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7 OK Präsident Peters

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Selbst das Organisationskomitee wusste es nicht. Das Organisationskomitee des Vier-Seen-Laufs, kurz OK genannt, nicht zu verwechseln mit dem englischen o.k., oder dem OK, das neuerdings für Organisierte Kriminalität steht, dieses OK also hatte sein Hauptquartier erstmalig in der Mehrzweckhalle des neuen Sportzentrums von St.Montis aufgeschlagen. Die alten Räumlichkeiten im Verkehrsverein hatten ausgedient. Das neue Sportzentrum mit Eishalle, Curling-Bahnen, Indoor-Tennis, Schiessständen, Krafträumen und anderen Körperertüchtigungs-Lokalitäten lag am Ortsrand etwas oberhalb der Strasse, die das Tal durchläuft. Verkehrstechnisch gesehen ein idealer Platz. Durch die talseitige Glaswand der Mehrzweckhalle liessen sich das ganze Zielgelände und die letzten Kilometer der Loipe überblicken. Doch das OK fühlte sich in dem neuen Zentrum, mit dem die Gemeinde sich übrigens hoch verschuldet hatte, noch nicht so recht heimisch. Waren die Räumlichkeiten vorher zu eng gewesen, kam sich das OK jetzt wie von der Halle verschluckt vor. Denn das OK selbst war nur eine vergleichsweise kleine Schar von Dirigenten, die das Zusammenspiel eines riesigen Orchesters, bestehend aus über Tausend Funktionären und Helfern draussen an der Loipe sicherstellen musste. Anders gesehen: Beim OK liefen alle Fäden zusammen, und das sind bei einem solchen Grossereignis nicht wenige.

Peters, Gründer des Vier-Seen-Laufs und seit viereinhalb Jahrzehnten unangefochtener Präsident des Organisationskomitees, mittlerweile in die Jahre gekommen, hatte in diesen Tagen zum ersten Mal von Rücktritt gesprochen. Er hatte ein Ziel erreicht, an das er schon nicht mehr geglaubt hatte: Die magische Teilnehmerzahl von dreizehntausend Läuferinnen und Läufern. Mehr, hatte eine umfassende Studie ergeben, durften und würden es an diesem Lauf nie sein. Genau dreizehntausendunddreizehn Meldungen waren eingegangen. Sie hatten bei Anmeldeschluss vor einigen Wochen darauf angestossen.

„Dreizehntausend“, hatte er gesagt. Stellt euch das vor: drei – zehn – tausend.“

„Eine Unglückszahl“, hatte jemand gesagt.

Im Gegensatz zu Bronner hatte Peters NICHT geantwortet ‚es ist ein Unglück’, sondern hatte fast unter Tränen gesagt: „Dass ich das noch erleben durfte.“

Der Zeitpunkt zum Rücktritt nach diesem Lauf war wirklich günstig. Er würde mit Ehrungen überhäuft werden. Vielleicht würde er sogar Ehrenbürger von St.Montis werden, Ehrenmitglied des nationalen Skiverbands des Internationalen, des..., was gab es sonst noch?

Es gab noch einen anderen Grund, dieses Ehrenamt niederzulegen. Immer mehr übernahmen Computer die Organisation des Geschehens. Alle Auskünfte, die Peters brauchte, schienen nur noch auf Bildschirmen erhältlich zu sein. Für ihn, ein Mann des gesprochenen Worts, des Handschlags, des derben Scherzes, war das kalt und seelenlos. Eines Tages, sagte er sich, wird es den Lauf in dieser Form nicht mehr geben. Alle Teilnehmer haben einen Computer zu Hause und beginnen auf ein Startzeichen hin, ihren Lauf darauf zu simulieren. Wir sammeln hier in St.Montis nur noch die Daten. Theoretisch können wir den Lauf dann auch im Sommer durchführen. Auf jeden Fall brauchen wir keine Schneeräumung mehr, keinen Streckenunterhalt, keine Parkplätze, keine Kleidersäcke und was sonst noch. Und es können sogar zweihunderttausend Leute oder mehr teilnehmen.

Doch zunächst einmal waren es die dreizehntausend, die ihn beschäftigten. Das waren noch einmal siebenhundert mehr als im Jahr zuvor. Schon das war ein Rekordjahr gewesen, und die Organisation war hier und da ins Schwimmen gekommen. In diesem Jahr würde es noch kritischer werden. Es standen ihm weniger freiwillige Helfer und Funktionäre zur Verfügung als bei den letzten Läufen. Viele der jüngeren Leute, die in der Gegend keine Dauerbeschäftigung mehr fanden, waren in die Städte im Unterland abgewandert. Sein grösstes Bedenken aber war der bevorstehende markante Wetterumschlag. Ausgerechnet jetzt, nachdem sie zehn Traumtage hintereinander gehabt hatten. Er stand ständig mit der meteorologischen Landesanstalt, die für die Region des Vier-Seen-Laufs einen speziellen Wettervorhersagedienst eingerichtet hatte, in Verbindung. Von Westen her näherte sich schnell eine Schlechtwetterfront. Bereits in den Bergen angekommen, liess sich ihre Aktivität nicht genau auf Punkt und Stunde voraussagen. Es wurde jedoch in der Frühe mit sehr tief hängenden Wolken gerechnet, die wie Nebelschwaden ins Tal gedrückt würden. Sie konnten zwischen fünf und zehn so dicht sein, dass beim vorgesehenen Start um neun mit Schwierigkeiten zu rechnen war. Über diese Wolkennebelschicht würde sich jedoch gerade dann eine zweite Wolkenschicht schieben, die am Spätnachmittag intensive Niederschläge bringen würde. Bis in eine Höhe von tausend Metern Regen, darüber Schnee.

Diese Meldung erhielt Peters gegen Mitternacht. Er trommelte das engere OK noch einmal zusammen. Sie scharrten sich um sein Kommandopult in einer Ecke der Mehrzweckhalle, in der sie sich um diese nächtliche Stunde sehr verloren vorkamen. Gar nicht mehr wie die Organisatoren eines fröhlichen Sportereignisses, sondern wie mittelalterliche Generäle am Abend vor einer Schlacht. Eine Absage des Laufs wurde angesprochen aber nicht in Erwägung gezogen. Das hatte es in fünfundvierzig Jahren noch nie gegeben. Zwei- oder dreimal hatte der Lauf schon bei Regen stattgefunden, ohne dass etwas passiert war. Die Anreise der Teilnehmer und die Startvorbereitungen würden vielleicht nicht ganz so flüssig vor sich gehen, weshalb das OK nach einigem Hin und Her beschloss, den Start um eine Stunde zu verschieben, von neun auf zehn. Selbst die letzten Läufer, die, schlechte Sichtverhältnisse berücksichtigt, sechs bis sieben Stunden brauchten, sollten zwischen vier und fünf im Ziel sein. Etwa dann, wenn die Schneefälle einsetzten.

„Und was macht es schon“, sagte der Chef der Zielanlagen, „wenn es wirklich ein wenig schneit. Es ist noch hell, und sie müssen nur den Spuren folgen. Skilaufen ist ein Wintersport. Ein Sport unter freiem Himmel. Da darf’s auch mal schneien.“

„Wir haben es hier mit Amateuren zutun, deren Sicherheit wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen dürfen“, mahnte Peters.

Doch sie waren alle der Ansicht, dass die Sicherheitsvorkehrungen optimal seien, und dass man ausser der Verschiebung der Startzeit keine weiteren Massnahmen treffen müsse. Alle verantwortlichen Stellen und das Lokalradio, das die ganze Nacht auf Sendung war, wurden benachrichtigt.

In der unerschütterlichen Überzeugung, auch diesen fünfundvierzigsten Vier-Seen-Lauf unter Kontrolle zu haben, gingen sie auseinander, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Funktionäre schliefen immer viel besser als Aktive. Nur Peters, der OK Präsident, ging noch nicht nach Hause. Lange sass er vor seinem Schreibtisch uns starrte auf die grosse Karte, auf der die Langlaufstrecke vom Start bis zum Ziel minuziös dargestellt war. Obwohl der Computer auch das schon besser konnte, hatte Peters auf diesem, ihm vertrauten Bild bestanden. Die Standorte von Sanitätsposten, Verpflegungsstationen, Fernsehkameras und anderen Stellen an der Strecke waren durch entsprechende Symbole gekennzeichnet. Peters kannte jeden Meter dieser Spur. Jede noch so geringfügige Steigung. Jede noch so unbedeutende Abfahrt. Jede Arve, die auf den Landstreifen zwischen den Seen stand, jeden Felsblock, der dort lag. Er kannte die Weite auf den Seen, die Engpässe, die berüchtigte Zenser Steigung, die Abfahrt durch den Laviner Wald. Er wusste genau, was wo passieren würde, wo sie strauchelten und stürzten, wo es lange Staus gab, und wo es flott fliessen würde. An jeder Stelle, auf die er seinen Finger legte, konnte er das Feld sehen und wusste, was es dort machen würde. Unendlich viele der Läuferinnen und Läufer kannte er persönlich. Nach dem Lauf, in den Festzelten von St.Montis schlugen sie ihm auf die Schulter und lobten seine Organisation. Das war jedes Mal SEIN Sieg, SEINE Goldmedaille. Schade, dass dieser, sein letzter Lauf, nicht noch einmal an einem strahlenden Tag stattfand, an einem Tag, wie sie nur hier oben sein konnten. Im nächsten Jahr würde er nur noch als Zuschauer dabei sein. Fünfundvierzig Jahre waren genug.

In dem blauen Licht, das durch die Glaswand von draussen hereinfiel, wanderte er langsam herum. Dann ging er in die Eishalle hinüber, in der es kalt war. Es sollte dort heute ein Schaulaufen stattfinden, was ziemliche Unruhe in das ganze Sportzentrum bringen würde. Aber sie hatten das nicht verschieben können. Auch für die Eiskunstläufer ging die Saison zuende. Zuletzt suchte er die Curling-Halle auf. Das war der Sport, dem er sich von nun an vermehrt widmen würde. In der Senioren-Mannschaft von St.Montis. Er hatte eine gute Hand für diesen Sport, ein Gefühl für die Entfernung, das Tempo, den Spin.

Draussen war es für die Jahreszeit viel zu milde. Ähnlich wie Robert Kissinger konnte Peters den nahenden Schnee riechen. Er musste noch ein gutes Stückweit weg sein. In den Bars und Restaurants, den Dancings und Discos von St.Montis herrschte um diese Stunde Hochbetrieb. St.Montis, dachte Peters einmal mehr, ist als Zielort für einen Volkslauf viel zu mondän. Aber gerade dort waren sie auf die Idee gekommen. Natürlich war es eine unglaubliche Werbung für St.Montis. Nur das Volk und der Ort passten nicht zusammen. Würden nie zusammen passen.

Er ging auf den kleinen See hinunter, wo im Flutlicht die Arbeiten an der Zielanlage gerade abgeschlossen wurden. Es überkam ihn plötzlich das seltsame Gefühl, dass diese Anlage umsonst dastand, dass nie ein Mensch durch sie hindurchlaufen würde. Es musste wohl die Müdigkeit sein.

Ein schrecklicher Volkslauf Spo(r)ttbericht

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