg vom Bett zum Frühstück (»Whoa, my Kellogg’s Corn Flakes are my very best friend!«) und von dort bis auf den Fahrersitz eines billigen Gebrauchtwagens mit Startproblemen (»But I don’t care … it’s really got a heart«)1 begleitet.

»Punch in at nine, punch out at five«, heißt es in dem immer wilder werdenden Sprechgesang des darauf folgenden Refrains, der zu einem Gitarrensolo in doppelter Geschwindigkeit überleitet, an das sich ein weiterer gesprochener Teil anschließt, in dem von unbezahlten Rechnungen und nicht nachgekommenen Verpflichtungen die Rede ist. Weiter geht es mit einer von Gitarren und Drums unterlegten Schilderung eines endlosen Highways voller »two-eyed monsters«. Diese wird von einer verträumten Fantasie aus Gesang und Blockflöte abgelöst, in der Douglas Fairbanks, Peter Pan und die Wachen des Buckingham Palace ebenso eine Rolle spielen wie der berüchtigte Hell’s-Angels-Boss Sonny Barger. Es folgen Segelschiffe, Streitwagen, »sunlight soldiers« und ein namenloser Kerl, der sich weigert, mit seinem Wagen auf der Autobahn zu fahren. Schließlich geht die Band zu einer lebhaften Drei-Akkorde-Improvisation über (die drei Jahre später zum Schlussteil von »Kitty’s Back« umfunktioniert wird), und die Traumwelt findet ihre Inkarnation in einem Musiker: »playing with his guitar singing, he goes down upon the green hillside … and sunlight soldiers dance and sing before your very eyes.«

Selbst »Jungleland«, das zehnminütige Miniepos von Born to Run, wirkt beinahe blass im Vergleich zu »Garden State Parkway Blues« mit seiner arabesken, modularen Struktur. Die Songs aus der Steel-Mill-Phase landeten schon bald in der Schublade, und Bruce hat sie seither – vierzig Jahre sind inzwischen vergangen – nie mehr öffentlich gespielt.2 Zumindest räumt er heute ein, dass sie ihm »Spaß« bereitet haben und er den Bezug zu seinen späteren Stücken immer noch heraushört. »Später habe ich die Sachen gestrafft, wie bei ›Rosalita‹ und ein paar anderen frühen Nummern, in denen es etliche Drehungen und Wendungen gibt«, sagt er. »Diese Dinge haben mich einfach gereizt. Steel Mill spielten solche Sachen eine ganze Zeit lang, und den Leuten hat es gefallen.«

Tinker West gefiel es mit Sicherheit. Aber Bruce stand gerade erst am Anfang seiner Karriere, und niemand konnte wissen, wie weit er und Steel Mill es bringen würden. Zu einer Zeit, zu der The Grateful Dead, Jefferson Airplane, Santana und eine ganze Reihe anderer Hippie-Bands weit weg im fernen San Francisco waren und die Herren von der Plattenindustrie es mit dem Aufwand bei der Suche nach neuen Talenten nicht übertrieben, wusste Tinker genau, wo seine Band die besten Aufstiegschancen hatte.

Zunächst wandte sich West an seinen Freund Doug »Goph« Albitz, der zuletzt mit Wavy Gravy in Woodstock zusammengearbeitet hatte. Hauptberuflich leitete er zu jener Zeit die Küche des Esalen Instituts, das einige Fahrtstunden südlich von San Francisco in Big Sur lag. Das Esalen Institut war ein beliebter Meditations- und Erholungsort für begüterte Hippies und zog mit seiner Mischung aus Exklusivität und alternativen Idealen einige der seinerzeit berühmtesten Künstler und Musiker an. Die Beatles hatten (ohne Paul McCartney) auf Esalens grünen Hügeln meditiert. Auch Bob Dylan machte hier eine Stippvisite und wies damit Simon and Garfunkel, Arlo Guthrie und Joan Baez den Weg. Die meisten dieser Künstler traten auch in Esalens Kunstscheune mit ihrem wunderbaren Meeresblick auf. Als Goph erwähnte, dass das Institut noch nach einer Band für seine End-of-the-Sixties-Sylvester-party suche, nahmen die Dinge ihren Lauf.

Am Tag nach Weihnachten setzte sich der kleine, aus zwei Wagen bestehende Konvoi in Bewegung: West und Bruce reisten in Wests restauriertem 48er Ford Pickup; Roslin, Lopez und Federici legten die Strecke in einem Kombi zurück. In Memphis wurde die Truppe getrennt, weil West, der bis dahin am Steuer gesessen hatte, eine Pause einlegen musste. Er hielt am Straßenrand und bat Bruce, das Steuer zu übernehmen.

Bruce hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet, weil er zu jener Zeit alles andere als ein versierter Autofahrer war. Seit dem relativ disharmonischen Ende seiner ersten Fahrstunde mit Doug hatte er kaum noch hinterm Steuer gesessen. »Ich hatte quasi einen Versuch, dann hieß es, du kannst es nicht, mit dir hat es keinen Zweck.« Die wenige Erfahrung, die er in den paar Stunden gesammelt hatte, in denen er mit Pam Brackens Automatik-Limousine über den Parkplatz der Challenger-Surfbrettfabrik gekurvt war, half ihm bei Wests altem Pickup mit der hakeligen Schaltung nicht viel weiter.

»Ich musste ihm alles erklären: ›Tritt das Kupplungspedal. Bewege den Schalthebel hierüber und nimm dann langsam den Fuß vom Pedal‹«, erinnert sich West. »Die Schaltung schleifte hörbar und wir ruckelten los über den Highway, aber letztendlich bekam er den Wagen ans Laufen, und solange er nicht anhalten musste, war alles in Ordnung.«

Am 30. Dezember trafen Bruce und West kurz nach den anderen in Esalen ein. Sie stellten ihr Gepäck im Haupthaus ab und machten sich sogleich auf zur Kunstscheune, wo sie sich die nächsten Stunden den Straßenstaub von Fingern und Zehen spielten. Dann brachte ihnen eine freundlich lächelnde Frau ein frisch gebackenes, noch dampfendes Brot und einen Tontopf mit selbstgemachter Butter. Sofort stürzten sich die Jungs auf den Willkommensgruß, schnitten sich zwei Zentimeter dicke Scheiben von dem warmen, ein wenig herb nach Kräutern duftenden Brot ab und verschlangen es mit großem Appetit. Durch das offene Scheunentor sahen sie Schäfchenwolken über den Himmel ziehen und die sanften, glitzernden Wogen des Pazifiks, auf denen sich das Sonnenlicht brach. Das alles wirkte so ungemein idyllisch, so traumhaft, so unwirklich, dass sich keiner – nicht einmal die gestandensten Kiffer unter ihnen (also alle außer Bruce) – fragte, woher das Brot seinen wunderbaren, süßlich-krautigen Beigeschmack hatte.

»Gras aus Big Sur war damals das beste im ganzen Land«, sagt Albitz. »Und es wuchs einfach überall, also wurde es auch bei allen möglichen Gelegenheiten beigegeben.«

Wir wissen nicht, wie viel der unentwegt hungrige Bruce von dem Brot aß oder was der junge Mann, der sich so sehr der strengen Selbstkontrolle verschrieben hatte, von seiner unerwarteten Bekanntschaft mit der bewusstseinserweiternden Substanz hielt. »Ich weiß nur, dass wir alle davon gegessen haben«, sagt Lopez. »Und dass dann alles ein bisschen merkwürdig wurde.«

Die Proben waren damit jedenfalls beendet. Lopez, Federici, Roslin und Bruce legten ihre Instrumente beiseite, um sich das Hippie-Paradies, von dem sie schon so viel gehört hatten, genauer anzusehen. Bruce und Lopez schlenderten über die große Hauptwiese und stolperten dabei förmlich über eine Gruppe spirituell Suchender, die sich weiße Laken umgehängt hatten und über die Wiese kugelten. »Irgendwer erklärte uns, dass sie Amöben bei der Phagozytose seien«, erinnert sich Lopez. »Wir sahen uns an, gingen weiter und sagten: ›Aha, so findet man also Zugang zu seinem verborgenen Innersten. Warum sind wir da nur nicht selbst drauf gekommen?‹« Dann fanden die beiden Musiker einen Weg, der in die Hügel oberhalb von Esalen führte. Eine Weile kletterten sie durch Dickicht und über felsigen Grund, genossen die Stille und die Sonne. Lopez bemerkte, dass etwas im Unterholz raschelte. Er beugte sich hinunter, rollte einen Stein zur Seite und stieß auf »diese verdammte, monstermäßige Gila-Krustenechse. Als wir das sahen, rasteten Bruce und ich völlig aus und rannten zurück nach Esalen.«

Am 2. Januar traten Steel Mill noch ein zweites Mal in Esalen auf, bevor sie sich auf den Weg nach San Francisco machten, um an einem Wettbewerb teilzunehmen, den die Booker des berühmten Konzertveranstalters Bill Graham ausrichteten. Bei diesem Contest traten zwanzig Bands gegeneinander an, und dem Sieger winkte die Aufnahme in Grahams Vorgruppenliste. Diese Wettbewerbe fanden regelmäßig im Fillmore West statt, der Eintrittpreis war niedrig (zwei Dollar pro Ticket) und das Publikum hatte nichts anderes zu tun als zu trinken, zu lachen und Spaß zu haben. Bruce wurde ziemlich nervös, als er auf eine Band namens Grin aufmerksam wurde, die ein junges Gitarrengenie namens Nils Lofgren gegründet hatte.

Der aus Maryland stammende Lofgren hatte die Highschool geschmissen, um in Kalifornien Karriere als Musiker zu machen, und keiner hatte mehr gestaunt als er, als Neil Young ihn dazu auserkoren hatte, auf seinem 1970er Album After the Goldrush zu spielen und ihn auf der nachfolgenden Tour zu begleiten.3 Bruce schüchterte das riesige Talent seines jüngeren Kontrahenten zunächst ein. »Um nichts auf der Welt trete ich nach diesem Kerl auf«, grummelte er, nachdem er sich einen Eindruck von Lofgrens Fingerfertigkeit bei einem seiner Soli verschafft hatte. Doch als Steel Mill schließlich auf die Bühne mussten, waren Bruce’ Selbstzweifel wieder verflogen, und als er und Lofgren sich persönlich kennenlernten, waren sie sich auf Anhieb sympathisch. »Als ich Nils zum ersten Mal traf, war es, als würden wir uns schon lange kennen«, sagte er einmal. »Wir hatten dasselbe Verständnis von Musik und interessierten uns für dieselben Dinge.«

Grahams Agenten gaben nach dem Wettbewerb zu verstehen, dass sie sehr angetan waren, eine verbindliche Zusage gaben sie jedoch nicht. Das war nicht weiter schlimm, denn West hatte der Band für den 10. Januar bereits einen Auftritt am College of Marin organisiert. Drei Tage später folgte ein Gig im Vorprogramm von Boz Scaggs im Matrix Club. Phillip Elwood vom San Francisco Examiner, der für sein Blatt einen Bericht über die Show des Headliners schreiben sollte, widmete neunzig Prozent seines Artikels dem Auftritt von Steel Mill. »Noch nie hat mich eine unbekannte Band dermaßen begeistert«, schrieb er und erklärte, dass ihm Steel Mill mit ihrer Show »einen der denkwürdigsten Rockmusik-Abende seit Langem« beschert hätten. Elwood lobte Bruce’ Songwriting, vor allem die dramatischen Pausen und Einsätze. Er schwärmte von »Lady Walking Down by the River« wegen seiner überzeugenden Lyrics und seiner gitarrenlastigen Schlusssequenz, die Elwood als »sehr, sehr heavy« bezeichnete.

Am nächsten Tag rief Bill Graham an, der Lopez in Oakland erreichte, wo die Band bei Linda Mendez übernachtete, einer Freundin von West, die sich bereit erklärt hatte, die Jungs bei sich aufzunehmen. Graham gratulierte Lopez zu der positiven Kritik im Examiner und bot der Band einen Auftritt im Vorprogramm des Bluesgitarristen Elvin Bishop an, der im Matrix spielte. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Band musste auf der Stelle ihre Sachen packen und in knapp drei Stunden auf der Bühne stehen. Nach einer rasanten Fahrt über die Bay Bridge hatten sie es tatsächlich rechtzeitig geschafft. Bruce zählte den ersten Song ein und Steel Mill ließen es wie gewohnt krachen.

Das Geld, das sie verdienten, war nicht der Rede wert. Roslin erinnert sich, schlappe fünf Dollar bekommen zu haben. Aber das elektrisierende Gefühl, im Epizentrum der amerikanischen Rockszene aufzutreten, hielt sie bei der Stange. Und die kleine Fangemeinde, die sich in ein, zwei Colleges in der Umgebung um sie bildete, nährte ihre Zuversicht. Wer wusste schon, wohin das alles führte? So lange die Band immer besser wurde und dabei war, in der wichtigsten Rock’n’Roll-Metropole an der Westküste Fuß zu fassen, ergab alles einen Sinn.

Alles, außer der zunehmend angespannten Atmosphäre in der Band. Das größte Problem war Roslin, dem zwei Mädchen mit großen Kulleraugen den Kopf verdreht hatten. Sie boten dem attraktiven Bassisten nicht nur einen Platz in ihrer Wohnung an, sondern teilten auch ihre Drogen und wahrscheinlich auch ihr Bett mit ihm. Roslin zögerte keinen Moment, dieses Angebot anzunehmen. Seine neuen Lebensverhältnisse vereinnahmten ihn derart, dass er Bandproben, Besprechungen und auch die gelegentlichen Soundchecks regelmäßig ausfallen ließ. Seine Bandkollegen waren über diese plötzliche Unzuverlässigkeit nicht erfreut. Besonders verärgert war Bruce, für den es nichts Wichtigeres gab als die Band.

Dass Bruce in Kalifornien oft mürrisch wirkte, hatte allerdings auch mit seinen unregelmäßigen Besuchen bei seinen Eltern und seiner kleinen Schwester zu tun, die in San Mateo wohnten. Doug, Adele und Pam hatten sich im Sommer zuvor in der Bay Area niedergelassen. Nachdem sie ein, zwei Tage lang erfolglos die Umgebung von San Francisco erkundet hatten, entdeckte Adele ein Maklerbüro, das jenem, in dem sie in Freehold so viele Jahre lang gearbeitet hatte, sehr ähnlich war. Sie fragte den ersten Angestellten, der ihr über den Weg lief, nach einer Wohngegend, in der »Leute wie wir leben«, und folgte seiner Wegbeschreibung in die Arbeitersiedlung auf der Halbinsel südlich von San Francisco, wo sie schließlich eine kleine Wohnung mieteten. Doug fand eine Stelle als Fahrer eines Flughafen-Shuttlebusses, und obschon auch die ausdauernd scheinende Sonne an ihrem neuen Wohnsitz seine dunklen Gedanken nicht vertreiben konnte, verbreitete sich so etwas wie Optimismus unter ihnen. »Es schien wirklich besser zu gehen«, sagt Bruce. »Soweit ich das beurteilen konnte, hatten sie dort tatsächlich ein schöneres Leben.« Dennoch beendete Doug seine Tage wie eh und je in der düsteren Einsamkeit einer vollgequalmten Küche. »Wir kamen einander zwar näher als jemals zuvor, aber wirklich verändert hatte er sich nicht«, sagt Bruce. Dennoch machte er einen Schritt auf seinen Vater zu. »Ich erinnere mich an das eine Mal, als Bruce meinen Vater in den Arm nahm«, sagt Pam Springsteen. »Ich glaube es war, als er sich nach einem Besuch verabschiedete. Das war ein sehr berührender Moment.«

Mitte Februar waren Steel Mill noch immer in der Bay Area und gaben in der Hoffnung auf den großen Durchbruch einen schlecht bezahlten Gig nach dem anderen. Als Bill Graham die Band zum Vorspielen ins Studio seiner neuen Plattenfirma Fillmore Records einlud, schien das Glück zum Greifen nah zu sein. Steel Mill spielten mit »Goin’ Back to Georgia« und »He’s Guilty« zwei ihrer beliebtesten Nummern, präsentierten mit »Cherokee Queen« einen ihrer neueren Songs und unterstrichen mit »The Train Song«, einer pianolastigen Countryballade, wie facettentreich ihr Repertoire war. Graham strahlte übers ganze Gesicht. Er sagte, er habe genug gehört und bot Steel Mill einen Plattenvertrag an. Das klang alles wunderbar, bis sich herausstellte, dass Graham einen Vorschuss von mickrigen tausend Dollar zahlen wollte und überdies sämtliche Rechte an Bruce’ Songs beanspruchte, was nicht nur bedeutete, dass er über ihre Verwendung hätte entscheiden können, sondern auch, dass er bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag den Löwenanteil aus den Lizenzeinnahmen eingestrichen hätte. West gab der Band Gelegenheit, sich das Angebot durch den Kopf gehen zu lassen, doch ließ er keinen Zweifel daran, was er davon hielt. »Graham will Bruce’ Rechte haben? Die bekommt niemand. Das ist Bruce’ verdammte Altersvorsorge, die ist unverkäuflich.«

Wests Argumente überzeugten Bruce, obwohl die Vorstellung, mit einem Plattenvertrag in der Tasche nach Hause zu kommen – ganz gleich wie mies er auch sein mochte –, verlockend war. Lopez hielt es für keine gute Idee, Bruce zum Verzicht auf seine Lizenzrechte zu überreden, obwohl auch er sich über ein offizielles Gütesiegel von Bill Graham gefreut hätte. So war es am Ende nur Roslin, der versuchte, der Band und ihrem Manager Grahams Vorschlag schmackhaft zu machen, ganz gleich wie mies er sein mochte. »Lasst uns den Vertrag unterschreiben und dann weitersehen«, sagte der Bassist. Er spekulierte darauf, dass die Verbindung zu Graham ihren Marktwert in die Höhe treiben würde, womit auch die Songs, die Bruce später schreiben würde, wenn sie schon längst woanders einen besseren Vertrag ergattert hätten, mehr wert sein würden. Aber Bruce hatte bereits eine Entscheidung getroffen. Nach der Besprechung nahm er Lopez beiseite, um ihm mitzuteilen, dass Vinnie Roslin die Band verlassen müsse.

Der Bassist war schon immer so etwas wie das fünfte Rad am Wagen gewesen. Im Vergleich zu Federici und Lopez, die immer mit viel Spielfreude und Leidenschaft bei der Sache waren, wirkte Roslin auf Bruce seltsam teilnahmslos. Er hatte am Bass eine ruhige Hand, aber mehr war Bruce’ Meinung nach auch nicht von ihm zu erwarten. Seine steife Haltung auf der Bühne trug auch nicht gerade zum Auftreten der Band bei. Und seit er in San Francisco mit Bambi und Klopfer angebandelt hatte, war er noch viel weniger bei der Sache als sonst. Schon rächten sich die vielen Proben und Soundchecks, die er geschwänzt hatte: Er verpatzte Einsätze, konnte sich an manchen Riff nicht mehr erinnern und spielte schließlich zu ganzen Songs etwas, das keinerlei Bezug zu dem hatte, was die anderen spielten. Da Lopez für Bruce schon immer der Mann fürs Grobe gewesen war, wusste er, dass es an ihm war, Roslin die schlechte Nachricht zu überbringen. »Bruce machte so was nicht«, erklärt er bedauernd. »Bei gewissen Dingen verließ er sich immer auf mich, also übernahm ich das.« Lopez starrt auf seine Schuhspitzen, während er die Geschichte zu Ende erzählt: Wie Roslin in seinem Stuhl versank, als er von seinem Rauswurf erfuhr, wie er weinte und um eine zweite Chance flehte. »Aber es ließ sich nicht mehr rückgängig machen«, sagt Lopez. »Man kann nichts im Leben rückgängig machen.«

Nachdem sie zwei Monate an der Westküste verbracht hatten, erkannten West, Bruce, Lopez und Federici, dass ihnen in San Francisco der Elan abhandengekommen war. Da langsam das Geld zur Neige ging, organisierten sie zwei Auftritte im Studentenzentrum der Free University von Richmond, Virginia. Aber wer sollte bei diesem Gig Bass spielen? Bruce tat, als hätte er darüber noch gar nicht nachgedacht, stimmte allerdings sofort erfreut zu, als Lopez vorschlug, Bruce’ alten Kumpel Steve Van Zandt in die Band zu holen. Sie riefen Van Zandt in New Jersey an, der nicht lange über ihr Angebot nachdachte. Er verabredete sich mit der Band in Virginia, wo er vor der ersten Show am 27. Februar noch ein, zwei Stunden mit den Jungs proben konnte. »Ich dachte mir, warum nicht«, erinnert sich Van Zandt. Dass er Bass spielen sollte, ein Instrument, mit dem er sich bis dato nur selten, wenn überhaupt schon einmal, näher beschäftigt hatte, bereitete ihm keine schlaflosen Nächte. »In einer Hardrockband Bass zu spielen, ist keine wirklich große Sache«, sagt er.

Wieder zurück in der Heimat, spielten Steel Mill nach wie vor in vollen Clubs und zogen an Schulen und Universitäten – insbesondere am Monmouth College und an der Free University, wo Tausende zu ihren Auftritten kamen – ein stattliches Publikum an. Auch die Lokalpresse wurde auf sie aufmerksam, vor allem nachdem West am 11 . April eine Handvoll Journalisten, Kritiker, DJs und anderer wichtiger Persönlichkeiten aus der Plattenindustrie zu einer öffentlichen Probe in die Challenger-Fabrik eingeladen hatte. Joan Pikula, eine Feuilletonredakteurin der Asbury Park Press, veröffentlichte vier Tage später ein recht umfangreiches Bandporträt (»The Steel Mill Blazes Trail for New, Talented Musicians«), in dem sie Steel Mill als innovative Musikpioniere bezeichnete. »Sie haben bewiesen, dass talentierte Musiker auch hier etwas werden können«, schrieb Pikula, die zu dem Schluss kam, dass Steel Mill das Zeug hätten, die Jersey Shore – die Küstenregion von New Jersey – zum nächsten Rock’n’Roll-Mekka zu machen.

Eine Zeit lang war Bruce fest davon überzeugt, mit Steel Mill alles erreichen zu können, was er wollte. Die Band war seine Zukunft. »Wir spielten vor Tausenden von Menschen, ohne eine Platte herausgebracht zu haben«, sagt er. »Es war unglaublich. Wir füllten Hörsäle und Sporthallen. Wir traten nicht oft auf, aber von den Gigs, die wir gaben, kehrten wir mit fünfhundert Dollar in der Tasche zurück, und davon konnte man monatelang leben. Für eine Regionalband war das ein Riesenerfolg. Und in der Gegend waren wir wirklich große Stars.«

Mitte Juni veröffentlichte Pikula einen weiteren, noch leidenschaftlicheren Artikel über Steel Mills Auftritt im Vorprogramm der erfolgreichen Rockband Grand Funk Railroad. Die Musiker aus Detroit sollten schon bald einen neuen Rekord aufstellen: Hatten die Beatles 1965 noch achtzig Tage benötigt, bis ihr Konzert im New Yorker Shea Stadium ausverkauft war, schafften es Grand Funk Railroad 1971 in nur zweiundsiebzig Stunden. Vorerst trat die Band jedoch noch in kleineren Hallen auf. Nachdem ihre ursprüngliche Vorgruppe MC5 (die Protopunker aus Detroit, deren kurz zuvor veröffentlichtes zweites Album von einem jungen Brandeis-Absolventen namens Jon Landau produziert worden war) ihren Auftritt im Ocean Ice Palace in Bricktown kurzfristig hatte absagen müssen, sprangen Steel Mill für dieses Konzert in letzter Minute als Vorgruppe ein.

Wenn man Pikulas begeistertem Konzertbericht unter dem Titel »Rock and Inequity« Glauben schenken darf, stahlen Steel Mill den Headlinern komplett die Show. Um ihr Urteil zu begründen, verglich Pikula die beiden Frontmen miteinander. »[Mark] Farner [von Grand Funk] ist ein abgeklärter Profi, seine Songs sind solide, aber mittelmäßig, und so spielt er auch«, schrieb sie. »Springsteen ist weder abgeklärt noch mittelmäßig. Er schreibt ausgezeichnete, ungemein abwechslungsreiche Songs, die viele musikalische Stilrichtungen miteinander vereinen … und sein Spiel ist originell, ausdifferenziert und technisch perfekt – einfach hervorragend.«

Ganz unparteiisch war Pikula in ihrer Einschätzung sicher nicht, die vielmehr von großer Sympathie für die Band zeugt, die sie gerade erst kennengelernt hatte. Dabei wies sie durchaus auch auf Farners Talent hin, eine ganze Halle voller Fans dazu zu bringen, die Fäuste in die Luft zu recken und andere quasi-revolutionäre Gesten zu machen. Die Texte von Grand Funk klangen in ihren Ohren jedoch phrasenhaft und hohl, wohingegen die Leidenschaft, die die Musik von Steel Mill auszeichnete, das Publikum nicht nur verführte, sich den Frust von der Seele zu tanzen, sondern es auch dazu bewegte, sich auf die Geschichten und Bilder einzulassen, die ihre Texte vermittelten. Pikulas Konzertbericht gipfelte in einem Fazit, das ihre liebenswürdige Empörung in eine griffige Formel mit klassenkämpferischem Unterton kleidete: »Steel Mill machten die Musik, Grand Funk den Reibach. Eine Ungerechtigkeit par excellence.«

Bruce staunte nicht schlecht. »Das war ein dickes Ding«, erinnert sich Bruce’ langjähriger Freund Lance Larson, ein Urgestein der Musikszene in Asbury Park. »Die Geschichte hat ihnen verdammt viele Türen geöffnet, und als sie in der Zeitung schrieben, dass er tausendmal besser sei als diese großen, gestandenen Stars, war Bruce natürlich mächtig stolz.«

Es gab noch mehr, worauf er stolz sein konnte im Sommer 1970. Steel Mill hatten es geschafft, dass viertausend Fans zu einem Open-Air-Konzert im Clearwater Swim Club in Atlantic Highlands, New Jersey, kamen. Zudem hatten sie noch ein paar einträgliche Shows während der Semesterendveranstaltungen an den üblichen Collegespielstätten in Virginia absolviert. In Richmond waren sie die Headliner bei einem großen Sommerspektakel, das auf dem Dach eines Parkhauses an der Seventh und Marshall Street stattfand. Im Vorprogramm spielten unter anderem Mercy Flight, eine Band aus Richmond, deren gesamte Crew – vom Manager Russel Clem bis zum Drummer »Hazy« Dave Hazlett – sich mit Steel Mill angefreundet hatte. Robbin Thompson, der Leadsänger, verstand sich besonders gut mit Bruce, der oft bei ihm übernachtete, wenn Steel Mill in Richmond auftraten. So verbrachten die beiden auch den Abend nach dem Parkhausgig miteinander und sprachen noch bis tief in die Nacht hinein über Musik.

Bruce bewunderte Thompsons kräftige Stimme und seine Bühnenpräsenz. Da ihm seine vielen Verpflichtungen bei Steel Mill allmählich über den Kopf wuchsen, fragte er seinen Freund, ob er daran interessiert sei, als zweiter Sänger und Frontman bei Steel Mill einzusteigen. Thompson traute seinen Ohren nicht. »Es war völlig klar, dass Bruce der Frontman der Band war. Wozu brauchte er mich?« Der Rest der Band war genauso irritiert. Wenn alle Fans und Kritiker Bruce für sein herausragendes Talent als Gitarrist, Performer und Sänger lobten, was wollte er dann mit einem zweiten Frontman, der ihm den Platz im Rampenlicht streitig machte? »Das war schon eine etwas merkwürdige Entscheidung«, so Van Zandt. »Bruce war sich nicht sicher, welche Rolle er spielen wollte. Es ist ja nicht unbedingt alles einfacher, wenn man so talentiert ist. Er war der Frontman und der Stargitarrist und der Songwriter. Manchmal ist man einfach besser dran, wenn man nur eine Sache macht, aber die dann richtig.«

Nachdem sie ein paar Wochen zusammen geprobt hatten, konnten Lopez, Federici und Van Zandt Bruce’ Entscheidung nachvollziehen. Am letzten Tag von Thompsons Probezeit nahm Bruce seine drei Bandkollegen in einem der Lagerräume der Surfbrettfabrik beiseite, um sich mit ihnen zu besprechen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Band in den Proberaum zurückkehrte und Thompson erklärte, dass er ab sofort dabei wäre, wenn er wolle. Und ob Thompson wollte. Eine Woche später schmiss er die Schule, packte seine Sachen und fuhr nach New Jersey.

Ende August war die Band wieder in Richmond, von wo aus sie die Nacht hindurch nach Tennessee fuhr, wo sie beim Nashville Music Festival auftrat. Unter den fünfzigtausend Zuschauern befand sich auch eine Handvoll wichtiger Leute aus der Plattenindustrie. Außerdem hatten die Veranstalter Steel Mill im Vorprogramm von Roy Orbinson untergebracht, zur großen Freude von Bruce und Van Zandt, die beide große Fans des Sängers waren. Als einige der Plattenbosse nach der Show hinter die Bühne kamen, allen die Hände schüttelten und ihnen zum gelungenen Auftritt gratulierten, bemerkte Thompson etwas, das den anderen offenbar entging.

»Die Leute sagten: ›Hey, jemand von der Plattenfirma XY ist hier, das ist der Typ, der sich mit Tinker und Bruce unterhält‹«, erinnert er sich. »Ich beobachtete das eine Weile, und dabei wurde mir klar, dass dieser Typ – wie all die anderen Leute, die über Steel Mill sprachen – eigentlich nur da war, um Bruce zu sehen.« Obwohl Steel Mill sich als Band mit fünf gleichberechtigten Mitgliedern präsentierte, konnte jeder erkennen, dass einer von ihnen wichtiger war als alle anderen. »Das habe ich nie vergessen.«

Wieder in Richmond, gab die Band ein paar weitere Konzerte, als sich Lopez eines Abends mit der falschen Frau einließ. Um vier Uhr morgens riss ihn eine Horde bewaffneter Polizisten aus dem Schlaf. Irgendjemand im Haus hatte sechs Pfund Marihuana in seinem Zimmer versteckt, und nun drohte jedem, der sich auch nur in der Nähe befunden hatte, eine Anklage wegen Drogenhandels. Lopez hatte nur dann eine Chance, die nächsten fünf bis zehn Jahre nicht hinter Gittern zu verbringen, wenn er sich einen Anwalt nahm. Die Ersparnisse der Band reichten dafür nicht, aber sie hatten schon eine Idee, wie sie genügend Geld zusammenkratzen konnten: Für den 11. September war ein großes Sommerabschlusskonzert geplant, das sie kurzerhand zur Benefzveranstaltung erklärten, deren Einnahmen Vini in Virginia zur Verfügung gestellt werden sollten. Thompsons ehemaliger Bandkollege Dave »Hazy« Hazlett sprang für Lopez an den Drums ein. Ihre Hoffnung, einen stattlichen Betrag zusammenzubekommen, wurde auch durch die Tatsache genährt, dass das Konzert an demselben Ort stattfand, an dem die Band Mitte Juni schon einmal vor viertausend Fans gespielt hatte: im Clearwater Swim Club in Atlantic Highlands.

Es war ein traumhafter Spätsommernachmittag. Es war warm, eine leichte Brise wehte vom Meer herüber und Unmengen junger Leute aus New Jersey bevölkerten das leicht abschüssige Gelände. Das Konzert begann um siebzehn Uhr mit zwei Bands aus der Gegend, Task und Sid’s Farm. Danach trat Jeannie Clark auf, die ihr übliches Folkrepertoire mit Van Zandt an der Gitarre, Garry Tallent am Bass und einem Bluessänger und -musiker aus Asbury Park namens John Lyon ein wenig aufpeppte. Die Polizei zeigte ganz offensichtlich ein bisschen mehr Präsenz als anderswo, aber man befand sich ja auch im Zuständigkeitsbereich des Middeltown Police Department. »Middletown rühmte sich damit, dass es dort keine Kriminalität gäbe«, erklärt Van Zandt, der hier zu Hause war. »Und dass dort keine Schwarzen lebten. Und dass es dort noch intakte autoritäre Strukturen gäbe.« Um im Falle einer Revolution gerüstet zu sein, hatte Joseph McCarthy, der Polizeichef von Middletown, seine Truppe vorsorglich mit einem ganzen Arsenal an Schutzhelmen, Schutzschilden, Schlagstöcken und anderen Waffen ausgestattet. Und da sich bereits einige Nachbarn über die Lärmbelästigung während der Sommerkonzerte in Clearwater beschwert hatten, betrachtete McCarthy die Veranstaltung als eine gute Gelegenheit, die neue Ausrüstung zu testen. »Das war wohl wie zu Halloween, vermute ich«, fährt Van Zandt fort. »Sie hatten zwar keine richtige Verwendung dafür, aber sie legten das ganze Zeug einfach mal so an.«

Wie während der Democratic Convention in Chicago 1968. Wie während der Demonstration an der Kent State University im Mai 1970, in die auch Bruce’ Freundin Pam Bracken, die damals ihr zweites Studienjahr absolvierte, hineingeriet, unmittelbar bevor die Nationalgarde das Feuer eröffnete und vier unbewaffnete Studenten erschoss. Bracken rannte an jenem Tag um ihr Leben, und jetzt, vier Monate später, hatten sich fünftausend Rock’n’Roll-Fans versammelt, um laute Musik zu hören, sich ihre geheimen Vorräte von was auch immer reinzuziehen und die in Middletown neu eingeführte Sperrstunde, die um zweiundzwanzig Uhr begann, zu vergessen. »Es war sozusagen der physisch ausgetragene Generationskonflikt«, sagt Van Zandt über das, was an diesem Abend geschah.

Steel Mill kamen gegen zwanzig Uhr auf die Bühne und spielten ihr übliches Set. Songs über Spaß, Sex, Herzschmerz, Ausreißer und ausgelassenes Tanzen in den Straßen wechselten sich mit außerordentlich subversiven Nummern ab, wie sie Bruce seit über einem Jahr schrieb. Die Stimmung kochte, insbesondere nahe der Bühne. Vielleicht wurden ein paar Jugendliche wegen Kiffens oder Alkoholverzehrs in Gewahrsam genommen. Das wäre jedenfalls ganz normal gewesen. Dass das Publikum so leidenschaftlich mitging, lag in erster Linie an Bruce’ kraftstrotzender, mitreißender Show. In einem ärmellosen weißen T-Shirt und der wie immer anstelle eines Gürtels von einer Kordel gehaltenen Jeans wirbelte er über die Bühne. Die Energie, die er im Publikum freisetzte, übertrug sich auf ihn zurück. Sein Gesang verflocht sich geradezu mit dem von Thompson und seine Leads wurden von Strophe zu Strophe atemberaubender.

»Bruce stach immer heraus, ihn umgab so eine gewisse magische Aura«, sagt Joe Petillo, ein Gitarrist aus dem Upstage, der gekommen war, um sich das Konzert anzusehen. Er wusste, was Bruce draufhatte, da sie sich im Upstage schon so manches wilde Gitarrenduell geliefert hatten. Doch hier unten, inmitten der Zuschauer, ergriff ihn plötzlich Bewunderung. »Er kam auf die Bühne und übernahm sofort die Führung. Es war einem irgendwie von Beginn an klar, dass da etwas Besonderes passierte.«

Und dem war tatsächlich so. Genau bis zu dem Moment, als die Armbanduhr von Chief McCarthy eine Sekunde nach zehn zeigte. Bruce, der mitten auf der Bühne stand und sich die Seele aus dem Leib rockte, war bewusst, dass er eine Grenze überschritt. »Da lag dieses ›Wenn du nur eine Minute länger spielst …‹ in der Luft«, sagt er. »Und natürlich spielten wir eine Minute länger, denn so waren wir nun mal.« Innerhalb weniger Minuten formierten sich die gesamten Polizeikräfte von Middletown in voller Kampfmontur auf dem Hügelkamm rund um den Clearwater Pool. »Es war wie in einem Western«, erinnert sich Van Zandt. »Ich schaute auf und sah all diese Jungs in ihren Kampfanzügen. Und irgendwann marschierten sie los.« Schlagstöcke schwingend stürmten sie Richtung Bühne, wo Bruce und die Band gerade die ersten Akkorde des letzten Songs für diesen Abend anstimmten: »He’s Guilty«. Ausgerechnet.

»Woran ich mich erinnere ist, dass Leute unten im Publikum Gras rauchten, und irgendwer versuchte, sie hopszunehmen«, sagt Bruce. »Sie warfen den Cop in den Pool, und damit fing alles an.«

Bruce und Thompson stimmten gerade die erste Strophe an: »We’re here to try this boy for his crime/Jury all got up in their chairs/He’s guilty! He’s guilty! Send that boy to jail!« »Die Band rockte, was das Zeug hielt, und das Publikum war völlig aus dem Häuschen«, erinnert sich Bill Alexander, der während der Semesterferien bei Steel Mills Stage Crew mithalf. Plötzlich fiel die PA aus: Die Cops hatten den Stecker gezogen und damit den Verstärkern den Saft abgedreht – allerdings auch den Lüftern und Ventilatoren, die die überhitzte Elektronik kühlten. Einer der Techniker schlich mutig um die Beamten herum und steckte den Stecker wieder ein. Mit einem wilden Schrei von Bruce legte die Band sofort wieder los.

Polizeichef McCarthy raste vor Wut, als er sah, dass die Hippies seinen Männern die Stirn boten und sich seinen Anweisungen widersetzten. Es schien ihm wohl die effektivste Lösung zu sein, gleich die gesamte Truppe zu verhaften. Blitzschnell bekamen die Mitglieder der Stage Crew Handschellen angelegt und wurden ziemlich unsanft in die Mannschaftswagen gepfercht, die mitten auf der Route 36 mit laufenden Motoren bereitstanden. Alexander, dem es irgendwie gelungen war, sich dem Zugriff der zahllosen Arme des Gesetzes zu entziehen, huschte hinter die Bühne, wo er unglücklicherweise mit einem weiteren Cop, der ziemlich geladen war, zusammenstieß. Er packte Alexander beim Schlafittchen und deutete auf die Verstärker.

»Polizeichef McCarthy will, dass diese Dinger abgestellt werden!«

»Und wie soll ich das machen?«, blaffte Alexander zurück. »Ihr habt all unsere Techniker verhaftet!«

»Das interessiert mich einen Scheißdreck!«

»Mann, sind Sie ein Arsch!«

Ob das nun eine zutreffende Feststellung war oder nicht, die Reaktion ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten. Im Nu klickten die Handschellen und ein fleischiger Unterarm drückte Alexander gegen die Wand. »Sie sind verhaftet!«, schnauzte ihn der Cop an.

»Wie lautet die Anklage?«

Eine lange, schwere Taschenlampe knallte gegen Alexanders Stirn.

»Da hast du deine Anklage.«

Auf der Bühne rockten Bruce, Van Zandt, Thompson und Hazlett indessen unverdrossen weiter, bis die Polizei den Saft erneut abdrehte und die Musik damit endgültig zum Schweigen brachte. Was erstaunlicherweise jedoch nicht im Geringsten dazu führte, dass Bruce’ Kontakt zur Menge abriss. Er stand immer noch mitten auf der Bühne, die Arme über den Kopf gereckt, klatschend, und schmetterte: »He’s guilty! He’s guilty! Send that boy to jail!«

Tom Cohen, Gitarrist in einer anderen von West gemanagten Band, verfolgte das Geschehen aus dem Publikum heraus. »Plötzlich herrschte ein totales Chaos. Wir dachten, die Revolution breche gleich hier und jetzt aus.« Wogegen letztendlich aber vor allem eines sprach: Niemand konnte seinen Blick von Bruce abwenden. »Es gab keine Musik mehr, es gab keinen Strom«, sagt Joe Petillo. »Und trotzdem hatte er immer noch Tausende von Menschen fest im Griff.«

Von der Bühne aus betrachtet war diese Erkenntnis ebenso aufregend wie beängstigend. »Das war das erste Mal, dass uns bewusst wurde, wie viel Macht die Band über das Publikum hat«, so Thompson. »Da wurden Menschen verletzt, unser Equipment wurde beschädigt. Aber es sah aus, als wären die Zuschauer bereit, alles zu tun, was wir von ihnen verlangten.« Bruce’ Meinung nach taten sie das bereits. »Wir waren junge Rock’n’Roll-Punks«, sagt er. »Es lag zwar alles Mögliche in der Luft, aber wir waren tatsächlich nur an der Musik interessiert … Ich wollte wirklich nur weiterspielen. Was anderes hatte ich gar nicht im Sinn.«

Anders die Polizei von Middletown. »Die Beamten sprangen auf die Bühne«, erzählt Bruce. »Sie schrien jeden an und fuchtelten mit ihren Schlagstöcken und was weiß ich was noch herum. Es war das totale Chaos da vorne. Ich drehte mich herum, und hinter mir sah es genauso aus. Danny schien ein ziemliches Problem zu haben.« Ein paar Cops waren auf die Idee gekommen, von hinten auf die Bühne zu klettern. Gerade als sie sich an den Verstärkern festklammerten und sich hochhieven wollten, fiel eine Reihe Lautsprecher auf sie herab, wobei Chief McCarthy am Kopf verletzt wurde und zusammen mit den anderen Polizisten, die die Bühne entern wollten, zu Boden ging. Als sie aufblickten und Federici hinter seiner Hammondorgel sitzen sahen, zogen sie den naheliegenden Schluss: »Das war dieser blonde Hippie da oben, der die Lautsprecher auf uns gekippt hat!« Aber war das Federeci mit seinem Babyface überhaupt zuzutrauen? Viele, die dabei waren, haben ihre Bedenken. Für Van Zandt ist die Sache allerdings klar. »Selbstverständlich hat Danny das getan«, sagt er. »Woher ich das weiß? Ich hab’s gesehen. Ich stand direkt neben ihm. Da war dieses PA-Stack, und er hat es mit seinem Ellbogen umgestoßen.«

Kein Wunder, dass die Cops wütend waren.

»Verhaftet das Arschloch!«

Als Federici eine Horde verletzter, aufgebrachter Polizisten auf sich zukommen sah, rannte er quer über die Bühne, sprang runter, sprintete los und blieb nicht stehen, bis er sich im Wagen von Greg Dickinson, der zur Steel-Mill-Crew gehörte, unter einer Decke versteckt hatte. Dickinson nahm den völlig verängstigten Keyboarder mit zu sich nach Hause zu seiner Frau Flo und seinem kleinen Sohn Jason, wo er Unterschlupf fand.

In der Zwischenzeit hatten sich Bruce und die anderen unter der Bühne verkrochen, in der Hoffung, hier vor den Übergriffen der Polizei in Sicherheit zu sein. Als sie allerdings mitbekamen, dass die Beamten ihr Equipment konfiszieren wollten, ergriffen sie die Initiative, und es gelang ihnen, Verstärker, Instrumente, Kabel und Mischpult in Windeseile in Wests Pickup zu laden und sich aus dem Staub zu machen. Nachdem sie die Straße erreicht hatten, wurden sie plötzlich still; sie dachten über das nach, was gerade geschehen war, und darüber, wo sie nun am besten untertauchen konnten. Um die Surfbrettfabrik machten sie einen großen Bogen, da die Cops aus Middletown, die sie vermutlich suchten, dort mit Sicherheit als Erstes aufkreuzen würden.

Glücklicherweise blieben die befürchteten Razzien aus. Die Polizei räumte lediglich das Gelände und es wurde ein Haftbefehl für Federici ausgestellt, der derart unauffindbar war, dass man ihn zeitlebens nur noch »the phantom« nannte. Alexander, den man so übel zugerichtet hatte, dass ihn die anderen gar nicht erkannten, als man ihn schließlich in einen der Mannschaftswagen bugsierte, strengte ein Zivilverfahren gegen die Polizei von Middletown an. Die American Civil Liberties Union nahm die Ermittlungen auf, um die Umstände zu klären, die zu zwei Dutzend Verhaftungen wegen Drogen- und Alkoholmissbrauchs und – wie die Polizei sich ausdrückte – »Tätlichkeiten« geführt hatten.

Das, was Alexander widerfahren war, machte den Rest der Truppe besonders wütend. Die gesamte Crew hielt mehrere Krisensitzungen ab, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was genau geschehen war, und um Zeugen zu ermitteln und Beweise zu sammeln. Doch ein Gespräch mit der Polizeiführung von Middletown brachte Alexander und seinem Anwalt (der sein Onkel war) nichts als Warnungen und Drohungen ein. »Ich hörte, wie McCarthy sagte: ›Wenn Ihr Mandant diese Klage nicht zurückzieht, werden wir ihm den Besitz von Waffen, Messern und was sonst noch nötig ist nachweisen. Und er wird lange, lange Zeit hinter Gitter wandern!‹«, so Alexander. Tatsächlich ließ die Polizei kurz darauf durchsickern, dass sie bei der Durchsuchung des Bühnenbereichs einen ganzen Sack voller Drogen und Waffen entdeckt hätte, die dort offenbar von einer Band gehortet worden seien, der wohl nicht klar war, wie viele gute Verstecke es in ihren Fahrzeugen und Transportkisten gab. Nach einer ernsten Unterhaltung mit seinem Onkel, dem Anwalt (»Willst du wirklich den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen?«), zog Alexander seine Klage zurück – eine Entscheidung, die er bis heute bereut.

Bei Bruce, der damals kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag stand, hinterließen die Geschehnisse bleibende Spuren. Den Großteil des Abends hatte er die Begeisterung eines riesigen Publikums ausgekostet, aber das dramatische Ende der Show und die ungeheure, völlig unangebrachte Brutalität der Polizei, erschütterten ihn sehr. »Diese ganze Politik bei Steel Mill«, sagte er einige Tage später zu Tom Cohen und meinte die vielen Songs, in denen er für die Beendigung des Krieges plädiert und dazu aufgerufen hatte, sich gegen Autoritäten aufzulehnen und die Welt zu verändern. »Wir reden ständig über Revolution, aber niemand interessiert sich wirklich dafür. Niemand unternimmt irgendwas. Sie wollen alle nur darüber reden.« Der nächste gesellschaftskritische Song, den Springsteen schrieb – vermutlich mit Unterstützung von Robbin Thompson – hieß »Change It«, und diesmal war der Schrei nach einer sozialen Revolution durchsetzt mit bitterem Sarkasmus.

»Everybody’s saying their favorite sayings, everybody’s singing their favorite songs«, heißt es zu Beginn der Nummer. »Everybody’s got a favorite game they’re playing, well, ha, we’re all right, but I guess we’re all wrong.« Im weiteren Verlauf steigert sich der Text zu beißendem Spott: »So take LSD and off the pigs … Break out the guns and the ammo, everything’s gonna be just fine … all you gotta do is hang around.«

Bruce’ Begeisterung für Agitprop-Texte war verflogen. Es war an der Zeit, sich wieder auf Steel Mills Stärken und Schwächen und auf die Zukunft zu konzentrieren. Im Herbst begann Bruce parallel zu den Konzerten mit der Band auch wieder solo aufzutreten. Seine Einnahmen flossen zwar in die Bandkasse, doch gedanklich orientierte er sich bereits in eine ganz andere Richtung.

1 Bruce erzählt oft davon, wie er seinen Vater des Morgens dabei beobachtete, wie er seinen Wagen in Gang setzte. Bei dem Auto ließ sich der Rückwärtsgang nicht mehr einlegen, sodass es, wenn es in der Einfahrt stand, zunächst auf die Straße geschoben werden musste, bevor man damit irgendwohin fahren konnte.

2 Obschon er bestimmte Melodien, Akkordfolgen und Textzeilen später in anderen Songs durchaus wieder aufgrif.

3 Lofgren spielte kurzzeitig auch mit Crazy Horse in der Besetzung ohne Neil Young und war sowohl bei den Sessions zu Youngs Tonight’s the Night als auch auf der nachfolgenden Tour mit dabei.

Bruce

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